vonHelmut Höge 11.09.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Langsam überwinden die Deutschen ihre Scheu, sich selbständig zu machen – verkünden die lohnabhängig beschäftigten „Experten“ in den entsprechenden Dienststellen, allen voran den Arbeitsämtern (vulgo: Bundesagentur für Arbeit). Einige Jahre lang sah es so aus, dass fast nur die türkischen und russischen Einwanderer mit Existenzgründungen liebäugeln würden – und sei es auch nur, weil erstere zu den ersten gehörten, die ihre Festarbeitsplätze nach der beschissenen Wiedervereinigung verloren und letztere ähnlich wie die Araber hier gar nicht erst einen Festarbeitsplatz fanden.

Die Berliner Volksbank reagierte darauf derart feinfühlig, dass sie um 2000 ihre deutschen Existenzgründerberater feuerten und stattdessen Russen und Türken einstellte, damit die ihre Landleute qualifiziert berieten. Nun aber – mit gehöriger Verspätung – sollen angeblich auch die Kerndeutschen sich einen Ruck gegeben haben.

Spätestens jetzt sollten wir uns jedoch fragen: Ist es überhaupt wünschenswert – dass sich alle als Kleinkrämer versuchen? Da hocken sie dann den ganzen Tag solipsistisch in ihren trostlosen Friseursalons, engen Kiosken, Spätkaufläden und Dönerbuden, heißen Bio-Imbissen und zugigen Webdesigner-Lofts, denken sich immer neue Sonderangebote aus, erweitern ihre Servicepalette, verlängern die Öffnungszeiten, schimpfen über ihre faulen, vom Arbeitsamt bezahlten Mitarbeiter, über die schmutzige Konkurrenz, über nichtsnutzige Ausländer und dreiste Kriminelle, wählen immer weiter rechts und werden überhaupt immer reaktionärer und dümmer… Wollen wir wirklich ein einig Volk von selbständigen Asozialen werden?

Der US-Schriftsteller Kurt Vonnegut warnte bereits 1953 (!) in seinem Buch „Player Piano“ vor dieser Auswirkung der Computerisierung, d.h. vor den Massenarbeitslosigkeit produzierenden Folgen des kybernetischen Denkens bei seiner umfassender Anwendung, die erst in den Achtzigerjahren langsam griff. In seinem Aufruhr-Horrorszenario, in dem er die Militärforschung des „Fathers of Cyborg“ Norbert Wiener und des Mathematikers John von Neumann weiter dachte, geht es bereits um die Folgen der „Maschinisierung von Hand- und Kopfarbeit“, d.h. um die vom Produktionsprozeß freigesetzten Menschenmassen, die überflüssig geworden sind und nur noch die Wahl haben zwischen 1-Dollarjobs in Kommunen und Militärdienst im Ausland, wobei sich beides nicht groß unterscheidet. Theoretisch könnten sie sich auch selbständig machen – „Ich-AGs“ gründen, wie das 1997 in Wisconsin entwickelte „Trial Job“-Modell nach Übernahme durch die rotgrüne Regierung hierzulande genannt wurde: „Reparaturwerkstätten, klar! Ich wollte eine aufmachen, als ich arbeitslos geworden bin. Joe, Sam und Alf auch. Wir haben alle geschickte Hände, also laßt uns alle eine Reparaturwerkstatt aufmachen. Für jedes defekte Gerät in Ilium ein eigener Mechaniker. Gleichzeitig sahnen unsere Frauen als Schneiderinnen ab – für jede Einwohnerin eine eigene Schneiderin…“

Da das nicht geht, bleibt es dabei: Die Massen werden scheinbeschäftigt und sozial immer schlechter endversorgt, während die staatlichen und privaten Sicherheitsmaßnahmen zunehmen sowie Rauchen und ähnliche Eigenmächtigkeiten verboten werden. Gleichzeitig ist eine kleine Elite mit hohem I.Q., vor allem „Ingenieure und Manager“ (Problemlöser/Kreative), emsig dabei, die Gesellschaft bzw. das, was davon noch übrig geblieben ist – „Das höllische System“ (so der deutsche Titel des Romans) – weiter zu perfektionieren. Und das heißt: erbarmungslosester Amerikiki-Darwinismus als Leitwissenschaft und -währung, hochkomplexe Wissensgesellschaft – jeder kann auf einer Computertastatur rumhacken und jeden Scheißdreck googeln, Tabletten für alle psychischen Probleme, dümmstes Tittitainment, Fit for Fun, Coffee to Go, Anglizismen to Run, Gangsta-Rap to puke and Fucking bzw. Communicating the brain away.

Was früher „High sein, Frei sein, Terror muß dabei sein“ hieß, also Lust am Widerstand und am Verweigern war (und epidemisch wurde), nebst „solidarischem Handeln“ und „politischem Engagement“ – das hört sich nun – aus der Rückschau z.B. eines exmaoistischen und immerhin noch schwulen taz-Redakteurs so an, in einem Text über eine junge Buchautorin: „Sie kann nicht berichten, wie diese seltsamen 70er waren – ein Jahrzehnt im Aufbruch und eines des Abschieds von deutscher Hörigkeit gegenüber allen Obrigkeiten. Sie war nicht dabei in dieser Solidaritätshölle…“

Ähnlich sieht das auch unser SPD-Gesundheitsminister: Neulich fragte ihn der stern-Redakteur in einem Interview nach dem armen kleinen Eisbär im Westberliner Zoo, woraufhin dieser reaktionäre Schwachkopf Sigmar Gabriel ihm antwortete: „Knut hat Substanz und Kraft! Das unterscheidet ihn von Oskar Lafontaine. Der erzählt Märchen, sagt den Menschen, die Globalisierung sei rückholbar. Er sagt: Raus aus Afghanistan. Er will, dass wir uns aus der internationalen Verantwortung stehlen. Das ist feige.“

Nichtformelle Einkünfte

Laut einer Umfrage der Hermes Kreditversicherung entsteht der Berliner Ökonomie jedes Jahr durch den „Klau am Arbeitsplatz“ ein Schaden von 1,75 Milliarden Mark. Das ist grober Unfug! Wie einem jeder nicht auf den Kopf gefallene Unternehmer versichern kann, „reorganisieren“ die Mitarbeiter gerade mit Diebstählen ihre immer wieder durch den Profitzwang zerstörte Unternehmensbindung.  Ein Berliner Funkgerätehersteller erzählt: „Ich sehe das sogar gern, wenn meine Angestellten Geräte oder Werkzeug mit nach Hause nehmen, das ist eine ebenso effektive wie kostengünstige Weiterbildung nach Feierabend. Nur einmal habe ich einen Mitarbeiter angezeigt: der hatte einen Keller angemietet und die Sachen weiterverkauft.“

Der Berliner Kurier ließ die Hermes- Umfrage durch einen Arbeitsrechtler kommentieren: „Klauen berührt immer das Vertrauensverhältnis“ – und „rechtfertigt generell eine fristlose Kündigung“. Seitdem der „Kurier“ einem Westkonzern gehört, gelten dort sogar telefonische Privatgespräche am Arbeitsplatz als eine Art Diebstahl. Bei der taz kann man dagegen ohne schlechtes Gewissen alles benutzen:  Telefon, Kopierer, Faxgerät, Frankiermaschine etc., sogar Disketten, Papier und Ordner werden einem gerne nach Hause mitgegeben. Dieser „Großzügigkeit“, die auch ein vor einiger Zeit eingestellter „Sparkommissar“ nicht beschnitt, liegt – wie übrigens genauso in japanischen Betrieben – der Gedanke zugrunde, daß dadurch die Identifikation mit dem Betrieb gestärkt wird.

Zwei Berliner Getränkeauslieferungsfirmen machten die Probe aufs Exempel: Die eine kontrollierte ihre Mitarbeiter, die andere nicht. Bei der letzteren war nicht nur das Betriebsklima weitaus besser, es rechnete sich auch, denn die Kontrolle ist teuer, und außerdem fühlten sich die Mitarbeiter dadurch herausgefordert, sie ständig zu überlisten: „Alle Tage Sabotage!“  Der Registrierkassen-Hersteller NCR zum Beispiel muß jedes Jahr ein neues Kassenmodell auf den Markt bringen, weil Kassierer und Kellner bis dahin das System „geknackt“ haben. Aus einem ähnlichen Grund sind Supermarktkonzerne allen Betriebsführungstheorien zum Trotz an einer hohen Fluktuationsrate in ihren Filialen interessiert: Sobald sich jemand „eingearbeitet“ hat, fängt er auch schon an zu klauen – übrigens sind Frauen dabei weitaus mutiger als Männer.  Bei Karstadt werden die Mitarbeiterinnen deswegen am Ausgang nach dem Zufallsprinzip kontrolliert. Auch bei Opel in Eisenach wurde dies neulich – von General Motors – eingeführt. Weil zur gleichen Zeit einige Mitarbeiter von Opel Gleiwitz dort hospitierten, meinten die Eisenacher, dies geschähe jetzt nur wegen der Polen. Mit dieser Selbstbelügung wollten sie sich ihre noch hohe Betriebsidentifikation erhalten.  Die schärfsten Kontrollen gibt es in den Seehäfen beim Löschen (durch die internationale Firma Controllco), dennoch ist es ihr noch nie gelungen, einen Diebstahl zu verhindern, wenn die Hafenarbeiter an einer Ladung interessiert waren, und ihr Interesse daran ist wegen der Kontrollen – „Ehrensache“.

Bei Opel in Rüsselsheim gab es einmal eine gut verankerte Sponti-Betriebsgruppe. Einmal ließ sie ein Flugblatt verteilen, in dem es hieß: „Einen Schraubenzieher mitgehen lassen macht 8,60 Mark, eine Rohrzange macht 28,40 Mark … usw. Das reicht aber noch nicht: Deswegen 1 Mark mehr für alle pro Stunde!“ Fast schmissen die Arbeiter die Betriebsgruppe deswegen raus, weil zwar alle klauen und das auch jeder weiß, aber keiner darüber spricht. Ähnlich verhielt es sich bereits mit Dostojewskis Bericht über seinen sibirischen Gefängnisaufenthalt, „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“: Die Kriminellen nahmen es ihm übel, daß er darin einige ihrer Überlebenstricks „verriet“ – und wollten deswegen noch lange Zeit danach aus „Dostojewski“ nie was vorgelesen bekommen.

Für 250.000 Mark Waren stehlen Berliner Verkäufer angeblich täglich – und was ist mit den steigenden Mieten, Steuern, etc. und dem miesen letzten HBV-Tarifabschluß? „Wir sind noch lange nicht quitt!“ so sagte es neulich meine Lieblingskassiererin im Kreuzberger PLUS-Markt – und vergaß prompt, einen Kasten Bier unten in meinem Einkaufswagen abzurechnen. Auch das gibt es: uneigennützigen Diebstahl! Eine besonders edle – weil gemeinschaftsstiftende – Form der Kriminalität. In der DDR und noch mehr in der UDSSR – wo fast alles vergesellschaftet wurde – galt der Diebstahl fast als rechtens. Ein Sportlehrer aus Luckau rechtfertigte seine Privatisierungen von Volkseigentum stets mit den Worten: „Erich Honecker hat doch selbst gesagt ‚Wir können noch viel mehr aus unseren Betrieben rausholen‘.“ Weil in Russland auch heute noch massenhaft die mageren Löhne durch Diebstahl ausgeglichen werden, sprechen die Soziologen dort „wertneutral“  von „nichtformellen Einkünften“. Dabei gilt es ihrer Meinung nach, die Balance zu finden: „Wenn die Belegschaft zu wenig klaut, kommt sie nicht über die Runden, wenn sie zu viel klaut, geht ihr Betrieb pleite“.

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