Der Chef der Abwehr-Ausland in der nationalsozialistischen Wehrmacht Admiral Wilhelm Canaris, ein „regime-loyaler Oppositioneller“, den Hitler am 9. April 1945 zusammen mit anderen Verschwörern hinrichten ließ und den der rechte französische Autor André Brissaud als „großen Meister der deutschen Spionage“ bezeichnet, der deutsche Journalist Michael Mueller hingegen als „faszinierende Persönlichkeit“, sagte am 31.März 1939 während eines morgendlichen Ausritts im Tiergarten zu seinem Begleiter Erich Kordt, Kabinettschef bei Außenminister Joachim von Ribbentrop:
„Die Polen sind keinesfalls eine zweite Front! Nicht das ist es, was die Deutschen fürchten! Ich habe über Polen mehr Informationen als ich brauche, und ich gebe sie alle an das Oberkommando des Heeres weiter. Polen bedeutet für uns keine Bedrohung! Wir werden einmarschieren, wann wir wollen. Das ist eine Leichtigkeit. Was für ein Idiotenvolk sind doch diese Leute in London! Wenn sie Deutschland einkreisen wollen – und das ist heute die einzige Möglichkeit, Hitler aufzuhalten – dann wird es ihnen nicht mit einer Kette aneinandergereihter Gänseblümchen gelingen. Was sie brauchen, ist eine Mauer aus Stahl. In Warschau haben sie bloß Gänseblümchen!“
Dieses Wort – Gänseblümchen – griff nach dem Krieg der polnische Regisseur Andrej Wajda auf – als Decknamen in seinem Film „Der Kanal“.
In dem Roman „Die Elenden“ beschreibt Victor Hugo die Kanalisation von Paris – die „Kloake“: Zufluchtsort für politisch und religiös Verfolgte als auch für Verbrecher und Lebensraum von Ratten. Er thematisiert daneben aber auch die Ängste, Verdächte und Geschichten, die über diese unterirdische Stadt im Dunkeln oben kursieren. Der Topos geht bis auf die Katakomben (u.a. von Rom) zurück, in denen die ersten Christen Zuflucht vor ihren (heidnisch-brutalen) Verfolgern suchten. Und er reicht bis zu den obdachlosen Kindern heute – in Ulaanbaatar ebenso wie in Moskau und Warschau, die in der Kanalisation leben, wo Fernheizungsrohre verlaufen.
Das war auch schon nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion so. Z.B. in Odessa, wo sich die Partisanen nicht in den umliegenden Wäldern versteckten, sondern in den „Katakomben“ unter der Stadt, von wo aus sie die Deutschen angriffen. Es gibt über die in diesem sich über 1000 Kilometer erstreckenden Tunneln kämpfenden Partisanen ein Buch von Valentin Katajew: „In den Katakomben von Odessa“. 1969 wurde ein Teil dieser Katakomben am Stadtrand als Museum zum Ruhm der Odessaer Partisanen eingerichtet. Nach 1989 wurden jedoch auch Denkmäler aufgestellt zum Ruhm der teilweise mit den Deutschen und gegen die Bolschewisten kämpfenden Partisanen aufgestellt.
Der partisanische Widerstand muß sich immer wieder neue Interpretationen gefallen lassen, weil er – ob gescheitert oder erfolgreich – vorübergehender Natur ist. Erst recht, wenn er die unterirdische Kanalisation in seine Kämpfe mit einbezieht – wo man manchmal nicht die Hand vor Augen sieht.
„Das Lied ist geschrieben mit Blut und nicht mit Blei“ – heißt ein 2004 erschienenes Buch über Mordechaj Anielewicz: dem Führer des Aufstands im Warschauer Ghetto – bis zu seinem gewaltsamen Tod. Danach übernahm Marek Edelman das Kommando über die jüdische Kampforganisation ZOB. Dieser sagte über seinen Vorgänger: „Anielewicz wollte so gerne die Führung übernehmen, deswegen haben wir ihn gewählt“. Die Biographie über ihn – von Sabine Gebhardt-Herzberg – legt nahe, dass Anielewicz, dessen Stab sich am 8.Mai 1943 in einem Bunker verschanzt hatte, verraten wurde. Als die Deutschen Giftgas reinleiteten, begingen die meisten „Terroristen“, bevor sie erstickten, Selbstmord, „einige töteten zuerst ihre Angehörigen und dann sich selber“.
Mitte Januar 1943 hatte Emilia Landau das Signal zum Widerstand gegeben, als sie eine Handgranate warf, die mehrere Deutsche tötete. Am 19. gipfelte der Widerstand der 22 jüdischen Kampfgruppen in einen allgemeinen Aufstand, der in der zweiten Julihälfte 1943 mit der vollständigen Zerstörung des Ghettos und zigtausend Toten endete. Nur einigen wenigen Juden gelang die Flucht durch die Kanalisation – auf die „arische Seite“ der Stadt oder in die Wälder zu den Partisanen. Diesen gescheiterten Aufstand betrachtet die israelische Armee heute als ihren Gründungsakt. „Das wesentliche Merkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto besteht darin“, schreibt der polnische Essayist Jan Josef Szczepanski, daß es hierbei nicht um eine „Vorahnung der unvermeidlichen Niederlage ging, sondern um eine bewusst angenommene Gewißheit“. Dies unterscheidet den Ghettoaufstand im April 1943 vom Warschauer Aufstand, der am 1. August 1944 begann – und ebenfalls nach etwa drei Monaten scheiterte.
Mit ihm hob dennoch ein neues polnisches Selbstbewußtsein an. Die Stadt wurde dabei von den Deutschen nahezu vollständig zerstört, zigtausende von Warschauer fanden den Tod und die Überlebenden wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Nur wenigen Kämpfern gelang die Flucht durch die Kanalisation – in die Wälder. Unter ihnen befand sich damals neben einigen hundert anderen Juden auch wieder Marek Edelman.
Einen ersten knappen „Kampf“-Bericht über den „Ghettoaufstand von 1941 – 43“ verfaßte er bereits gleich nach dem Krieg. Berühmt wurde jedoch ein Interview, das Hanna Krall mit ihm führte: „Dem Herrgott zuvorkommen“. Edelman versucht darin das Heldentum (der bewaffneten Kämpfer) zu relativieren – im Vergleich zu dem Mut, mit dem viele Menschen im Ghetto nahezu klaglos ihrer Vernichtung entgegengingen: „Schießend stirbt es sich viel leichter“. Den Philosophen Zvetan Todorov brachten diese Gedanken in seiner Studie „Angesichts des Äußersten“ zu einem Vergleich des Warschauer Aufstands mit dem Ghettoaufstand, wobei er sich auf die Äußerungen von Marek Edelman und General Bor-Kormorowski bezog. Todorov schlug vor: Man sollte in bezug auf Bor-Komorowski „von heroischen Tugenden reden und bei den von Edelman überlieferten Fällen von Alltagstugenden…Dort wird der Tod zu einem Wert und einem Ziel, weil er das Absolute besser als das Leben verkörpert. Hier ist er das Mittel, nicht der Zweck. Er ist die letzte Zuflucht des Individuums, das seine Würde bewahren will“. Mordechai Anielewicz schrieb vier Tage nach Beginn des Aufstands in einem an Marek Edelman: „Was wir erlebt haben, läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Wir hätten es in unseren kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt. Zwei mal zwangen wie dir Deutschen, das Ghetto fluchtartig zu verlassen…Ich habe das Gefühl, große Dinge geschehen, daß das, was wir wagten, von großer Bedeutung ist“.
Dieser ersten großen „Schlacht“ folgte im Sommer darauf der Warschauer Aufstand. Auch hierbei gab es eine Art von nahezu unbeteiligter Zuschauerschaft: das restliche Polen drumherum, von Deutschen besetzt – soweit sie die im Spätsommer 1944 bis an das rechtsseitige Weichselufer vorgerückte Rote Armee noch nicht vertrieben hatte. Inzwischen gibt es eine fast unüberschaubare Literatur sowohl über den Ghettoaufstand als auch über den Warschauer Aufstand. Auf Deutsch erschien zuletzt, 2001, eine Studie über den Warschauer Aufstand von Wlodzimierz Borodziej. Der Historiker zitierte im Vorwort das „Informationsbulletin“ der Heimatarmee, das bereits einen Tag nach der Kapitulation „vor eiligen Schlüssen über die letzten 63 Tage“ warnte: „‚die Rechnung‘ sollte lieber der Geschichte überlassen bleiben“.
Zunächst wurde den Kämpfern und Opfern des Warschauer Aufstands von der kommunistischen Regierung sogar ein Denkmal verweigert, im Gegensatz zu den Ghettokämpfern, an die seit 1948 bereits das berühmte Monument von Nathan Rapoport erinnert. Sofern sie nicht ins Londoner Exil geflüchtet waren, wurden nach Kriegsende die Angehörigen der (bürgerlichen) Heimatarmee, die den Aufstand befehligten – und der auch gegen die Rote Armee gerichtet war – noch strafrechtlich verfolgt. Erst 1984 ließ die kommunistische Partei ein Denkmal für den Warschauer Aufstand zu, davor waren bereits etliche „Erinnerungen“ erschienen und es hatte sich für den 1.August ein „Festtagsritual“ entwickelt. 1994 – zum 50.Jahrestag des Aufstands – wurden erstmalig auch westliche Politiker dazu eingeladen. Dafür sagte jedoch der russische Staatspräsident ab. Für einen kleinen Skandal sorgte der deutsche Bundespräsident Roman Herzog, als er im Vorfeld den Warschauer Aufstand 1944 mit dem Ghettoaufstand 1943 verwechselte.
Borodziej kommt am Ende seiner Studie auch auf Tzvetan Todorov zu sprechen, der den Warschauer Aufstand im Gegensatz zum Ghettoaufstand für eine „Entfesselung“ hält, die niemandem geholfen hat: „weder damals noch später, weder vor Ort noch anderswo“. Todorov irrt hier eventuell, schreibt Borodziej, denn „es liegt schließlich im Bereich des Möglichen, daß ohne die Niederlage des – hoffentlich letzten – großen Aufstands die Polen weder 1980 eine legale antikommunistische Gewerkschaft…erfunden hätten, noch den ‚Runden Tisch‘ neun Jahre später, mit dem die friedliche Entmachtung des Regimes eingeleitet und der Weg in die Freiheit beschritten wurde“.
Als die wichtigste mediale Aufarbeitung des Warschauer Aufstands gilt der o.e. Spielfilm „Der Kanal“ von Andrzej Wajda, der 1957 Premiere hatte – und inzwischen ein „Klassiker“ ist. Dies wird man wohl kaum von Roman Polanskis letztem Film „Der Pianist“ sagen, der auf den „Erinnerungen“ von Wladyslaw Szpilman basiert. Der Musiker überlebte sowohl den Ghettoaufstand als auch den Warschauer Aufstand, seine Erinnerungen daran sind jedoch eher vom Wegsehen geprägt.
Die erste Aufstandschronistin Anna Borkiewicz wurde noch – in den Fünfzigerjahren – wegen „Sammlung und Aufbewahrung von Material der (bürgerlichen) Heimatarmee, das diese glorifiziert und die (kommunistische) Volksarmee herabwürdigt“, zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Doch bereits 1964 durfte der ZK-Sekretär und frühere AL-Offizier Zenon Kliszko, der später selbst ein dünnes Buch über den Warschauer Aufstand schrieb, über die einstigen „Verräter“ und „Diversanten“ der AK öffentlich sagen: „Uns, die wir unter den Fahnen verschiedener Gruppierungen auf den Barrikaden gekämpft haben – gegen den tödlichen Feind Polens – trennt heute nichts mehr“. Und 1968 wurde dem deutschen Publizisten Sebastian Haffner während seines Warschau-Besuchs vom damaligen Innenminister Moczwar, einem ehemaligen „Partisanenführer“, versichert, dass sein Veteranenverband sich „den Überlebenden der Heimatarmee geöffnet“ habe. Nichtsdestotrotz wurde jedoch seit den späten Siebzigerjahren in Untergrundveröffentlichungen, auf Demonstrationen und in Diskussionen immer wieder „die volle Wahrheit über den Aufstand“ eingefordert. Seit 1989 ist dabei die „zentrale politische Botschaft – der Verrat Moskaus“: Die Aufstandsplanung der AK wird seitdem als weise „hochstilisiert“ – nur die angeblich unerwartete Reaktion Moskaus (nämlich den Vormarsch der Roten Armee an der Weichsel zu stoppen) habe ihren Plan zum Scheitern verurteilt. Dennoch sei heute „der Warschauer Aufstand als Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen wie vor 1989 schwer vorstellbar“, meint Borodziej.
Auch der Heroismus der Warschauer Ghettokämpfer ist heute – außer bei Neonazis, deren Propaganda gegen den einstigen antideutschen partisanischen „Terror“ allerdings zunimmt – unumstritten. Immer öfter wird dafür der einstige polnische Antisemitismus als berechtigter Widerstand gegen die jüdischen Kollaborateure der Sowjetunion dargestellt. U.a. von dem deutsch-polnischen Historiker Bogdan Musial, der zuletzt, am 19.Juli in Berlin mit Ralph Giordano auf einer Gedenkveranstaltung zum „60. Jahrestag des Warschauer Aufstands“ und des Kampfes der Heimatarmee (AK) auftrat. Dieses „Event“ wurde ausgerechnet vom deutschen Bund der Vertriebenen mitorganisiert. Während Giordano dort über die deutschen Greueltaten bei der Niederschlagung der beiden Warschauer Aufstände sprach, konzentrierte Musial sich wie stets auf die Grausamkeiten der Kommunisten bei ihrer Machtübernahme. In Polen hält man dieser Veranstaltung noch immer für eine grobe Unverschämtheit. Der Friedenspreisträger und frühere Außenminister Wladislaw Bartoszewski – einst Teilnehmer am Warschauer Aufstand – hatte sich bereits vorab öffentlich gegen das „unerbetene Mitleid“ von seiten der Vertriebenen verwahrt.
2005 erschien in der Gaseta Wyborcza ein Interview mit einem ehemaligen deutschen Soldaten, dessen 46.Sturmbrigade damals an der Seite der ersten Partisanenbekämpfungseinheiter, der SS-Brigade Dr. Dirlewanger und der Brigade Kaminski, kämpfte. U.a. war der junge Soldat an mehreren Nahkämpfen mit dem Messer – „in Kellern“ – beteiligt: „Die Keller waren das zweite Warschau. Wenn man in Kellern kämpfte, ist es still, man sieht nichts,“ erzählte er.
Das dritte Warschau – die Kanalisation unter den Kellern – hat Andrej Wajda mit seinem Film erhellt. Dort trauten sich die Deutschen nicht rein, Aber ihre nahe Abwesenheit bestimmte das Verhalten der mit einem „Passierschein“ in den Kanal sich zurückziehenden Kompanie der Armia Krajowa – die zu dem Zeitpunkt noch aus einundvierzig Männern und einem jungen Melder sowie zwei weiblichen Meldegängerinnen bestand. Der Film zeigt die letzten Stunden ihres Lebens. Er handelt von den Existentialien Liebe, Mut, Feigheit, Verrat – und rührte äußerst wirkungsmächtig an ein Tabu der polnischen Kommunisten: Sofern sie nicht ins Londoner Exil geflüchtet waren, waren die Angehörigen der Heimatarmee (AK), die den Aufstand befehligt hatten, der auch gegen die Rote Armee gerichtet war, nach dem Krieg zunächst als „Verräter“ und „Diversanten“ diffamiert und sogar strafrechtlich verfolgt worden – so dass Wajdas „Kanal“ auch einen anderen Umgang mit diesem „dunklen Kapitel“ der polnischen Geschichte, die er erhellte, einleitete.
2004 strahlte das deutsche Fernsehen ein Interview der ARD-Korrespondentin in Warschau Annette Dittert mit der ehemaligen Meldegängerin Wanda Stawska aus, die dabei auch auf „die schönen Momente des Warschauer Aufstands“ zu sprechen kam: Alle Jungs seien in die Kämpferinnen verknallt gewesen – „Wir waren doch alle so jung. Und es entstand eine so unglaubliche Solidarität und Nähe in dieser ganzen Aussichtslosigkeit“. Ähnlich äußerten sich dann auch einige weibliche Verbindungssoldaten, die der Freiburger Regisseur Paul Meyer 2006 für seinen Film „Konspirantinnen“ interviewte. Sie waren nach dem Aufstand gemäß des Kapitulationsabkommens als Kriegsgefangene in ein Moorlager bei Oberlangen im Emsland gebracht worden. Eine der Frauen sagt in dem Film: „Der Aufstand konnte nicht nicht losgehen.“ Und „es war die schönste Zeit in meinem Leben.“
Auch Wajdas Film handelt davon: Der Leutnant Madry verliebt sich in die Melderin Halinka, wobei er ihr jedoch verschweigt, dass er verheiratet ist und Kinder hat. Sie sagt: „Mit Liebe ist es leichter zu sterben.“ Die zweite Melderin – „Gänseblümchen“ – hat eine Romanze mit dem jungen Jacek, der bei einer mutigen Aktion verwundet wird. Gänseblümchen muß ihn die ganze Zeit im Kanal fast tragen. Als erfahrener Verbindungssoldat kennt sie sich unten aber von allen am Besten aus. Als einige der dort unten zu Tausenden umgekommenen Flüchtenden an ihnen vorbeitreiben, meint sie nur: „Dumme Menschen, die nie im Kanal waren.“ Die Kompanie zerfällt in kleine Gruppen und keine findet den Ausstieg Wilczastraße – bis auf Gänseblümchen, die mit ihrem verwundeten Geliebten jedoch den Anschluß verloren hat. Und Jacek schafft es dann nicht mehr, den Ausstiegsschacht hochzukommen: „Geh allein!“ sagt er, „Du Idiot!“ antwortet sie. Wenig später ermahnt sie ihn: „Hör auf zu heulen Jacek, komm. Wir gehen geradeaus – wo der Kanal in die Weichsel mündet.“ Während sich die Hauptgruppe in einer Sackgasse verirrt und ein anderer Teil der Kompanie einen falschen Schacht hochsteigt, wo sie oben sofort von Deutschen gefangen genommen werden, schaffen Gänseblümchen und Jacek es tatsächlich bis zur Weichsel, aber dort ist der Kanal vergittert. Der Verwundete kann nicht mehr weiter, Gänseblümchen täuscht ihn über das traurige Ende ihrer Flucht: „Jetzt ruh dich erst mal aus. Öffne nicht die Augen, die Sonne scheint zu hell.“ Auch die anderen durch den Kanal irrenden Teile der Kompanie enden derart traurig. „Aber wer eine Tragödie überlebt hat, ist nicht ihr Held gewesen.“ (J. St. Lec)
In diesem Fall sind es eindeutig die Frauen – was vielleicht auch einer List des Regisseurs gegenüber der Zensur geschuldet ist. An die Heldin „Gänseblümchen“ und all die anderen „in Gefahr und größter Not“ über sich selbst und die Männer hinausgewachsenen weiblichen Verbindungssoldaten erinnerten 2005 noch einmal die beiden Künstler Darek Foks (41) und Zbigniew Libera (48) mit einer Ausstellung in Katowice und Bytom sowie 2006 in Paris. Sie beschäftigten sich in ihrer Arbeit „Was tat die Meldegängerin?“ mit dem (polnischen) Bildgedächtnis und ganz allgemein mit dem Begriff der Rekonstruktion historischer Ereignisse. Dabei gingen sie von dem Gemeinplatz aus, daß uns die Vergangenheit durch Fotos und Geschichten überliefert wird. (Der polnische Künstler Piotr Uklanski beschritt 1998 mit seiner Ausstellung „Nazis“ einen ähnlichen Weg, indem er berühmte polnische Schauspieler in ihren Rollen mit Naziuniformen zeigte).
Zbigniew Libera nahm die ikonisch gewordenen Zeitungsphotos vom Warschauer Aufstand und montierte anstelle der Gesichter echter Melderinnen Bilder von Anita Ekberg, Sophia Loren, Catherine Deneuve und anderen Filmstars hinein. Die Pin-up- und Spind-Ästhetik soll eine Verbindung zwischen Eros und Krieg herstellen. Darek Foks meinte dazu, es müsse in einer Kriegserzählung immer auch eine Liebesgeschichte geben. Wenn man attraktive Frauen hineinnehme, würden sich die Leser eher für die Geschichte des Warschauer Aufstands interessieren. Auch Wajda tat dies in gewisser Weise, indem er für seinen „Kanal“ besonders „schöne Melderinnen“ engagierte und eine sogar die Hauptrolle spielen ließ. Foks und Libera ging es darüberhinaus bei ihrer Ausstellung „Was tat die Melderin?“ darum, die Aneignung des Mythos vom Warschauer Aufstand durch die offizielle polnische Geschichtspolitik der letzten Jahre zu unterlaufen. Da die Geschichte vom Warschauer Aufstand in der Volksrepublik Polen von offizieller Seite unterdrückt wurde, hatte sozusagen jeder die Möglichkeit, sich dazu Heldengeschichten zu erfinden und sie auszumalen.
Die erste Aufstandschronistin Anna Borkiewicz wurde noch wie erwähnt in den Fünfzigerjahren wegen „Sammlung und Aufbewahrung von Material der (bürgerlichen) Heimatarmee, das diese glorifiziert und die (kommunistische) Volksarmee herabwürdigt“, zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Um so wichtiger war dann Wajdas wenig später gedrehte Film über eine Kompanie der AK. Man kann sich sogar fragen, ob er nicht auch noch die für den deutschen Film „Konspirantinnen“ befragten Zeitzeugen in ihrer Erinnerung beeinflußt hat. Nun gibt es aber heute ein regelrechtes Aufstands-Marketing, mit eigenem Museum und einer offiziell verbindlichen Darstellung der Ereignisse. Die beiden Künstler wollten sich jedoch „ihren Warschauer Aufstand“ nicht nehmen lassen. Wajdas „Kanal“ bildete dabei die Ausgangsbasis ihres Kunstprojekts.
Am Anfang gibt es bei Wajda eine Szene, in der Izewska (Gänseblümchen) zu Janczar sagt, daß sie nur seinetwegen zurück in die Stadt gekommen sei. Warum, fragt er. Sie antwortet: „Weil ich deine Meldegängerin bin.“ Daraufhin küssen sie sich. Während die jungen Künstler Foks und Libera mit dem „Mythos“ spielten, hat der Dichter Miron Bialoszewski, der als junger Hilfsfreiwilliger selbst am Aufstand beteiligt war, „Nur das was war“ zu beschreiben versucht. Er brauchte für seine „Erinnerungen aus dem Aufstand“ zwanzig Jahre. Es ging ihm dabei vor allem um so etwas wie eine Schilderung des „Alltags der Kämpfe“, der – zumal für einen jungen Zivilisten – erst einmal aus Warten, Warten, Warten – in Bunkern – bestand, sowie aus Essensbeschaffung und Schlafgelegenheiten suchen, wobei es sogar hier durchaus Glücksmomente gab. Sein Freund Leszek Solinski schrieb im Nachwort: „Man warf Bialoszewski eine Banalisierung des Themas vor, eine Entdämonisierung des Krieges, seinen Mangel an persönlichem Engagement, die Position des Antihelden, das Fehlen von jeglichem Pathos und Patriotismus. Der Autor wurde als Feigling bezeichnet“. Eher sollte der verwundete Oberkommandeur im Film „Kanal“ Recht behalten – als er meinte: „Die kommenden Generationen werden uns verehren“ – mindestens seine Meldegängerinnen.
(Eine Kurzversion dieses Textes erschien in dem von Stefanie Peter herausgegebenen Suhrkamp-Buch „Alphabet der polnischen Wunder – ein Wörterbuch“, das heute im „Hochzeitssaal“ in der Skalitzerstraße, Kreuzberg, vorgestellt wird.)
Am 7. Juni 2008 wurde im Polnischen Institut in Berlin-Mitte die deutsche Übersetzung des Ausstellungskatalogs „Was macht die Meldegängerin“ von Darek Foks und Zbigniew Libera vorgestellt. Sie erschien in der „edition staeck“, die dieserhalb mit der Instytucja Kultury in Katowice kooperierte.
Etwa gleichzeitig erschien der Dokumentar-Film über die am Warschauer Aufstand beteiligten Frauen auf DVD. Er heißt „Konspirantinnen“ und gedreht hat ihn Paul Meyer, dessen Dokumentarfilmarbeit sich bisher auf die Emslandlager, d.h. die Moorarbeitslager der Nationalsozialisten, konzentrierte. Dort, aus Papenburg, kommt er auch her. Und in einem der Emslandlager waren die polnischen Widerstandskämpferinnen interniert. Gemäß des Warschauer Kapitulationsabkommens zwischen Deutschen und Aufständischen hatte man sie – erstmalig – als Soldaten (und nicht mehr als „Flintenweiber“) anerkannt, womit diese Frauen gewissermaßen einen Anspruch auf ein Kriegsgefangenenlager hatten.