vonHelmut Höge 13.09.2007

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung kommt zu dem Ergebnis – in Form einer Empfehlung an die Landesregierung Brandenburgs, die Mark “zu entleeren”, d.h. der dortigen Restbevölkerung Wegzugsprämien zu zahlen und aus den Gemeinden eine “Wildnis” zu machen, die für den Tourismus interessant ist. Die taz schrieb:

So zumindest stellen sich das die Macher einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zur demographischen Lage Brandenburgs vor, die der Potsdamer Landtag in Auftrag gab und Ende vergangener Woche in Empfang nahm. Die Bevölkerung schrumpft, so viel ist allen klar. Wie darauf zu reagieren ist, darüber erhitzen sich nun die Gemüter. Da es zu teuer sei, die Infrastruktur an dünn besiedelten Gebeten aufrecht zu erhalten, müsse “das Land versuchen, die Menschen dort, wo kein anderer Impuls möglich ist, zum Abwandern zu motivieren”, zitierte die Märkische Oderzeitung das Papier. Konkret ist von Geld-Prämien die Rede, um den Bewohnern die Entscheidung zu erleichtern und ihre Dörfer “zu einem Naturerlebnis ‘Wildnis'” zu machen.

Politiker aller Couleur reagierten mit Empörung auf den Vorschlag der Studienmacher. “Zynisch und schädlich” fand ihn Brandenburgs SPD-Generalsekretär Klaus Ness, CDU-Fraktionschef Thomas Lunacek sprach von “Unsinn”. Günter Baaske, SPD-Vorsitzender und Vorsitzender des Landtags-Hauptausschusses, der das Gutachten in Auftrag gab, sagte der taz: “Wegzugprämien wird es in Brandenburg nicht geben. Das ist eine absurde Idee – schafft aber immerhin Aufmerksamkeit.”

Die Frage ist, ob die Empörung der Politiker nicht gespielt ist. Reiner Klingholz, der Leiter des Berliner Instituts, findet den Aufschrei widersprüchlich. Schließlich entstünden “zu Lasten der vom Land betriebenen Leuchtturm-Politik Gebiete, die leer ausgehen.” Sprich: Wer die stärkeren Regionen gezielt fördert, vernachlässigt die ohnehin schon strukturschwachen Zonen. Klingholz mutmaßt, “die Landesregierung will, dass die Diskussion über Entvölkerung jemand anderes führt”.

Denn die überproportionalen Kosten der Infrastruktur in den dünn besiedelten Gebieten seien nicht von der Hand zu weisen, so Klingholz. Die Konsequenzen aber traue sich kein Politiker auszusprechen. Daher bestünde in Potsdam großes Interesse an einer Veröffentlichung der Studie, die Landesregierung habe dies aber den Forschern überlassen, weil sie nicht mit den Ergebnissen in Verbindung gebracht werden wollten.

Aus rechtlicher Sicht habe das Land praktisch keine Möglichkeiten, die Bewohner dünn besiedelter Landstriche zur Umsiedlung zu bewegen, sagt Ulrich Battis, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Humboldt-Universität. Egal wie wenige Menschen an einsamen Orten lebten, “das Land ist verpflichtet, die Infastruktur im ganzen Land aufrecht zu erhalten”. Bei dem Prämien-Modell handele sich um eine merkwürdige “Subvention mit umgekehrten Vorzeichen”, so Battis. Anstatt die Menschen mit einem Begrüßungsgeld zu sich zu locken, würden sie in Teilen Brandenburgs für ihren Abzug bezahlt.

Die Partei “Die Linke” meldet dagegen – unter dem Begriff “Begrüßungsgeld”:

Je 100 Euro zahlt die Gemeinde Ihlow (Teltow-Fläming) für jeden Neugeborenen zur Begrüßung. Drei Elternpaare sind in diesem Jahr schon in den Genuss der “Baby-Prämie” gekommen. Mehrere Gemeinden in Brandenburg beleben die Tradition aus DDR-Zeiten inzwischen wieder und heißen ihren Nachwuchs mit einem Geldgeschenk willkommen. Jüngstes Beispiel ist die Stadt Werneuchen (Barnim), die ab 2008 ein “Patengeld” für die Geburt und die Einschulung von Kindern zahlen will.Die stellvertretende Geschäftsführerin des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg sieht das Engagement der Gemeinden nicht so gerne. “Für Familienausgleich ist der Bund zuständig”, sagt sie. Es sei nicht Aufgabe der Kommunen, dafür zusätzlich Steuermittel auszugeben. Mehr als eine “nette Geste” sieht man auch im Familienministerium nicht in dem Patenschaftsgeld. Als demografisches Steuerinstrument sei es ungeeignet, so Sprecher Jens Büttner. Bis 1995 wurde frischgebackenen Eltern vom Land eine kleine Summe überwiesen auf Initiative der damaligen Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD), die so den dramatischen Geburtenrückgang stoppen wollte. Doch dann wurde die Beihilfe aus Kostengründen gestrichen. Zu DDR-Zeiten gab es vom Staat für jedes Kind 1000 Mark als Willkommensgeschenk. “Begrüßungsgeld” dürfen die Gemeinden ihr Präsent dabei nicht mehr nennen. Das Innenministerium als Kommunalaufsicht sah darin eine “Aufwendungsbeihilfe zum Zweck einer Ergänzung des allgemeinen Familienausgleichs” und die sei Sache des Bundes. Gegen ein Patenschaftsgeld, mit der die “Verbundenheit der örtlichen Gemeinschaft mit dem Neugeborenen und seinen Eltern Ausdruck verliehen wird”, sei hingegen nichts einzuwenden.

Der Freitag schreibt über die Studie des Berlin-Instituts u.a.:

Das sei erst der Anfang, gesteht eine Studie der Landesregierung unter Ministerpräsident Platzeck (SPD), die Nutzung der historisch gewachsenen Kulturlandschaft werde künftig nicht mehr überall möglich sein. Der Bevölkerungsrückgang – bis 2040 von jetzt noch 2,5 auf weniger als zwei Millionen – werde “zu einem teilweisen Wegfall von bisheriger Nutzung des Raumes führen”.

Wie könne “bei einem möglichen Rückzug der Landwirtschaft aus der Fläche die Kulturlandschaft erhalten werden?” gibt sich das Kabinett alarmiert, anstatt zu fragen: Was tun, wenn der Boden seinen Mann nicht mehr ernährt? Was tun, wenn es nur noch darum geht, ein oder zwei Mal im Jahr die Wiese zu mähen und dafür ein Mann reicht?

“Wir graben um”, donnerte CDU-Spitzenkandidat Jörg Schönbohm vor knapp einem Jahr im Landtagswahlkampf und musste mit dem Abfall auf unter 20 Prozent die Quittung für seine Anmaßung entgegennehmen. Haben sich doch die “Umgräber” in der Vergangenheit eher als Totengräber märkischer Ökonomie erwiesen.

1999 förderte das Land fast 7.000 Wirtschaftsprojekte – 2004 waren es noch 2.653. Vor fünf Jahren hatte Brandenburg 1,74 Milliarden Euro für Wirtschaftsförderung übrig – 2004 noch ein Drittel davon. Im gleichen Zeitraum sank in manchen Regionen die Zahl der Förderanträge auf ein Viertel (Neuruppin, Frankfurt, Eberswalde), in anderen auf ein Zehntel (Cottbus). Niemand muss während der zweiten SPD-CDU-Legislaturperiode befürchten, dass die blühende Landschaft um Berlin von hässlichen Baugerüsten verstellt wird, die am Ende noch dafür sorgen, dass in Brandenburg der Schornstein raucht. (…)

Dabei fing einst alles hoffnungsvoll an. Die vielfach vernachlässigten märkischen Landstädte erhielten nach 1990 mit einem großzügig ausgestatteten Programm eine Stadtkernsanierung, so dass es heute an städtebaulich wertvollen und gepflegten Marktplätzen nicht fehlt. Nur hinter den Fassaden der Potemkinschen Dörfer herrschen Wegzug, Arbeitslosigkeit und Missmut. Das Schicksal hielt für die Ostdeutschen eine aufschlussreiche Alternative bereit: Zu Zeiten der verblichenen DDR – räudig und grau, aber lebendig. Im vereinten Deutschland – schön und asphaltiert, aber scheintot. Der Rückzug aus dem Raum führte bis 2002 zu 165.000 leeren Wohnungen im Bundesland, was die Mieten unter Druck setzt und 52 von 220 brandenburgischen Wohnungsunternehmen inzwischen in ihrer Existenz bedroht, weil die Leerstandsquote über der kritischen Marke von 15 Prozent liegt. Allein bis Ende 2004 hatten 46 dieser Unternehmen bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau die notwendigen Mittel für den Abriss von knapp 55.000 Wohneinheiten beantragt. So kann es klingen, wenn die Wirklichkeit die Sprache einholt: Eine Anstalt für Wiederaufbau genehmigt den Abriss.

Es waren denn auch der Boden und seine massive Entwertung, die dem Land die erste spektakuläre Pleite beschert hatten. Im Leichtsinn der ersten Nachwendejahre wurde eine Brandenburgische Landgesellschaft zur “Verproviantierung” gebildet – sie sollte wertvolle Grundstücke privaten Spekulanten vor der Nase wegschnappen – und rauschte in die Pleite. Am Ende – im Jahr 1995 – waren 30 Millionen Mark verheizt. Mehr eine Art Probelauf, denn als 2001 die Landesentwicklungsgesellschaft LEG den Weg allen Fleisches antrat – sprich: in die Insolvenz geschickt wurde – waren 50 Millionen Euro Stammkapital verbrannt und Verbindlichkeiten von 200 Millionen aufgelaufen. (…)

Weil eine nennenswerte Ausweitung von Öko-Landbau in einer einkommensschwachen Gegend nicht in Frage kommt, könnte einfach noch mehr Wald angelegt werden. Ohnehin ist Brandenburgs Waldbilanz seit einem Jahrzehnt positiv, die Flächen wuchsen stetig. Schon heute beklagen deren Eigentümer die ausgerodete Landeshilfe, die Waldbesitz bei schwindsüchtigen Holzmärkten zum teuren Vergnügen adelt. Polemisch hatte vor einiger Zeit der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft die Potsdamer Regierung gefragt, ob “die Behinderung bzw. völlige Unterdrückung privatwirtschaftlicher Tätigkeit im Wald politisch gewollt und rechtlich zulässig” sei.

Derweil beschäftigt sich das Verkehrsministerium mit dem “Aufgeben” von Straßen. Sie werden – da wenig befahren – der Natur zurückgegeben. Das Bekenntnis, mit dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) “keine warme Luft durch die Landschaft” fahren zu wollen, lässt Angebotsreduzierung und Abwanderung zu siamesischen Zwillingen werden. Nun müsste ja niemand von vornherein etwas gegen eine sich ausbreitende Taiga haben. Nur sinkt beispielsweise in der Schorfheide der Grundwasserspiegel inzwischen fünf Zentimeter pro Jahr. Nicht einmal die Wurzeln von Eichen oder Buchen reichen noch heran. Das Agrarministerium gibt zu, dass sich niemand mehr um Tausende von Wasser- und Wehranlagen kümmert. Um das Kommende zu illustrieren, hat das nordbrandenburgische Blatt Der Prignitzer auf einem Foto eine Giraffe in die karg schöne märkische Landschaft gesetzt.

“Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand.” Dieser Satz der brandenburgischen Landeshymne kommt der Wirklichkeit am nächsten. Obwohl wegen der strukturellen Wasserknappheit nicht mehr viel Sumpf bleibt, dafür aber Sand. Die Landschaft um Berlin herum wird Schritt für Schritt, was sie bislang immer nur dem Namen nach war: eine Streusandbüchse.

Wohl am meisten von allen brandenburgischen Flecken ist der Ort Wittenberge gebeutelt, die taz berichtete: 

Wittenberge ist die Stadt der Zukunft. Im Ranking hinsichtlich des Bevölkerungsschwunds, der Steigerung des Altersdurchschnitts, dem Rückbau von Wohnanlagen und der Ausrichtung auf eine City der Senioren, läuft Wittenberge jedem anderen Ort den Rang ab. So wie Wittenberge heute schon aussieht, werden in wenigen Jahren zahlreiche Kleinstädte sein. In Ost und West.

1990 hatte Wittenberge 28.000 Einwohner, zehn Jahre später waren es 22.200 und in diesem Jahr sind es nicht einmal mehr 20.000. Dieser Trend sei aber erst mal gestoppt, sagt Christiane Schomaker. Die Pressesprecherin des Bürgermeisters Klaus Petry, SPD, ist eine richtige Wittenbergerin: forsch und zuversichtlich. Sie verteidigt “ihre” Stadt und zählt gern auf, was Wittenberge zu bieten hat: die Elbe, eine naturbelassene Umgebung und ein Festspielhaus, das den Jazzsaxofonisten Günther Fischer ebenso einlädt wie Costa Cordalis. Die Stadt habe eine Chance, sagt Schomaker: “Es gibt auch Zuzüge.” Unternehmer, die in den vergangenen Jahren kleine und mittelständische Firmen angesiedelt haben.

Nach der Wende waren große Industriezweige wie der Nähmaschinenbau, die Zellwollproduktion und die Ölmühle zusammengebrochen. Jetzt haben sich verstärkt Handwerker und Techniker selbstständig gemacht. Am Stadtrand ist ein Gewerbezentrum entstanden. Es gibt sogar eine Koordinationsstelle für Wirtschaftsförderung, geleitet von einer Frau aus dem Westen. Als Siw Foge zum ersten Mal in Wittenberge öffentlich auftrat und sich als Innovationsmanagerin zu erkennen gab, erntete sie scheele Blicke. Was soll das sein, eine Innovationsmanagerin? Heute sind alle Unternehmer froh, dass die erfahrene und weitsichtige Frau ein Netzwerk aus Verbänden, Firmen, Institutionen und Politik geschaffen hat. “Von der Hoffnung auf eine große Industrie haben wir uns verabschiedet”, sagt Christiane Schomaker. Aber die kleinen Betriebe haben reelle Chancen, meint Siw Foge.

Keine Aussichten hat die Platte. Derzeit stehen 3.000 Wohnungen leer, darunter ganze Neubaublocks. Der Wohnkomplex Wittenberge Nord ist vollständig abgerissen worden. Die Innenstadt ist großflächig und aufwändig saniert worden, zum Teil mit EU-Geldern. Es sieht schön aus an manchen Ecken in Wittenberge. Es wohnt nur niemand dort. Überall prangen Schilder: Zu vermieten. Zu verkaufen. Die Straßen sind wie leergefegt. “Wer soll denn da auch zu sehen sein?”, fragt lakonisch eine Apothekerin, die nicht genannt werden will. “Ist doch fast niemand mehr da.”

Quasi gleich vor den Toren von Wittenberge – in Lenzen – läßt sich jedoch auch noch etwas ganz anderes entdecken: 

Im Zusammenhang der Weihnachtsgans “Doretta”, der Kanzler Gerhard Schröder das Leben rettete, sprach die taz von dem “kleinen Bio-Hof” des Horst Möhring, der einen Naturschutzpreis verliehen bekam und nun “mehr Gänse denn je” schlachtet. Sein kleiner Biohof in Lenzen ist jedoch eine riesige LPG bei Wittenberge – und Horst Möhring war dort bis zur Wende der Vorsitzende.

Er schaffte es, sämtliche Mitarbeiter, ausgenommen die Vorruheständler, weiterzubeschäftigen: 300 Leute insgesamt, das sind fast 80 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter der Großgemeinde Lenzen/Elbe in der Westprignitz. Seine Kolchose heißt heute GWL: Gesellschaft zur Wirtschaftsförderung, Qualifizierung und Beschäftigung mbH.  Über eine Holding werden 4.700 Hektar bewirtschaftet – davon 52 Prozent in zwei Landschaftspflegebetrieben, 500 Hektar mit einem Rinderzuchtbetrieb, der unter anderem Alete mit Bio-Rindfleisch beliefert, und 1.024 Hektar mit einem Marktfruchtbetrieb. Über 2.000 Hektar sind auf “Bioland” umgestellt worden, dessen Produkte, u.a. Wurstwaren und Säfte, über die Marke “Biogarten” vermarktet werden. In allen Bereichen wird experimentiert und ferner mit universitären Forschungseinrichtungen in Süddeutschland, Belgien und Holland zusammengearbeitet. Daneben werden auch noch Arzneipflanzen und Färbepflanzen angebaut, letztere benötigt die GWL-Filzmanufaktur, in der sieben Frauen beschäftigt sind: Sie verarbeiten die Wolle der GWL-eigenen Schafherde. Die Blumen des Naturlehrgartens dienen wiederum einigen Floristinnen der GWL zur Herstellung von direkt vermarkteten “floristischen Objekten”. Demnächst sollen noch einige Hanffelder hinzukommen – und vielleicht sogar eine Zellstofffabrik in Wittenberge.

Horst Möhring meint, er vermisse die “Visionen” beim heutigen Wirtschaften. Dem konnten seine zukünftigen Geschäftspartner – die Hanfhäuser – nur zustimmen. Sie waren auf Einladung des GWL-Geschäftsführers nach Lenzen gekommen.  Ich hatte bis dahin – in völlig anderer Wahrnehmung als beispielsweise die vielen Westjournalisten, die über LPGen berichten – schon viele interessante Nach-Wende-Kolchosen besucht, erwähnt seien die in Glasin, Golzow und Schmachtenhagen. Aber die GLW in Lenzen erwies sich als eine absolute Idylle – wahrscheinlich noch mehr als zu sozialistischen Zeiten: Das machte sie noch gemütlicher!

Die LPGen hatten in der Umwandlungszeit von der CDU/ CSU über den Bauernverband bis zum letzten holländischen Bauern und dem allerletzten schwäbischen Rechtsanwalt so ziemlich alle gegen sich gehabt. Die meisten waren dabei auf der Strecke geblieben, einige nur, weil sie wie gelähmt waren – als selbst ihr eigener Verband und die Bauernpartei zum Feind (d.h.Partner) überliefen.  Ich wüßte auch viel Gutes über westdeutsche Bauern zu sagen, aber die GLW Lenzen hat – jetzt noch mehr als früher – mit deren “Lebensmodellen” kaum etwas gemeinsam. Ihre Standorte sind über einige Dörfer verteilt, deswegen gibt es mehrere Kantinen. Auf allen Tischen lagen Adventskränze – angefertigt von den GLW-Floristinnen. Als Adventskranz-Verächter fiel uns dies sofort auf. Die vier Frauen hatten ihre Arbeitsplätze im GLW-Lehrlingswohnheim am Rudower See und machten gerade eine Kaffeepause mit dem Leiter des Naturlehrgartens. Dieser verarbeitet die Pflanzen auch noch zu Ölen und Kräuterlikören weiter. Mehrmals wurden wir zum Kosten der letzteren animiert, schließlich deckten wir uns mit einem ganzen Vorrat ein.  Ohnehin leben die Floristinnen ebenso wie auch die Filzfabrik-Frauen vom Direktverkauf. Insbesondere die Filzprodukte – das reicht vom Pantoffel über Oberröcke und wunderschöne Damenhüte bis zum Wandteppich – würden über den Zwischenhandel zu teuer. Die Manufaktur wurde 1992 mit einem “internationalen Filzsymposium” eröffnet, an dem Filzkünstler aus Schweden, Norwegen, England, Italien, Dänemark, USA, Kanada und Deutschland teilnahmen. Und auch heute noch sind dort “der Phantasie der Frauen keine Grenzen gesetzt”, wie uns die Leiterin erklärte.

Eher der Phantasie der Männer ist dagegen der neue “Unternehmensverbund” der Agrar-Holding Lenzen geschuldet: Er besteht derzeit aus sieben GmbHs und eine AG sowie aus zehn “Interessensverbänden” in Form eingetragener Vereine, die in einem Zusammenspiel stehen mit diversen Institutionen – wie Landkreis, Naturwacht, Amt für ländliche Entwicklung und Biosphärenreservat, um nur einige zu nennen. Der allen gemeinsame Wirkungsraum ist die “elbnahe Region Lenzen/Lanz”. Und der “Unternehmensverbund” bietet dafür laut Prospekt die notwendige “ländliche Vielfalt unter einem Dach”.

Aber noch einmal zurück nach Wittenberge, wo ein soeben angelaufener Film von Christian Petzold seinen Ausgangspunkt hat – “Yella”, Alexander Reich hat den Regisseur für die Junge Welt interviewt:

In »Yella« flieht die Titelfigur (Nina Hoss) vom Osten in den Westen Deutschlands. Aber sie kommt nicht recht an in dieser Welt des Risikokapitals, der leeren Hotels aus Glas und Stahl. Sie scheint zu tief verwurzelt in diesem anachronistischen Osten. In dieser ganzen Natur (Wasser, Wiesen, Wälder), auch menschlichen Natur (körperliche Nähe, Familie). Ich fasse den Begriff Natur sonst nur mit der Kneifzange an, fand das sehr ergreifend.

Glückssucher-Geschichten wie diese gibt es seit Tausenden von Jahren. Und die Glückssucher des abendländischen Kapitalismus brechen immer gen Westen auf. Über unserer Produktion hing der Begriff Traumarbeit. Als das Drehbuch fertig war, habe ich über »The Wizard of Oz« schreiben müssen und einen Band mit Fotografien von Walker Evans rausgeholt: »Let Us Now Praise Famous Men«. Darin ist die Armut, die völlige Vernichtung der US-amerikanischen Bauern in den 30er Jahren dokumentiert. Bilder von unglaublich ausgemergelten Gestalten. Die wurden von Banken zerstört – eine ganz tiefe Wunde auch in der Populärkultur.

Angeschossen, ausgeblutet, sterbend will Sterling Hayden als Bankräuber in John Hustons »Asphalt Jungle« wieder dorthin, wo die Farm der Eltern war, von der er vertrieben wurde. Er stirbt unter dem Pferd, das sie nie hätten verkaufen dürfen, das jetzt der Bank gehört. Die Leiche wird von dem Pferd angestupst mit der Nase. Und abgeleckt. Ein brutales Bild.

Im »Wizard of Oz« tauchen diese Evans-Kleinbauern und -Farmer auf. Der Grundstoff des Systems. Gleichzeitig die Ausgebeutetsten. Das Mädchen aus der zerstörten Arbeiter- und Bauernklasse imiganiert sich in dieses Land »somewhere over the rainbow«, in die Farbwelt, auch ins Kino hinein. Aber dort oben in diesem Technicolor-Land taucht alles, was sie erlebt hat, wieder auf, auch die Knechte, als Märchenfiguren. Sie verarbeitet eine furchtbare Wirklichkeit in diesem Traum, fällt aber in diese Wirklichkeit zurück. Meine Tochter, die das mit sieben Jahren gesehen hat, fand das kein Happy End. Diese heile Welt ist sehr porös und kompliziert.

Ahnlich ist es bei »Yella«. Nur gibt es dort oben keine Hexen, sondern Private Equity-Leute. Yella glaubt, das Glück ist dort, wo man den schlanken Staat will: die Bundesbahn restlos zur AG machen, das Wasser privatisieren und den armen Berliner Schweinen Aktien verkaufen von Dingen, die ihnen sowieso gehören.

Als ich Anfang der 80er Abitur gemacht hab, war BWL der letzte Dreck. Wer das studieren wollte, bekam kein Mädchen, wurde nirgendwo eingeladen. Mit dem Privatfernsehen, der unfaßbaren Ausbreitung der Werbung, mußten dann kaufkräftige Kundengruppen aufgebaut werden. Plötzlich wurde denen gesagt: Ihr seid cool, ihr seid sexy. Und seitdem sitzen die überall rum, schlagen die Beine übereinander, tragen Rolex Submariners. Plötzlich gibt es Wellness und Körper und Buddhismus und diesen ganzen Scheiß. In diese Welt träumt sich Yella hinein, weil sie glaubt, das Glück dort zu finden.

Glauben das nicht wieder weniger?

Stimmt. Aber es gab über die 80er, 90er Jahre kaum richtige Erzählungen. Die sind weder im Kino noch in der Literatur richtig begriffen worden.

Warum verläßt Yella den Osten eigentlich?

Dieses Wittenberge an der Elbe ist von der Treuhand abgewickelt, hat keine Arbeit mehr. Yella wird von dieser Stadt nicht mehr ernährt. Die Liebe zu ihrem Mann Ben ernährt sie emotional nicht mehr. Sie verläßt ihn. Er wird zum Stalker. Und sie will über den Fluß dorthin, wo es leicht ist, wo es fließt.

In ihrem Traum vom Westen der leeren Hotels und schönen Autos schleppt sie aber viel altes Zeug mit sich rum, weil sie gleichzeitig an ihrem Vater hängt und den Ort liebt, der sie wegstößt. Ich habe mit Nina Hoss viel Van Morrison gehört. Die Iren sind im 19. Jahrhundert verhungert auf ihrer Insel. Die war ökonomisch zerstört. Heute feiern sie in New York an jedem irischen Feiertag das Grün der irischen Wiesen. Das ist das Neue im Alten, das mich interessiert.

Und diese Zerrissenheit kommt nicht von ungefähr: Einerseits sollen die Leute flexibel sein und Aktionäre werden, andererseits dafür sorgen, daß der Staat weiterexistiert und Kinder aufziehen. In diesem Widerspruch werden sie zerrieben. Und dieser Widerspruch entsteht nicht einfach. Der ist Politik.

Neu im Kreditgeschäft, hat Yella absolut keine Skrupel, und treibt mit überzogenen Forderungen einen Familienvater in den Selbstmord.

Sie beherrscht diese Private Equity-Welt nicht besser als Leo Kirch, der englischen Anwälten die Formel 1-Rechte für mehr als 500 Millionen Euro abgekauft hat. Ihre Forderungen an diesen Unternehmer sind krank. Das ist so’n bißchen wie bei den Leuten aus Kuba in “Scarface”, die glauben: Ich knall einfach vier, fünf Leute ab und bin der Boß. Man muß eben vorsichtig sein, darf keine von den Unterdrücker- und Ausbeuterschrauben überdrehen.

Yella wird von Ben (Hinnerk Schönemann), der als Kleinbürger Bankrott gemacht hat, mit einer scheinbar einfachen Lösung bedrängt. Er will wieder als Installateur arbeiten, trägt ihr eine Liebe in bescheidenen Verhältnissen an.

In allen Filmen, die 20.15 Uhr zum Thema laufen, schlägt der geläuterte Mann am Ende vor: Wir vereinfachen unser Leben, gehen in eine Zwei-Zimmer-Wohnung und genügen uns selbst. Wenn wir Kinder kriegen, finden wir schon noch eine öffentliche Schule, die nicht am Ende ist. Dann gehen sie ins Abendlicht – und dann kommt das »heute-journal«. Mit diesem einfachen kleinen Wunsch werden die Leute getäuscht: kleines Sparkonto, kleiner Wagen, auch, wenn er verrostet ist …

Yellas neue Liebe verdient genug mit dem Aushandeln riskanter Kredite. Sonst hat dieser Wessi (Devid Striesow) nichts anzubieten.

Der will nichts von ihr. Am Anfang zahlt er sie auf dem Parkplatz mit tausend Euro aus, als hätte sie einen Blowjob gemacht, statt eine Bilanz zu knacken. Sie will von ihm anerkannt werden, weil er sie nicht einengt. Er verlangt weder Zuneigung noch Respekt noch Küsse, läßt ihr Luft zum Atmen. Das genießt sie.

Als sie dann gegen Ende des Films die Nacht mit ihm verbracht hat, kommt er einige Stunden später an der Elbe zu ihr und entschuldigt sich für einen Ausbruch, den er gehabt hat. Er sagt nicht: Ich liebe dich, und die Zuschauer wissen, ja, die lieben sich und der Vertrag ist gültig. Sondern er fragt: Weißt du, wie viele Bohrlöcher es gibt auf der Welt?

Das ist seine Liebeserklärung: Wir dürfen nicht anhalten. Wir müssen als Menschen genauso fließen wie die Kapitalströme. Wenn wir langsam und wieder Teil eines Gemeinwesens werden wollen, ist alles vorbei. Wir müssen genauso schnell sein wie das Geld.

Dieses Liebesgeständnis führt dazu, daß sich zwei Menschen an einem Flußufer umarmen in einem nicht richtig romantischen Bild. Das ist ein bißchen verschoben. Wir sind auf die andere Flußseite gewechselt und so.

Er zeigt ihr eine Art Tagebuch. Das ist voll mit Eintragungen über einen Baumarkt-Pfennigartikel. Den will er zu einem Stückpreis von 300 000 Euro an Ölförderfirmen verkaufen.

Gebrauchs- und Tauschwert.

Man kann den Bogen immer weiter überspannen, sich immer weiter von der Substanz entfernen …

Genau. Das Schwierige ist, nicht Gegenstände herzustellen sondern Waren. Alles, was im Film verhandelt wird an Gegenständen, die mittelständische bundesdeutsche Unternehmen erfunden haben oder konstruieren, auch diese Bohrloch-Geschichte, habe ich aus dem Recherchematerial zu Harun Farockis Film über Private-Equity-Verhandlungen: »Nicht ohne Risiko« (WDR 2005, 53 min). Auch dieses Ding gibt’s wirklich. Es kostet nur ein paar Euro, aber man muß es teuer verkaufen. Und wie kann man etwas teuer verkaufen? Das ist natürlich ‘ne Metapher auch für die Liebe.

Mal abgesehen von 20.15 Uhr: Ist es verwerflich, wenn Liebende dem Geld abschwören? Ist Verzicht nicht eine Option, zur Ruhe zu kommen, seine Gefühlswelt in Ordnung zu bringen, keine Panik mehr haben zu müssen nach einer halben Stunde, in der nichts passiert ist?

Wenn Männer zu Frauen gehen und sagen, wir vereinfachen jetzt alles, dann wollen sie Inseln, auf denen sie mit den Frauen leben. Im Grunde genommen Islam. Sie wollen eine so vereinfachte Situation, daß sie die Frau beherrschen. Wenn Ben sagt, ich werde wieder Klempner, wir ziehen in eine kleinere Wohnung – dann könnte das weitergehen: Du bist zu Hause und kochst, ich gehe arbeiten. Der wünscht sich eine Art Märklin-Welt zurück. Mann geht arbeiten. Frau bleibt zu Hause. Das sind CSU-Modelle: Wenn wir Kinder kriegen, kriegst du das Betreuungsgeld, weil weil wir ja die Kinder nicht in die Kita bringen und du schön zu Hause bleibst. Was er als Utopie anbietet, ist ein Sturz zurück ins 19. Jahrhundert oder eine falsche Vorstellung davon. Und das durchblickt sie. Sie ist ja eine ganz moderne Frau. Sie ist in Bewegung. Er sagt ja: Unsere Probleme hängen nicht mit mir zusammen, sondern damit, daß du so unruhig bist und überallhin willst, komm wieder zurück.

Ist dieser Zusammenhang zwingend? Stimmt er nicht nur für die Figuren?

Ist denn nicht alles so kompliziert? Die Kapitalströme fließen durch die Welt, die Menschen dürfen das nicht. Die werden in Afrika oder was weiß ich in Lagern gehalten.

Jetzt heißt es wieder, wir müssen diese Heuschrecken und Geldströme unter Kontrolle bringen. Die Linke fängt genauso wie die Rechte an, über Nationalökonomie zu sprechen. Sie versucht wieder, Grenzen herzustellen: Wir müssen für uns leben, Selbstversorger sein, weil das alles so abstrakt ist. Das ist reaktionär. So kriegen wir das Kapital … – so kann man den Kapitalismus nicht schlagen, weil das das Spiel des Kapitalismus selber ist, um es mal so zu sagen. Der baut diese 19.-Jahrhundert-Romantizismen ein, weil er mit Ungleichzeitigkeit unheimlich gut klarkommt.

Ich hab’ einen alten Aufsatz von Étienne Balibar gelesen: Die Ökonomien werden so was von abstrakt werden, sagt der, rücken soweit weg von jeder Form von Erzählung, Poesie, Vorstellung, daß sich ‘ne Gegenbewegung bildet. Balibar konstruiert ’83 schon den Taliban. Der Körper, der komplette Einsatz: Ich beherrsche meine Existenz, weil ich selber entscheide, wann ich sterbe. Auch in dem Vereinfachungsmodell vom Installateur ist so was enthalten.

Gehört es nicht auch zum Spiel des Kapitalismus, die Nationalökonomie kleinzureden? Die Staatsquote liegt über 45 Prozent. Und daß sie sinkt, ist ein Ergebnis von Politik, die gemacht wird.

Aber was machen die denn hier? Die globalisieren sich ja selber. Die haben ja die neoliberale Scheiße übernommen.

Als Nationalökonomen.

Diese Nationalökonomie ist nur dafür da, der Wirtschaft die Exekutive an die Seite zu stellen, damit die Sachen durchsetzbar sind. Wenn hier ein Wasserrohrbruch ist, und ich gehe mir den mit meinem Sohn angucken, dann sind da Leute von den Berliner Wasserwerken, die sagen: Noch haben wir 51 Prozent, die Stadt, aber das wird sich ändern.

Ich war in der Türkei, das Wasser gehört Nestlé in der ganzen Türkei. Ist nicht mehr trinkbar. Deswegen ist die Türkei übersät mit Plastikflaschen von Nestlé. Die Leute müssen Wasser kaufen, aus den Bergen, und der Nestlé-Konzern kümmert sich nicht um den Müll. Das muß der Staat machen. Und diese Form von Privatisierung, von Neoliberalismus plus Nationalökonomie, ist furchtbar.

Trotzdem gibt es nur den nationalen Hebel, man wählt ja nicht die UNO.

Aber da muß die Politik hin. Da sind die deutschen Gewerkschaften genauso schuld dran: nur nationale Tarifverträge gemacht und sich niemals um vier Millionen Arbeitslose gekümmert. Die haben nicht über eine Gesellschaft gesprochen, der die Arbeit ausgeht. Und die haben sich nicht internationalisiert wie das Kapital. Das ist der ganz große Fehler.

Als ich die Szenen mit den Flugzeug-Zulieferern geschrieben habe, war Airbus ja noch ganz oben. Als der Film auf der Berlinale lief, gab es die große Airbus-Krise. Da haben die deutschen Arbeiter von Airbus gegen die französischen Arbeiter von Airbus gestimmt. Und dieses Zerlegen von Internationalität ist das Erschreckende

Zurück zum Film: Die Ossis wirken nicht recht wie Ossis, vom Habitus her, auch Hinnerk Schönemann als Ben nicht.

Der ist in der Prignitz aufgewachsen.

Mit den Biographien kommt man da nicht weiter. Der den Wessi spielt, ist auch aus dem Osten. Schönemann ist mehr so ein Schnösel-Proll. Dem fehlt das Ruppige, Direkte.

Es gibt eine Art Ossibild, das ich nicht mehr okay finde: Der Ossi ist so einer, der in Adiletten vor dem Grillautomaten steht und an seiner Schüssel rummacht, ‘ne Art Campingsexurlauber, FKK und so – furchtbar.

In der Vorbereitung habe ich Hinnerk viel zugehört und auch viel erzählt. Im Osten sind die Straßen ja alle gemacht worden. Die Infrastruktur steht. Große Tankstellen gibt es überall. Und es fahren echt viele Jeeps rum. Ich bin der Meinung, daß große Teile des Ostens ein amerikanisches Vorbild haben. Die möchten so sein wie in den USA. Wissen Sie, wie viele von diesen Chevrolets mit offenen Ladeflächen da rumfahren? Das ist das amerikanische Land. Pick-Ups, Highways, Gas-Stations, Six-Packs und Grillen.

Hinnerk Schönemann hat vorgespielt, wie Leute im Osten aus Autos aussteigen: Komm, eyh, zack, Bruno, mach mal. Mich interessiert, wie das wirklich dort ist, nicht dieser Klischeeossi, langsam und gemütlich: Mir ist das alles zuviel hier. Eine Karikatur wie der Private-Equity-Agent, der um 20.15 Uhr daherkommt: gegelt, tolles Van-Laack-Hemd, super Liebhaber, ihm fehlt ein bißchen Romantik, aber das Ziel unseres 20:15-Uhr-Films ist ja: Wenn wir ihm noch die Romantik implantieren, dann ist das ein guter Mensch. Und das geht nicht. Das ist nicht realistisch oder so.

Und 22.15 Uhr dann der American Psycho.

Na, der hat das ja hochgekocht. Damit war die Sache ja endgültig erledigt.

Mir ist nicht aufgefallen, oder erst im Abspann: der Kerl Fieser als Bahnkurier.

Das ist kein Schauspieler. Der Kerl war bei Mutter, der Band, wie übrigens auch Florian Koerner von Gustorf, Produzent von »Yella«.

Ker Fieser ist im August 2006 rausgeflogen.

Genau. Und der kam immer zum Set abends, hat das gefilmte Material, die Rollen, Ton und Bild, abgeholt und ist mit der Bahn zurückgefahren. Das hat er geliebt, weil das einfach schön ist: den ganzen Tag durch Deutschland mit dem Zug fahren. Das ist der Bahnkurier Kerl Fieser. Unglaublich guter Name, finde ich.

Christian Petzolds Kerngedanke lautet:

Wenn Männer zu Frauen gehen und sagen, wir vereinfachen jetzt alles, dann wollen sie Inseln, auf denen sie mit den Frauen leben. Im Grunde genommen Islam. Sie wollen eine so vereinfachte Situation, daß sie die Frau beherrschen. Wenn Ben sagt, ich werde wieder Klempner, wir ziehen in eine kleinere Wohnung – dann könnte das weitergehen: Du bist zu Hause und kochst, ich gehe arbeiten. Der wünscht sich eine Art Märklin-Welt zurück. Mann geht arbeiten. Frau bleibt zu Hause. Das sind CSU-Modelle: Wenn wir Kinder kriegen, kriegst du das Betreuungsgeld, weil weil wir ja die Kinder nicht in die Kita bringen und du schön zu Hause bleibst. Was er als Utopie anbietet, ist ein Sturz zurück ins 19. Jahrhundert oder eine falsche Vorstellung davon. Und das durchblickt sie. Sie ist ja eine ganz moderne Frau. Sie ist in Bewegung. Er sagt ja: Unsere Probleme hängen nicht mit mir zusammen, sondern damit, daß du so unruhig bist und überallhin willst, komm wieder zurück.

Die Linke fängt genauso wie die Rechte an, über Nationalökonomie zu sprechen. Sie versucht wieder, Grenzen herzustellen: Wir müssen für uns leben, Selbstversorger sein, weil das alles so abstrakt ist. Das ist reaktionär. So kriegen wir das Kapital … – so kann man den Kapitalismus nicht schlagen, weil das das Spiel des Kapitalismus selber ist, um es mal so zu sagen. Der baut diese 19.-Jahrhundert-Romantizismen ein, weil er mit Ungleichzeitigkeit unheimlich gut klarkommt.

In einem Symposium der Karlsruher Hochschule für Gestaltung über “Den göttlichen Kapitalismus” meinte Thomas Macho:

Der autoritäre, vom Militärischen inspirierte (Rheinische) Kapitalismus “kulturalisiert” sich, d.h. der alte löst sich auf, was bedeutet, dass “wir in Zukunft mit sehr viel weniger Sicherheiten leben und Identitäten und Zugehörigkeiten sehr viel flexibler handhaben müssen”.

Dies ruft eine “Sehnsucht nach autoritären Lösungen hervor”, wobei sich vielleicht “eine Art Wiederkehr der 1930er Jahre vollzieht”. Der an der Diskussion beteiligte Peter Sloterdijk nannte den Rheinischen Kapitalismus ein “quasi-matriachalisches Betreuungssystem”, d.h. er machte aus “Vater Staat” sukzessive so etwas Ähnliches wie “Mutter Staat”.  Zu Thomas Machos Gedanken fiel ihm noch ein:

“Für die Menschen, die außerhalb der Komfortsphäre (in Brandenburg?) leben, intern wie extern, ist darum die Rückkehr zur Politik der kräftigen Hand die wahrscheinlichste Lösung, eine gewisse Repatriachalisierung inbegriffen.”

Der wachsenden Brandenburger Neonazi-Scene kann man dies ebenso entnehmen wie der türkischen, arabischen und russlanddeutschen Scene in Berlin. All diese männerbündischen Zusammenrottungen außerhalb der “Komfortsphäre” ähneln sich derart, dass z.B. die Äußerungen von Ostberliner Fußballfans, wie sie Frank Willmann in seinem Buch “Stadion-Partisanen – Fans und Hooligans in der DDR” dokumentiert hat, nahezu identisch sind mit Songs der türkisch-arabischen Gangsta-Rapper aus Westberlin (u.a. von Bushido).  Dies betrifft insbesondere ihre Einstellung zu Frauen, Schwulen, zur Gewalt/Macht und zum Arschfick.

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