vonHelmut Höge 28.05.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Im Katalog einer Ausstellung des Deutschen Historischen Museums über die „Bohème in der DDR“ (unter der Leitung des schrecklichen Münchners Stölzl noch entstanden ) heißt es im Kapitel „Kleine Ökonomie der Bohème/ Freiräume in der Planwirtschaft“:

„Liest man in den biografischen Anmerkungen von DDR-Bohemiens, stellt man erstaunt fest, wie oft diese über Jahre, manche sogar über Jahrzehnte als proletarische Hilfskräfte tätig waren und mit welcher Selbstverständlichkeit sie diese biografische Periode heute noch der Erwähnung für würdig erachten. Diese Wertschätzung des Hilfsarbeiter-Status hat einen triftigen Grund: Er bot vielen freizügig lebenden Bohemiens, vor allem in der nach Wolf Biermanns Ausbürgerung einsetzenden kulturpolitischen Eiszeit, einen juristischen Schutz vor der möglichen Kriminalisierung, die mit der in der DDR verankerten Arbeitspflicht gegeben war. Jemand, der sich ohne staatliche Genehmigung und vorzeigbaren Hochschulabschluß zum (Lebens-)Künstler stilisierte und keiner geregelten Arbeit nachging, mußte damit rechnen, als Asozialer strafrechtlich verfolgt zu werden. Damit verfügte der Staat über ein immenses Druck- und Einschüchterungsmittel, das man in den 70er Jahren vor allem mit der DDR-typischen ‘Edelproletarisierung’ als Briefträger, Heizer, Kleindarsteller, Postbote, Hausmeister oder Pförtner umging. Diese Flucht aus den Produktionsmechanismen – nicht stundenweise, sondern mit einem regulären Arbeitsvertrag geregelt – führte mitunter zu kuriosen Verhältnissen: So fand man in den technischen Gewerken der Stadttheater oft kreativere Köpfe als in der dramaturgischen Abteilung, und der kollektive IQ einer Friedhofsarbeiterbrigade war mitunter höher als die intellektuelle Leistung einer gesellschaftswissenschaftlichen Universitätsfachabteilung. Vor allem für Autodidakten war diese Absicherung ein nötiger Schritt, da sie sich nicht auf eine gesellschaftlich erwiesene Eignung zum Künstler berufen konnten.“

Ähnliches galt auch in der Sowjetunion für dissidentisch eingestellte oder als solche von oben begriffene Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller: Sie ließen sich als Heizer oder Hoffeger (Aushilfshausmeister) einstellen. U.a. galt dies für Andrej Platonow, der zuletzt den Hof des Moskauer Literaturinstituts fegte. Die meisten seiner Werke erschienen erst lange nach seinem Tod, auf Deutsch veröffentlichte sie in der Wende nahezu komplett der Verlag Volk und Welt.

Bei Wikipedia heißt es über ihn:

Der Sohn eines Metallarbeiters und Ältester von 10 Kindern wurde in einem Dorf in der Nähe von Woronesch geboren. Nach seiner Jugendzeit in verschiedenen Berufen und dem Militärdienst in der Roten Armee, wurde er 1924 Ingenieur und schrieb kurze Stücke für Zeitungen. Er begann Anfang der 1920er Jahre mit der Veröffentlichung von Erzählungen und Gedichten, zugleich arbeitete er als Spezialist für Landgewinnung in Zentralrussland. Hier wurde er Augenzeuge der durch die Zwangskollektivierung verursachten Veränderungen und Schäden. 1927 wurde er hauptberuflicher Schriftsteller in Moskau. Er war ein Mitglied der landwirtschaftlichen Schriftstellervereinigung Perewal und schuf die Kurzgeschichtensammlung Die Epiphaner Schleusen. Seine beiden Hauptarbeiten, die Romane Tschewengur und Die Baugrube, entstanden zwischen 1926 und 1930 in etwa mit dem Beginn des ersten Fünfjahrplanes 1928. Diese Arbeiten, mit ihrer impliziten Systemkritik brachten ihm heftige offizielle Kritik ein und obgleich ein Kapitel von ‚Tschewengur‘ in einer Zeitschrift erschien, wurde keines seiner Werke vollständig veröffentlicht.

Während der stalinistischen großen Säuberung der 1930er Jahre, wurde Platonows fünfzehnjähriger Sohn verhaftet und in ein Arbeitslager deportiert, wo er an Tuberkulose erkrankte. Als er schließlich zurückgebracht wurde, steckte sich Platonow bei der Pflege an. Während des Großen vaterländischen Krieges (2. Weltkrieg) wurde Platonow als Kriegsberichterstatter eingesetzt, aber sein Gesundheitszustand verschlechterte sich. Nach dem Krieg verlegte er sich vom individuellen literarischen Schaffen auf das Sammeln von Volkserzählungen und gab zwei Sammelbände heraus. Er starb 1951.

Heute gilt Platonow als einer der größten und vor allem sowjetischsten Schriftsteller – und sein posthumer Ruhm wächst.

In der Anfangszeit der Kollektivierung „vergesellschaftete“ man hier und da sogar das Geflügel. Michail Alexandrowitsch Scholochow schilderte  einen erfolgreichen Aufstand der Bäuerinnen gegen diesen revolutionären Rigorismus, den Stalin dann selbst – Anfang 1930 – in seinem berühmten Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“ kritisierte.

Andrej Platonow  begab sich nach Erscheinen dieses Artikels – im Auftrag der Zeitschrift „Krasnaja now“ (Rote Neuigkeit) – sofort in sein Heimatgebiet Woronesh, wo er sich zuvor als Ingenieur an der Melioration und Elektrifizierung beteiligt hatte, um diese von Stalin proklamierte Wende in der Kollektivierungspolitik von unten mit zu bekommen. Seine währenddessen  entstandene „Armeleutechronik ‚Zu Nutz und Frommen'“ wurde zwar 1931 gedruckt, aber nachdem Stalin eigenhändig „Ubljudok“ (Schweinehund) auf die Ausgabe geschrieben hatte, mußte der Chefredakteur Alexander Fadejew sich von ihr distanzieren. Er bezeichnete sie als „Kulakenchronik“ und den Autor als „Kulakenagent“, der „das wirkliche Bild des Kolchosaufbaus und -kampfes verfälscht“ und „die kommunistischen Leiter und Kader der Kolchosbewegung verleumdet“ habe.

Der Erzähler in Platonows „Chronik“ ist eine „dämmernde Seele“, „zerquält von der Sorge um das Gemeinwohl“, der unruhig von einem Kollektiv zum anderen über Land wandert. In all seinen Büchern sind die Leute unterwegs, in der „Chronik“ ist es Platonow selbst, ein „Pilger durchs Kolchosland“ – der das Dorf verstand, wie Viktor Schklowski bereits 1926 feststellte, indem er aktiv an seiner Entwicklung teilnahm, denn „wertvolle Beobachtungen entspringen nur dem Gefühl emsiger Mitarbeit“. Diese Überzeugung teilte Platonow mit Sergej Tretjakow, der sich ebenfalls auf Viktor Schklowski berief, als er meinte, „der Schriftsteller muß in Arbeitskontakt mit der Wirklichkeit treten“. 1930 stellte Tretjakow sich dem nordkaukasischen Kombinat „Herausforderung“, einer Vereinigung von 16 Kolchosen, für Bildungsarbeit zur Verfügung. Anschließend veröffentlichte er das Buch „Feld-Herren“ darüber, das bereits im Jahr darauf auf Deutsch herauskam und hier fast zu einem Bestseller wurde. Es ist jedoch mehr von bolschewistischem Enthusiasmus als von wirklicher Kenntnis des Dorfes und der Landwirtschaft getragen – dazu absolut staatstragend.

Der eher anarchistisch inspirierte Platonow ließ dagegen bereits 1928 in seinem Essay „Tsche-tsche-O“ seinen Helden sagen: „Die Kollektive in den Dörfern brauchen wir jetzt mehr als den Dnjeprostroi…Und schon bereitet der Übereifer Sorgen…verschiedene Organe versuchen, beim Kolchosaufbau mitzumischen – alle wollen leiten, hinweisen, abstimmen…“, so zitiert ihn die Platonow-Expertin der DDR Lola Debüser, die darauf hinweist, dass der Autor die Tragik und letztlich das Scheitern der Kollektivierung vor allem im „staatlich-bürokratischen und repressiven Mechanismus“ von oben sah, der den „Garten der Revolution“ mit seinen „kaum erblühten Pflanzen“ zerstampfte.

Das Ringen mit dieser  „mechanischen  Kraft des Sieges“ thematisierte Platonow auch in seinen zwei Romanen aus dem „Jahr des großen Umschwungs“ 1929: „Tschewengur“ und „Die Baugrube“. In diesem läßt er z.B. einen Kulaken sagen: „…ihr macht also aus der ganzen Republik einen Kolchos, und die ganze Republik wird zu einer Einzelwirtschaft…Paßt bloß auf: Heute beseitigt ihr mich, und morgen werdet ihr selber beseitigt. Zu guter Letzt kommt bloß noch euer oberster Mensch im Sozialismus an.“  Daneben ging es Platonow auch um die durch die Mechanik der Macht  (wieder) forcierte Trennung von Kopf- und Handarbeit, mit der die ganzheitlichen Maßstäbe und die bewußte Teilnahme des Einzelnen am Aufbau des Sozialismus  zerstört werden.

„Der Mensch war [durch die siegreiche Revolution] – so empfand Platonow das zumindestens – aus dem System der sozialen Determiniertheit ‚herausgefallen‘, alles schien möglich und leicht realisierbar,“ schreibt der russische  Platonowforscher L. Schubin. Aber diese Möglichkeiten wurden nach und nach von der „Mechanik der Macht“ zurückgedrängt. „Die Technik entscheidet alles,“ verkündete Stalin 1934 und meinte damit nicht nur die Industrialisierung der Landwirtschaft – vom Traktor bis hin zu agronomischen Verfahren, sondern auch die administrativ umgesetzten neuen Erkenntnisse der  Wissenschaft – vor allem der „proletarischen  Biologie“ (Mitschurin/Lyssenko). Der französische Marxist Charles Bettelheim merkte dazu 1971  an: „Wer hier handelt, das ist die Technik, und es ist der Bauer, auf dessen Rücken gehandelt wird“.

In seinen Samisdat-„Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ kam Boris Jampolski 1975 zu einer ähnlichen Einschätzung: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie.“ Für diese Autorin ist Literatur „staatliches Schönschreiben“, könnte man dazu mit Platonow auch sagen. In seinem Roman „Tschewengur“ läßt er einen seiner Helden zu der Erkenntnis kommen: „Hier leben keine Mechanismen, hier leben Menschen, die kann man nicht in Gang setzen, solange sie nicht selbst ihr Leben einrichten. Früher habe ich gedacht, die Revolution ist wie eine Lokomotive. Jetzt aber sehe ich: Nein, jeder Mensch muß seine eigene Dampfmaschine des Lebens besitzen…damit mehr Kraft da ist. Sonst kommt man nicht vom Fleck.“ Auf dem Plenum der KPdSU zur Agrarpolitik am 15. März 1989 formulierte es zuletzt Michail Gorbatschow rückblickend so: „…die Führung des Landes ging [Ende der Zwanzigerjahre] nicht den Weg der Suche nach ökonomischen Methoden, um die Probleme und Widersprüche zu lösen, sondern einen anderen, direkt entgegengesetzten Weg – den Weg des Abbaus der NEP,…der administrativen Kommandomethoden…Die natürliche Unzufriedenheit der Bauern wurde als eine Art Sabotage gedeutet. Und damit wurde die Notwendigkeit repressiver Maßnahmen gerechtfertigt…Im Agrarsektor lebten die Methoden außerökonomischen Zwangs aus den Zeiten des Kriegskommunismus wieder auf“.

Hierzulande kennen wir dagegen den „ökonomischen Zwang im Agrarsektor“ nur allzu gut – wenn auch in umgekehrter Weise: „Wer nicht wachsen will muß weichen“, sagen  die Bauern dazu, d.h. von der EU wird  permanent eine Politik der Liquidierung der Dorfärmsten als Klasse betrieben – zugunsten der Kulaken.  In Platonows „Armeleutechronik“ sucht der unstete Wanderer demgegenüber einen humanistischen Weg. Im Kolchos „Kulakenfrei“ trifft er auf den Vorsitzenden  Senka Kutschum, der eine interessante Kollektivierungspolitik betreibt.  Und im  Kolchos des Vorsitzenden Kondrow  geht die Kollektivierung so erfolgreich und ohne Überspitzungen voran, , „weil er selbständig denkt und andere zum Mitdenken auffordert, auch weil er sich gegen unqualifizierte Direktiven von oben wehrt. Kondrow ist glücklich, als Stalins Artikel seinen vernünftigen Weg bestätigt. Platonows Erzähler stellt fest: ‚…es gab Orte, die frei blieben von schwindelerregenden Fehlern…Doch leider waren solche Orte nicht allzu zahlreich‘.“  Stattdessen gab es viele Aktivisten, die nur allzu bereit waren, jede Maßnahme der Administration zu exekutieren.

In „Die Baugrube“ hat Platonow solch einen porträtiert: „Auch dem Aktivisten war der gelbliche Abendhimmel, diese Begräbnisbeleuchtung, aufgefallen, und er beschloß, gleich morgen früh das Kolchosvolk zu einem Sternmarsch zu formieren, der in die umliegenden Dörfer führen sollte, die sich noch immer ans Einzelbauerntum klammerten…Der Aktivist befand sich noch auf dem Orghof, die vorige Nacht hatte nichts erbracht, keine einzige Direktive war von oben herab auf den Kolchos geflattert, und so mußte er notgedrungen den Gedanken im eigenen Kopf freien Lauf lassen. Doch sie brachten Unterlassungsängste mit sich. Braute sich nicht doch Wohlstand auf den Einzelgehöften zusammen? War ihm in dieser Beziehung etwas entgangen? Andererseits war nichts gefährlicher als Übereifer – deshalb hatte er nur den Pferdebestand vergesellschaftet und grämte sich nun über die vereinsamten Kühe, Schafe und Hühner, denn in der Hand des spontanen Einzelbauern konnte schließlich auch der Ziegenbock zum Hebel des Kapitalismus werden.“

Platonow spielt hier sowohl auf die Parteirechten um Bucharin an, die für eine eher sanfte Kollektivierung plädiert hatten, gegenüber den Linken, die Stalin mit den Trotzkisten aus der Partei ausgeschlossen hatte. Diese befürworteten eine noch radikalere Lösung der Bauernfrage. Später wandte sich Stalin auch gegen die Bucharinisten. In der Kolchose von Gremjatschi Log, deren Entwicklung Scholochow beschreibt, wird der Aktivist Makar Nagulnow wegen seines Kampfes für die „hundertprozentige Kollektivierung“ plötzlich des Trotzkismus verdächtigt. Er verteidigt sich: „Ich bin nicht Trotzki wegen mit den Hühnern nach links geraten. Er wollte nur so schnell wie möglich „den Eigentumsmenschen, den Kleinbürger matt setzen“. Er muß sich jedoch sagen lassen, dass solche linksradikalen „Verzerrungen“ und „ungebührliche Drohungen gegen Bauern“ bei der Kollektivierung laut Stalins Artikel „Vor Erfolgen vom Schwindel befallen“  nur dem Feind nützen – also dem „rechten Opportunismus“. Die Kollektivbauern bekamen daraufhin ihr Kleinvieh und sogar eine Kuh zurück – und Stalin legte genau fest, wieviel Morgen Land jeder in Zukunft privat bewirtschaften durfte. Damit gerieten viele Kolchosen erneut in Schwierigkeiten, denn die Bauern arbeiteten bald lieber auf  ihrem kleinen Privathof als in der großen Kollektivwirtschaft.

Hier nun die Vorgeschichte dazu (die allerdings nichts mit dem bewunderungswürdigen Andrej Platonow zu tun hat):

Wiewohl man gemeinhin die Herausbildung der Intelligenz als „klagende Klasse“ mit Emile Zola anheben läßt, erreichte sie etwa zur gleichen Zeit im „rückständigen Rußland“, wo sie am konsequentesten die Partei der „Erniedrigten und Beleidigten“ (Dostojewski) ergriff, ihre stärkste moralische Kraft. Nirgendwo sonst auch wurde sie derart verfolgt, wobei – beginnend mit den Dekabristen – Zigtausende nach Sibirien verbannt wurden, emigrierten oder starben. Allein mit den Grabsteinen der „dahingeopferten“ revolutionären Jüdinnen hätte man den langen Weg von Paris nach St. Petersburg säumen können, meinte die marxistische Frauenforscherin Fannina W. Halle 1932. Was sich trotzdem aus diesem Typus in Rußland an Studentenprotest, Frauenbewegung, Kommunen und Terrorismus entwickelte, nahm die westeuropäische 68er-Bewegung und ihren weiteren Verlauf – 100 Jahre vorher bereits – mehr als vorweg.

Aus dem Kreis der berühmten „Männer und Frauen der Sechzigerjahre“ die „ins Volk“ gegangen  waren, um vor allem auf dem Land die Bauern zu agitieren, bildete sich die Redaktionsgruppe der illegalen Zeitung „Zemlja i Volja“ (Land und Freiheit), in der zunächst noch die unterschiedlichsten revolutionären Ideen koexistierten. Auf einem Treffen in Woronesh kam es 1879 jedoch zu einer Spaltung: Während die einen, um Nikolai Alexandrowitsch Morosow, für den politischen Mord votierten, lehnten die anderen, um Georgi Plechanow und Vera Sassulitsch, Attentate strikt ab. Obgleich letztere 1878 selbst ein kühnes Attentat verübt hatte, indem sie den Stadtkommandanten von St. Petersburg niederschoß, weil der einen ihrer Genossen im Untersuchungsgefängnis wegen mangelnder Ehrerbietigkeit  ihm gegenüber auspeitschen ließ – ungeachtet der Gerichtsreform von 1863, mit der Körperstrafen weitgehend verboten worden waren. In einem aufsehenerregenden Gerichtsprozeß (dessen Plädoyers Dostojewski später in seinen Roman „Die Brüder Karamasow“ einarbeitete) wurde Vera Sassulitsch freigesprochen. Das Urteil hob man zwar wenig später wieder auf, aber ihr gelang rechtzeitig die Flucht ins Ausland. Die Tat und der Freispruch machten sie in ganz Europa berühmt, man nannte Vera Sassulitsch „die Mutter des Terrors“, während sie selbst sich im Exil mehr und mehr von jeglichem  „Attentismus“ abwandte. Ab 1900 gab sie mit Lenin zusammen die Zeitschrift „Iskra“ (Der Funken) heraus.

Die Militanten von Woronesh hatte ihren Zusammenschluß „Narodnaja Volja“ (Volkswille) genannt, die Gemäßigten für sich den Namen „Cernyi Peredel“ gewählt – schwarze Umverteilung, womit eine gerechte Verteilung des schwarzen, d.h. bewirtschaftbaren Bodens  an die Bauern gemeint war. Dabei wollten sie an der altherbebrachten Form der bäuerlichen Selbstbestimmung, der Dorfgemeinschaft (Obschtschina), anknüpfen, die den Gemeinschaftsbesitz an Boden verwaltete. Zunächst studierte diese  Gruppe um Plechanow in ihrem Exil jedoch vor allem die Schriften von Marx und Engels, die sie teilweise ins Russische übersetzten. 1881 schrieb Vera Sassulitsch einen Brief an Karl Marx: „Verehrter Bürger!

Sie wissen, daß sich Ihr Werk ‚Das Kapital‘ in Rußland großer Beliebtheit erfreut. Trotz der Konfiszierung der Ausgabe werden die wenigen verbliebenen Exemplare von einer Masse mehr oder weniger gebildeter Leute in unserem Land wieder und wieder gelesen; bedeutende Menschen befassen sich damit. Aber was sie vielleicht nicht wissen, ist, welche Rolle ‚Das Kapital‘ in unseren Diskussionen über die Agrarreform in Rußland und über die ländliche Kommune spielt. Sie wissen besser als jeder andere, wie dringlich diese Frage in Rußland ist. Sie wissen, was Tscherynschewski darüber dachte. Unsere fortschrittliche Literatur wie die [einst von Nekrassow redigierte Zeitschrift] ‚Vaterländische  Notizen‘ zum Beispiel, entwickelt seine Ideen weiter fort. Aber diese Frage ist meiner Ansicht nach eine Frage von Leben und Tod…Eines von beidem: Entweder ist diese Landbevölkerung, einmal von den unmäßigen Forderungen des Fiskus, den Zahlungen an die Großgrundbesitzer und von der willkürlichen Verwaltung befreit, fähig, sich in sozialistischer Richtung weiterzuentwickeln, d.h. ihre Produktion und die Verteilung der Güter auf kollektivistischer Basis zu organisieren. In diesem Fall muß der sozialistische Revolutionär all seine Kräfte der Befreiung der Landbevölkerung und ihrer Entwicklung zur Verfügung stellen. Wenn hingegen die ländliche Kommune zum Untergang bestimmt ist, bleibt den Sozialisten nur noch übrig, sich mehr oder weniger gut begründeten Rechnungen hinzugeben, um herauszufinden, in wie vielen Jahrzehnten das Land des russischen Bauern aus seinen Händen in die der Bourgeoisie übergeht…Sie werden dann einzig unter den Arbeitern in den Städten Propaganda machen müssen, die ständig von der Menge der Bauern überschwemmt sein werden…“

Marx gab sich große Mühe bei der Beantwortung des Briefes von Vera Sassulitsch – er lernte sogar Russisch, um dabei einige Originalquellen heranziehen zu können. Schließlich schrieb er ihr – auf Französisch:

In Westeuropa sei die „Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln“, die „Expropriation der Ackerbauern“ ausgehend von England mit „historischer Unvermeidlichkeit“ vollzogen worden, aber in Russland könnte „die Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Russlands“ sein. Nur „müsste man zuerst die zerstörenden Einflüsse, die von allen Seiten auf sie einstürmen, beseitigen“. Der Ackerbaugemeinde wohnt laut Marx ein Dualismus inne, der „sie mit großer Lebenskraft erfüllen kann, denn einerseits festigen das Gemeineigentum und alle sich daraus ergebenden sozialen Beziehungen ihre Grundlage, während gleichzeitig das private Haus, die parzellenweise Bewirtschaftung des Ackerlandes und die private Aneignung der Früchte eine Entwicklung der Persönlichkeit gestatten, die mit den Bedingungen der Urgemeinschaft unvereinbar ist. Aber es ist nicht weniger offensichtlich, dass der gleiche Dualismus mit der Zeit zu einer Quelle der Zersetzung werden kann.“ Neben dem Privateigentum „in Gestalt eines Hauses mit seinem Hof“ könnte sich insbesondere „die parzellierte Arbeit als Quelle der privaten Aneignung“ zersetzend auswirken: „Sie läßt der Akkumulation beweglicher Güter Raum“ und „dieses bewegliche, von der Gemeinde unkontrollierbare Eigentum, Gegenstand individuellen Tausches, wobei List und Zufall leichtes Spiel haben, wird auf die ganze ländliche Ökonomie einen immer größeren Druck ausüben. Das ist das zersetzende Element der ursprünglichen ökonomischen und sozialen Gleichheit. Es führt heterogene Elemente ein, die im Schoße der Gemeinde Interessenkonflikte und Leidenschaften schüren, die geeignet sind, zunächst das Gemeineigentum an Ackerland, dann das an Wäldern, Weiden, Brachland etc. anzugreifen, die, einmal in Gemeindeanhängsel des Privateigentums umgewandelt, ihm schließlich zufallen werden.“

Die noch quasi urkommunistische Obschtschina auf Basis einer weitgehenden Subsistenzwirtschaft hatte man – und das bis in die jüngste Zeit – auch immer wieder von oben zu zerschlagen versucht, d.h. von der Zentralmacht aus, weil dieser  der Prozeß der inneren Zersetzung der Obschtschina nicht schnell genug voranschritt.  Das geschah einmal mit der Landreform von 1861, nach der die von der Leibeigenschat „befreiten“ Bauern sich zugleich bei den Gutsbesitzern verschulden und damit verdingen mußten. Dann unter dem Druck der Revolution von 1905/07 mit den Stolypinschen Agrarreformen, die den sozialen Differenzierungsprozeß beschleunigen sollten und es jedem Gemeindemitglied ermöglichten, seinen Landanteil zu verkaufen und wegzuziehen. Schließlich ab 1928 mit der Verstaatlichung des gesamten Landes und der Kollektivierung der armen und Mittelbauern bei gleichzeitiger Liquidierung der als ausbeuterisch klassifizierten Kulaken.

Aus der Obschtschina wurden dabei Kolchosen und Sowchosen und aus freien Bauern befehlsempfangende Landarbeiter, denen man ab 1932 sogar den Paß abnahm, ohne den sie ihr Dorf nicht verlassen durften. Unter Chruschtschow faßte man 1956 die Dörfer und Produktionskollektive zu „territorialen Wirtschaftseinheiten“ zusammen. 1970 erfolgte unter Breschnew ihre  „Reorganisation“. Und 1986  wurde aus dem alten Wort für „Dorfplatz“ – MIR – eine Weltraumstation. Zur selben Zeit bedauerte nebenbeibemerkt in Bayern der Filmemacher Herbert Achternbusch: „Da wo früher Pasing und Starnberg waren, ist nun Welt!“

Zuletzt nach 1990 wurden in Russland insbesondere die wenig produktiven Kolchosen und Sowchosen aufgelöst oder sie zerfielen langsam, andere wurden von ihren Leitungskadern aber auch von reichen Städtern privatisiert, d.h. in GmbHs,  Aktiengesellschaften oder ähnliches umgewandelt bzw. zerschlagen. Gleichzeitig entstanden jedoch an vielen Orten auf dem postsowjetischen Territorium auch wieder neue, selbstorganisierte Obschtschinas, nicht selten in Form von  Sippenverbänden und Gemeinschaften der einst nach Osten verbannten Kulaken;  daneben gab es auch wieder Genossenschaften, Artel, Kommunen. Der Geist der alten Dorfgemeinschaft erfaßte sogar Datschensiedlungen. Die kollektive Wirtschaftsweise und die  Obschtschina-Idee sind also auch heute noch nicht tot. Sie hatte, wie bereits Trotzki bemerkte, u.a. in den städtischen Fabriken überlebt, wo einzelne Kollektive sich aus ehemaligen Dorfgemeinschaften zusammensetzten, ähnliches galt sogar für die Arbeitslager, Gefängnisse  und die neugebauten Hochhäuser am Stadtrand, in denen man bisweilen „Dorfälteste“ wählte.

Überhaupt hat noch jede russische Revolte und Revolution die Obschtschina  gestärkt. Im Jahre 1905 befanden sich 9,5 Millionen Bauernhaushalte in Dorfgemeinschaften, daneben gab es 2,8 Mio Einzelhöfe. Deren Zahl verdoppelte sich in der Folgezeit – bis 1917 sämtliche „Reformbemühungen“ von oben „nahezu zunichte gemacht wurden“, wie der antikommunistische US-Historiker Robert Conquest in seinem Buch über die Kollektivierung „Ernte des Todes“ schreibt. Denn Millionen von Kleinbauern nahmen unter der bolschewistischen Parole „Das Land denen, die es bearbeiten“ den Großgrundbesitzern das Land weg „und schlossen sich verstärkt in Dorfgemeinschaften  zusammen“, daneben entstanden eine Unzahl von Kommunen, Artels und „befreiten Gebieten“. 1927 bewirtschafteten die Dorfgemeinschaften 95 Prozent des Gutsbesitzes, nur 3,5 Prozent waren noch „eigenständige Höfe vom Stolypin-Typus“.

Auf die in Vera Sassulitschs Brief aus dem Jahr 1881 enthaltene  Frage, warum ein revolutionärer Kampf für den Erhalt der russischen Dorfgemeinschaft sinnvoll sein könnte, schrieb Marx:

„Ich antworte: Weil in Russland, dank eines einzigartigen Zusammentreffens von Umständen, die noch in nationalem Maßstab vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln kann.“

Unter Alphabetisierung, Aufklärung und politische Agitation auf dem Land verstand man auch und vor allem die Vermittlung agrarwissenschaftlicher Kenntnisse und Techniken. Dabei bildete das Studium der Schriften von Lamarck und Darwin sozusagen die Grundlage. Letzterer hatte sich nach 1859 immer mehr an die teleologische  Evolutionstheorie von Lamarck angenähert, wobei dieser Aspekt in der russischen Rezeption von vorneherein betont worden war. So griff Darwin z.B. bei seiner „Erklärung der Evolution des Menschen und seines Verhaltens“ auf die lamarckistische „Hypothese der Vererbung erworbener Eigenschaften“ zurück, erst recht dann in seiner 1871 erschienenen Schrift „Die Abstammung des Menschen durch natürliche Zuchtwahl“, in der es heißt: „Das höchste Element der menschlichen Natur“ wurde und wird „entweder direkt oder indirekt durch die Folgen von Gewohnheit, Geisteskräften, Belehrung, Religion etc. vorangetrieben, viel mehr als durch die natürliche Auslese“. Dieser „Lamarckismus“ half ihm,  wie der Biologiehistoriker Torsten Rüting sagt, „sicher zu stellen, dass der Fortschritt unweigerlich, kontinuierlich und auf einen Zweck gerichtet voranschreitet“ – am Ende also die Tugend triumphiert!

Das mußte auch und gerade der Arbeiterbewegung gefallen: Wenn nicht einmal in der Natur die Dinge mehr ewig und unveränderlich waren, dann erst recht nicht in der Gesellschaft. So bestand etwa Moses Hess darauf, „daß auch die selbständige Entwicklung der menschlichen Gesellschaft den Naturgesetzen der Entwicklung unterworfen ist“. Die Theoretiker der Arbeiterbewegung „trafen sich in diesem Punkt mit jenen bürgerlichen Autoren, die den bestehenden feudalen Strukturen kritisch gegenüberstanden und in der Evolutionstheorie eine weltanschauliche Waffe für ihren Kampf um die Modernisierung und Demokratisierung sahen,“ schreiben Kurt Bayertz und Wolfgang Krohn in einem Aufsatz über Friedrich Engels Schrift ‚Dialektik der Natur‘, weiter heißt es dort: „…wenngleich jedoch auch für Engels kein Zweifel daran besteht, daß die menschliche Geschichte nur die Fortsetzung der Naturgeschichte ist, so wendet er sich doch energisch gegen die von zahlreichen Theoretikern unternommenenen Versuche, die Mechanismen der organischen Evolution (‚Kampf ums Dasein‘) unmittelbar auf die Gesellschaft zu übertragen, da diese der Spezifik menschlichen Handelns nicht gerecht wird. Die menschliche Gesellschaft unterscheidet sich von der Naturgeschichte dadurch, daß die Menschen ihre Geschichte selbst, mit Bewußtsein machen…“ Dennoch ist der Unterschied für Engels kein absoluter, weil „die unkontrollierten Kräfte“ auch in der menschlichen Geschichte noch immer „weit mächtiger sind als die planmäßig in Bewegung gesetzten…Darwin wußte nicht, welch bittere Satire er auf die Menschen und besonders auf seine Landsleute schrieb, als er nachwies, daß die freie Konkurrenz, der Kampf ums Dasein, den die Ökonomen als höchste geschichtliche Errungenschaft feiern, der Normalzustand des Tierreichs ist.“

Für Engels, ebenso wie auch für August Bebel, hebt deswegen nur eine bewußte, planmäßige Produktion den Menschen aus der Tierwelt heraus: Erst der Sozialismus wird diesem „Kampf“ ein Ende bereiten – und die Menschheit in eine neue Phase eintreten, in der kein Ressourcenmangel mehr herrscht – und ein „neuer Mensch“ auf den Plan getreten ist. – Dessen Anfänge sich natürlich gemäß der 3. Marxschen Feuerbachthese noch selbst „umerziehen“ müssen. Dazu wußte z.B. Vera Figner, die bis zu ihrer Verhaftung im Vorstand der „Narodnaja Wolja“ aktiv war, aus eigener Gefängnis-Erfahrung mitzuteilen: „Ich glaube, es ist unmöglich, in langjähriger absoluter Einzelhaft psychisch intakt zu bleiben, nicht wahnsinnig zu werden. Doch daß man nach einem langjährigen Aufenthalt in einer Gemeinschafts-Zelle seine Seele noch intakt bewahrt, scheint mir einzig und allein mit Hilfe einer großen Selbstdisziplin und Umerziehung möglich…“

Es Vera Figner gleich tuend, nahmen derart viele Russinnen im ausgehenden 19. Jahrhundert ein solches „Projekt“ in Angriff, „dass die Frau in Rußland überhaupt zur Seele der Revolution“ wurde, wie eine ihrer Historikerinnen, Fannina Halle, schrieb. Dem lebenslänglich verbannten Dichter Tschernyschewski kommt dabei der Verdienst zu, mit seinem Roman „Was tun?“, den er 1863 in der Peter-Pauls-Festung verfaßte, eine Antwort darauf gegeben zu haben, wie sich die Frauenfrage aus der Theorie in die Praxis umsetzen ließe. „Wir lasen sein Buch mit gebeugten Knien“, erinnerte sich ein ebenfalls nach Sibirien Verbannter, der sich davon mit etlichen anderen zum Terrorismus hatte inspirieren lassen.  In Tschernyschewskis Werk  „Was tun?“, geht es darum, dass eine Frau aus dem Familienleben ausbricht, um wirtschaftlich unabhängig zu sein und einen sozialen Wirkungskreis zu haben. Dazu gründet sie einen „auf kaufmännischer Grundlage aufgebauten kommunistischen Artel – als erste Zelle eines zukünftigen sozialistischen  Staatsorganismus“. Nach Erscheinen des Buches, das einen „Sturm“ auslöste,  befürchteten Eltern und Ehemänner, dass ihnen die Töchter bzw. Ehefrauen weglaufen würden – was tatsächlich hier und da auch geschah, so entstanden an vielen Orten „Arbeitsgenossenschaften“. In der Hauptstadt lebten die Frauen in sogenannten Petersburger Kommunen – zusammen mit Studenten. Hier begannen sie mit der Agitation unter Fabrikarbeitern, wobei einige der Frauen bald, „mit falschen Bauernpässen“ versehen, anfingen, in Textilfabriken zu arbeiten.

Über die damalige Rezeption der Darwinschen Theorie in Russland schreibt der Biologiehistoriker Torsten Rütting:  „Während Darwins ‚Origin of Species‘ in der schwerfälligen Übersetzung des Botanikprofessors Sergej Raschinskij mit ihren detaillierten wissenschaftlichen Beschreibungen nur eine kleine Schicht von Gelehrten ansprach“, wurde vor allem eine umfangreiche Interpretation seiner Schriften von Dimitrij Pissarew berühmt, die „unverkennbar den Stempel der radikalen Bewegung“ trug. Der junge Publizist schrieb sie während einer mehrmonatigen Festungshaft, wo er in einer Einzelzelle direkt neben Tschernischewski saß, wie Wladimir Nabokov in seiner Biographie über diesen hervorhob. Pissarew veröffentlichte seine Darwin-Interpretation 1864 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Russkoje Slovo“ (Das russische Wort).

Laut Torsten Rüters machte er darin jedoch erst recht einen „lamarckistischen Darwinismus in Russland populär“, denn er verfehlte das „essentiell Neue an Darwins Idee – das Ineinandergreifen von Variabilität und Selektion“, indem er die „Zweckmäßigkeit in der Organismenwelt als durch bewußte Zielstrebigkeit und Willensanstrengung erwirkte Umweltanpassung der Organismen“ erklärte. „Seine Ausführungen waren konzipiert als ideologische Waffe in den Auseinandersetzungen der 1860er-Jahre um die Erneuerung der russischen Gesellschaft…“ Und diese Kämpfe reichten bald immer tiefer. So berichtet Maxim Gorkij aus der Zeit seines  Wanderlebens in „Meine Universitäten“, wie sie in den ärmlichsten Kellerwohnungen Tschernyschewskis und Pissarews Texte studierten, an den Wänden hingen Bildnisse von Herzen, Darwin und Garibaldi, und ein Tolstoianer fragte sie nach seinen Ausführungen polternd: „Seid ihr also für Christus oder für Darwin?“ Ein ehemals Verbannter versorgte Gorkij dann mit weiteren „naturwissenschaftlichen Büchern“, wobei er ihm den Rat gibt: „Sie müssen lernen, aber so, daß das Buch Ihnen die Menschen nicht verdeckt.“

Für die gesamte russische Literatur dieser Epoche war es laut Rosa Luxemburg kennzeichnend gewesen, „daß sie aus Opposition zum herrschenden Regime, aus Kampfgeist geboren wurde“. Ein Jahr bevor Nikolai Tschernyschewski seine Erzählung „Was tun?“ veröffentlichte, erschien im „Russki westnik“ (Russische Nachrichten) Iwan Turgenjews Roman „Väter und Söhne. Er skizzierte darin  als erster den „Neuen Menschen“ – den Revolutionär als „Beweger“, wie er bald geradezu massenhaft in Erscheinung treten sollte.

Die Handlung spielt Ende der Fünfzigerjahre und die Hauptfigur darin, der Medizinstudent Basarow, gehört noch zur  Rasnotschinzengeneration, d.h. zu jener revolutionären Bewegung, die nicht mehr wie die Dekabristen zuvor von Adligen angeführt wurde, sondern von Leuten „unterschiedlichen Ranges“, Kleinbürgern also. Turgenjew nennt sie „Nihilisten“ – und meint damit „Revolutionäre“. Sie scharrten sich in jenen Jahren vor der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 um die Zeitschrift „Russkoje slowo“ und „betrachteten die Aneignung und Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse als einzigen Weg zum Fortschritt Russlands“, wie Klaus Dornbacher im Nachwort zur DDR-Ausgabe von Turgenjews „Väter und Söhne“ schreibt. Weiter heißt es dort: Tschernyschewskis Roman sei dazu sowohl „eine Art Fortsetzung als auch eine indirekte Polemik“. So decken sich Basarows Ansichten über „den bestimmenden Einfluß des sozialen Milieus und der Erziehung auf die Entwicklung des Menschen“ fast wörtlich mit den von  Dobroljubow und Tschernyschewski propagierten Ideen. Letztere standen damals an der Spitze des Kampfes für den Sturz des Zarismus durch eine Bauernrevolution und die entschädigungslose Aufteilung des Gutsbesitzes. In Turgenjews Roman diskutieren die „Alten“ und die „Neuen Menschen“ bereits die Frage, ob die „Gemeindeselbstverwaltung“ erhaltenswert sei. Basarow zeichnet sich durch eine unsentimentale, vulgärmaterialistische Haltung gegenüber dem „Leben“ aus. Seine Bemerkungen über das Sezieren von Fröschen, um mehr über das Innere der Menschen zu erfahren, mußten übrigens die russischen Schüler mindestens bis zum Ende der Sowjetunion noch auswendig lernen (wie ich von Wladimir Kaminer weiß).

Auch Tschernyschewski bediente sich dann laut Torsten Rütting in seinem Buch eines „neurologischen Vokabulars“, um einerseits die Sexualität und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern neu zu verhandeln und andererseits diese mit den damals aktuellen Debatten um die Neuordnung der Gesellschaft zu verbinden. Dergestalt nimmt er die lamarckistischen Naturwissenschaften in den Dienst der Zukunft des Neuen Menschen, der kontrolliert und rational ein moralisches und sinnvolles Leben führt. „Viele der russischen Intellektuellen verwarfen in Übereinstimmung mit Marx und Engels, aber auch unabhängig von ihnen, die Idee von der Höherentwicklung durch Konkurrenzkampf, die Darwin von dem englischen Nationalökonom Thomas Malthus übernommen hatte“. Malthus glaubte, bewiesen zu haben, dass das rapide Bevölkerungswachstum verbunden mit einem ständig zunehmenden Mangel an Nahrung quasi automatisch eine natürliche Auslese der Besten gewährleiste.

Während jedoch Marx und Engels davon ausgingen, dass Darwin Malthus überwunden habe, indem er dessen Gesetz auch in der Tier- und Pflanzenwelt für gültig erklärte, hielt man in Russland das ganze Prinzip der Konkurrenz eher für ein englisches Insel-Phänomen, dass in den unterbesiedelten russischen Weiten keine Gültigkeit habe. In dieser Einschätzung  war sich noch der revolutionäre Narodnik Michailowski mit dem ultrakonservativen Oberprokuror Pobjedonoszew einig: Beide taten diesen Aspekt des Darwinismus als eine „händlerische Faustregel“ ab, die „unsere [russische] Seele nicht annehmen“ könne. Der Fürst und Anarchist Peter Kropotkin hat um 1900 gegen dieses Darwinsche Theorem die „Sittlichung“ der biologischen Gesetze in seinem auf viele Forschungsberichte beruhenden Werk „Die gegenseitige Hilfe“ (in der Tier- und Menschenwelt)  noch einmal – ausgehend  von eigenen  Erfahrungen in Sibirien – herausgearbeitet. Ebenso abgelehnt wurden in Russland dann auch die Experimente von August Weismann zur Widerlegung der Vererbung erworbener Eigenschaften und zur Konstanz des Keimplasmas, die u.a. die Theorie des Neo-Darwinismus begründeten, der in seiner molekularbiologischen Fassung  dann von einem – „unbewegten Beweger“ ausging und -geht, wie Max Delbrück das später aristotelisch gestimmt nannte.

Die russische  Debatte mußte sich nach der Revolution von 1917 noch zuspitzen, denn nun ging es ja um die planmäßige Gestaltung der gesamten Produktion – und auch die Schaffung des Neuen Menschen konnte jetzt im großen Stil in Angriff genommen werden. Zunächst bekamen dabei anscheinend die Neodarwinisten Oberwasser, indem sie die Eugenik als praktisches Projekt ins Spiel brachten – sie versprach  sozusagen flächendeckend eine Verbesserung des Menschenmaterials. So legte z.B. der amerikanische Drosophilaforscher Hermann Joseph Muller  Stalin 1935 einen großen eugenischen Plan vor, den er „Aus dem Dunkel der Nacht“ betitelte: „Viele zukünftige Mütter, befreit vom religiösen Aberglauben, werden stolz sein, ihr Keimplasma mit dem eines Lenin oder Darwin zu mischen, um der Gesellschaft mit einem Kind von ihren biologischen Eigenschaften zu dienen…Echte Eugenik kann nur ein Produkt des Sozialismus sein“. Gegen diese makropolitischen Pläne protestierten nicht nur die Frauenverbände, auch in den Zeitungen wurde gegen solche oder ähnliche Mixturen aus Soziologie und Biologie zur Massenproduktion des Neuen Menschen polemisiert, zumal nachdem ab 1933 das faschistische Deutschland die Rassenverbesserung qua Biopolitik auf seine Fahnen geschrieben hatte und die Eugenik damit für die sozialistische Sowjetunion quasi „verbrannt“ war, wobei das Ziel jedoch nicht in Frage gestellt wurde, das man aber eher durch Pädagogik, Kollektivierung, Arbeit auf den Großbaustellen des Sozialismus, mit Taylorismus, Arbeitswissenschaft  und – bis zum Sturz Trotzkis – mit Psychoanalyse erreichen wollte.

Immer wieder kam es dabei zu neuen Kampagnen und Komsomolprojekten. Nicht die unwichtigsten waren sicher die Selbstversuche, bei denen Einzelne analog zu den einst  „berühmten Männern und Frauen der Sechzigerjahre“ sich selbst zu neuen Menschen erzogen – und gleichzeitig in einem Tagebuch darüber Rechenschaft ablegten (1). Unmerklich weitete sich dieser eher mikropolitisch zu nennende Ansatz, indem nun auch eine „Neue Natur“ in den Blick geriet: Alles war machbar und ließ sich bewegen, auch die Pflanzen und Tiere waren lernfähig, man konnte sie erziehen – verbessern. Ein ganz neues Vokabular entstand (dafür) – schließlich eine ganze „proletarische Biologie“.

Der ökonomische Hintergrund dafür war jedoch tragisch: die Zerschlagung der Dorfgemeinschaften im Zuge der Kollektivierung und Entkulakisierung der Landwirtschaft. Bereits 1918 gab es den ersten Umschwung in der Politik der Bolschewiki gegenüber den Bauern, indem in der Sowjet-Verfassung von einer neuen Phase beim Aufbau des Sozialismus die Rede war und dabei das Bündnis mit dem Dorf aufgekündigt wurde, um dort fortan nur noch mit dem „Dorfproletariat“ zusammen – gegen den reichen Bauern, den Kulaken – zu kämpfen, während der mittlere Bauer gerade noch geduldet wurde. Conquest schreibt: „Wo Stolypin ‚auf die Starken gesetzt‘ hatte, setzte Lenin auf die Schwachen.“ Diese Einführung einer  Nomenklatur zur Forcierung des Klasmpfs im Dorf führte zu einer Biopolitik, die schließlich die Klassenherkunft wie früher die Rang- und Rasseabstammungen handhabte. So müssen z.B. die Arbeiter in dem Roman „Waska in der Metro“ von Sergej Antonow  verheimlichen, dass ihre Kollegin ein aus der sibirischen Verbannung geflüchtetes Kulakenmädchen ist. „Soll man sie bei der Miliz anzeigen oder nicht?“ Erst als sie  Bestleistungen erbringt, kann sie sich langsam mit Unterstützung ihres Brigadiers von ihrem Geburtsmakel „befreien“.

Zunächst zerstörte jedoch der Bürgerkrieg, bis etwa 1921, tausende von Dorfgemeinschaften und die Erntemengen fielen um die Hälfte. Die bolschewistische Regierung schickte bewaffnete Getreide-Requirierungskommandos in die Dörfer. Um die Landwirtschaft wieder in Schwung zu bringen, ließ der Volkskommissar Trotzki überall Plakate anbringen – mit der Losung: „Proletarier aufs Pferd!“ Zu Zeiten der größten Hungersnöte entsandten u.a. die angloamerikanischen Quäker Hilfsgüter an die Wolga. Einer der ausländischen Helfer, Traugott von Stackelberg, der im Ersten Weltkrieg als Kriegsgefangener in Sibirien ein Krankenhaus geleitet hatte, ist erstaunt über den relativen Überfluß an Lebensmitteln in den Städten und erst recht in den Ausländerrestaurants, während gleichzeitig im Süden zigtausende verhungern. Nach einem Gespräch mit dem Polizei- und Staatssicherheitschef Berija notiert Stackelberg: „Die Hungersnot sah er als eine periodisch in Russland eintretende Katastrophe an und fand anscheinend, dass es eine eigentlich recht unnütze Gefühlsduselei sei, nun dieser Erscheinung besondere Beachtung zu schenken.“ Überdies schien es Stackelberg, dass die Moskauer gar nicht wußten, was an der Wolga geschah, „allerdings stand in den Zeitungen auch nie etwas über die Hungergebiete“.

Während der Neuen Ökonomischen Politik (von 1921 bis 1928), als u.a. die Märkte wieder zugelassen wurden, bremste Lenin die Kollektivierung zunächst, als er verkündete, sie sei ein langsamer Prozeß, der auf die Überzeugung und freie Zustimmung der Bauern beruhen müsse. Damit tat sich jedoch laut Conquest ein Widerspruch in der Politik der Partei auf: „Einerseits (auf der wirtschaftlichen Seite) wünschte sie, die landwirtschaftliche Produktion zu ermutigen; dies wiederum hieß, die wirksamen Erzeuger zu ermutigen. Andererseits (auf der politischen und der doktrinären Seite) betrachtete sie diese wirksamen Erzeuger als, letztlich, den Klassenfeind; und sie verließ sich im Prinzip auf die unwirksamen Elemente der Bauernschaft.“ Wobei diese sich, wenn man sie gehörig förderte, auch noch von ihrer Klasse entfernten, d.h. zu „Mittelbauern“ und schließlich sogar zu „Kulaken“ aufstiegen.

Der Bolschewik Nikolai Bucharin ging 1925 so weit, den Bauern das zu raten, was 1978 auch der chinesische KP-Chef Deng Xiaoping ihnen sagte: „Bereichert euch!“ Aber bereits 1927 setzte dabei erneut eine „Krise der Getreidewirtschaft“ ein: Die schwachentwickelte Industrie konnte dem Dorf nicht genügend Waren bieten, die Aufkaufpreise für Getreide wurden daraufhin gesenkt, was wiederum das Interesse der Bauern an den  Marktbeziehungen erlöschen ließ, mit der Folge, dass sie die Anbauflächen drastisch reduzierten. Auf dem XV. Parteitag im Dezember  1927 wurde deswegen „die allseitige Entfaltung der Kollektivierung der Landwirtschaft“ und gleichzeitig eine Reihe außerordentlicher Maßnahmen gegen „Kulaken und Spekulanten“ beschlossen, wonach Getreideüberschüsse gerichtlich beschlagnahmt werden konnten. In den Dörfern selbst hatte sich jedoch ebenfalls etwas getan: Erst erlangten immer mehr mittlere und reiche Bauern die Kontrolle über die Sowjets – der Vertretung der Regierung auf dem Land, dann ließen sich hier und da auch schon Kulaken zu Kolchosvorsitzenden wählen. Es war so ähnlich wie Solschenizyn es in bezug auf das Verhalten der zaristischen Offiziere 1917 beschrieb: Nach einer Schrecksekunde, da die Soldaten viele mit Schimpf und Schande davongejagt oder sogar erschossen hatten, verstanden sie es immer besser, auf der Revolutionswelle zu surfen – und sich sogar an die Spitze der revolutionären Bewegung zu setzen (Ähnlich reagierten 1968ff auch viele Professoren auf die Studentenbewegung).

Die sowjetischen Verwaltungen nahmen deswegen bei ihrer Klassenanalyse der Dörfer die Herkunft immer wichtiger. 1927 schätzte man, dass es zwischen 4 und 8 Millionen Kulaken gäbe. Auf dem XV. Parteikongreß Ende 1927 sprachen Stalin und Molotow bereits davon, die Kulaken als Klasse zu liquidieren, das Kollektivierungsprogramm sah vor, bis 1933 mindestens 20 Prozent aller rund 25 Millionen Betriebe, die insgesamt 3120 Millionen Hektar bewirtschafteten, zu Kolchosen zusammen zu fassen. Ein Gesetz vom 10. Januar 1928 änderte dazu die Quorum-Regeln für die Versammlungen der Dorfgemeinschaften: Ein Drittel ihrer Mitglieder konnten nun den Rest verpflichten, außerdem waren Landlose abstimmungsberechtigt und der Dorfsowjet überprüfte fortan ihre Entscheidungen, ob sie der sowjetischen Politik entsprachen, zudem wurde die Dorfgemeinschaft für die Abgaben an den Staat verantwortlich gemacht. „Dies war der Anfang vom Ende der Selbständigkeit der Dorfgemeinschaft,“ meint Robert Conquest. Erneut kam es zu Plünderungen von Bauernhöfen durch Beschaffungskommittes. Die Parteibevollmächtigten riefen dazu nun oftmals die Dorfversammlungen zusammen und bedrängten sie, die höheren Ablieferungszahlen zu akzeptieren, wobei als Gegner und Saboteure immer wieder die Kulaken ausgemacht wurden. Die Aktivitäten gegen diese Klasse näherten sich der „Dekulakisierung“. In einem Leitartikel warnte die Prawda, dass die Kulaken den Rest der Bauernschaft auf ihre Seite zögen mit dem Schlagwort von der Gleichheit der Dorfgemeinschaft. Zu dem Zeitpunkt gehörten weniger als 2 Prozent der Haushalte zu einer Kolchose.

Im „Jahr des großen Umschwungs“ 1929 waren „das Getreideproblem und das Bauernproblem immer noch ungelöst,“ schreibt Conquest. In diesem Jahr wurde der erste Fünfjahresplan zur industriellen Entwicklung des Landes verabschiedet, wobei sich die UDSSR zum Haupteinwanderungsland für Arbeitslose, verfolgte Kommunisten und Abtenteurer aus aller Welt entwickelte. Den lokalen Behörden wurde es erlaubt, Kulaken zu enteignen und zu verbannen. Dagegen kam es zu Unruhen, Aufständen und „Terrorismus“. Überall wurde Getreide vergraben und das Vieh notgeschlachtet. Im Sommer 1929 wurden deswegen wieder einmal 100.000 städtische Parteiarbeiter aufs Land geschickt, um bei der Getreideaushebung zu helfen. Gleichzeitig begannen die Initiativen zur Massenkollektivierung. Im Herbst des Jahres erklärte  Pjatakow vor dem Rat der Volkskommissare: „Die heroische Periode unseres sozialistischen Aufbaus hat begonnen…Wir sind genötigt, extreme Zuwachsraten bei der Kollektivierung der Landwirtschaft anzusetzen.“

Kurz vor dem entscheidenden Plenum des Zentralkomittees (Mitte November 1929) verkündete Stalin, um den Druck nach unten zu verstärken, „den radikalen Wandel, der in der Entwicklung unserer Landwirtschaft Platz gegriffen hat von kleiner rückständiger Bauernwirtschaft zu großräumiger, fortgeschrittener kollektiver Landwirtschaft…“ In den Getreideerzeutungsgebieten sollte die Kollektivierung bis zum Frühjahr 1932 abgeschlossen sein. Es wurde ein riesiges „Allunions-Volkskommissariat für Landwirtschaft gegründet, das mit weitgehenden Planungsvollmachten ausgestattet war. Stalin verkündete: „Wir sind übergegangen von einer Politik, die Ausbeutertendenzen des Kulaken zu beschränken, zu einer Politik, den Kulaken als Klasse zu liquidieren“. Gegenüber Churchill erwähnte er später einmal die Zahl „10 Millionen“, die davon betroffen waren – also enteignet, erschossen oder verbannt wurden.

„Es war [damals] leicht, einen Menschen ins Gefängnis zu bringen,“ schreibt Wassili Grossmann 1955 in seiner Erzählung „Alles fließt“, die erst 1989 veröffentlicht werden durfte, aber dann sofort vergriffen war, auch in der DDR im Jahr darauf. „Du schreibst eine Denunziation; du brauchtest sie nicht einmal zu unterschreiben. Alles, was du sagen mußtest, war, daß er Leute bezahlt hatte, um für ihn als Tagelöhner zu arbeiten, oder daß er drei Kühe besessen hatte.“ Die Leute betrachteten die so genannten Kulaken „als Vieh…; sie hätten keine Seelen, sie würden stinken…; sie seien Volksfeinde und beuteten die Arbeit anderer aus…Und es gab für sie keine Gnade“, selbst die Kulaken-Kinder waren geringer als eine Laus, schreibt Grossmann (der nun neben Platonow zu Recht als einer der ganz großen sowjetischen Schriftsteller gilt).

Dem gegenüber wurden von oben neue antikulakische Helden kreiert: Der berühmteste war Pawel Morosow, der als Kind seinen Vater denunzierte, weil dieser zwei Sack Getreide versteckt hatte. Der Vater wurde daraufhin als Kulak verhaftet und erschossen, seine Nachbarn erschlugen deswegen wenig später den kleinen Pawel – ob seines mangelnden Familiensinns. Die Partei machte ihn dafür zu einem Märtyrer der Revolution: die Jungpioniere der zweiten bzw. dritten Klasse mußten fortan einen „Pawlik-Schwur“ ableisten, vor dem Moskauer Pionierpalast am Moskwaufer wurde ein Morosow-Denkmal aufgestellt, der Ort in dem lebte, wurde in Morosowka umbenannt und man widmete ihm dort ein Museum. Dieses wird heute von der Soros-Foundation unterhalten – und dient der Erforschung der sowjetischen Landwirtschaftspolitik.

Der Stalin-Preisträger Michail Scholochow schrieb bereits 1932 einen Roman über diese heroische Zeit der Kollektivierung: „Neuland unterm Pflug“, dessen erster Teil 1955 veröffentlicht wurde. Er spielt in der Steppe am Don in einem Bezirk, wo die Kollektivierung erst 14,8 Prozent der kosakischen Bauern erfaßt hat und deswegen die Entkulakisierung forciert werden muß. Der Dorfaktivist Andrej Rasmjotnow bekommt dabei irgendwann Skrupel – er sagt: „Ich halte nichts mehr von diesem Kulaken-Brechen.“ Der zum Parteiaufgebot der 25.000 gehörende Proletarier  Dawydow, fragt ihn, was er damit meine. „Ich wurde nicht dafür ausgebildet, gegen Kinder zu kämpfen…Was bin ich, ein Henker? Oder ist mein Herz aus Stein?“ Dawydow kann ihn nur mit Mühe wieder auf Parteilinie bringen: „Gewiß, wir jagen die Kulaken fort, schicken sie nach Solowki. Krepieren werden sie aber ganz gewiß nicht…Und haben wir erst einmal unseren Aufbau vollendet, dann werden diese Kinder keine Kulakenkinder mehr sein. Die Arbeiterklasse wird sie inzwischen umerzogen haben.“

In dem Roman verschwören  sich die Kulaken, aber auch der eine oder andere Kolchosmitarbeiter, mit den letzten Resten der untergetauchten weißen Offiziere  – und scheuen selbst vor Morden nicht zurück. Dawydow versucht derweil die Masse der Dörfler mitsamt ihrem Eigentum in einer Kollektivwirtschaft zusammen zu fassen. Aber ihr Engagement und ihre Arbeitskraft sind sehr unterschiedlich und einigen bricht es schier das Herz, ihr Pferd oder ihre Kuh zu vergesellschaften, d.h. sie in einen Stall der Kolchose zu bringen, wo sie u.U. nicht so gut behandelt und gefüttert werden.

Sergej Tretjakow erwähnt dazu in seinem 1968 veröffentlichten Roman „Das Ableben“, der die  Geschichte des Kirchdorfes Poshary von 1917 bis in die Chruschtschow-Zeit erzählt, ein Erlebnis des „gescheiterten Bauernführers“ Iwan. [2] Er will einem Kutscherjungen, der gerade mit Pferd und Wagen von der Molkerei gekommen ist, beim Abladen helfen. „Das Pferd war groß, schmutzig, unter dem enthaarten Fell stachen die Rippen hervor, traurig ließ es den Kopf hängen. Als Iwan hinzutrat hob es plötzlich den Kopf, sah ihn mit feuchtem Blick an und begann leise und wehmütig zu wiehern. Er hatte es nicht erkannt, aber das Pferd hatte ihn erkannt…Einer seiner beiden ‚grauen Schwäne‘ [wie er sie früher immer genannt hat] – die Hufe beschädigt, die Fesseln geschwollen, der Bauch schmutzverkrustet, und der feuchte Blick, voller Wehmut und Trauer um das frühere Leben, um die warme Box und die liebevolle Hand des Herrn, die ihm Zuckerstückchen zwischen die samtigen Lippen gesteckt hatte. Er hatte seine Pferde geliebt, war stolz auf sie gewesen…Nie warf er einen Blick in den Pferdestall der Kolchose; wenn er seine Grauen irgendwo unterwegs sah, wandte er sich ab, zu schmerzlich war ihm der Anblick. Und nun stand er einem seiner Pferde Auge in Auge gegenüber, und das Tier hatte ihn zuerst erkannt.“ [3]

Anders sieht es in den Kollektivlandwirtschaften aus, die aus Nichtbauern bestehen, z.B. in der Gorki-Kolonie für kriminell gewordene Jugendliche von A.S. Makarenko, wo jedes neu angeschaffte Nutztier eine große Errungenschaft ist und dementsprechend von allen liebevoll behandelt wird. Allerdings bildet hier die Landwirtschaft nur die ökonomische Basis für die Kolonie, sie ist nicht deren Zweck, der darin besteht, die Kinder zu Neuen Menschen zu erziehen. Aber auch dabei werden „die Kulaken von Tag zu Tag zahlreicher,“ sorgt sich einer der Jugendlichen. Und Makarenko schreibt: „Anfangs [ab 1920] waren wir geneigt, nur die Landwirtschaft als wirtschaftliche Betätigung zu betrachten, und unterwarfen uns blind der alten These, die da behauptet, daß die Natur veredle. Diese These war in den Adelsnestern entwickelt worden, in denen die Natur in erster Linie als ein sehr schöner und gepflegter Ort für Spaziergänge und Turgenjewsche Erlebnisse aufgefaßt wurde…Die Natur aber, die den Gorki-Kolonisten veredeln sollte, schaute ihn mit den Augen der ungepflügten Erde an, des Unkrauts, das ausgerodet werden mußte, des Mistes, der gesammelt, aufs Feld gefahren und dann ausgestreut werden mußte, eines zerbrochenen Fuhrwerks, eines Pferdefußes, der geheilt werden mußte. Was konnte es da schon für eine Veredelung geben!“

Ähnlich ist es dann mit den Gewerken, d.h. mit den Kinderkolonien, „die ihre Motivationsbilanz auf das Handwerk aufbauten“. Makarenko beobachtete dabei stets ein und das selbe Ergebnis: dass die Jugendlichen als angehende Schuster, Tischler, Maurer etc. immer mehr „Elemente des Kleinbürgerlichen“ annahmen. Und diese stehen der Entwicklung eines revolutionären Kollektivs entgegen, wie er es anläßlich des Umzugs der Gorki-Kolonie in eine größere in der Nähe von Charkow sogar an sich selbst bemerkte – nachdem sie ihr knappes Hab und Gut  zusammengepackt hatten und dabei eine Menge sauer erworbenes bzw. organisiertes „Eigentum“ zurück ließen: „All diese ungestrichenen Tische und Bänke allerkleinbürgerlichster Art, diese unzähligen Hocker, alten Räder, zerlesenen Bücher, dieser ganze Bodensatz knausriger Seßhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit war eine Beleidigung für unseren heldenhaften Zug…und doch tat es einem leid, diese Dinge fortzuwerfen.“

Oft genug wurde auch bei anderen Kolchosen der widerstreitende Individualegoismus der Bauern bloß durch einen vereinigten neuen Kollektivegoismus ersetzt: Was scheren uns die Nachbar-Kolchosen und -Dörfer, ob sie dort falsch wirtschaften und hungern, Hauptsache unser eigener Betrieb blüht, wächst und gedeiht. Um diese Denkweise auszurotten wurden die Kolchosen zu immer größeren Einheiten zusammengefaßt, bis aus ihnen riesige Agrarkombinate wurden.

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[1] Erwähnt sei „Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew“, das 1923 beginnt – und von Nikolai Ognew verfaßt wurde, der im Volksbildungswesen tätig war. Es handelt sich dabei also eher um eine Simulation der Selbsterziehung. Hierbei geht es neben einem „natürlichen“ Umgang mit der eigenen Sexualität und dem anderen Geschlecht um die selbsttätige Erforschung des dörflichen Lebens durch ein Schülerkollektiv aus der Stadt. In seiner Fortsetzung des Tagebuchs „Kostja Ribzew auf der Universität“ berichtet der Autor von einer Vorlesung zur Einführung in das  Sowjetrecht.

Der Professor beginnt mit dem Lamento eines enteigneten Reichen, der über die Willkür und Gesetzlosigkeit schimpft, dabei jedoch nicht den Verlust seines konkretem Hab und Gut beklagt, sondern den Verlust eines abstrakten Russlands. Die Bolschewiki hätten Russland zugrunde gerichtet, wird er sagen. Dabei ist „das Russland der Bauernhütten“ gerade erst mit der Revolution wie aus einem Totenschlaf erwacht – und nun wird ihm von allen Seiten – mit Traktoren, Flugzeugen und der Elektrizität zugesetzt. Wenn die Rede auf Russland kommt, so meinte der Professor zu seinen Studenten, dann vergessen sie nicht, ein kleines Beispiel aus der Biologie zu bringen: Es geht dabei um Axolotl, deren Lungen kaum entwickelt sind, „was ihn von der höheren Art  derselben Gruppe, dem Amblystoma unterscheidet“. Nun sei es jedoch einem Sowjetprofessor gelungen, ein Axolotl in ein Amblystoma zu verwandeln, indem er es mit einer Schilddrüsensubstanz fütterte. So ähnlich wie dieser „biologische Prozeß“ verlaufe müsse man sich auch das neue Sowjetrecht und sein Eindringen in das Bewußtsein der Massen vorstellen.

Es meldet sich daraufhin ein Milizionär zu Wort, er ist nicht an der Universität um die Studenten zu überwachen, sondern selbst Student. Er meint, dass es auch noch eine andere Möglichkeit gäbe, aus einem Axolotl ein Amblystoma zu machen. Indem man „die biologischen Voraussetzungen“ ändert – und sich dabei  fragt: Warum sind die Lungen des Axolotl nicht entwickelt? Weil im Wasser mit all seinen Pflanzen genug Sauerstoff enthalten ist. Der Milizionär im Straßendienst hatte deswegen die Pflanzen in seinem Axolotl-Aquarium zu Hause entfernt und immer mehr abgekochtes Wasser zugegeben. Das Axolotl starb daran nicht, sondern entwickelte währenddessen Lungen – dabei wurde es zu einem Amblystoma. Wobei sein Züchter zugeben mußte, dass er es ordentlich gequält hatte in seinem lamarckistisch inspirierten Versuch, „eine höhere Art zu bekommen, aber das Amblystoma lebt – bis auf den heutigen Tag“.

[2] In dieser 1968 in der Zeitschrift „Nowyi mir“ (Neue Welt) zuerst veröffentlichten Dorfprosa von Tendrjakow geht es zuletzt um einen Generationenkonflikt zwischen dem alten „konservativen“  Funktionär, der sich selbst geschaffen hat, und dem wissenschaftlich ausgebildeten neuen „Fortschrittlern“, wobei dieser „Kampf“  sich u.a. durch die Überwindung der „proletarischen Biologie“ von Lyssenko und Mitschurin artikuliert – indem der Junge sich an der Universität in eine Professorentochter verliebt, die mit der langsam wieder aus dem Untergrund, aus Verbannung und Lager sowie aus deutschem Exil an die Oberfläche dringenden „bürgerlichen Genetik“ vertraut ist. 1961 konnte in Moskau bereits wieder ein  Weltkongreß der Genetik stattfinden, Auch Lyssenko nahm daran noch teil. Er trat erst 1964 von seinem Amt als Präsident der Lenin-Landwirtschaftsakademie zurück.  Dem jungen Rebell gelingen dann mit den   Kenntnissen seiner Freundin einige wichtige „Neuerungen“ auf der Kolchose in Poshary.

Eine ähnliche personelle Konstellation wie diese, die sich jedoch ausschließlich dem Konflikt zwischen Lyssenkoanhängern und so genannten  „Mendelisten-Morganisten“ auf einer agrarbiologischen Forschungsstation widmet,  wählte 1978 …Dudinzew für seinen Roman „Weiße Gewänder“, in dem die Hauptpersonen   konkret um die Züchtung einer „Neuen Kartoffelsorte“ ringen. Der Roman war in der Sowjetunion ein großer Erfolg. Zu einer „Abrechnung“ mit den lyssenkistischen Schwindlern und Betrügern geriet dem Biologen A. Medwejew sein Buch „Der Fall Lyssenko“. Seine Faktenprosa konnte jedoch zunächst nur im Untergrund zirkulieren – bis sie dann mit großem Aplomp „im Westen“ erschienen , wo man das Buch als eine Art „Archipel GULag“ der Biologen und der freien Forschung überhaupt las.

[3] Tendrjakow verschweigt jedoch auch nicht das noch viel härtere Schicksal der als Kulaken klassifizierten: „Auf dem Bahnhofsvorplatz in der Kreisstadt Wochrowo starben aus der Ukraine enteigneten Kulaken. Die Toten dort frühmorgens waren schon ein gewohnter Anblick, ein Leiterwagen fuhr vor, und der Krankenhauskutscher Abram lud die Leichen auf. Nicht alle starben, viele schleppten sich noch mit wassersüchtigen, abgestorbenen blauen Beinen durch die staubigen, häßlichen Straßen und sahen jeden Passanten mit hündisch bettelnden Augen an. Kein Mensch gab ihnen was, die Leute in Wochrowo mußten selbst die ganze Nacht anstellen, um Brot auf Marken zu bekommen. Das Jahr 1933.“ In der Kolchose von Pochary zog zur selben Zeit der Wohlstand ein: Sie verkaufte ihr Getreide direkt an einige Fabriken, die ihr dafür das lieferten, was benötigt wurde: Ziegelsteine, Schuhe, Bekleidung, Nägel, Schmieröl usw. Als Saatgut beschafften sie sich als einzige im Kreis „jarowisiertes Getreide“, ein Verfahren mit dem Lyssenkos Karriere als Chefbiologe der Sowjetunion seinen Anfang nahm. Einen der halbverhungerten Bettler aus Orjol, der sich bis nach Poshary durchgeschlagen hatte, stellte die Kolchose auf Iwans Drängen als ihren ersten Bauarbeiter ein, er wurde später „Brigadier der berühmten Baubrigade, bekam einen Orden und wurde mehrmals in der Zeitung erwähnt: Michailo Tscherednik“. Iwan diente dem Kolchos weiter, „aber im Grunde seines Herzens glaubte er nicht an ihn.“ Die Kolchose wurde immer reicher, „aber von Nächstenliebe keine Spur.“ Wenn es die aber nicht gab, „dann war der Kolchos keine Familie, sondern nur eine staatliche Organisation“.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/05/28/hausmeister-im-sozialismus/

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kommentare

  • Schönschön.

    Allerdings wurden Platonows Werke bei Volk und Welt nicht erst ‚in der Wende‘ veröffentlicht, sondern zum Erstaunen des Publikums bereits davor, zu Zeitpunkten, an denen sich nicht nur keine Wende abzeichnete, sondern viel mehr eine Verschärfung auch der Kulturpolitik. Mehrere Bände Platonow zählten zu meinen Habseligkeiten, als ich im Frühling 1989 die DDR verließ, ebenfalls vor der Wende. Ab 1986 war jedes Jahr ein Band erschienen, in einer sehr schönen Ausgabe.

  • spannender Artikel… Danke fuer all diese Informationen.

    Habe noch einen Buchtipp dazu anzumerken: „Ingenieure der Seele“ von Frank Westerman, auf deutsch bei C.H.Links erschienen. Das Buch behandelt einmal die Situation und Funktion von Schriftstellern unter Stalin (wo Platonow auch ins Detail betrachtet wird)[„Ingenieure der Seele“, Stalin ueber Schriftsteller], sowie es einen Bogen von den damaligen Wasserprojekten bis heutigen Umweltproblemen macht. Es ist eins der wirklich ausserordentlichsten Buecher, das ich in den letzten Jahren gelesen habe (auch „El Negro“, vom gleichen Autor und im gleichen Verlag, anderes Thema kann ich an dieser Stelle sehr empfehelen).
    Der Autor hat auch eine schoene Internetseite: http://frankwesterman.nl/

  • Hinzugefügt sei hier noch, dass sich unter den Stichworten „Hausmeister“ und „Sowjetunion“ bei Google inzwischen 23.500 Eintragungen angesammelt haben.

    Dazu gehört auch ein Hinweis auf ein Drama „Der Hausmeister“ von Andrej Platonow, das 1960 uraufgeführt wurde,1961 auch in der DDR.

    In den meisten russisch/sowjetischen Werken kommen die Hausmeister nicht gut weg, weil sie – mindestens im vorrevolutionären Russland und ähnlich wie in Deutschland – sozusagen der verlängerte Arm der Polizei und Geheimpolizei in den Mietshäusern waren.

    Heute sind sie nicht selten – mindestens in Deutschland – die Exekutive der Hausverwaltung bzw. der Hausbesitzer. So stellte z.B. ein „Investor“, der in der Kreuzberger Waldemarstraße vor einiger Zeit ein Haus erworben hatte, sogleich einen faschistischen Hausmeister aus Österreich dort ein, der die Aufgabe hatte, die alten Mieter mit den Billigverträgen rauszugraulen – koste es was es wolle. Und das gelang dieser Drecksau auch!

    In Russland, mindestens in St.Petersburg, hat sich kürzlich der übel beleumdete Dienstleistungskonzern von Dussmann um die Verwaltung und die Verhausmeisterung des gesamten dortigen Wohnungsbestands beworben.

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