Welch ein Unterschied: Einmal ein Interview mit dem IG Metall-Funktionär und Arbeitnehmervertreter im Siemens-Aufsichtsrat Wolfgang Müller über die von Siemens finanzierte gelbe Gewerkschaft AUB. Und zum anderen zwei Interviews mit dem Siemens-Aufsichtsratsvorsitzenden Gerhard Comme über den Korruptionsskandal. Beginnen wir mit dem ersten – abgedruckt in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift konkret:
konkret: Wer steckt hinter der »Arbeitsge-
meinschaft Unabhängiger Betriebsangehöri-
ger« (AUB)?
Müller: Anders als in den Medien oft dar-
gestellt, ist die AUB keine Gewerkschaft, auch
keine Klientel- oder Splittergewerkschaft, son-
dern ein von Herrn Schelsky gegründetes Per-
sonaldienstleistungsunternehmen. Erklärtes
Ziel ist es, dem Wohl des Unternehmens zu
dienen. Eine Dienstleistung unter vielen ande-
ren, die Schelsky seinen Kunden bietet, ist es,
ihre Unternehmen möglichst gewerkschafts-
frei zu halten »union busting« nennt man
das in den USA. Doch anders als in den USA
benötigt man in der BRD nicht bloß eine
Rechtsanwaltskanzlei und Männer mit Geweh-
ren; damit dieses Geschäft funktioniert, müs-
sen Schelsky und das betreffende Unterneh-
men Betriebsräte für sich gewinnen, die sich
als »unabhängig« ausgeben. Es werden dann
beispielsweise führende Angestellte, die gera-
de einen Karriereknick haben, gefragt, ob sie
nicht für den Betriebsrat kandidieren wollen.
Ihnen wird gesagt: Wir unterstützen euch, und
ihr bekommt vor der Wahl ein halbes Jahr
Auszeit, um den Wahlkampf zu führen. Das
war das Modell Siemens. Für diese Dienstlei-
stung hat sich Schelsky gut bezahlen lassen,
wie die Staatsanwaltschaft inzwischen heraus-
gefunden hat. Es geht um mindestens 50 Mil-
lionen Euro, die Siemens an die AUB gezahlt
hat. Hier in Bayern gibt es mindestens 20 wei-
tere Unternehmen, in denen die AUB vertreten
ist, und nun muß herausgefunden werden, ob
auch dort Geld gezahlt wurde.
konkret: Siemens soll zusammen mit der
AUB mehrfach versucht haben, Betriebsräte
der IG Metall zu diskreditieren. Wie das?
Müller: In München gab es vor einigen
Jahren eine sehr harte Auseinandersetzung
über die Telekommunikationssparte. Mitte
August 2002 gab Siemens bekannt, daß von
den 10.000 Arbeitsplätzen im Festnetzbe-
reich 2.300 Stellen abgebaut werden. Und
zwar innerhalb von 6 Wochen zum 30. Sep-
tember 2002. Der Betriebsrat, der gemischt
ist, dem also auch über 20 Prozent AUB-Mit-
glieder angehören, hat dies mit den Stim-
men der AUB-Leute abgelehnt. Siemens hat
trotzdem Anfang 2003 über 300 Angestellten
gekündigt. Der Betriebsrat hat allen Kündi-
gungen widersprochen, was eine große Lei-
stung war, da innerhalb einer Woche pro Kün-
digung eine Schrift von sechs oder sieben Sei-
ten verfaßt werden muß, in der begründet
wird, warum die Kündigung nicht rechtens ist.
Das Ergebnis war, daß Siemens vor dem Mün-
chener Arbeitsgericht eine Niederlage erlitten
hat, fast alle Kündigungen wurden für ungül-
tig erklärt. Das hat die Vorstände zur Weißglut
gebracht.
Daraufhin hat die AUB-Zentrale natür-
lich im Einverständnis mit Siemens im
ganzen Stadtteil Plakate kleben lassen mit
dem Inhalt: Der Betriebsratsvorsitzende und
die IG Metall ruinieren den Standort, und der
stellvertretende Betriebsratsvorsitzende ist so-
gar Mitglied in der DKP. Der Schuß ging al-
lerdings nach hinten los: Bei den nächsten Be-
triebsratswahlen kam die IG Metall auf über
40 Prozent der Stimmen, so viele hatten wir
an diesem Standort noch nie gehabt.
konkret: Es heißt, die IG Metall habe
schon 1997 die Bezahlung der AUB durch
Siemens vermutet. Was hat sie daraufhin un-
ternommen?
Müller: Die IG Metall hatte damals einen
Hinweis bekommen, besaß aber keine ge-
richtsverwertbaren Beweise. Sie hat das The-
ma bei der Sitzung des Aufsichtsrats ange-
sprochen, aber ohne Erfolg. Was fehlte, waren
Belege, aus denen zum Beispiel hervorgeht,
daß der Personalchef den Mitarbeiter X für
den Zeitraum von so und soviel Monaten frei-
stellt, mit dem Ziel einer Kandidatur für die
AUB. Solche handfesten Beweise hatten wir
nicht. Die hat jetzt erst die Staatsanwaltschaft
gefunden. Die Verdachtsmomente waren im-
mer stark, aber es langte nie dafür, vor Gericht
zu ziehen. Auch das Ausmaß der Bestechung
war uns nicht klar. Wir wußten zwar, daß die
AUB sich nicht aus Mitgliedsbeiträgen finan-
zieren kann, aber von den 50 Millionen Euro,
die gezahlt worden sein sollen, waren wir sehr
überrascht.
konkret: Andere Unternehmen vertragen
sich gut mit der IG Metall. Warum ist das bei
Siemens anders?
Müller: Siemens hat schon zu Zeiten des
Kaiserreichs die Philosophie gehabt: »Mia san
mia« wir haben nichts mit Gewerkschaften
zu tun, sondern machen uns höchstens unsere
eigene. Diese Siemens-Kultur hat sich nach
dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt. Zu ihr trägt
auch die Tatsache bei, daß bei Siemens ein
großer Teil der Mitarbeiter Angestellte sind, al-
so nicht die klassische IG Metall-Klientel. Das
ist der sozialstrukturelle Grund. Den Rest
macht die Firmenphilosophie, die lautet: Ge-
werkschaften gehören nicht mit an den Tisch.
Das ist ganz anders als etwa bei Thyssen-
Krupp. Der »Rheinische Kapitalismus« war
für Siemens nie eine Option. Bis vor kurzem
saß die IG Metall bei Siemens am Katzentisch.
konkret: Ist das vergleichbar mit SAP?
Müller: SAP hat als IT-Unternehmen eine
andere Tradition, aber es gibt gewiß große
Ähnlichkeiten.
konkret: Ist die AUB nun erledigt, da alle
wissen, daß Siemens dahintersteckt?
Müller: Die AUB als AUB ist erledigt.
Aber der Verein wird versuchen, sich einem
Facelifting zu unterziehen, ein neues Image zu
kreieren und wahrscheinlich einen neuen
Namen. Die AUB ist ja nicht nur ein Siemens-
Problem. Bei Siemens ist der Laden zwar
entstanden, hat sich aber von dort überallhin
verbreitet. In allen Discountern, die wegen ih-
rer üblen Arbeitsbedingungen angeprangert
werden, im Dienstleistungssektor, in Bau- und
Möbelmärkten und in den traditionell gewerk-
schaftsfeindlichen mittelständischen Unterneh-
men verfügt die AUB über starke Bastionen.
Das union busting ist bei diesen Ausbeutern
gang und gäbe.
Nun zu den anderen zwei Interviews
„Wir Aufklärer wurden angefeindet“, meinte der Siemens-Aufsichtsratsvorsitzende Gerhard Cromme kürzlich in FAZ und FAS – und so hieß dann auch die Überschrift des Interviews. Cromme begreift sich also als „Aufklärer“. Es stimmt aber nicht – im Gegenteil: Er ist eher ein eitler Vertuscher. Er redet wie ein Bundeswehr- oder Polizei-General über Neonazi-Umtriebe unter seinen Untergebenen: Ja, es gab da einzelne Fälle, wo sich unsere Leute falsch verhalten haben, aber das darf man nicht verallgemeinern. Die überwiegende Mehrheit ist sauber. Zitat:
„Man muß festhalten: Bei Siemens gab es in einem Ausmaß Verstöße gegen das Gesetz, das in dieser Form überrascht.“ Aber: „Der überwiegende Teil der über 450.000 Mitarbeiter hat sauber, korrekt und tüchtig gearbeitet. Es gibt jedoch Mitarbeiter, die sich offenbar nicht gesetzeskonform verhalten haben. Die haben das Unternehmen in schwerwiegende Probleme gebracht, verbunden mit Imageverlust, Ausschluß von Aufträgen und am Ende wohl hohen Strafen.“
Cromme fragt sich jedoch: „Warum hat Siemens damals, Ende der 90er-Jahre, als die Bestechung strafbar wurde und der Konzern in New York an die Börse ging, warum hat man damals diese Praktiken nicht abgestellt?“ Seine Antwort lautet: „Ich weiß es bis heute nicht genau. Vermutlich hat man die Tragweite der gesetzlichen Veränderungen nicht ausreichend realisiert…Aufgefallen ist mir das fehlende Unrechtsbewußtsein bei jenen, die direkt oder indirekt mit den gesetzwidrigen Dingen zu tun hatten. Ich kann mir eigentlich auch nicht vorstellen, dass nicht mehr Mitarbeiter darauf aufmerksam geworden sind, vor allem wenn sie seit vielen Jahren in führenden Positionen sind oder es lange Zeit waren…Im dritten und vierten Glied gab es auch Fälle von Selbstbedienung, das sind aber Ausnahmen. Es stimmt, fast alle Beschuldigten haben im vermeintlichen Interesse der Firma gehandelt…Das Versäumnis des Managements besteht darin, die Leute nicht ausreichend konsequent darauf hingewiesen zu haben, dass Schmiergelder nicht im Interesse des Unternehmens liegen, sondern Siemens schaden.“
Besonders im „Compliance-Bereich scheint einiges falsch gelaufen zu sein.“ Mit seinem Rücktritt hat „Herr von Pierer Verantwortung übernommen. Das ist sehr respektabel.“ Sein Rücktritt war „ein sehr honoriger Schritt, der einen Neuanfang erleichtert.“
Sein Nachfolger wird nun statt des Favoriten „Reitzle“ ein in Hongkong ausgebildeter Österreicher namens „Löscher“ – nomen est omen! Mit Aufklärung hat das allerdings alles nichts zu tun – im Gegenteil. Und dann sagt Cromme noch: „Wir haben bei Siemens in den letzten Jahren zu viele Kommunikatoren gehabt“ – auch das werde Löscher wohl löschen – und „dann ist das sicher in Ordnung“. Löscher war schon überall in Japan, USA etc. – mit seiner Familie: „er ist immer hin und hergeflogen. Jetzt sagt er überzeugend: Europa, das ist seine Welt.“ Bei so einem Quatsch bleibt einem glatt die Spucke weg.
Aber es kommt noch besser: Löscher „weiß, was bei Siemens jetzt wichtig ist: Tempo, Tempo, Tempo…Indem wir gleichzeitig mit der Ernennung von Herrn Löscher Herrn Hiesinger, einen Siemens-Manager DURCH UND DURCH in den Zentralvorstand berufen haben, haben wir ein doppeltes Signal ausgesendet: Kontinuität nach innen, Aufbruch nach außen.“
Zu dem abservierten Siemens-Vorstandsvorsitzenden, den Bremer Cola-Light-Trinker Kleinfeld, meint Cromme – auf die Frage der FAS, ob Kleinfeld vor lauter Ratgebern am Ende die Nerven verloren hat – „ist das Ihre Deutung der Dinge?“ „Lassen Sie mich dazu nur sagen, was ich jungen Leuten immer rate: Haltet euch von Spin-Doktoren fern. Oft bedeutet so etwas das Ende der Karriere…Auf die Dauer werden Sie nur akzeptiert und Erfolg haben, wenn sie sich durch Leistung, durch Substanz und durch Charakter nach oben entwickeln. Spin-Doktoren pushen kurz hoch. Das geht ab wie eine Rakete. Nur: Dann stürzen Sie ab und liegen platt wie eine Flunder. Das Gefährliche ist ja, dass die Manager glauben, was sie an lancierten Heldengeschichten über sich selbst lesen. Die halten sich selbst für unersetzlich.“
Im Spiegel von heute legt Cromme dagegen den Verdacht nahe, dass Kleinfeld nicht wegen seiner Spin-Doktoren-Geschichten „platt wie eine Flunder“ gemacht wurde, sondern weil die Amis ein Bauernopfer – ihn – verlangt haben:
SPIEGEL: Jetzt haben Sie also einen neuen Vorstandsvorsitzenden. Aber warum musste der alte eigentlich gehen? Immerhin hat Klaus Kleinfeld hervorragende Zahlen geliefert.
Cromme: Die Anteilseigner haben sich vor der letzten Aufsichtsratssitzung zweimal intensiv beraten, was geschehen soll. Herr Kleinfeld ist zweifellos ein sehr tüchtiger Manager, und Debevoise …
SPIEGEL: … die amerikanische Anwaltskanzlei, die im Auftrag von Siemens für die Börsenaufsicht SEC die Korruptionsaffäre aufarbeitet, die den Konzern seit Monaten erschüttert …
Cromme: … hat keinerlei Hinweise auf „smoking guns“ gefunden, wonach er sich gesetzwidrig verhalten hat. Die Strafen, die aus Amerika auf Siemens zukommen können, sind allerdings sehr groß. Wir wissen aus allen Erfahrungen, dass die Verantwortlichen sehr klug beraten sind, die amerikanischen Behörden nicht zu reizen. Deshalb haben wir jeden Schritt mit den amerikanischen Anwälten abgesprochen.
SPIEGEL: Und die rieten Ihnen, Kleinfeld zu opfern?
Cromme: Nein. Aber sie warnten uns dringend, Klaus Kleinfelds Vertrag, der zum 30. September ausläuft, bereits auf der Aufsichtsratssitzung Ende April zu verlängern. Immerhin war Herr Kleinfeld knapp zwei Jahre Vorstandsvorsitzender, bevor die Korruptionsaffäre erkennbar wurde. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass er etwas wusste oder falsch gemacht hat. Aber niemand weiß, was in den nächsten Monaten noch hochkommt. Deshalb rieten sie uns, mit der Vertragsverlängerung so lange wie möglich zu warten …
SPIEGEL: … was Kleinfeld als Brüskierung empfand. Er zog die Konsequenzen.
Cromme: Da spielte natürlich auch die Indiskretion um Reitzle eine Rolle. Herr Kleinfeld war der Meinung, er könne in dieser Situation ohne Gesichtsverlust nicht länger warten. Daraufhin hat er am 24. April den Arbeitnehmern und uns mitgeteilt, dass er für eine Vertragsverlängerung nicht zur Verfügung steht.
SPIEGEL: Und Sie und Ackermann standen ziemlich blamiert da.
Cromme: Das sehe ich völlig anders, auch wenn es in der Presse so dargestellt wurde. Warum sollen wir uns blamiert haben?
SPIEGEL: Weil Sie Kleinfeld vertrieben haben, ohne einen Nachfolger präsentieren zu können. Siemens war kopflos, an der Spitze herrschte totales Chaos.
Cromme: Das war doch kein Chaos! Die operativen Einheiten bei Siemens laufen und funktionieren voll. Wir haben Herrn Kleinfeld auch nicht vertrieben, wir haben ihn gebeten, die Vertragsverlängerung zu verschieben. Das Gespräch mit Herrn Reitzle war eine rein hypothetische Sache. Immerhin hatte es zuvor schon Abwanderungsgerüchte um Herrn Kleinfeld gegeben.
SPIEGEL: Aber dass Sie als neuer Aufsichtsratsvorsitzender, der gerade im Amt war, ohne einen Vorstandschef dastanden, wollen Sie uns nicht auch als Erfolg verkaufen?
Cromme: Dass das eine unglückliche Situation war und ich alles getan hätte, um sie zu vermeiden, ist doch völlig klar. Aber was wäre geschehen, wenn wir den Vertrag von Herrn Kleinfeld gegen den Rat der Anwälte verlängert hätten? Dann wäre der Kurs vielleicht am nächsten Tag hochgegangen. Aber wie hätten wir dagestanden, wenn nach drei oder sechs Monaten etwas hochgekommen wäre?“
Auch der Spiegel kommt dann noch mal auf die eigentlich einzig interessante Frage in diesem ganzen Zusammenhang zu sprechen: Hat die Korruption bei Siemens System (erst Elektrokartell-fighting procedures dann unveröffentlichte Clearstream-Bankkonten zum Schmieren) – oder gab es bloß Verfehlungen einiger Manager und Übereifriger gemeinsam mit externen „Beratern“ als Comrads in Crime?
SPIEGEL: Sie sitzen seit gut vier Jahren im Siemens-Aufsichtsrat, seit Anfang 2005 auch im Prüfungsausschuss. Haben Sie eine Erklärung dafür, wie bei Siemens die Kontrollmechanismen derart außer Kraft gesetzt werden konnten?
Cromme: Nein, ich kann mich nur wundern. Vielleicht spielt eine Rolle, dass in Deutschland die Bestechung von ausländischen Amtsträgern bis hoch in die neunziger Jahre nicht strafrechtlich verfolgt wurde und sogar steuerlich absetzbar war. Das änderte sich wenig später. Und nachdem Siemens sich 2001 an der US-Börse listen ließ, musste sich der Konzern damit freiwillig der amerikanischen Rechtsprechung unterwerfen, sich also an die dortigen Spielregeln halten.
SPIEGEL: Die von Siemens verpflichteten US-Anwälte fordern, dass der langjährige Siemens-Jurist Albrecht Schäfer, der zuletzt die Compliance-Abteilung leitete, den Konzern verlassen soll. Warum ist er immer noch da?
Cromme: Wir müssen unterscheiden zwischen der amerikanischen Sicht und dem deutschen Arbeitsrecht. Es macht doch keinen Sinn, jetzt übereilt zu handeln und nach neun Monaten womöglich einen anschließenden Prozess zu verlieren. Unsere deutschen und amerikanischen Anwälte arbeiten zurzeit an einem gemeinsamen Vorschlag. Wenn der vorliegt, wird der Vorstand darüber entscheiden und der Empfehlung sicher folgen.
SPIEGEL: Hätten Sie selbst als Vorsitzender des Prüfungsausschusses nicht früher merken müssen, was los ist?
Cromme: Was hätte ich denn sonst noch tun sollen? Ich habe am Ende jeder Sitzung alle Anwesenden, unter anderem die Prüfungsgesellschaft KPMG, Herrn Schäfer und den Vorstand, gefragt: Gibt es irgendetwas, worüber wir nicht gesprochen haben? Sind Sie bei Ihrer Arbeit behindert worden?
SPIEGEL: Und?
Cromme: Kein Mensch ist in diesem Zusammenhang jemals zu mir gekommen.
SPIEGEL: Hätte nicht wenigstens der Vorstand bei den Vorträgen reagieren müssen. Dort sollen einige Vorgänge doch im Detail bekannt gewesen sein.
Cromme: Wenn Herr Schäfer im Vorstand genau dasselbe vorgetragen hat – und so ist mir das berichtet worden -, dann weiß ich heute, dass ein Vorstand da am Tisch gesessen hat, dem das wie Grimms Märchenstunde vorgekommen sein muss.
SPIEGEL: Die Führungsmannschaft des Siemens-Konzerns umfasst inklusive Zentral- und Bereichsvorständen sowie den nachgeordneten Abteilungen rund 150 Manager. Wie viele von denen sind durch die Affäre belastet?
Cromme: Die überwiegende Mehrheit der Siemens-Angestellten leistet ihre Arbeit erfolgreich unter Beachtung der geltenden Gesetze. Aber bei einigen Top-Managern kommen einem schon Zweifel, ob sie ihrer Führungsverantwortung gerecht geworden sind. Die einen haben womöglich pflichtwidrig gehandelt. Die anderen sagen, sie hätten trotz der Schwere der Verstöße nichts gewusst. Ich frage mich, was von beidem schlimmer ist. Natürlich herrscht intern nun teilweise eine gewisse Angst und Wagenburgmentalität. Aber das darf uns nicht abhalten, das Richtige zu tun, weil Siemens sonst schweren Schaden nehmen könnte.
SPIEGEL: Die Dimension der Affäre ist so groß, dass es eine Vielzahl Mitwisser gegeben haben muss. Sie können sich ja schlecht von allen trennen.
Cromme: Für die, die sich nachweislich gesetzwidrig verhalten haben, können und wollen wir nichts tun. Andere haben sich womöglich in einer Grauzone bewegt und nicht schnell genug reagiert. Wir werden uns das von Fall zu Fall ansehen. Eine Hexenjagd wird es jedenfalls nicht geben.
SPIEGEL: Zumindest einige Vorstände und Aufsichtsräte sollen tatsächlich mehr gewusst haben als andere.
Cromme: Tatsache ist, dass der Antikorruptionsbeauftragte des Konzerns vor jeder Sitzung des Aufsichtsratsprüfungsausschusses zunächst dem Vorstand die aktuellen Verdachtsfälle vorgetragen hat. Heute wissen wir, dass dort zumindest in einem Fall ein Manager saß, dem klar gewesen sein musste, dass die Mitglieder des Kontrollgremiums nur unzureichend oder falsch informiert wurden.
SPIEGEL: Meinen Sie den Ex-Zentralvorstand Thomas Ganswindt, der die Kommunikationssparte überwachte?
Cromme: Er wusste zumindest, dass die Fakten unrichtig waren. Jetzt müssen wir prüfen: Haben es noch andere gewusst? Einige sind schon durchleuchtet worden, und man hat, Gott sei Dank, nichts festgestellt. Ich hoffe, dass wir auch bei den anderen nicht fündig werden.
SPIEGEL: Wollen Sie damit andeuten, dass dem Prüfungsausschuss bewusst Herrschaftswissen vorenthalten wurde, das dem Vorstand vorlag?
Cromme: Bei einem Vorstandsmitglied stimmt das. Die von uns beauftragte US-Kanzlei hat nach umfassender Durchsicht aller Unterlagen festgestellt, dass wir unvollständig informiert wurden – und gleichzeitig bestätigt, dass die Mitglieder des Prüfungsausschusses sich korrekt verhalten haben.
Der FAS sagte Cromme noch: „Ich kann nicht ausschließen, dass wir in den nächsten Monaten noch einige böse Überraschungen erleben werden, wenn jetzt die Untersuchungen in andere Bereiche gehen. Ich weiß nur nicht, welche.“
Wolfgang Schivelbusch, Kulturwissenschaftler avant le mot, schreibt im aktuellen Spiegel – über diese „Aufklärer“ in den Chefetagen – unter der Überschrift „Ende des Schau-Geschäfts“:
Von Konzernchefs historisches Bewusstsein zu verlangen wäre indes etwa so sinnvoll wie von Historikern Ellenbogen-Energie und betriebswirtschaftliches Know-how. Bereits Henry Ford sagte: „History is bunk.“ Ähnlich äußerte sich DaimlerChrysler-Chef Dieter Zetsche erst kürzlich, als er auf die Ursachen des Fiaskos seines Konzerns angesprochen wurde: „Es bringt nichts, wenn wir uns als Historiker betätigen und nach möglichen Ursachen in der Vergangenheit forschen.“
Solche Sätze belegen nicht ein Bildungsdefizit, sondern die offenbar notwendige Scheidung der Menschheit in Handelnde und Reflektierende. Eine Scheidung, zu der Friedrich Nietzsche in seinem Essay „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ einige Bemerkungen machte. Wie der Handelnde „immer gewissenlos“ sei, so sei „er auch wissenlos; er vergisst das meiste, um eins zu tun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt, und kennt nur ein Recht, das Recht dessen, was werden soll“.
Ihren jüngsten Höhepunkt fand die Durchdringung der Konzernkultur mit Zeitgeistphantasie bekanntlich in der Internet-Euphorie. Dass dem eine längere Aufbauphase voranging, ist erinnernswert. Die Einführung von PR-Abteilungen nach amerikanischem Vorbild gehörte dazu. Wichtiger war vielleicht noch jene
Rolle, die die Großkonzerne nicht selbst anstrebten, die ihnen aber beharrlich aufgedrängt wurde von einer Öffentlichkeit, die nach dem politisch-militärischen Zusammenbruch von 1945 die Wirtschaft als neuen Hoffnungsträger auserkor. Keine anderen Nationen investierten auf der Suche nach neuen Symbolen so viel Hoffnung, Vertrauen und Stolz in ihre Exportkonzerne wie die Kriegsverlierer Japan und Deutschland. Dass so etwas die Mentalität der Manager nicht unbehelligt lässt, liegt auf der Hand.
Wie sehr die Formen den Inhalten davonzulaufen drohen, zeigt das harmlose Beispiel der Konzernsprache Englisch. Nichts ist logischer, effizienter, natürlicher als der Gebrauch des Englischen als Geschäftssprache im internationalen Verkehr. Aber wenn Konzernspitzen vorschreiben, dass die innerbetriebliche Kommunikation unter den deutschen Spitzenmanagern in Deutschland auf Englisch zu führen ist, erscheint das Besuchern aus der englischsprachigen Welt ähnlich wunderlich wie die Beobachtung, dass deutsche Manager lieber als Amerikaner wahrgenommen werden. Die Mimikry setzt sich fort in der Ersetzung alter Firmenbezeichnungen durch neue amerikanische Logos. Auch der gute alte Gütersloher Bertelsmann-Konzern definiert sich längst über die Unterzeile „Media Worldwide“.
Wie aber wirkt sich die Ausrichtung an der Chimäre eines Globalmarktes auf den heimischen Markt aus? Diese Frage führt uns vom Problem der Form zurück zu dem der Substanz – und damit zum Begriff der schöpferischen Zerstörung. Die entscheidende Frage ist, ob das, was plattgemacht wird, tatsächlich überreif ist für den Ersatz durch das ins Auge gefasste Neue. Und ob dieses Neue seinerseits für seine Aufgabe genügend herangereift ist.