Die marxistische Soziologie, Hauptfach der Studentenbewegung, wurde in den Achtzigerjahren mit Beginn des Neoliberalismus vom CIA-Urbanismus und der Pop-Kulturwissenschaft abgelöst. Aber noch lebt sie – die Soziologie. Seitdem der Ostberliner Urbanismus-Soziologe Andrej H. in Haft genommen wurde, kommen weltweit die Soziologen aus ihren Löchern gekrochen – und fordern seine Freilassung. In der taz von heute kommen dazu zwei zwar nicht besonders marxistische, dafür aber umso prominentere Soziologen zu Wort: Richard Sennett und Saskia Sassen. Der eine lehrt in England Soziologie, die andere in den USA:
Das Verbrechen der Soziologie
„Terrorismus“ hat zwei Gesichter. Es gibt wirkliche Bedrohungen und echte Terroristen, und dann gibt es da noch eine Sphäre namenloser Ängste, vager Verdächtigungen und irrationaler Reaktionen. In Letzterer scheint sich derzeit das deutsche Bundeskriminalamt zu bewegen: am 31. Juli durchsuchte es die Wohnräume und Arbeitsplätze von Dr. Andrej H. und Dr. Matthias B. sowie von zwei anderen Leuten, allesamt in höchst verdächtige Aktivitäten verstrickt – in das Verbrechen der Soziologie.
Dr. Andrej H. wurde festgenommen und zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe geflogen, seitdem sitzt er in einem Berliner Gefängnis in Einzelhaft und wartet auf sein Verfahren. Natürlich kann es sein, dass die Polizei über handfeste und nachvollziehbare Beweise verfügt, die sie bislang zurückhält; ihre öffentlichen Verlautbarungen dagegen deuten eher auf eine Farce hin.
Dr. B. wird vorgeworfen, er habe in seinen akademischen Veröffentlichungen „Formulierungen und Schlüsselworte“ verwendet, die auch von einer militanten Gruppe benutzt würden, darunter solche Worte wie „Ungleichheit“ und „Gentrifizierung“. Die Polizei hält es für verdächtig, dass es zu Treffen mit deutschen Aktivisten kam, zu denen die Soziologen ihre Mobiltelefone nicht mitbrachten; die Polizei betrachtet dies als Zeichen „konspirativen Verhaltens“.
Vor dreißig Jahren durchlebte Deutschland eine Konfrontation mit fraglos militanten Gruppen, und diese bleierne Erinnerung hängt der Polizei noch immer nach. Es mag auch so sein, dass es sich bei „Gentrifizierung“ um ein wirklich furchtbares Wort handelt. Aber dieses Vorgehen der Polizei scheint mehr nach Guantánamo-Art zu sein, als den Gesetzen echter Geheimdienstarbeit in einer liberalen Demokratie zu folgen.
Betrachten wir den unglücklichen Dr. B. doch ein wenig näher. Ihm wird nicht vorgeworfen, irgendwelche aufrührerischen Aufrufe geschrieben zu haben; er scheint nur intellektuell in der Lage zu sein, jene einigermaßen anspruchsvollen Texte zu verfassen, die eine militante Gruppe benötigen könnte. Außerdem verfügt unser Wissenschaftler, als Angestellter an einem Forschungsinstitut, „über Zugang zu Bibliotheken, um dort die Recherchen durchzuführen, die notwendig sind, um Texte für eine militante Gruppe zu verfassen“, auch wenn er keine solchen geschrieben hat. Den einzigen unerschütterlichen Tatsachenbeweis, den die Polizei gegen Dr. H. in Händen hält, ist, dass er vor Ort war, als die linksextreme Szene ihren „Widerstand gegen das Weltwirtschaftsforum 2007 in Heiligendamm“ auf die Beine stellte. Vielleicht erlag er dem Irrtum, diese Szene lediglich zu studieren, statt den Protest zu orchestrieren?
Das ist kein Grund für Briten, geschweige denn für Amerikaner, jetzt in selbstgerechtem Missfallen die Stirn zu runzeln. In der langen, traurigen Geschichte der IRA sind Fantasie und Realität noch viel stärker miteinander verwoben worden. Aber abgesehen davon, dass wir hoffen, dass unser Kollege Dr. H. sobald wie möglich freigelassen wird, wenn er nur verspricht, immer und überall sein Handy mit sich zu tragen, so sind wir doch bestürzt über die Grauzonen zwischen fragilen bürgerlichen Freiheiten und den Verwirrungen staatlicher Macht, die sich in diesem Fall offenbaren.
Der liberale Staat verändert sich. In den Sechzigerjahren besaß Deutschland die aufgeklärtesten Gesetze für Flüchtlinge und Asylsuchende in Europa; die USA erließen die feinfühligsten Einwanderungsgesetze in ihrer Geschichte, und Frankreich garantierte allen, die auf seinem Territorium geboren wurden, automatisch die Staatsbürgerschaft, das galt auch für alle Muslime. Heute haben alle diese Länder im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ ihre Gesetze geändert – der Ausnahmezustand setzt sich durch. Die Gesetze, die gegen echte Gefahren gedacht waren, werden nun ausgelegt, um amorphen Ängsten zu begegnen. Anstelle echter Polizeiarbeit wollen die Autoritäten der Gefahr, die sie fürchten, einen Namen geben – irgendeinen Namen. Der Ausnahmezustand untergräbt die Legitimität von Staaten. Wenn Fälle so verfolgt werden wie dieser, dann läuft eine Regierung Gefahr, ihre Autorität zu verlieren, und beraubt sich damit der Möglichkeiten, wirkungsvoll gegen echte Terroristen vorzugehen.
Sollten unsere Kollegen wirklich gefährliche Soziologen sein, dann sollten sie mit rationalen Mitteln strafrechtlich verfolgt werden. Aber, wie in Guantánamo, scheint die Verfolgung an Stelle der Strafverfolgung getreten zu sein.
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Die deutsche Polizei und Staatsanwaltschaft scheint statt Soziologie auch eher Pop-Kulturwissenschaft zu treiben – und zwar in ihrer Hauptschulvariante: Im Internet surfen. Das legt jedenfalls ein taz-artikel von Uwe Rada nahe:
Kommissar Google jagt Terroristen
Das Ermittlungsverfahren, das vor drei Wochen zur Festnahme des Berliner Stadtsoziologen Andrej H. geführt hat, geht offenbar auf eine Internetrecherche des Bundeskriminalamts mit Hilfe des Suchportals Google zurück. Dies erklärte gestern in Berlin H.s Anwältin Christina Clemm, die erstmals Einsicht in die Ermittlungsakten nehmen konnte.
Clemm zufolge haben die Fahnder des BKA im Internet nach bestimmten Stichworten gesucht, die auch die „militante gruppe“ in ihren Bekennerschreiben benutzt. Darunter seien Begriffe wie „Gentrification“ oder „Prekarisierung“. Da H. zu diesen Themen forsche, seien die Fahnder auf ihn aufmerksam geworden. „Das reichte für die Ermittlungsbehörden für eine fast einjährige Observation, für Videoüberwachung der Hauseingänge und Lauschangriff“, so Clemm.
Der Soziologe H. war am 1. August wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der „militanten gruppe“ festgenommen worden. Er sitzt seitdem in einer Einzelzelle in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit. Einen Tag zuvor hatten Fahnder drei Männer in der Stadt Brandenburg bei dem Versuch festgenommen, einen Brandsatz unter Bundeswehr-Lkw zu legen.
Einen der Männer soll H. zweimal zuvor getroffen haben. Was bei diesem Treffen gesprochen wurde, geht nach Angaben der Anwältin aus den Akten nicht hervor. „Die wissen das schlicht nicht“, sagt Clemm. „Gleichwohl wird da ein Tatverdacht konstruiert.“
Die Tatsache, dass Texte kritischer Wissenschaftler unter Terrorverdacht geraten, sorgt auch in der deutschen und internationalen Wissenschaftsszene für Aufregung. „Ich finde den Vorwurf einer intellektuellen Täterschaft gespenstisch“, sagte gestern der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann von der Berliner Humboldt-Universität, an der auch H. arbeitet.
Einen offenen Brief an Generalbundesanwältin Monika Harms, den Häußermann initiiert hat, haben inzwischen 2.000 Stadtforscher, Soziologen und Studenten unterschrieben. „Im Grunde steht jeder Wissenschaftler, der sich mit Themen wie Gentrification beschäftigt, mit einem Bein im Knast“, sagte Häußermann. Dabei sei das Thema, die Aufwertung von Stadtvierteln für Besserverdienende, bereits seit den Achtzigerjahren Teil der soziologischen Forschung in Deutschland. In den USA gehört Gentrification ohnehin längst zum Standardvokabular.
Entsprechend sind auch die Kommentare US-amerikanischer Stadtforscher zu den Terrorismusvorwürfen in Deutschland. Die Soziologen Richard Sennett und Saskia Sassen sprechen von einem Vorgehen „nach Guantánamo-Art“ (siehe Meinungsseite). Dutzende von Soziologen und Stadtforschern aus den USA haben sich inzwischen mit einem eigenen Brief an die Bundesanwaltschaft gewandt. Darin verwahren sich die Wissenschaftler „gegen den unglaublichen Vorwurf, die wissenschaftliche Tätigkeit und das politische Engagement sei als intellektuelle Mittäterschaft in einer angeblichen terroristischen Vereinigung zu bewerten“.
Auch die Bundespolitik beschäftigt sich inzwischen mit der Terrorismusjagd via Google. „Dass Andrej H. Mitglied einer terroristischen Vereinigung sein soll, ist eine sehr windige Konstruktion durch die Bundesanwaltschaft“, findet die grüne Fraktionschefin Renate Künast. Die Bundesanwaltschaft selbst wollte die Vorwürfe nicht kommentieren. Am Freitag wird ein Haftrichter in Karlsruhe darüber entscheiden, ob Andrej H. in Untersuchungshaft bleibt oder auf freien Fuß kommt.
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Neben den Soziologen bemühen sich auch auch die Ostberliner Freunde von Andrej H. aktiv um seine Freilassung. Aus der Redaktion des „telegraph“ kommt folgende mail:
Hallo, noch bis Heute, Mittwoch, 13:00 Uhr kann die Erklärung zur Freilassung von Andrej Holm und der Anderen Drei, sowie Einstellung aller 129a Verfahren, unterschrieben werden. Anbei die Erklärung mit den ersten Unterzeichnern. Die Namen der unterschreibenden bitte an die E-Mail schicken: aktion@hausderdemokratie.de Informationen zum aktuellem Stand des Verfahrens, alle Presseartikel und Erklärungen: http://einstellung.so36.net/
[…] ein kleiner nachbericht zu der pressekonferenz gestern. der taz-blog des aushilfshausmeisters fasst die taz-artikel ganz gut zusammen. zum einen gibt es dort einen kommentar von zwei soziologen und von uwe rada den artikel kommissar google jagt terroristen. dieser überschrift kann ich jedoch so nicht zustimmen. das wort google entstammt den geistern der journalisten, aber keinesfalls aus dem mund der anwältin. so war zwar immer die rede von “internetrecherche”, aber jeder weiß, dass google dafür zwar die erste instanz ist, aber keinesfalls die letzte und auch nicht die beste. […]