Mail aus der tanzwirtschaft@kaffeeburger.de:
Seit Mai 2007 gab es mehrere Razzien wegen insgesamt 4 Ermittlungsverfahren nach §129a in Hamburg, Berlin, Strausberg und Bad Oldesloe:* Am 9. Mai wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung zur Verhinderung des G8-Gipfels“ (unter wechselnden Gruppennamen, 18 Personen) sowie „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (militante gruppe, 3 Personen, Anschläge seit 2001).
* Am 13. Juni/ 19. Juni wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung (unter wechselnden Gruppennamen, z.B. AK Origami). Es geht um vier Brandanschläge auf Fahrzeuge der Bundeswehr und eine Firma, die an Rüstungsprojekten beteiligt ist in Glinde (2002), Bad Oldesloe und Berlin (2004 und 2006).
* Am 31. Juli wegen „Bildung einer terroristischen Vereinigung (militante gruppe, 4 Personen).
Das Bundeskriminalamt hat in der Presse mehrmals erklärt, die späteren Durchsuchungen stünden nicht im Zusammenhang mit denen des 9. Mai und damit nicht im Kontext des G8. Aus früheren Ermittlungen und Verfahren nach §129a ist allerdings bekannt, dass Durchsuchungsbeschlüsse erwirkt werden, die auf konstruierten „Erkenntnissen“ basieren. Damit wird weiteres Material zusammengetragen und die linksradikale Bewegung ausgeforscht. Insofern sind diese „Erkenntnisse“ in die Ermittlungen zu anderen Anschlägen, die auch im „Begründungszusammenhang“ mit dem G8 stehen, eingeflossen. In lediglich 2% der Fälle führen Ermittlungen wegen §129a zu einer Verurteilung.
Allein der Aktenbestand für die Ermittlungen, die zu den Razzien am 9. Mai führten, beläuft sich auf etwa 80.000 Seiten, ca. 200 Ordner. Neben den Durchsuchungen wurden seit Jahren Dutzende von Telefonüberwachungsmaßnahmen angeordnet, Autos und Treffen akustisch abgehört. Einer Zeugin, die nach dem Brandanschlag auf das Auto von Thomas Straubhaar eine „auffällige Person“ bemerkt haben will, legte das BKA zur Identifikation 80 Lichtbilder vor.
Einigen der Betroffenen wird vorgeworfen, eine „militante Kampagne“ gegen den G8 2007 ins Leben gerufen zu haben. Begründet wird das mit Telefonaten, in denen Mitglieder der „AG Globale Landwirtschaft“ davon sprechen, die Kampagne müsse „Druck aufbauen“. Verdächtig machten sich die Beschuldigten, wenn sie Webseiten kritisierter Unternehmen besuchten oder am Telefon über deren Standorte gesprochen hatten. Eine solche Kampagne würde natürlich „IT-Spezialisten“ benötigen, die sich um die notwendige Einrichtung von Mailinglisten, Servern und Webseiten kümmere.
Ein beträchtlicher Teil der Akten besteht in der Analyse von „Selbstbezichtigungsschreiben“ (im Polizeijargon „SBS“): Seitenlang werden Formulierungen und Interpunktion verglichen, „Genitivschwächen“ gesucht, Groß- oder Kleinschrift ausgewertet. Wird das Datum in der rechten oder linken Ecke platziert, mit oder ohne Null geschrieben, ist von „Imperialismus“ die Rede oder von „Prekarität“, beziehen sich die VerfasserInnen auf lokale Szenen oder andere linke Kampagnen, benutzen sie die Schreibweise „dissent!“, „dissent“ oder „Dissent“ (bzw. G8 oder G-8) etc. In einem Quervergleich wird nach Ähnlichkeiten mit anderen „SBS“ gesucht: Wo wird vom „Geld scheffeln“ gesprochen, wer bezieht sich auf „IWF“ etc. Am Ende jeder Analyse wird ein Profil potentieller VerfasserInnen entworfen: Aus welcher Stadt kommen sie, welcher Szene gehören sie an, welchen Bildungshintergrund haben sie, wie sind sie selbst in der Szene verankert. Einige der Schreiben werden anschließend konkreten Personen zugeordnet. Es wird zusammengetragen, wer mit Beschuldigten zusammenwohnt oder telefoniert hat, Telefon- und Internetanschlüsse gemeinsam nutzt, mit ihnen bei Demonstrationen kontrolliert wurde oder an gemeinsamen Projekten arbeitet.
Viele der Daten in den Ermittlungsakten dürften nicht unbedingt allein für die Anklageerhebung recherchiert sein. Im Gegenteil scheint eher, dass der Verfassungsschutz vom BKA für ohnehin gesammeltes Material abgefragt wurde. Deutlich wird, dass die Behörden die linksradikale Bewegung gegen den G8-Gipfel von Anfang an massiv durchleuchtet haben. Mindestens für die beiden ersten Treffen des „dissent!“-Netzwerkes in Hamburg und Berlin mit je 250 TeilnehmerInnen wurde die Überwachung der gesamten Funkzelle um den Mehringhof bzw. die Hochschule HWP beantragt. Damit sind die Behörden vermutlich in Kenntnis über jedes Handy, das sich dort eingebucht hat. Dass InformantInnen anwesend waren überrascht nicht. Die Ermittlungen zu den Razzien vom 9. Mai basieren auf abenteuerlichen Konstrukten. Es wird versucht, einigen der Beschuldigten auf Biegen und Brechen ein Interesse an militanten Anschlägen nachzuweisen. Allein die Bekanntschaft mit ihnen macht verdächtig. Damit ist wieder bewiesen: wir sind alle 129a!
* Soligruppe zu den Razzien 31. Juli: http://soli.blogsport.de * Soligruppen zu den Razzien 13./ 19. Juni:http://soligruppe.blogsport.de und http://soligruppenord.blogsport.de * Alle Verfahren: http://gipfelsoli.org/Repression/129a
[Gipfelsoli Infogruppe]
Dann kam noch eine Mail – d.h. eine Presseerklärung, weitergeleitet von Anna Panek:
Presseerklärung der Bundeskoordination Internationalismus
Kontakt: Niklas Reese,
Tel.: 0163-7307388, niklas.reese@web.de
An die Redaktionen
8. August 20
„Wir sind alle 129a“ –
Bundeskoordination Internationalismus wertet jüngste Verhaftungen im
Zusammenhang mit der „militanten gruppe“ als Angriff auf Meinungsfreiheit
Die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) betrachtet die jüngste > Eskalation bei der Verfolgung linker AktivistInnen nach Paragraf 129a > (Bildung einer terroristischen Vereinigung) als Angriff auf die freie > Meinungsäußerung. Die gegen das BUKO-Mitglied Andrej H. vorgebrachten > Vorwürfe bewertet die BUKO als Kriminalisierung auch ihrer eigenen > politischen Arbeit. Die BUKO fordert die BAW auf, die Beschuldigten > freizulassen und die Verfahren wegen 129a StGB einzustellen. > > Am 1. August 2007 hat die Bundesanwaltschaft (BAW) Haftbefehle gegen > vier mutmaßliche Mitglieder der nach § 129a StGB als "terroristische > Vereinigung" eingestuften "militanten gruppe" (mg) erlassen. Den drei am > Tag zuvor Verhafteten Florian L., Oliver R. und Axel H. wird ein > versuchter Brandanschlag gegen Bundeswehrfahrzeuge zur Last gelegt, der, > so die BAW, "eine Vielzahl von Parallelen zu Anschlägen der ,militanten > gruppe (mg)' in der Vergangenheit" aufweist. Im Falle des vierten > Beschuldigten, des Sozialwissenschaftlers Andrej H., reichen angebliche > "konspirative Treffen" sowie die Benutzung von "Schlagwörtern und > Phrasen, die in Texten der ,militante(n) Gruppe (mg)' gleichfalls > verwendet werden", um ihn der Mitgliedschaft in einer "terroristischen > Vereinigung" zu bezichtigen. > > Die Anwendung von Paragraf 129a auf diesen Fall zeigt, wie der > Generalvorwurf "Terrorismus" benutzt wird, um gegen Kritik an Staat und > Gesellschaft vorzugehen. Besonders deutlich ist dies im Falle des > beschuldigten Andrej H.: Inhalte angeblicher konspirativen Treffen mit > einem der drei anderen Beschuldigten sind der BAW nicht bekannt. > "Terrorismus" wird ihm aufgrund von Passagen aus seinen > wissenschaftlichen Arbeiten vorgeworfen. > > Die Verhaftungen stehen in einer Linie mit der Razzia vom 9. Mai gegen > Gruppen, die in die Vorbereitung der Proteste gegen den G8 involviert > waren sowie mit den Durchsuchungen in Bad Oldesloe und Berlin kurz nach > dem G8. Auch damals wurde das Phänomen "militante gruppe" als Argument > für den Versuch angeführt, das Aufbewahren von Informationsmaterial, die > Veröffentlichung von Büchern oder das Aufrufen zu Aktionen des zivilen > Ungehorsams als "terroristische Akte" zu diffamieren und entsprechend > gegen Beschuldigte vorzugehen. > > Mit der Begründungen der Haftbefehle vom 1.August 2007 wird nun eine > neue Dimension erreicht: Andrej H., Stadtsoziologe und langjähriger > Aktivist in zahlreichen stadtpolitischen Gruppen beschäftigt sich > vorrangig mit Themen wie Stadtumstrukturierung und der Verdrängung von > MieterInnen durch Aufwertungsprozesse (Gentrifizierung). Das sind auch > die Themen des BUKO-Arbeitsschwerpunkts Stadt-Raum, in der Andrej H. > aktiv ist. "Wir, die BUKO und unsere Arbeit, werden hier unter > Terrorismusverdacht gestellt" sagt Martina, BUKO-Mitglied und > Mitbegründerin des Arbeitsschwerpunkts. Offensichtlich reicht den > Strafverfolgungsbehörden die kritische Auseinandersetzung mit bestimmten > Inhalten, um Menschen als "Mitglied einer terroristischen Vereinigung" > zu kriminalisieren. Sollte sich eine als terroristische Vereinigung > eingestufte Gruppe des Vokabulars oder der Themen eines von wem auch > immer veröffentlichten Textes bedienen, kann der Autor - so wurde gerade > bewiesen -- wegen § 129a StGB in Untersuchungshaft gesetzt werden. Das > zeigt das ganze Ausmaß der Willkürlichkeit, die dieser Paragraf > erlaubt. "Wenn es als ,terroristisch' gilt, Meinungen frei zu äußern, > kritische Forschung zu betreiben oder sich für gesellschaftliche > Veränderungen zu engagieren -- dann sind wir alle TerroristInnen.", sagt > Armin Kuhn, ein Sprecher der BUKO. Paragrafen wie 129a StGB, die > eingesetzt werden, um missliebige Meinungen zu unterdrücken, sind eines > Rechtsstaates unwürdig und gehören abgeschafft. > > Unsere Solidarität gilt den Beschuldigten sowie ihren FreundInnen und > Angehörigen, denen wir für die kommende Zeit viel Kraft und Mut wünschen. > > Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) > > > Kontakt: Niklas Reese, Tel.: 0163-7307388, niklas.reese@web.de > > - -- > Geschäftsstelle der BUKO (Bundeskoordination Internationalismus) > Nernstweg 32-34 .. 22765 Hamburg .. fon 040/393 156 .. fax 280 55 122 > www.buko.info ... mail@buko.info > - --------------------------- > * Damit es auch 2007 und danach noch eine BUKO gibt > * Zukunftssicherung der BUKO unter > * http://www.buko-braucht-kohle.de > - ---------------------------
Und schließlich erreichte uns auch noch diese Mail:
Kurzinformationen zu den aktuellen 129a Verfahren- telegraph-Autoren betroffen
Dieses skandalöse Vorgehen wird noch nicht von allen wirklich ernst genommen, aber es kann jetzt wieder alle treffen. Überlegt Euch, wie ihr den Inhaftierten helfen könnt.
Die taz, d.h. Christian Rath, hatte zuvor in einem Kommentar geschrieben:
Für die Bundesanwaltschaft ist es ein Durchbruch. Endlich hat sie vier mutmaßliche Mitglieder der „militanten gruppe“ (mg) verhaften können, die seit Jahren Brandanschläge auf Institutionen und Unternehmen in Berlin und Umgebung verübt. Bundesweit wurde die mg bekannt, als sie von der Bundesanwaltschaft im Mai in ihre Razzien gegen eine konstruierte terroristische Vereinigung von militanten G-8-Gegnern einbezogen wurde.
Verhaftet wurden jetzt drei Männer in Brandenburg – auf frischer Tat, nachdem sie gerade versucht hatten, Bundeswehrlaster anzuzünden. Natürlich handelt es sich hierbei um eine Straftat. Aber die Beweise, dass die drei auch zur mg gehören, sind bislang dürftig. Der Wunsch der Bundesanwaltschaft, endlich einen Schlag gegen die kaum zu greifenden mg-Militanten zu landen, wird für die Zuordnung nicht genügen.
Außerdem ist fraglich, ob Anschläge auf Autos und leere Gebäude tatsächlich das Etikett Terrorismus verdienen. Immerhin war der Strafrechtsparagraf 129 a, der terroristische Vereinigungen definiert, nach langjähriger Kritik unter Rot-Grün etwas entschärft worden. Demnach können nur noch Brandanschläge, die den Staat erheblich gefährden, als Terrorismus bestraft werden. In der Bundesanwaltschaft ist diese Rechtsänderung zwar bekannt, aber unbeliebt, schon weil sie andere Fälle an die örtliche Staatsanwaltschaft abgeben müsste. Bedenklich ist aber vor allem die Verhaftung des vierten Beschuldigten, eines Stadtsoziologen, der in seinen Schriften ähnliche Begriffe benutzte wie die mg in ihren Bekennerschreiben. Außerdem war er mit einem der Brandenburger Brandstifter persönlich bekannt.
Das erinnert stark an die Razzien gegen militante G-8-Gegner, bei denen ebenfalls den Autoren eines Buchs über die Geschichte der Autonomen vorgeworfen wurde, sie hätten für Anti-G-8-Anschläge die Anleitung und Begründung vorgegeben.
Wenn die Bundesanwaltschaft nicht mehr in der Hand hat, als bisher bekannt ist, dann sollte das Verfahren sehr schnell wieder eingestellt werden. Die bloße Beschäftigung mit anschlagsrelevanten Themen darf niemals kriminalisiert werden.
Die Springerstiefelpresse der Hauptstadt meldete heute,
dass die Grünen sich nicht entblödeten, einen Terroristen einzuladen – gemeint war damit der im Zusammenhang der mg-Verhaftungen ebenfalls eingeknastete Sozialwissenschaftler der HUB. Nicht seine Verhaftung ist also eine Sauerei, sondern dass die Grünen sich weiterhin mit ihm abgeben wollen. Das haben die Schweinejournalisten aus der Kochstraße mal wieder prima gewendet! Ihre Praktikanten wissen schon, warum sie Wert darauf legen, nicht als Springerpresse-Mitarbeiter „erkannt“ zu werden, wenn sie im taz-café zu Mittag essen oder sich dort mit anderen Praktikanten treffen.
In der Jungen Welt schrieb ich vor einiger Zeit über die „mg“ – unter der Überschrift „Was tun?“:
In einer Besprechung der Berliner RAF-Ausstellung für die „konkret“ kommt Peter O. Chotjewitz zu dem Schluß: Keiner der Künstler habe sich die Mühe gemacht, „der RAF zuliebe seine eingefahrenen Gleise zu verlassen, trotzdem solle man sich das Event – „auf der Höhe der Medientheorie,“ mit Peter Weibel zu reden – anschauen. „Es hält das Thema bewaffneter Kampf in den Metropolen offen, was immer wichtig ist“.
Das dachte sich wohl auch die „militante gruppe“ (mg), als sie im „interim“, dem vierzehntägigen Info der Berliner Autonomen, im Anschluß an den Trierer Kongreß über „Stadtguerilla und bewaffneten Kampf in der BRD“ anläßlich des 30. Todestages von Holger Meins eine zweiteilige Serie über „(Stadt-) Guerilla oder Miliz?“ veröffentlichte. Bei den jüngeren „interim“-Lesern stieß dieses „Theoriepapier“ auf großes Interesse, nicht zuletzt, weil die „Stadtguerilla“-Aktivitäten – vor allem im Irak und in Lateinamerika – (wieder) stark zugenommen haben.
Die Kreuzberger „Kiezmiliz“ zog 1991 aufs Land, die „mg“ gibt es seit 2001. Aber noch immer sind „Defizite militanter Politik in der BRD“ zu beklagen, schreiben die Autoren. Ihre Gruppe legt deswegen „großen Wert auf die inhaltliche Begründung von klandestiner Praxis“, und eine „plausible Alternative dazu“ hat sie bisher noch nirgendwo vernommen. Auch warnt sie davor, dass man trotz oder gerade wegen ihrer „relativ hohen Aktionsfähigkeit“ sagt: „Die Leute von der mg werden’s schon machen…“ Und dann hat die „Militanzdebatte“ seit Jahresbeginn auch „neuen Auftrieb bekommen“, wobei die mg vor allem „die Genossinnen der Autonomen Zelle in Gedenken an Ulrike Meinhof vor Augen hat“ – nicht jedoch die RAF-Ausstellung, die von den Autoren als schnöde „Abrechnungsshow“ begriffen wird, der „Roten Hilfe Berlin“ aber immerhin Gelegenheit bot, an die noch immer – teilweise seit 23 Jahren – inhaftierten RAF-Mitglieder Brigitte Mohnhaupt, Eva Haule, Christian Klar und Birgit Hogefeld zu erinnern – bis die „Kunst-Werke“ ihnen Hausverbot erteilte.
Die 20seitige „mg“-Aufarbeitung der (Stadt-)Guerilla-Erfahrungen beginnt mit Mao Tse Tungs Partisanenkriegslehre, um dann die Guerillakonzeptionen von Che Guevara und Régis Debray zu rekapitulieren, wobei für diese militanten Theoretiker vor allem der „ländliche Raum“ zur Entfaltung einer Widerstandsbewegung wichtig war, die mit „bewaffneter Propaganda“ ihren Anfang nahm. Das spätere Scheitern von Chés „Fokus-Theorie“ in Bolivien sei natürlich kein „nachahmenswertes Beispiel“, aber „Kuba“ habe nach wie vor „Modellcharakter“. Im Gegensatz zu Mao Tse Tung hält Débray jedoch nichts von (befreiten) „Stützpunktgebieten“, weil die Guerilla dadurch ihre „territoriale Beweglichkeit“ verliert, außerdem kritisiert er die Konzeption des „bewaffneten Arms“ einer politischen Befreiungsfront: Militärische Pläne sollten nur von denen erstellt werden, „die sie auch auszuführen haben“ – also erst militärische Foci bilden und nicht politische. Die „städtische Guerilla“ lehnt Débray ab, da sie nur auf einem begrenzten Gebiet operieren kann und „in der Tat weder die Wahl des Zeitpunktes noch des Ortes hat“.
Die brasilianische MIR operierte dann aber sowohl auf dem Land als auch in den Städten, und die MLN-Tupamaros in Uruguay führten sogar fast ausschließlich einen „städtischen Kampf“ – die ländlichen Regionen hatten „nur eine geringe Bedeutung“ für sie. Die Dialektik zwischen Militärischem und Politischem wurden dabei von den MLN-Tupamaros fast poetisch dargestellt: „Jede Guerilla, die praktisch im Herzen der Bevölkerung kämpft, führt in direktem Kontakt mit den Massen einen politischen Krieg“.
Im Gegensatz dazu bestand die brasilianische ALN auf einer von der „politischen“ nicht getrennten „militärischen Linie“, was für Carlos Marighelas Stadtguerilleros bedeutete, sich „ständig mit der Sache des Volkes (zu) identifizieren“, denn ihre „Einflusszone“ reiche nur so weit „wie die Unterstützung des Volkes“.
Bei der Diskussion der „Miliz als bewaffnete Formation“ holen die Autoren noch weiter aus – bis auf Marx, Engels, Rosa Luxemburg und die „bürgerliche Milizauffassung von Clausewitz“, wobei es „grundsätzlich“ immer um „eine Form der ‚Volksbewaffnung‘ geht, die der regulären Armee der herrschenden Klasse entgegen gestellt wird“. Von Marx und Engels werden dazu von der „mg“ jene Passagen zitiert, in denen sie sich für eine eigenständige politische und militärische Organisation der Arbeiterklasse aussprechen, damit diese nicht „zum bloßen Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie“ werde. Aus dem amerikanischen Bürgerkrieg zogen Marx und Engels dann jedoch einen ähnlichen Schluß wie später Lenin aus dem russischen Bürgerkrieg: Eine Freiwilligen-Armee kann eine reguläre Armee in keiner Weise ersetzen. In Deutschland wollte dagegen Rosa Luxemburg das stehende Herr durch eine Miliz ablösen, was sich dann in der Forderung des „Spartakusbundes“ niederschlug, eine „proletarische Rote Garde“ zu formieren – „zum Schutz der Revolution vor gegenrevolutionären Anschlägen“. Für Clausewitz hatte sich – über 100 Jahre zuvor – das Problem noch so dargestellt: „Die Landwehr vermehrt die Gefahr der Revolution; die Entwaffnung der Landwehr vermehrt die Gefahr einer Invasion“.
Nach dem Bürgerkrieg und der Reorganisierung der russischen Armee durch Trotzki bestand Frunse auf den Aufbau einer „Roten Arbeiter- und Bauern-Miliz“, die auch im Kampf der Werktätigen gegen den Imperialismus in anderen Ländern „eine schlagkräftige Waffe“ sein sollte. Trotzki sah darin (mit Lenin) den verderblichen Versuch, den Guerillakampf zu einem „dauernden und universellen System“ zu erheben, dennoch machte auch er sich für eine „Arbeitermiliz“ stark, was dann später – in der DDR etwa – auf „Betriebskampfgruppen“ hinauslief und davor – in der Komintern – auf die internationale Organisierung z.B. von Seeleuten, damit diese dann u.a. Schiffe in die Luft sprengten, die im Auftrag der (faschistischen) Achsenmächte unterwegs waren.
Zurück zur Frage „(Stadt-)Guerilla oder Militanz?“ Die Autoren nehmen es „gleich vorweg: eine Beantwortung ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt“, aber als militante Gruppe sehen sie im bewaffneten Kampf eine „objektive Notwendigkeit“ – und befinden sich damit „in keiner allzu schlechten Gesellschaft“. Die ländlichen Gebiete der BRD, genannt werden Uckermark, Emsland und Alpen, kämen dafür jedoch nicht mehr in Frage, ebensowenig ein temporäres Ausweichen etwa der Berliner Militanten in den Grunewald. Dennoch bestehen sie darauf, dass die Guerilla oder Miliz als „Keimzelle“ einer „Volks- oder Roten Armee“ gesehen werden muß: Und „daraus resultiert die strategische Relevanz einer Guerillapolitik“, wobei deren Differenz zur Miliz eher „semantisch als organisatorisch“ sei: „Beide ‚Formate‘ des bewaffneten (Abwehr-) Kampfes resultieren aus der eigenen militärischen Schwäche gegenüber stehenden Heeren“. Die „bewaffneten Arbeiterwehren“ z.B. von Max Hoelz Anfang der Zwanzigerjahre bieten deswegen ebenso „(historische) Orientierungspunkte“ wie das aus Lateinamerika auf die hiesigen Verhältnisse übertragene „Konzept Stadtguerilla“ der RAF. Allerdings, so fügen die Autoren hinzu, hätten sich die Guerillas in Lateinamerika aus „einem Aufschwung der (revolutionären) Massen-Bewegung“ entwickelt, während die deutsche RAF aus der „Konkursmasse des studentischen 68er-Aufbruchs“ hervorgegangen sei. Und was die „mg“ nun von der RAF unterscheidet, ist, dass sie nicht „die gesamte Struktur, die bisher eine militante Praxis verfolgte, in ein ‚bewaffnetes Format‘ überführen“ will: Dies „würde unseren Vorstellungen eines widerstandsebenenübergreifenden Netzwerks völlig zuwiderlaufen“. Stattdessen soll ihr Text dem gerecht werden, was die „mg“ seit ihrem „Plattformpapier“ 2002 als „komplexen revolutionären Aufbauprozeß“ bezeichnet.
Wie kann aber eine Aufarbeitung der Ideen von zumeist Gescheiterten – Clausewitz, Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Frunse, Hoelz, Mao, Ché, Débray, die RAF, die weder die (unterschiedlichen) Gründe für ihr Scheitern benennt, noch daraus Schlüsse für eine militante Praxis hier und jetzt zieht, einem „komplexen revolutionären Aufbauprozeß“ gerecht werden? Ihr Text über „Stadtguerilla oder Miliz?“ verdankt sich dem vorübergehenden Rückzug einer kleinen kommunistischen Gruppe, die sich dabei in die „Klassiker“ (wozu Stalin nicht mehr gehört) eingelesen hat – und dabei so ins Schwärmen geriet, dass sie sich ungeachtet aller Alltagsprobleme an eine historische Aufarbeitung machte. Mit einem „Aufbauprozeß“ hat das jedoch noch nichts zu tun, sonst gehörte auch die RAF-Ausstellung dazu. Die „mg“ hat sich mit diesem Text eher einen revolutionären Abstammungsnachweis verschafft, der ihre punktuellen Aktionen in den historischen Kontext des bewaffneten Widerstands stellt, der einst mit der spanischen Guerilla gegen Napoleon und ihre Aufarbeitung durch die preußischen „Reformer“ seinen Anfang nahm. Das ist ziemlich geschichtsbewußt, jedenfalls für westdeutsche Verhältnisse (in der DDR lernte jedes Kind diesen Kontext), aber es reicht nicht: Noch eine Anstrengung, Genossen! möchte man den Autoren zurufen. Sonst unterscheidet ihr euch in euren Analysen von dem eines deutschen Professors und Politikberaters, wie etwa Herfried Münkler, nur dadurch, dass ihr den „Gegenstand“ nicht in denunziatorischer Absicht, sondern mit einigem genealogischen Stolz behandelt – und das ist zu wenig! Insofern hat die Redaktion der „interim“ (von Heft 608 und 609) recht gehabt, als die den „mg“-Text auf die Hälfte der Seitenzahl runterverkleinerte, um mehr Platz für Berichte – vom „antirassistischen Grenzcamp“, von Anti-Hartz-IV-Aktionen („Agenturschluss“), vom Castor-Transport 2004, vom Borchardt-Go-In usw. – zu haben. Denn diese Aktivitäten sind es, die sich – bestenfalls – zu einem „komplexen revolutionären Aufbauprozess“ entwickeln, wobei noch gut und gerne eine Reihe weiterer Widerstandsaktionen hinzukommt, die nicht ihren Niederschlag in der „interim“ findet. Erwähnt seien die Obstbauern im Alten Land bei Hamburg, die eine Erweiterung der Start- und Landebahn des Airbuskonzerns verhindern wollen, die Proteste gegen die erneute Startbahnerweiterung des Frankfurter Flughafens, der letzte Widerständler gegen den Bau des neuen Flughafens Berlin-Schönefeld, ferner die letzten Kämpfer gegen die Abbaggerung ihrer Dörfer durch Braunkohlekonzerne – in der Lausitz und in Nordrhein-Westfalen, die schleswig-holsteinischen Marschbauern, die sich gegen eine Zerstörung ihrer Existenz durch Ausweitung der Natur- und Naherholungsflächen wehren sowie all die Prostituiertenorganisationen, die gegen das rotgrüne Gesetz gegen Menschenhandel kämpfen, weil es der Willkür der Polizei gegenüber Illegalen Tür und Tor öffnet…Ich habe bestimmt noch einige hundert weitere ähnliche Initiativen vergessen zu erwähnen, aber deutlich wird dabei schon, dass es sich bei der „interim“ und erst recht bei dem „mg“-Papier um eine Szene-Info handelt, ähnlich dem „telegraph“, dem „gegner“ u.a., die sich ebenfalls immer wieder gerne mit Aktionen und Geschichten wie den o.e. befassen.
Wie kann daraus ein (gemeinsamer) „Aufbauprozeß“ werden? Und ist das überhaupt wunschenswert? Nehmen wir nur die auch in der „interim“ oft thematisierte „Berliner Bankeninitiative“: Da gibt es die publizistischen Mudracker Mathew Rose und Michael Sontheimer, die ebenso betroffenen wie engagierten Sammelkläger um Jürgen Lindemann, den prominenten Widerstandsorganisierer Peter Grottian, die anonymen Luxusauto-Abfackler in Zehlendorf, die rumänische Villenknackerbande von Nikolai, die auf Banker spezialisierten Trickprostituierten Jana und Helena usw….Müssen oder sollen die sich alle praktisch und theoretisch vereinen – oder sich gar um ein „widerstandsebenenübergreifendes Netzwerk“ bemühen? Nein, denn sie sind es in gewisser Weise bereits! Und ob sich dieses „Netzwerk“, auf das im übrigen auch die „indymedia“-Redakteurin schwört, ausweitet, stabilisiert, militarisiert usw., ist eine Frage der „Konjunktur“, die man jedoch weder herbeianalysieren noch sich wünschen sollte, denn dann haben zwar alle linken Gruppen regen Zulauf – und radikalisieren sich rapide, aber gleichzeitig wird man dadurch auch mit einem anschwellenden Haufen Gesindel konfrontiert: „Am Anfang waren wir im SDS zwölf Leute, und jetzt sind wir in etwa wieder genau so viel,“ so sagte es der Widerstandsforscher H.D. Heilmann, selber erstaunt über diese Tatsache. Und dass diese zwölf einer ganzen Partei zur Regierungsmacht verholfen hat sowie etwa 8000 Linke zu einer Professorenstelle, davon haben weder die Protagonisten etwas gehabt, noch sind dadurch ihre revolutionären Ideen der Verwirklichung näher gekommen. Im Gegenteil – die ganzen zeitweilig „Bewegten“ setzten vielmehr alles daran, um ihre „Vergangenheit“ als Jugendirrtum und sich als nunmehr geläutert darzustellen, wobei für sie jetzt Rechts gleich Links faschistisch ist und sie bestenfalls noch „Abrechnungsshows“ zu inszenieren in der Lage sind. Also ein Klein-Werden Schaffen! Mit dieser französischen Formel war einmal zweierlei gemeint: Zum einen sollten die Aktivistengruppen nicht ständig danach trachten, größer zu werden und zum anderen sich bemühen, ihre sozialen Zusammenhänge dergestalt zu erweitern, dass sie darin aufgehen, um tendenziell sogar zu „verschwinden“, d.h. sich schließlich mit nahezu jedem identifizieren zu können.
Neben der focus-orientierten mg, die Luxusautos abfackelt – und die allein schon – zuletzt von Cord Riechelmann in der fas – als „Gespenst“ bezeichnet wird, scheint es noch eine weitere – vielleicht graue – mg zu geben, die zerstörerische Einbrüche gegen Gentryfication verübt: damit vertrieb sie z.B. Wim Wenders aus seinem Kreuzberger Loft, suchte den Architekten der Bürgerinitiative Luisenstadt e.V. heim, die den türkischen Park zwischen Urbanhafen und Engelbecken wieder für „deutsche Rentner“ kritisch rekonstruieren will, und überfiel gleich mehrmals die Lofts und Büros zwischen Spree, Schlesische Straße und Cuvrystraße. Dort haben die Anwohner nun das Problem, das ständig die neuinstallierten Alarmanlagen der Überfallenen losgehen, was man ebenfalls der grauen mg zuschreriben könnte – Spinnen und Vögel waren es jedenfalls nicht, wie erste Untersuchungen ergaben. Solche zerstörungswütigen Einbrüche könnten eine Art von „Wegkübeln“ sein, wie es die km (Kiezmiliz) sich einst einfallen ließ – vor der Wende, als man „Miliz“, „Stadtguerilla“ etc. noch nicht televisionär und e-commerzmäßig gestimmt als „Formate“ bezeichnete – wie es die focus-orientierte mg nun tut. Neuerdings gibt es noch eine dritte mg, die man als „gelbgrüne“ bezeichnen kann: gemeint sind die Gründer der Initiative auf dem Kongreß „9to5“, die sich selbst „linke Neoliberale“ nennen, was für sie eine Art nicht-bejahende Affirmation ist.
Ich wurde unterdes gefragt,wie das mit dem „Verschwinden“ am Schluß meiner JW-Auseinandersetzung mit dem interims-text der focus-orientierten mg konkret gemeint sei. Hier mein erster Versuch einer Antwort – vorgetragen auf dem Kongreß „9to5“ – unter der Ankündigung „WPP“, die witzigerweise dem Referat eines Amerikaners nahe kam, der für ein formatfreies Verpissen aufs Land plädierte:
Zum Problem des Verschwindens bzw. „Unwahrnehmbar-Werdens“ – unter besonderer Berücksichtigung des Waldes
Herodot sah im Nomadentum (der Skythen, d.h. der Barbaren) vor allem eine „Strategie“, die darin bestand, dass sie unfassbar waren (aperoi): Wenn man sie bekämpfte, zogen sie sich zurück. Und wenn man nicht mit ihnen rechnete, griffen sie an. Das gilt – bis heute – auch für alle Partisanenformationen und Verbrecherbanden, aber die Unfassbarkeit bzw. das Verschwinden ist für sie ein „Problem“ geworden – für das es viele Lösungen gibt und manchmal keine. Zudem stellt es sich nach Art eines Hase-Igel-Rennens immer wieder aufs Neue.
Hier wurde es zuletzt als „Untertauchen“ von „illegalen Gruppen“ diskutiert – und auch praktiziert. Am Beispiel der Tupamaro-Guerilla in Uruguay verwies Wolfgang Schöller dabei 1970 auf zwei Formen von subversiv langangelegter „Maulwurfstätigkeit“ hin, indem er bei der Stadtguerilla „militante Aktionen“ und die „bewußte Arbeit im Apparat“ unterschied. Zusammen käme beides z.B. bei einem Banküberfall, wenn die einen von außen einbrechen oder reinstürmen und die anderen ihnen von innen zuarbeiten würden.
Die letzteren hatten zuvor bereits Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der SDS-Delegiertenkonferenz 1967 im Blick, als sie den linken Studenten im Zusammenhang ihrer bürgerlichen Perspektive zu bedenken gaben: „Das Sich-Verweigern in den eigenen Institutionsmilieus erfordert Guerilla-Mentalität, sollen nicht Integration und Zynismus die nächste Station sein.“ Wenig später wurde aus diesem „verdeckten Einsatz“ (in Ämtern und Organisationen) die Strategie des „Langen Marsches“, wobei dieser ursprünglich chinesische Kraftakt im Raum (in der Horizontalen) unter der Führung von Mao tse Tung nun vertikal umgedacht wurde. Er bestand kurz gesagt darin, in die Institutionen einzusickern, dort voranzukommen und dabei kleine subversive Gruppen zu bilden – mithin als in der Öffentlichkeit agierende Linke zu verschwinden. Auch äußerlich, indem man sich z.B. die langen Haare abschnitt und statt Jeans und Parka dunkle Anzüge trug, die bereits von Adolf Loos als optimale Tarnung im städtischen Raum begriffen wurden: Das war keine Mimese (verstanden als Angleichung an den Hintergrund bzw. die Umgebung, um ununterscheidbar zu werden), also keine Anpassung von maoistischen Ex-Studenten an die Junior Executives in der City, sondern eher Mimikry: So wie z.B. eine ungiftige Schlange eine giftige im Aussehen nachahmt!
Demgegenüber riet die französische Feministin Luce Irigaray den militanten Frauen zur „Mimese“: Dabei gehe es darum, so sagte sie, „die Rolle freiwillig zu übernehmen. Was schon heiße, eine Subordination umzukehren in Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu beginnen, jene zu verteiteln.“ Judith Butler sprach später ähnlich von „Strategien subversiver Wiederholung – denn eine gute Mimin geht nicht in dieser Funktion auf.“
Der den Surrealisten eine zeitlang verbundene Insektenforscher Roger Caillois beschrieb die Mimese, die er als eine „Depersonalisation durch Angleichung an den Raum“ begriff, als „eine Störung der räumlichen Wahrnehmung“, die sowohl bestimmte Insekten als auch Schizophrene heimsuche („es gibt nur eine einzige Natur“). Und so wissen – in dem Fall beide „im starken Wortsinn – nicht mehr, wohin mit sich“. An anderer Stelle heißt es: „Der Raum erscheint diesen enteigneten Wesen als ein alles verschlingender Wille“.
In Hannover nannte man Anfang der Siebzigerjahre eine linke Kneipe „Langer Marsch“ und in Berlin machte der SDSler Tillmann Fichter daraus erst eine Zeitung: „Der lange Marsch“ und ging dann selbst mit gutem Beispiel voran – durch die ganze SPD-Hierarchie. Anders als z.B. die Trotzkisten „integrierte“ er sich jedoch darin – und fiel damit noch hinter Ernst Jüngers antiamerikanischem Individualpartisan zurück, den dieser nach dem verlorenen Krieg als einen „Waldgang“ skizziert hatte, als den er Martin Heideggers „Holzweg“ umdeutete – zur Existential-Utopie eines Vereinsamung riskierenden Unbeugsamen. „Der Wald ist der Ort des Widerstands, wo neue Formen der Freiheit aufgeboten werden gegen neue Formen der Macht,“ so faßte Jüngers Verlag dessen „Waldgang“ im Klappentext 1951 zusammen. Carl Schmitt kritisierte daran das Unpolitische: „Dann kann schließlich jeder Einzelgänger oder Non-Konformist ein Partisan genannt werden, sofern er auf eigene Rechnung und Gefahr Position bezieht und Partei nimmt“.
Inzwischen sind die meisten Aktivisten aus den Sechzigerjahren auf eine ähnliche Weise wie der SDSler Fichter aus der Linken „verschwunden“. Das Gegenteil wäre ein numerisches Verschwinden gewesen – indem mit Ausweitung der Kämpfe die Aktivisten darin quasi auf- bzw. untergehen („Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern,“ so sagten es die Situationisten). Stattdessen geschah das „Fading-Away“ der Bewegung jedoch vor allem durch Single-Issue-Projekte und Vereinzelung bzw. Anpassung und Karriere. Etwas anders war es bei den Tupamaros, die laut Abrahàm Guillén den Fehler machten, ihre „Kampfkolonnen“ aus der Stadt abzuziehen und aufs Land – in die Wälder – zu schicken, wo sie sich in „Tacuteras, einer Art von unterirdischen Kasernen, verbargen“. Dadurch zersplitterten sie nicht nur ihre Kräfte, das Verschanzen in „Tacuteras“ war auch ein Fehler, da diese leicht eingekreist und eingenommen werden konnten. Die Guerilla muß unter allen Umständen beweglich bleiben, „so dass jedes gegen sie gerichtete militärische Unternehmen damit endet, dass das Kampfobjekt verschwindet“, wie Karl Marx betonte. Der Tupamaro León Dúter erklärte der Journalistin Gaby Weber 1989: „Meine Gruppe ist zuerst in die Gegend von Paysandú gegangen, in den Queguay-Wald, für uruguayische Verhältnisse ist er sehr groß, aber für einen wirklichen Schutz reicht er nicht aus.“
Mit ihrer Aufspaltung in Stadt- und Landformationen und deren partieller Vernichtung setzte gleichfalls ein Verschwinden der Tupamaros ein. Die meist ländlichen Guerillabewegungen hat der Wald ansonsten jedoch eher vor dem Verschwinden – im Sinne von Aufgerieben-Werden – geschützt. Von dort – aus dem Unsichtbaren heraus – griffen sie dann auch wieder an. Der Wald war stets ihr zuerst „befreites Gebiet“. In Polen mußten sich die Aufständischen in ihrer Geschichte mehrmals in die Wälder zurückziehen. In Warschau verschwanden sie nach den letzten Aufständen 1943 und 1944 durch die Kanalisation – und versuchten von dort ebenfalls in den Wald zu gelangen. In Burma, Sri Lanka, auf den Philipinen und in Lateinamerika halten sich noch heute größere Partisanenverbände in Wäldern versteckt. In Nicaragua veröffentlichte der Sandinista Omar Cabezas seine Erinnerungen unter dem Titel: „Der Wald ist mehr als eine große grüne Hölle“. Nicht nur provisorisches Rückzugsgebiet sondern auch Ort ihrer Klärung, Zweifel und Einsamkeit. Gleichzeitig bietet er ihnen Nahrung und gibt ihnen die Möglichkeit, die komplizierten Lebensverhältnisse und -stile im Wald zu verstehen.
Ein Widerstandskämpfer (aus dem Zweiten Weltkrieg), Shmuel Ron, schreibt in seinen „Erinnerungen“: „Vor allem aber brannten wir darauf, uns den Partisanen in den polnischen Wäldern und in Weissrussland anzuschließen.“ Ähnlich äußerten sich 1995 auch die „Waldpartisanen“ Jack und Rochelle Sutin, denen Ende 1942 die Flucht aus einem schlesischen Ghetto gelang: „Wir teilten uns in kleine Gruppen auf und machten uns daran, in den Wäldern zu überleben. Wir hofften noch immer, uns russischen Partisanen anschließen zu können, aber wir hatten keine Ahnung, wo sie sich aufhielten…Tief im Wald begannen wir, einen Bunker für den Winter zu graben…Unser Zeitplan sah so aus, dass wir um zwei Uhr nachts zu kochen begannen, dann aßen und tagsüber schliefen.“ Diese Waldgebiete in Nordosteuropa waren zu groß, als dass die Deutschen sie systematisch hätten „säubern“ können – im Gegenteil, umfaßten die „befreiten Gebiete“ bald mehrere tausend Quadratkilometer.
Anders im baumarmen Süditalien – wo der Wald u.U. zu einer Falle werden kann: Dort führte z.B. Carmine Donatelli Crocco 1861 „seine Brigantenarmee gegen die Scharen des italienischen Nationalhelden Garibaldi in einen Krieg ohne Chance,“ schreibt Thomas Hauschild in seinem Buch „Magie und Macht in Italien“. Der Ethnologe lebte 20 Jahre lang in Ripacandida, wo der Aufstand der Briganten seinen Anfang nahm. Nicht weit davon – im Wald unter dem Gipfel des Vulture und über den Almseen am Heiligtum von Sankt Michael – fanden sie vier Jahre lang Schutz vor den berittenen Truppen, wobei sie von den Bauern und Hirten der Umgebung unterstützt wurden. Schließlich gelang es der Armee jedoch, die „wüsten Waldmenschen“, wie Hauschild sie nennt, einzukreisen und zu vernichten: Etwa 18.000 von ihnen, Männer und Frauen, wurden hingerichtet.
Die Asymmetrie der Waffen wirkt sich meist zu Ungunsten der Aufständischen aus. Um trotzdem „Gleiches durch Gleiches zu erzeugen“, versuchen Mensch und Tier es laut Roger Caillois mit „mimetischer Magie“, um dem Gegner gewachsen zu sein. So berichtet z.B. der holländische Kurdologe M.M. van Bruinessen: „Eines Tages sah ich den Scheich ein ganz besonderes Amulett eines berühmten Typs anfertigen: ein gulebend – d.h. einen Kugelfänger. Scheich Osman ist einer der ganz wenigen Scheichs (vielleicht der einzige noch lebende), der die Fähigkeit (und erforderliche Heiligkeit) besitzt, diese nützlichen Prophylaktika gegen Kugeln und Sprengkörper herzustellen. Der Mann, der darum gebeten hatte, war ein irakischer Kurde, ein Lehrer aus einem Dorf, das regelmäßig bombardiert wurde (dies war während des Krieges 1975/76). Das Amulett bestand aus einem langen Text, Beschwörungen und Koranversen. Der Scheich gab es zwischen zwei kleine viereckige Kartonstücke, wickelte es in Rohbaumwolle und ließ es in Stoff einnähen. Er sagte dem Mann, er solle es sich an den Oberarm binden und in der Achselhöhle aufbewahren, sobald Gefahr drohe, es jedoch nach oben drehen.“
Thomas Hauschild berichtet Ähnliches über die italienischen Aufständischen: „Bei vielen toten und eingekerkerten Briganten hat man ‚Schutzbriefe‘ gefunden, von Priestern geschrieben, die Zettel sollten sie unverwundbar machen.“ Und es gelangen ihnen auch immer wieder erfolgreiche Aktionen bis hin zur Einnahme ganzer Städte. Das war dann ein magischer Moment – „il momento magico, über den in Italien so viel gesprochen wird, das Aufgehen im erfolgreichen Tun.“
Der englische Soldat Stuart Hood, der im Zweiten Weltkrieg aus einem norditalienischen Gefangenenlager floh und sich dann zusammen mit einem Kriegskameraden den toskanischen Partisanen anschloss, entschied unterwegs zunächst ebenfalls auf „magische Weise“, welches Versteck einigermaßen sicher zu sein schien und welcher Bauer sie nicht verraten würde.
Der Kulturwissenschaftler Simon Shama hat in einer Studie über „Den Traum von der Wildnis“ den polnischen „Urwald von Bialowieza“ (Podlasien) historisch „durchforstet“ – der „Rumpfheimat des Wisent, aber auch der polnischen Outlaws und Partisanen. Ferner Jagdgebiet der Könige – und Ausgangspunkt der polnischen Forstwirtschaft bzw. -wissenschaft, die wiederum oft Beziehungen zu den Partisanen in ihren Wäldern unterhielt“. So gehörte z.B. zu den Partisanen, die sich nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands Ende 1830 und der Auflösung Polens in die Wälder von Podlasien – der puszcza – zurückzogen, auch Emilie Plater, „eine Soldatin, aus deren Familie zu Beginn des Jahrhunderts mehrere Forstbeamte gekommen waren.“ 100 Jahre später erklärte die Pilsudski-Regierung den Urwald zum ersten polnischen „Nationalpark“. In diesem Wald beginnen die ersten Gefechte zwischen Nationalökonomie und -ökologie. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen flüchteten auch viele Juden als Partisanen in diesen Wald – sie kamen „in eine neue Welt“, schreibt Simon Shama, „… die Veteranen, die sich als ,Wölfe‘ bezeichneten, waren von allen Generationen der ,Puszcza‘-Kämpfer die verzweifeltste“.
In Südfrankreich wurde das Wort für Buschwald – „Maquis“ – sogar identisch mit der Eigenbezeichnung der Partisanen. Ein deutscher Journalist – Gerhard Leo, der sich 1942 dem Maquis bei Toulouse anschloß, berichtet – als er seine Leute gefunden hatte und sie im Wald untertauchten: „Über uns breiten sich die Kronen der Eichen, Buchen, Kastanien und Kiefern wie ein schützendes Dach.“ Von dort aus griffen sie zusammen mit anderen Partisanengruppen eine deutsche Garnison an. Als die Deutschen Verstärkung bekamen, mußten sie sich jedoch wieder zurückziehen: „Wir rennen zu den schützenden Bäumen des Waldes rechts von der Straße. Über uns zerbrechen Äste unter den Salven…Der Wald wird dichter…Wir sind noch mal davongekommen…In die Wälder, die gepanzerte Fahrzeuge schwer durchqueren können, wagen sie sich nicht…Die Wälder beherrschen wir noch, aber nicht mehr die Ortschaften und die Straßen.“ Wie sie machte auch Alex Faitelson die Erfahrung: „Die Nazis fürchteten den Wald wie die Pest.“
Den Partisanen, die in die Wälder gingen, wurden diese zunehmend vertrauter. In vielen Partisanenbiographien wird davon berichtet. Erwähnt seien eine Sammlung von Erinnerungen deutscher und sowjetischer Partisanen, einer, Sepp Gutsche, gab seinem Bericht den Titel „Der Sumpf – Freund der Partisanen“. Eine Autobiographie der Partisanin Donia Rosen hat den Titel: „The Forest, my Friend“. Einige Autoren sprechen in ihren Büchern vom Wald als von einem „Verbündeten“, andere – wie der weissrussische Partisanenführer Alexej Fjodorow – von einem „natürlichen Freund – aber auch diese Beziehung muß entwickelt und erarbeitet werden“.
In Odessa operierten die Partisanen statt von den Wäldern, die es dort kaum gab, von den riesigen Katakomben aus, die sich fast unter der ganzen Stadt ausdehnten. Und die vietnamesischen Bauernpartisanen gruben sich selbst ein umfassendes Netz unterirdischer Versorgungslager und -tunnel, das heute zu den großen Touristenattraktionen des Landes zählt. Daneben griffen sie jedoch auch – ebenso unsichtbar – aus den Wäldern heraus an, wobei sie zunehmend die Flora und Fauna zu nutzen verstanden: nicht zuletzt zu Heilzwecken. Während umgekehrt die US-Luftwaffe immer mehr Entlaubungsgifte über den Wäldern versprühte – 80 Millionen Liter insgesamt, um sie wieder ins Sichtbare zu zerren und zu vernichten. Der deutsche Psychiater Erich Wulff, der zu Zeiten des Krieges in Hué arbeitete, schrieb in seinem Buch „Lehrjahre in Vietnam“: Am Anfang war der „Vietkong fast ein Phantom“, aber nach und nach nahmen immer mehr Leute aus seiner Umgebung in Hué „Kontakt mit der Befreiungsfront“ auf, die irgendwo „da draußen auf dem Land bzw. im Dschungel“ war. Aber bald rückte die „befreite Zone“ näher: „Das Maquis war nicht mehr, wie 1964, ein Kuriosum, wo man seine Neugierde befriedigte. Es wurde immer mehr zum geistigen, politischen und organisatorischen Zentrum für die Orientierung der Menschen in der Stadt“.
Nach dem demoralisierenden „Deutschen Herbst“ 1978 wurde auf dem Berliner „Tunix-Kongreß“ das Unsichtbar-Werden qua Sich-Entfernen quasi wörtlich genommen: Als Abhauen aus diesem Land. Wenn man weggeht, wird man kleiner! Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Félix Guattari, die man auf den Tunix-Kongreß eingeladen hatte – sprachen in ihrem Buch „Anti-Ödipus“ – ähnlich von einem „Klein-Werden Schaffen“, sodann – in ihrem Buch „1000 Plateaus“ und ausgehend von Kafkas „Verwandlungen“ – von einem Frau-Werden, Schwarz-Werden und Tier-Werden sowie von einem Molekular- bzw. Bakterie-Werden – und schließlich von einem gänzlich „Unwahrnehmbar-Werden“.
Diese „Strategie“ kam bereits im Maji-Maji-Aufstand“ zum Tragen, der von 1905 bis 1908 in Ostafrika stattfand – und sich gegen die deutsche Kolonialherrschaft richtete. Maji heißt Wasser. Gemeint ist damit aber eine „Kriegsmedizin“ auf der Basis von Wasser, die der „Prophet Kinjikitile“ den Kämpfern u.a. in einem Amulett mit auf den Weg gab, gleichzeitig startete er eine großangelegte „Flüsterkampagne“ – mit einer geheimen Kriegsbotschaft, die gegen Bezahlung weiter gegeben wurde. Die Medizin sollte die Kämpfer – verbunden mit einer neuen Moral: Keuschheit und Besitzlosigkeit – vor den Kugeln der deutschen Gewehre schützen: die Krieger also unverwundbar machen. Als das Maji bei Angriffen nicht half, konnten die Boten des Propheten zunächst argumentieren: Ihr wart nicht enthaltsam genug und geplündert habt ihr auch. Der Aufstand vereinigte erstmals zwanzig Stämme, die sich zuvor teilweise bekriegt hatten. Einige Stämme wiesen die Maji-Medizin jedoch zurück, mit der Begründung, ihre eigenen Heiler hätten ebenso brauchbare Mittel – z.B. solche, die sie und ihre Dörfer im Falle einer Gefahr unsichtbar machen würden, indem sie sie in Termitenhügel oder Wälder verwandeln.
Der Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin erforschte kurz nach dem Krieg in Jugoslawien die dort nach der Demobilisierung massenhaft aufgetretene „Partisanenkrankheit“. Diese besteht kurz gesagt darin, auch nach dem Sieg nicht mit dem Kämpfen aufhören zu können. Parin führte sie auf die strenge Sexualmoral der jugoslawischen Partisanen – mit Ausnahme der slowenischen zurück, bei denen diese „Krankheit“ dann auch nicht auftrat. Im Volk war demgegenüber die Meinung verbreitet, dass die ehemaligen Partisanen, vor allem die MG-Schützen, deswegen „Kampfanfälle“ bekamen, weil die vielen von ihnen umgebrachten Menschen sie zu sehr „belasteten“. Dazu trug auch ein Spielfilm von Velko Bulajic „Nachkriegszeit“ bei, in dem u.a. auch ein an dieser „Krankheit“ leidender Partisanenveteran gezeigt wurde. Ähnlich hat sich insbesondere Frantz Fanon – in Algerien – mit dem Zusammenhang von Befreiungskrieg und diesen psychischen Störungen befaßt.
Neben einer solchen „Störung“, heute würde man „Trauma“ sagen, kennen die Partisanen aber auch noch eine andere: Die Waldkrankheit. Der polnische Schriftsteller Yuri Suhl hat sie in seinem Roman „Auf Leben und Tod“, der von jüdischen Partisanen in einem ukrainischen Wald handelt, die unter der Führung von Mischa Gildenmann kämpften, beschrieben, wobei er sich auf eine Krankenschwester in einem Waldlager berief, die über dieses Leiden einen ihrer Patienten aufklärte: „Der Wald kann dich heilen und krank machen. Einige Partisanen haben jahrelang Krankheiten gehabt, die im Wald verschwanden. Keiner weiß warum. Es ist ein Rätsel. Und andere, die vorher nie etwas gehabt haben, werden krank, so wie du, mit hohem Fieber und Schüttelfrost.“ Während es in Jugoslawien die Rückkehr in die Gesellschaft war, ist es hier umgekehrt der Partisanenwald, der sie depersonalisiert. Der noch jugendliche Waldkranke wurde nach seiner Genesung in der Kreisstadt unter den Deutschen eingesetzt, wo er erfolgreicher war. Wenn die „Partisanenkrankheit“ vor allem junge ungebildete Bauern befiel, wie Parin meint, dann litten unter der „Waldkrankheit“ vor allem Leute aus der Stadt.
Aber auch dort ging es für sie noch darum, Unwahrnehmbar zu werden – nur dass hier der Raum die Kultur und nicht die Natur war. Dazu wurde dem e.e. Jugendlichen eingeschärft: 1. „Für einen Juden, der als Nichtjude überleben will, gibt es nichts Schlimmeres, als einen ängstlichen Eindruck zu machen. Angst ist noch schlimmer als Trauer.“ 2. Muß er gutes Ukrainisch sprechen: „Für einen Juden im Ghetto ist das wie ein Reisepaß für die arische Seite“. Sprachen „können heute über Leben und Tod entscheiden.“ 3. Braucht er „Verbindungen“. Das war in seinem Fall ein Ukrainer, „dem man vertrauen kann, mit dem wir zusammenarbeiten.“ Und schließlich benötigt er neben einem „guten Gesicht, guten Papieren und akzentfreiem Ukrainisch eine Verkleidung“ – z.B. als Bettler oder Musiker. Aber auch jede andere Verkleidung, „die funktioniert, ist gut.“
Vom Wert der Kleidung – als optimale Verkleidung, um unerkannt agieren zu können, berichten viele Partisanen. So schützten sich die jüdischen Kuriere, indem sie sich äußerlich an die Deutschen anglichen. Shmuel Ron berichtet: „Ich war verantwortlich für eine Gruppe von Mädchen mit ‚arischem‘ Aussehen, die dazu bestimmt waren, auf der ‚arischen Seite‘ tätig zu sein, und ich begann, mich auch auf das Fälschen von ‚arischen‘ Papieren zu spezialisieren.“ Rochelle Sutin verkleidete nach der Befreiung ihren Mann Jack als Frau, damit er nicht noch zur Roten Armee mußte: „Das hat ihm das Leben gerettet, ich weiß es.“ Andere Partisanen schworen auf bestimmte Kleidungsstücke, einen Hut etwa, der so etwas wie eine „magische Schutzfunktion“ für sie besaß. Andersherum entledigt sich z.B. die tschetschenische Kriegsberichterstatterin Heda Saratowa heute ihres Kopftuchs, wenn sie in Moskau ist: „Muslimin bin ich auch ohne Kopftuch,“ sagt sie und dass sie in Moskau nicht auffallen will: „Hier fühle ich mich unbeobachtet.“
Ebenfalls um nicht aufzufallen, passen sich mitunter gleich mehrere Tierarten der dominierenden Farbe einer Region an: „So traf ich im südlichen Brasilien eine ganze zirkumskripte Waldstelle, bei der mir sofort die lebhafte Blaufärbung aller hier vorhandenen Tiere auffiel. Von zwanzig Schmetterlingen, welche an mir vorüberflogen, waren wenigstens zehn ganz blau und die übrigen zum Teil,…- diese Übereinstimmung der Farben erstreckte sich aber nicht allein auf die Schmetterlinge, sondern auch Käfer, Hemiteren, Dipteren zeigten alle mehr oder weniger blauen Schimmer. Das merkwürdigste bei dieser Erscheinung war ihre enge Begrenzung. Nur wenige Meilen nach Norden von dieser Örtlichkeit hatte die Vorliebe für Blau nicht nur aufgehört, sondern es erschien die rote Farbe in ähnlicher Weise dominierend, wenn auch nicht in so auffälligem Grade,“ schreibt von Hanstein in seiner „Biologie der Tiere“. In den Elephant Mountains im südlichen Kambodscha wirbt heute die Verwaltung des Nationalparks Bokor damit, dass dort alle Tiere schwarz sind: Tiger, Cobras, Bären und Vogelspinnen… Auch die Partisanen, die in den Wäldern ihr Hauptquartier errichteten, wählten eine einheitlich schwarze Kleidung. Diese wurde dann für alle Kampfabteilungen der Roten Khmer obligatorisch – und schließlich sogar für alle Kambodschaner. Caillois erwähnt im Zusammenhang seiner Mimeseforschung englische Schmetterlinge, die in den Industriegebieten ebenfalls dazu neigen, die Farbe Schwarz anzunehmen. Auf Menschen und ihre soziale Umgebung bezogen, hat Woody Allen diese Neigung 1983 mit seinem Film „Zelig“ thematisiert.
Im Maji-Maji-Aufstand verwandelte sich ein Teil der Aufständischen nicht nur wie die französischen Partisanen namentlich oder metaphorisch in Wälder, sondern sogar buchstäblich. Geschah dies durch das, was man Mimikry oder Mimese nennt? Roger Caillois hat die Mimese in seinem Buch „Méduse & Cie“ von ihrer darwinistischen Verklammerung mit der „Nützlichkeit“ gelöst – und sie als ästhetische Praxis begriffen: So versteht er z.B. die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als „magische Praktiken“, die abschrecken und Furcht erregen sollen – genauso wie die „Masken“ der so genannten Primitiven. Und die Mimese überhaupt als tierisches Pendant zur menschlichen Mode, die man ebenfalls als eine „Maske“ bezeichnen könnte – die jedoch eher anziehend als abschreckend wirken soll. Wobei das Übernehmen einer Mode, das „auf eine undurchsichtige Ansteckung gründet“, sowohl auf das Verschwinden-Wollen (in der Masse) als auch auf den Wunsch, darin aufzufallen hindeutet.
Im Zusammenhang einer anderen Form der Mimese – der „Tarnung“, als „dem Streben nach Unsichtbarkeit“ – sei ferner der Zapatistensprecher Subcomandante Marcos erwähnt, der stets mit einer schwarzen Maske getarnt auftritt. 1996 – auf ihrem Intergalaktischen Treffen – erklärte dazu die ebenfalls maskierte zapatistische Mayorin Ana Maria in ihrer Eröffnungsrede: „Hinter unseren Masken steckt das Gesicht aller ausgeschlossenen Frauen und aller vergessenen Indigenas….“ Anders im algerischen Befreiungskrieg: Dort wurde der Schleier der Frauen, folgt man Frantz Fanon – „erst abgetan und dann wieder angelegt“ – zu einem „Instrument der Tarnung umfunktioniert“. In der Zeitung Le Monde versuchte sich auch Michel Foucault einmal als „maskierter Philosoph“ – indem er sich interviewen ließ, ohne dass sein Name genannt werden durfte. Er wollte damit einer Tendenz entgegenwirken, die darin besteht, „dass heute das, was gesagt wird, weniger zählt als die Person dessen, der etwas sagt“. Zuletzt -1984 kam er noch einmal darauf zurück, indem er der Presse gegenüber das „Recht auf Anonymität und auf ein Pseudonym“ geltend machte. Zu letzterem gehören auch die maskenhaften „Decknamen“ (Noms de Guerre) der Partisanen, aus denen nach dem Sieg reguläre Namen werden. Daneben aber auch die „Falschen Namen“ und erfundenen Biografien von Kundschaftern, wenn sie beschließen, damit ebenfalls nach dem Krieg weiter zu leben – womit sie in gewisser Weise auch demonstrieren, dass sie unfähig sind, mit dem Kampf aufzuhören. Wiktor Botschkarjow, einst Oberst beim sowjetischen Nachrichtendienst, erwähnt in seinen Erinnerungen zwei, deren Führungsoffizier er war: So legendierte er z.B. eine Kundschafterin, die er in einem Gefangenenlager rekrutiert hatte, als Witwe eines deutschen Wehrmachtsoffiziers, der an der Ostfront gefallen war. Auch nach dem Krieg lebte sie weiterhin mit dieser Legende und erhielt sogar mit ihren gefälschten Dokumenten eine Pension als Hauptmannswitwe in Hamburg. Und ein über Deutschland abgesprungener Agent, der sich erfolgreich in einer Großstadt legalisierte, indem er ans Theater ging und Schauspieler wurde, lebte mit der für ihn erarbeiteten Legende bis an sein Lebensende.
Sie tauchten gewissermaßen im Großstadtdschungel unter.
Aus unserer Frühgeschichte wissen wir, dass sich umgekehrt ganze Wälder auf die Seite der Aufständischen schlugen. So ist z.B. im altkeltischen Versepos „Cad Caddeu“ von einer „Schlacht der Bäume“ die Rede und dass die Druiden die magischen Mittel besaßen, „Bäume in Krieger zu verzaubern, um sie in die Schlacht zu schicken“. Robert Ranke-Graves meinte, dass es sich dabei um einen „Kampf“ handelt, „der geistig in den Köpfen und in der Sprache der Weisen geführt“ wurde. Aber auch Plinius der Ältere spricht in seiner „Naturgeschichte“ davon, dass die Eichen an der Nordsee so dicht standen, und im Sturm als Inseln weiter aufrecht stehend abtrieben, dass die römischen Truppen „eine Seeschlacht gegen die Bäume anfingen“. In der Shakespeareschen Tragödie „Macbeth“ gibt es eine Prophezeiung: Wenn der Birnam-Wald von Dundee sich zur Burg bewegt, ist es mit der Herrschaft dort vorbei. Die schottischen Aufständischen realisierten daraufhin diese Prophezeiung, indem sie sich mit Zweigen tarnten, als sie gegen die Burg vorrückten – und sie einnahmen.
Wie Forstwissenschaftler herausfanden, kamen die zurückgehauenen Wälder Mitteleuropas in früheren Zeiten den Rodungssiedlungen tatsächlich immer wieder derart nahe, dass die Siedler aufgaben und sich woanders niederließen. Der Wald war auch und gerade für die von und in ihm Lebenden bedrohlich. „Die mitteleuropäische Geisteskultur hat sie mit zahlreichen Figuren der Wildnis bevölkert, mit Riesen, Zwergen, wilden Jägern, Bären, Wölfen und anderen Wesen…,“ schreibt der Geobotaniker Hansjörg Küster in seiner „Geschichte des Waldes“.
In einem berühmten Gedicht von Nazim Hikmet heißt es dagegen: „Leben einzeln und frei wie ein Baum/ Und dabei brüderlich wie ein Wald/Diese Sehnsucht ist alt.“ Dies kommt einer Bemerkung von Jack und Rochelle Sutin nahe, die nach der Befreiung durch die Rote Armee die Erfahrung machten, dass sie sich im Waldlager „in gewisser Hinsicht wohler fühlten: Dort hatte Kameradschaft geherrscht“.
Ihr partisanische Rückblick berührt sich mit der forstwissenschaftlichen Sicht vieler sowjetischer Biologen, die sich statt auf den dortigen Konkurrenzkampf eher auf symbiotisches Zusammenwirken konzentrierten: „Es klingt paradox, aber der Wald braucht den Wald,“ so sagte es einer von ihnen und fügte hinzu: „Sonst stünden viel mehr Bäume einzeln, wo sie sich doch angeblich besser entfalten könnten.“ Der in den Dreißiger und Vierzigerjahren führende Agrarbiologe der UDSSR Trofim D.Lyssenko empfahl deswegen bei der Wiederaufforstung gleich die Anpflanzung von Bäumen in „Nestern“. Er begründete dies sehr revolutionsromantisch: „Erst schützen sie sich gegenseitig und dann opfern sich einige für die Gemeinschaft“. Der Forstwissenschaftler G.N. Wyssozki ging nicht ganz so weit, aber auch er unterschied zwischen vegetativem Freund und Feind: Damit z.B. die Eiche gut wachse, dürfe man sie nicht zusammen mit Eschen und Birken anpflanzen, sondern sollte sie „von Freunden umgeben“ – Büsche: Weißdorn, gelbe Akazie und Geißblatt z.B.. Laut dem Wissenschaftsjournalisten M. Iljin lehrte uns bereits der Gärtner Iwan W. Mitschurin, „dass sich im Wald nur die verschiedenen Baumarten bekämpfen, aber nie die gleichen“. Der russische Wald wird von der Steppe bedroht. Deswegen riet Lyssenko: aus Eiche (Wald) und Weizen (Feld) Verbündete gegen sie zu machen. Seinen Vorschlag begründete er quasi partisanisch: „Wenn einer zwei andere stört, dann lassen sich diese beiden stets, mindestens für einige Zeit, gegen ihren gemeinsamen Feind verbünden.“ Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, möchte man dazu anmerken. Die Möglichkeit des Untertauchens in diesen komplett auf Nutzen hin durchforsteten Generationenwäldern wird anscheinend jedoch zunehmend schwieriger…
Bereits der bei den italienischen Partisanen mitkämpfende Stuart Hood kam in seinem 2002 veröffentlichten Buch darüber zu dem Schluß: Nunmehr könne – wegen der fortgeschrittenen Zerstörung der Wälder und der bäuerlichen Kultur – „auf dem Land kaum mehr ein Maquis aufgezogen werden“. Deswegen sei nur noch – wenn überhaupt – eine Stadtguerilla möglich – über die Hood dann auch mehrere Bücher schrieb. Die Tupamaros waren in der Großstadt Montevideo zu ihrer Hochzeit derart durch die Unterstützung der Stadtbevölkerung geschützt, dass der Regisseur Costa-Gavras seinen Film über sie und ihre Aktionen (u.a. die Entführung und Ermordung des US-Folterspezialisten Dan Mitrione) den Titel „Der unsichtbare Aufstand“ gab.
Zu den verborgenen Widerstandsformen gehört laut Jean Baudrillard auch die Verführung. Seine Habilitationsschrift handelt von der „Verführung als letzte Chance“ geht: „Wie tarnt man sich? – Wie verstellt man sich? – Wie stellt man sich mit seiner Aufmachung, seinem Schweigen, seinem Zeichenspiel, seiner Indifferenz am besten zur Schau – in einer Strategie des Scheinhaften? Die Verführung also als Erfindung von Körperstrategemen, als Tarnverfahren zum Überleben, als beständiges Auslegen von Ködern, als Kunst des Verschwindens und der Abwesenheit, als Abschreckung, die an Wirksamkeit diejenige des Systems noch übertrifft.“
Dabei können mitunter auch Drogen hilfreich sein. Die jugoslawische Partisanin Jara Ribnika schreibt in ihren „Erinnerungen“: Als sie, um ihren Mann aus dem Gefängnis frei zu bekommen, beim Gestapochef für den Balkan, Dr.Weinmann, vorsprechen mußte, gab ihr ein Belgrader Freund den Rat, „nicht als vergrämte und vernachlässigte Frau eines Gefängnisinsassen dort zu erscheinen: ‚Sie müssen eine Dame sein'“. Von einem Ehepaar aus der Nachbarschaft, er war ein Jude aus Odessa und sie eine Deutsche aus Berlin, die für ihren Mann erfolgreich gekämpft hatte, bekam sie eine „Zauberpille“, die sie kurz vorher einnahm – und tatsächlich: „alle meine kleinen, kleinsten, mittleren und großen Erfolge waren mit mir, in mir. Niemand kam mir gleich“. Als sie das nächste Mal Dr.Weinmann besuchte, nahm sie vorher wieder diese Kriegsdroge ein – und wirklich bekam sie ihren Mann frei.
Die „Kriegsmedizin“ von vieler Partisanen im Zweiten Weltkrieg bestand aus einer Zyankalikapsel. Auch Shmuel Ron besaß eine. Als er jedoch ein Bunkerversteck überstürzt verlassen mußte, ließ er alles zurück: „…vor allem meine Kapsel mit Zyankali. Nur wenige von uns besaßen einen solchen Schatz.“ Später – im Gefängnis – besorgte ihm jemand neues „Gift“, als er nach Auschwitz kam, stellte er jedeoch fest, „dass es sich bei diesem ‚Gift‘ nur um ein starkes Beruhigungsmittel handelte.“ Die Ehefrau des Aufstandsführers im Warschauer Ghetto, Alina Margolis-Edelmann, berichtet, daß ihre Mutter, eine Ärztin, ein ihr anvertrautes krankes Kind mit einer Dosis Morphium tötete, die sie eigentlich für sich aufbewahrt hatte – was jedem, der eine solche Ampulle, die „damals den Wert von Gold besaßen, ein wunderbares Gefühl der Sicherheit gab“, denn damit konnte man den Zeitpunkt seines endgültigen Verschwindens selbst bestimmen.
Zur Medizin zählen auch die magischen Mittel. Sie werden mitunter mit ebensolchen Mitteln bekämpft, um Gleiches mit Gleichem quasi zu neutralisieren. Im Norden Ghanas kam es 1995 zu einem Krieg zwischen den Dagomba und den Konkomba. Viele Dörfer wurden zerstört und über 1000 Menschen getötet. Die Heiler der Konkomba bestimmen die Angriffe mithilfe eines Huhn-Orakels und ihre Kämpfer besitzen ebenfalls ein Mittel, das Unverwundbarkeit über das Unwahrnehmbar-Werden bewirken soll – und zwar dadurch, dass man damit ein Steppengras-Werden und/oder ein Leopard-Werden schafft. Allerdings nur solange die Krieger sich vor der Berührung mit Wasser hüteten – und sich z.B. nicht wuschen. Bei den „Leopardmenschen“ handelt es sich um eine alte schwarzafrikanische Werdung, die immer wieder in Krieger-Bünden entsteht. Wenn diese vom (Kolonial-) Staat allzu hartnäckig bekämpft werden, verwandeln sie sich in „Verbrechensgesellschaften“ (den „hommes-léopards“). In Kumasi nun fing man einen der vermeintlich unverwundbaren Kämpfer. Er wurde getötet. Um seinen möglicherweise anhaltenden Zauber zu brechen, schlug man ihm anschließend auch noch den Kopf ab und tunkte diesen in Wasser, wobei es in den Kopf eindringen mußte, so wurde gesagt. Danach wurde er dann photographiert und das Photo hernach als Postkarte auf allen Märkten verkauft.
Leider hat so gut wie kein Wissenschaftler nachgeforscht, ob und wie diese magischen Mittel funktionieren. Neuerdings hat sich immerhin der Schweizer Ethnologe David Signer, der afrikanischen Hexerei verschrieben. Für ihn sind die magischen Praktiken dort kein psychologisches, sondern ein soziologisches Phänomen. Wenn Frantz Fanon von einem „magischen Überbau“ sprach, dann könnte man nun mit David Signer von einem „magischen Unterbau“ reden. Er lernte in Ostafrika Medizinmänner und -frauen kennen, die Fetische herstellen, um Angreifer und Gewehrkugeln abzuwehren, die Mittel zur Verwandlung in Bäume und Antilopen herstellen, die Menschen den Mund verschließen und sie sogar mit Worten töten können. Der Traum jedes Intellektuellen!
Auch Deleuze und Guattari bezeichnen sich noch oder schon wieder als „Zauberer“ – da, wo sie davon sprechen, wie das Unwahrnehmbar-Werden geschieht: Es funktioniere nicht über „eine Analogie von Beziehungen“, sondern „man muß Elemente oder Materialien in eine Beziehung bringen, die das Organ seiner Besonderheit entreißt, um es ‚mit‘ dem anderen werden zu lassen.“ Dabei geht es den Autoren konkret um ein Tier-Werden. Über das Werden generell wird an anderer Stelle gesagt: Es gehöre „immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Es kommt durch Bündnisse zustande…Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrepondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‚zu scheinen‘ noch ‚zu sein‘.“ Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt. Für Deleuze/Guattari „gibt es ebensoviele Geschlechter wie Terme in der Symbiose, ebensoviele Differenzen wie Elemente, die bei einem Ansteckungsprozeß mitwirken.“ In diesem Zusammenhang betonen sie, dass es sich beim Tier-Werden immer um ein Plural handelt – also um Schwärme, Meuten, Banden… Und diese bilden sich eben durch Ansteckung. Das gilt auch für das Wald-Werden.
Solcherart Werden wandelt sich jedoch selbst – mit der Veränderung seiner Umwelt: dem „Milieu“ oder „Medium“, wie man früher sagte. Deleuze/Guattari unterscheiden das „Tier-Werden in der nomadischen Kriegsmaschine“ (die wilden Männer); das „Tier-Werden in der Verbrechensgesellschaft“ (die Leoparden-Männer); das „Tier-Werden in aufständischen Gruppen“ (bei Bauernrevolten, wo Hexen und Heiler eine kriegswichtige Funktion haben); das „Tier-Werden in asketischen Gruppen“ (die gelungenen Termitenhügel-Werdungen?) und das „Tier-Werden in Gesellschaften mit sexueller Initiation vom Typus ‚Heiliger Deflorator‘, Wolfsmänner, Bocks-Männer etc.“ (die sich auf ein höheres Bündnis berufen, das der Familienordnung überlegen und äußerlich ist).
Dabei können die Meuten/Banden/Schwärme nacheinander mehrere Werdungen durchlaufen, mindestens es versuchen: Im Angriff das Unverwundbar-Werden (mittels Maji); im Rückzug das Wald-Werden; nach der Niederlage das Leopard-Werden; nach erneutem Untertauchen das Wolf-Werden… Ein weiteres Werden wird durch die Integration einer „nomadischen Kriegsmaschine“ in die des Staates möglich bzw. nötig. So veränderte sich z.B. bei den partisanischen Kosaken nach ihrer Eingliederung und Einreihung in die Rote Armee ihr „ganzer Eros des Krieges“, wie Deleuze/Guattari das nennen: „Der auf das Tier orientierte Eros des Reiters“ (über den z.B. Isaak Babel sich nicht genug verwundern konnte) wird dabei durch einen „homosexuellen Gruppeneros ersetzt“. Ähnliches geschieht nach dem Sieg im Volkskrieg. Rochelle Sutin meint, dass etwa 80% der Paare, die im Wald bzw. im Kampf zusammen gefunden hatten, danach wieder auseinander gingen: „Die Überlebens- und Nützlichkeitsaspekte waren in Friedenszeiten nicht mehr tragfähig“. Sie selbst trennte sich nicht von ihrem Mann, dennoch mußte auch sie „umdenken“: „Ich war inzwischen wie ein Waldtier – ich hatte mich an das Leben in frischer, freier Luft gewöhnt“. Viele Männer trennten sich von ihrer Frau, weil deren waldpartisanische Fähigkeiten ihnen nach dem Sieg nicht mehr attraktiv schienen.
Dabei passiert das, was man auch ein Ummodeln oder Umpolen von „Affekten“ nennen könnte, denn bei allen An- und Verwandlungen geht es um Affekte – darum, Bündnisse mit ihnen schließen. „Es geht nicht mehr um Organisation, sondern um Zusammensetzung; nicht mehr um Entwicklung und Differenzierung, sondern um Bewegung und Ruhe, um Geschwindigkeit und Langsamkeit. Es geht um Elemente und Partikel, die schnell genug zur Stelle sind oder nicht, um einen Übergang zu bewerkstelligen, ein Werden oder einen Sprung – auf ein und derselben reinen Immanenzebene.“ Das Werden ist „das Überschreiten einer Schwelle“. Keine Metapher, sondern eine Metamorphose. – Um neue Existenzweisen zu erfinden, die geeignet sind, der Macht zu widerstehen und sich ihrem Wissen zu entziehen.
Ich komme zum Schluß – zur Pointe, sie stammt von Baudrillard. Wie erwähnt sprach er in seiner Habilitationsschrift Mitte der Achtzigerjahre von der „Kunst des Verschwindens“ – verstanden als ein „Tarnverfahren zum Überleben“ – als eine Subjektstrategie von unten, die auf Verführung basiert. Nun, kurz vor seinem Tod, hat er diese „Kunst des Verschwindens“ noch einmal aufgegriffen: Diesmal als Objektstrategie der elektronischen Medien, eines umfassenden „digital processing“ – von oben quasi, das den Menschen qua Technologie zum Verschwinden bringt – damit aber gleichzeitig auch das Böse sowie alle Radikalität: „Wenn sie sich vom mit sich selbst versöhnten und dank des Digitalen homogenisierten Individuum trennt, wenn alles kritische Denken verschwunden ist, dann geht die Radikalität in die Dinge über. Und das Bauchreden des Bösen wechselt zur Technik selbst hinüber…Wenn die subjektive Ironie verschwindet – und sie verschwindet im Spiel des Digitalen – dann wird die Ironie objektiv. Oder sie verstummt.“ Ja, dank des „Klonens, der Digitalisierung und der Netze“, so Baudrillard, sind wir eigentlich als Menschen schon so gut wie verschwunden: „Es ist ein wenig wie im Falle der Cheshire-Katze bei Lewis Carroll, deren Lächeln immer noch im Raum schwebt, nachdem ihre Gestalt schon entschwunden ist.“