vonHelmut Höge 26.06.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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1.

Michel Foucault definierte die Freundschaft als “die Summe all der Dinge, über die man einander Freude und Lust bereiten kann”. Und in bezug auf seine bzw. die Homosexualität meinte er: “Das Ziel, auf das die Entwicklung der Homosexualität hinausläuft, ist das Problem der Freundschaft.”

Dieses “Problem” stellte er in den Horizont einer “Ethik – “als einer Form, die man seinem Verhalten und seinem Leben zu geben hat”. An anderer Stelle spricht er von der notwendigen “Suche nach Existenzstilen – mit möglichst großen Unterschieden untereinander”. Notwendig   deswegen, weil die bisherige “Suche nach einer Form von Moral, die für alle annehmbar wäre – in dem Sinne, dass alle sich dem zu unterwerfen hätten,” sich als eine “Katastrophe” darstellte. Statt “Ethik” könnte man hierbei auch von “Praxis der Freiheit” reden: Einerseits ist “die Freiheit die ontologische Bedingung der Ethik”,  andererseits ist die “Ethik die reflektierte Form, die die Freiheit annimmt”. Und dabei kann man eben auch von “Existenzstil” oder “Lebenskunst”  sprechen. “Was mich erstaunt, ist, dass in unserer Gesellschaft die Kunst nur noch eine Beziehung mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem Leben hat, und auch, dass die Kunst ein spezialisierter Bereich ist, der Bereich von Experten, nämlich den Künstlern. Aber könnte nicht das Leben eines jedes Individuums ein Kunstwerk sein?”

Und wäre das dann so etwas wie “Menschenkunst” – die allerdings nicht so wie die von jenem  US-amerikanischen Photokünstler aussehen würde, der allmonatlich tausend nackte Menschen mehr an irgendeinem prominenten Ort aufmarschieren läßt. Eher schon so wie die Kunst des  chinesischen Künstlers, der jetzt auf der “documenta” 1001 Chinesen auftreten läßt: Er hatte sie aus allen Schichten der Gesellschaft ausgewählt und auf documenta-Kosten nach Kassel fliegen lassen, wo sie nun in einer umgebauten Schule untergebracht sind. Daneben hat es auch immer wieder Versuche gegeben, das eigene Leben nach ästhetischen Gesichtspunkten gleichsam umzukrempeln. “Das Verhältnis des Selbst zu sich ist jedoch keines zwischen Schöpfer und Material”, schreibt Martin Saar in einer Nachbemerkung zu Foucaults “Schriften zur Lebenskunst”. “Das Ästhetische an der Lebenskunst ist vielmehr vor allem, dass sie das Verhältnis zu sich überhaupt als eines versteht, das nicht restlos durch die Vermittlung von Normen und Wissen bestimmt wird, sich nicht auf Moral oder Selbsterkenntnis reduzieren läßt.”  Überhaupt besteht das “Hauptziel” für Foucault “heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Und dementsprechend geht es darum, dass wir uns vorstellen und konstruieren müssen, “was wir sein könnten, wenn wir uns dem doppelten politischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt”. An anderer Stelle erklärt er dazu, dass es um den “Versuch” geht, uns selbst vom Staat und der damit verbundenen Form von Individualisierung zu befreien”. In diesem Zusammenhang sind Beziehungen und Freundschaften wichtig – “als Lebensformen mit mehr als einem Subjekt”, wie Martin Saar hinzufügt.

Auf der Rückseite der globalen Atomisierung darwinisierter Subjekte dürfen wir also vielleicht auf ein kollektives Bemühen um Freundschaft und um immer unterschiedlichere Lebensstile hoffen, die einem ethischen Postulat folgen. Und das soll alles Kunst sein?! wie meine Tante bereits auf der documenta 4 ausrief, die aber auch, das muß hinzugefügt werden, ein Leben ganz im Sinne des Staates führte, quasi eine ganzstaatliche Individualisierung war, jedenfalls so lange bis sie dabei vom Weg abkam.

2.

Die Utopie: Nie mehr unser Floß – das Bett – verlassen!  Nur vögeln, küssen, sich umarmen, darüberhinaus noch essen, rauchen, trinken, schlafen. “Und irgendwann im Augenblick der höchsten Lust sterben.” (Michel Foucault).  Darauf haben sich nun die ganzen menschheitsverbessernden Wünsche,  reduziert, konzentriert – quasi auf den kleinsten gemeinsamen Nenner von Zweien. Doch auch auf dem Floß gäbe es viel zu tun – mit Wilhelm Reich gesprochen: Eine Gesellschaft, die die “biologische Ur- und Grundfunktion ächtet, die der Mensch mit allem Lebendigen gemeinsam hat”, schafft es allenfalls bis zur Pornographie, aber nicht zur Erfassung biologischer Funktionen für die Freiheit. Dabei geht es von Anfang an darum, alle Bilder zu vermeiden, weil sich ein Bild von jemanden machen, heißt, eine lebendige Beziehung zu zerstören. Nichtsdestotrotz sind die Augen fast das Wichtigste – d.h. wenn die Blicke nichts fixieren, sondern durch die Augen des Anderen bis in seinen Unterleib dringen, wo sie sich mit den Blicken des Anderen, die durch einen selbst hindurchpulsieren, berühren. Das ist keine Utopie! Nur das Andauern dieses Glücks: Lust will Ewigkeit!

Weil der “Organismus” (griechisch organon – Werkzeug) ein neuzeitlicher, mechanisch-technischer Begriff ist, geht Wilhelm Reich stattdessen von “Orgao” aus: schwellen strotzen, voll von Saft sein und feucht. Von daher kommt das für ihn zentrale Wort “Orgasmus”, das schon bei Lamarck ganz generell ein “eigenartiger Spannungszustand” der festen, aber nachgiebigen inneren Teile von Lebewesen ist: Er ist das “allgemeine Phänomen, von dem das Leben abhängt” (vom Bakterium über die Pflanzen bis zum Menschen). “Man verspürt die Lust als Expansion, als Streckung, Weitung,” so sagt es Wilhelm Reich.

Und “was wäre beneidenswerter? – Paare, Gruppen, sogar (gelungene) Familien (so was gibt es),” fragte sich dann Roland Barthes, der dennoch in bezug auf “das Paar”, das sich findet, von einem “Wahn” – einer wie mit Zement verbundenen “Folie à deux” spricht: “Wir verbringen unser Leben damit, uns von jemandem verzücken zu lassen,” versuchen mit dem anderen zu verschmelzen. Aber dann kommt “das Zusammenleben” – und dazu braucht es eine “Ethik der Distanz”, ein “Schweigen des Begehrens, Gleichgültigkeit”. Doch indem ich das “Begehren des anderen abtöte, töte ich das Begehren zu leben. Wenn mich der Körper des anderen nicht erregt oder wenn ich den anderen niemals berühren kann – wozu dann noch leben. Der Kreis der Aporie – der Auswegslosigkeit – ist damit geschlossen.”

Und das Floß flößt nur noch Schlaflosigkeit und Verwirrung ein. Die feministische Psychoanalytikerin Luce Irigaray sieht diesen  (Phasen-) Übergang zwar auch als “ein Vergehen des Ortes”, sie will die “Ortsproblematik” jedoch ausarbeiten, “so daß das Verhältnis zum Ort nicht durch Einschnitt, durch Vernichtung, sondern durch ein skandierendes Werden bestimmt wird? Rückkehr zu sich, um dann wieder zum anderen aufzubrechen? Sammlung, um die Spannung wieder zu finden, das Streben zu, Ausdehnung…”

Ein Ort ist aber auch “das weibliche Geschlechtsorgan” und die “Lust der Frau soll einem Zerfließen ‘gleichen’, einem Ergießen dessen, was in dem Ort wäre, der sie ist, wenn sie (sich) umschließt.” Während der Mann sich einen “Körper durch die Erschaffung des Körpers des anderen rekonstruiert. Sich seiner Hand, seines Geschlechts bedienend. Geschlecht nicht nur für die Lust, sondern wirklich ‘nützlich’ als Instrument der Allianz und Inkarnation.” Die zwei Körper zusammen haben laut Irigaray das “Problem”, “sich ineinander einzufügen, ohne die anderen Dimensionen zu verändern. Kann dies als gemeinsames Herausbilden einer sphärischen oder quasi-sphärischen Form verstanden werden?” Und wäre das dann ein neuer Ort – als eine Art “Zwischenraum”? Groß genug, um doch so etwas wie Freiheit zu empfinden? Ich frag mich ja nur.
3.

Die ARD-Korrespondentin in Warschau interviewte vor einiger Zeit  Wanda Stawska, die als “Meldegängerin” am gescheiterten Warschauer Aufstand 1944 beteiligt war – und nun auch einmal auf “die schönen Momente des Warschauer Aufstands” zu sprechen kommen wollte: Alle Jungs seien in die Kämpferinnen verknallt gewesen – “wir waren doch alle so jung. Und es entstand eine so unglaubliche Solidarität und Nähe in dieser ganzen Aussichtslosigkeit”.

In Berlin und in Warschau lief gerade der Dokumentarfilm “Konspirantinnen” des Freiburger Historikers Paul Meyer. Er besteht aus Interviews mit Überlebenden des Warschauer Aufstands 1944, im wesentlichen mit einer Gruppe ehemaliger Meldegängerinnen. Sie waren nach dem Aufstand gemäß des Kapitulationsabkommens als die ersten regulären weiblichen Kriegsgefangenen in ein  Moorlager im Emsland verbracht worden. Eine der Frauen meinte in dem Film: “Der Aufstand konnte nicht nicht losgehen.” Und “es war die schönste Zeit in meinem Leben.” Ähnliches hätten auch schon die “Kämpfer” in Andrej Wajdas Spielfilm “Der Kanal” rückblickend über den Warschauer Aufstand sagen können – so sie denn überlebt hätten. Auch bei seinen weiblichen Hauptdarstellern handelte es sich um Meldegängerinnen bzw. (bewaffnete) Verbindungssoldatinnen, bei denen sich kämpferischer Mut und sorgende Liebe derart verklammerten, dass ihr Heldentum heller als das der Männer strahlte. Eine, mit dem Decknamen “Gänseblümchen”, wurde danach so berühmt, dass zwei polnische Künstler Darek Foks und Zbigniew Libera noch kürzlich ausgehend von ihrem “Image” eine vielbeachtete Ausstellung  über internationale Filmdiven und Meldegängerinnen im Warschauer Aufstand zusammenstellten. Sie wollten damit auf die enge Verbindung zwischen Eros und Krieg hinweisen.

Ähnlich erwähnte auch schon der Dichter Miron Bialosewski, der als junger Hilfsfreiwilliger am Aufstand beteiligt war, in seinen Erinnerungen  “Nur das was war”, in dem es ihm vor allem um eine Schilderung des “Alltags der Kämpfe” ging, einige wahre “Glücksmomente”. Ein solcher ist auch noch aus dem Vietnamkrieg überliefert – von dem deutschen Psychiater Erich Wulff, der Anfang der Sechzigerjahre in Hué arbeitete. Als sein Vertrag auslief, arbeitete er wieder – in Freiburg in einem  Ambulatorium. Aber dort hielt er es nach den Aufstandserfahrungen in Vietnam nicht mehr aus – die Leiden der Mittelschicht langweilten ihn: “In Vietnam hatte ich Krankheit als gewaltsamen Einbruch ins Studium, ins Arbeits- und Privatleben kennengelernt; der Arzt reparierte sie, wenn er konnte…Die Lebensumstände, in die der Entlassene zurückkehrte, waren oft empörend; aber der Arzt konnte dennoch das Gefühl haben, etwas geschafft zu haben, etwas Wirkliches; auch hatte die Überlegung Sinn, wie die Verhältnisse, die ständig Krankheit verursachten, sich ändern ließen. Die Änderung war nicht bloß denkbar, sondern es wurde im Land um sie gekämpft. Ein vielfältiger Prozeß der Veränderung nahm einen auf, bot Möglichkeiten des Eingreifens. Auch in persönlichen Freundschaften war solche Wirklichkeit greifbar: was mich mit Tuan, Mien u.a. verbunden hatte, beruhte vorrangig auf gemeinsame Stellungnahme zu den Ereignissen, war in seinem Kern Politik, Engagement für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Unsere Freundschaften waren niemals in der Fadheit des bloß Privaten eingeschlossen. Sie waren sozusagen in einem pathetischen Sinne republikanisch. In Vietnam hatte mich gesellschaftliche Wirklichkeit bis in die sogenannte Intimsphäre hinein betroffen und herausgefordert.”

Am Anfang war der “Vietkong  fast ein Phantom” gewesen, aber nach und nach nahmen immer mehr Leute aus Wulffs Umgebung in Hué “Kontakt mit der Befreiungsfront” auf, die irgendwo “da draußen auf dem Land bzw. im Dschungel”  war. Doch unaufhaltsam rückte deren “befreite Zone” immer näher: Bald war “das Maquis nicht mehr, wie 1964, ein Kuriosum, wo man seine Neugierde befriedigte. Es wurde immer mehr zum geistigen, politischen und organisatorischen Zentrum für die Orientierung der Menschen in der Stadt”. Man kann davon ausgehen, dass das die Kämpfer trotz des immer massiver werdenden US-Bombardements glücklich machte. Zudem gipfelte dann ihr “Volkskrieg” auch noch in einen Sieg.

Aus dem jugoslawischen Befreiungskampf wissen wir jedoch, dass dort nach dem Sieg die sogenannte Partisanenkrankheit epidemisch wurde. Dabei bekamen die – zumeist aus  kleinbäuerlichen Verhältnissen  stammenden und noch jungen – Partisanen nach der Demobilisierung, Entwaffnung, immer wieder  “Kampfanfälle”. Es wurden Spezialkliniken für sie eingerichtet. Der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin, der sich selbst Titos Partisanen angeschlossen hatte, veröffentlichte darüber 1948 einen ersten Bericht auf Deutsch, darin heißt es: “Die Krankheit – Partisansky bolest – ist so häufig, daß heute im Lande wohl jedermann die Diagnose zu stellen gewohnt und imstande ist.” Man kann davon ausgehen, dass die an der Partisanenkrankheit leidenden jungen Männer, obwohl sie zu den Siegern gehörten, nicht glücklich waren. Paul Parin erklärte die Ursache ihrer “Krankheit” orthodoy psychoanalytisch, indem er sie auf die rigide Sexualmoral der jugoslawischen Partisanenformationen, mit Ausnahme der slowenischen, zurückführte. Bei den letzteren gab es die  Partisanenkrankheit dann auch nicht. Sie ist im übrigen das genaue Gegenteil von einer Kriegsneurose, deren verborgener Sinn darin besteht, einem unerträglichen Geschehen zu entrinnen, weswegen die daran erkrankten Soldaten lange Zeit als Simulanten galten.

Seit der glücklosen  Rückkehr der US-Soldaten aus Vietnam spricht man im Zusammenhang ihrer Kriegserfahrungen von “Traumata”, denn es gelang ihrem Interessensverband   “Vietnam-Veterans”, wenn schon keine hochdotierten Jobs für sie 1980 wenigstens die offizielle ärztliche Anerkennung ihrer “Traumatisierung” durchzusetzen – als PTSD: “Post-Traumatic-Stress-Disorder”. “Die PTSD-Diagnose bedeutete eine Würdigung ihrer psychologischen Leiden,” schreibt   die Soziologin Eva Illuoz, und das war wiederum aufs engste “mit der Versicherungsdeckung verknüpft”. Von den Vietnam-Vets ausgehend wurde “das PTSD schon bald auf immer mehr Vorkommnisse und Fälle ausgeweitet, etwa auf Vergewaltigungsopfer, terroristische Angriffe, Unfälle, Verbrechen etc..”  Täter wie Opfer konnten “traumatisiert” sein. Ja, Täter konnten Opfer und Opfer zugleich Täter sein – auch  Faschisten und Kommunisten wurden austauschbar – vor der Totalität des Traumas waren sie nun gleich. Das selbe gilt für halbwegs autonome Partisanen und gedrillte, nur auf Befehl handelnde Soldaten.

So erwähnt z.B. der “Traumaexperte” David Becker in seinem Vorwort zum  Aufsatzband “Nach dem bewaffneten Kampf” den Psychiater Wilfred Bion, der nach dem Zweiten Weltkrieg kriegstraumatisierte GIs in einem US-Militärkrankenhaus als Gruppe therapierte – um danach sogleich auf einige ehemalige Mitglieder dedr RAF und der Bewegung 2.Juni zu sprechen zu kommen, die sich ebenfalls als “Traumatisierte” und als Opfer des Staates – nach ihrer als Folter empfundenen langen Isolationshaft – begriffen und deswegen  mit mehreren Therapeuten zusammen ein langjähriges Gruppengespräch begannen. Keine Therapie, denn “man sei schließlich nicht krank”. Die Ergebnisse dieser Sitzungen wurden u.a. in dem e.e. Aufsatzband dargestellt.  Einer der beteiligten Psychoanalytiker – Volker Friedrich – resümiert darin: “Wurde anfangs noch rhetorisch mit dem Begriff der Traumatisierung umgegangen – das Wort hatte hohe Konjunktur, man wußte sehr gut Bescheid-, so wurde es mit der Zeit immer schwerer, dieses Wort als einen sinnstiftenden Begriff anzuerkennen…”

Über eine der ehemaligen Terroristinnen schreibt er: Sie hatte in den letzten Jahren angefangen, “die These des Mordes [an den 3 Stammheim-Häftlingen] zu hinterfragen und sich mit der Möglichkeit des Selbstmordes auseinander zu setzen. Jetzt begann alles fürchterlich zu werden: Zu uns kam sie mit ihrer Diagnose des burn-out. Der “bewaffnete Kampf” hatte ihr Leben geprägt, wie sie sagte, “aber niemand von der Gruppe will mit mir etwas zu tun haben, aber ich vielleicht eigentlich auch nicht. Sie fragt sich: ‘Bin ich eine Verräterin, bin ich als zu schwach eingestuft worden, bin  ich gar als eine Spinnerin einzuschätzen?'”

Die Therapeutin Angelika Holderberg erinnert sich, dass irgendwann “der bedeutsame Satz fiel: ‘In der RAF hat es keine wirklichen Freundschaften gegeben’.” Auch fünf andere Autoren der Aufsatzsammlung zitieren ihn.

In seinem Lehrstück “Die Maßnahme” hat Bertolt Brecht dieses Problem 1930 am Fall einer klandestinen kleinen Kadergruppe durchgespielt. Einer der Genossen reagierte mehrmals derart unpolitisch, d.h. menschlich, dass ihn die drei anderen, nachdem er dadurch ihren “Auftrag” in Gefahr gebracht hatte, schließlich umbringen. Brecht läßt ihren Mord, der  keinem “Verräter”, sondern höchstens einem Schwächelnden galt, durch einen Chor – als Parteigericht – für gerechtfertigt erklären. 1948 hat Jean-Paul Sartre dieses “Problem” noch einmal aufgegriffen – in seinem Stück “Die schmutzigen Hände”. Hier ist es jedoch der Mörder, der es nicht schafft, den parteipolitischen Versager zu töten, daraufhin wird seine Frau zu einer “Verräterin”, indem sie sich in den Genossen, dessen Tod beschlossen wurde, verliebt. Erst in diesem Moment gelingt dem Mörder die Tat – aus unpolitischer Eifersucht also. In den Siebzigerjahren wurde dieses “Partisanen-Drama” von Sartre  u.a. in Belgrad inszeniert, mit den besten Schauspielern des Landes: Es wurde ein Kultstück, ausgehend von der dortigen Studentenbewegung und ihrer Kritik an der Parteiführung. Zuletzt inszenierte es Castorf in der Volksbühne – aber er verstand die Problematik – Floß oder Agora – nicht und machte daraus eine vermurkelte Zeitgeist-Jugo-Politklamotte.

Dafür fanden sich vor einiger Zeit drei ehemalige Kämpfer aus der RAF und der Bewegung 2.Juni in der Kneipe Beiz in Mitte zusammen, um auf zwei überfüllten Veranstaltungen über ihre militante Vergangenheit und ihre alten Zerwürfnisse zu reden. Sie taten das so rücksichtsvoll und freundschaftlich, dass man ihnen ewig hätte zuhören mögen.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007/06/26/floss-statt-agora/

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kommentare

  • Mit einem Vortrag über den historischen Wandel freundschaftlicher Beziehungen eröffnete der Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Axel Honneth am Samstag die diesjährigen Frankfurter Positionen. Er sprach über “Den langen Schatten der Romantik”, eine Zusammenfassung in der taz von heute:

    Was unter Freundschaft zu verstehen ist, unterliegt ihm zufolge einem historischen Wandel. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert war Freundschaft eine Sache unter Männern und beruhte auf ständischen Prinzipien. Freundschaft zwischen Herren und Knechten war ebenso undenkbar wie die zwischen einem verheirateten Mann und einer verheirateten Frau. Solcherlei galt als standes- oder sittenwidrig. Freundschaften unter Männern hatten, wie Honneth betonte, “zeremoniellen Charakter”, ihr Zweck war ein gemeinsamer Nutzen. Gefühle spielten dabei keine Rolle, es ging um den gemeinsamen Ehrenkodex, etwa unter Kaufleuten, oder um Netzwerke zur Verfolgung gemeinsamer Interessen, zum Beispiel unter Zunftgenossen.

    Im Jahrhundert der Aufklärung kam, befördert von der schottisch-englischen Moralphilosophie, ein modernes Verständnis von Freundschaft auf. Der zu Unrecht als Erfinder eines marktradikalen Liberalismus verleumdete Adam Smith legte 1759 eine umfangreiche “Theorie der ethischen Gefühle” vor. In deren Zentrum stehen die Begriffe sentiment und sympathy, und die meinten nicht private Gefühligkeit, sondern bildeten den subjektzentrierten Gegenpol zur commercial society, die Smith als Erster beschrieben hat.

    “Erst in dem historischen Augenblick, als mit der Aufwertung von wirtschaftlichem Handel und kapitalistischem Markt zugleich auch das Bedürfnis nach einer Gegenwelt des privaten Rückzugs” (Honneth) wächst, wird Freundschaft als Ressource sozialer Freiheit entdeckt. In der gesamteuropäischen Opposition von Klassik und Romantik gegen Utilitarismus und Rationalismus wurden diese Ideen radikalisiert. “Der Andere ist nicht mehr Begrenzung, sondern die Bedingung der individuellen Freiheit”, so Honneth, weil er den Einzelnen als vertrauten Interaktionspartnern die Chance gibt, sich kommunikativ zu öffnen. Ob bei Hegel, Hölderlin oder Schleiermacher – die persönliche Beziehung unter Freunden wurde zum geschützten Ort für das individuelle Selbst und seine Verwirklichung durch die egalitäre Beziehung zum Anderen. Hier spielten weder Tradition noch Religion eine Rolle, sondern einzig und allein das, was die Subjekte selbst an Gedanken und Gefühlen in die Freundschaft einbrachten.

    Natürlich war auch dieses Freundschaftskonzept noch stark geschlechtsspezifisch und schichtenspezifisch beschränkt. Aber am Horizont der idealen Vorstellung von Freundschaft wurde etwas sichtbar, das Honneth als Kern “demokratischer Sittlichkeit” bezeichnet.

    Eine “durchgreifende Entkrampfung des Subjekts” für Frauen und Männer gleichermaßen wurde freilich erst nach 1945 und verstärkt nach 1968 möglich. Honneth widerspricht entschieden dem beliebten zeitdiagnostischen Gerücht, wonach Individualisierung, Leistungsfanatismus und Karrierezwänge Räume für Freundschaft zerstörten.

    Den kulturpessimistischen Schluss, wonach steigende Scheidungszahlen und die Zahl von Singlehaushalten das Ende von Liebe und Freundschaft anzeigten, hält Honneth für voreilig. Die zitierten Trends zeigten auch, dass Frauen wie Männer selbstbewusst geworden sind und persönliche Beziehungen aufkündigen, wenn die erlernten normativen Grundlagen wie Offenheit, Gleichheit, Vertrauen und Solidarität verraten werden.

    Honneths Perspektive ist anspruchsvoll und sympathisch. Man kann ihn so verstehen, dass er das fragile normative Gerüst von Freundschaft für das Verständnis von Politik fruchtbar machen und in die Debatte über das “gute Leben” und demokratisches Selbstverständnis einbringen möchte.

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