Der Vorlesewettbewerb
Seit 27 Jahren bin ich nicht mehr in Steglitz spazieren gegangen – es hat sich dort nichts verändert, einiges ist im Gegenteil sogar schöner geworden. Das Rathaus wirbt immer noch mit dem Hinweis, dass von hier die Wandervogelbewegung losging, gegenüber das Kulturzentrum Schwartze Villa mit dem runden Autohaus, dahinter die Blindenanstalt, eine Abtreibungsklinik, ein teurer Italiener, das Frühstückscafé „Hoppegarten“ für ältere Damen, sowie dasnun zum Abriß bestimmte Bezirksamtshochhaus von Sigrid Kressmann-Zschach, die früher gern goldene Kühlschränke für die Partykeller von Parlamentariern stiftete.
Ich bin in die Rothenburg-Grundschule bestellt: als Juror eines Lesewettbewerbs der 6. Klassen. Es geht um die Schulmeisterschaft. Der Sieger bzw. die Siegerin nimmt am Bezirkswettkampf teil. Heute treten sechs Schüler gegeneinander an – mit selbst gewählten Texten: der selbstbewusste Felix mit einer kalifornischen Waldgruselgeschichte „das Hexenhandy“, die große Angelina mit einer Schwangeren-Stute-Story „Reiten in den Morgen“, der bürstenhaargeschnittene Thorsten mit einer dunklen Waldgeschichte „Der Werwolf ist unter uns“, der kindliche Robert mit der Michael-Ende-Geschichte „Der seltsame Tausch“, der mit seinen blonden Haarsträhnen an Rainald Goetz erinnernde Kevin mit der Detektivgeschichte „Ein schrecklicher Verdacht“, und die mittelgescheitelte, ernste Luisa, deren Pferdegeschichte „Ein flammender Stern“ von einer zugelaufenen Stute handelt.
Etwa acht Klassen bilden das Auditorium in der Schulaula, und die Jury setzt sich aus drei Schülern, einer erfahrenen Lehrerin und zwei Müttern sowie einem Journalisten zusammen. Organisatorin ist die Englischlehrerin Frau Schiller. Die Vorleser sitzen vor Mikrofonen auf der Bühne, davor wurden Turnkästen gestapelt, die man mit Topfblumen schmückte. Auf einen Flügel an der Seite hat Frau Schiller die Buchpreise und Erfrischungsgetränke für die Vorleser abgelegt. Bis es losgeht, diskutiert die Jury die neue Pisa-Studie, in der die deutschen Schulen gegenüber anderen europäischen und speziell beim Vorlesen im untersten Drittel landeten. Dementsprechend milde sind meine Urteile: Fast alle kriegen die Bestnote 5 in den Sparten Textgestaltung, -verständnis und Lesetechnik. Den anderen Juroren geht es ähnlich – die sechs lesen aber auch wirklich ihre Abenteuer-, Action- und Pferdegeschichten gut vor, sie unterscheiden sich nur in Appeal oder Appearance.
Deswegen lassen wir zum Schluss Thorsten, Robert und Kevin noch einen weiteren – diesmal unbekannten – Text lesen: eine japanische Beziehungsgeschichte zwischen einem Delfin und einer jungen Perlentaucherin. Am souveränsten meistert Thorsten den komplizierten Satzbau mit vielen fremden Worten – und wird deswegen Schulsieger. Er kann es nicht fassen. Alle applaudieren.
Ich schlender erneut durch Steglitz, zur U-Bahn zurück. Jeden Zweiten meine ich zu kennen. Auf einem kleinen Plakat erkenne ich wirklich einen: meinen alten Rote-Zelle-PH-Kader Lutz von Werder, nunmehr Lehrstuhlinhaber und Betreiber eines „philosophischen Cafés am Sonntagmorgen“. Hierhin lädt er alle zu seinem nächsten Thema ein, es heißt: „Dschuang Zi – Gelassenheit Üben!“ Trotz aller Sympathie kommt mir diese Werbung in Steglitz wie Eulen nach Athen tragen vor.
Der Bau- und Bodenwahn
Fast zeitgleich zwei Ostveranstaltungen: In dem bis zur Baufälligkeit heruntergekommenen Potsdamer Hans-Otto-Theater über die Arbeitslosigkeit im Osten. Und in den neuen Berliner Nobelräumen der Konrad-Adenauer-Stiftung eine Diskussion über die Auswirkungen der Treuhand-Privatisierungspolitik auf Ostdeutschland.
In Potsdam berichtete ein Pressesprecher des Brandenburger Arbeitsamtes über die 40.000 Ich-AGs, die seine Agentur bisher finanziere. Ein Fachleiter der Potsdamer Industrie- und Handelskammer sprach über die neuen Arbeitsplätze in Callcentern und die Aus- beziehungsweise Weiterbildung von Wachpersonal und Personenschützern bei der IHK – unter anderem für reiche Neupotsdamer „wie zum Beispiel Jauch und Joop“. Ein Callcenter-Mitarbeiter erzählte, dass – und wie – er seinen eigentlichen Beruf, das Inszenieren von Theaterstücken, nur in seiner Freizeit ausüben könne.
Anlass für dieses Podiumsgespräch über „Die Zukunft der Arbeit“ war die Aufführung eines Dreipersonenstücks von Edoardo Erba, „Die Maurer“. Es ging darin um zwei arbeitslose Bauarbeiter, die schwarzarbeiten, um sich mit dem Geld als Dienstleister selbstständig zu machen – was der italienische Regisseur durch Hereinnahme einer weiblichen Baustellenerscheinung, die laut vom Comersee träumt, als falsches Glück darstellte.
Auf dem Theater-Podium der Konrad-Adenauer-Stiftung ging es ebenfalls um Arbeitslose, aber auch darum, dass zu viel Geld für bloße Baumaßnahmen in den Osten geflossen sei, was vor allem mit der Abschreibungsmöglichkeit „Sonder-Afa“ erklärt wurde. Aber, wie Exbundesbankpräsident Helmut Schlesinger erklärte, solche staatlichen Finanzhebel lassen sich eben schlecht steuern. Die letzte Treuhandchefin Birgit Breuel meinte: „Wir mussten eine soziale Marktwirtschaft dort einführen ohne einen Markt!“ Zwar habe man damals für die gigantische Aufgabe, eine ganze Volkswirtschaft zu privatisieren, kaum auf Erfahrungen zurückgreifen können, aber heute gebe es überhaupt „keine Konzepte für den Aufbau Ost“ mehr – nur noch „Ratlosigkeit“.
Der Politikwissenschaftler Alfred Grosser erinnerte daran, dass sich die Ostsozialistin Christa Luft ebenso wie der Westmarktwirtschaftler Hans-Werner Sinn damals einig gewesen waren: Die Treuhand habe das Volksvermögen verschleudert. Die Wende sei dann 1992 mit dem Eierwurf auf Kohl in Halle gekommen! Da war sich das Podium einig, denn daraufhin gab das Kanzleramt der Treuhand vor, „industrielle Kerne zu erhalten“. Auch dabei wurde jedoch anscheinend „zu viel in Gebäude investiert“, kritisierte MdB Günter Nooke, Ost-CDUler. „Die Instrumente des Staates zur Wirtschaftssteuerung sind in der sozialen Marktwirtschaft zum Glück gering“, hielt Exbankchef Schlesinger dagegen. In Summa: Man müsse nun sehen, was sich aus den erhaltenen „Kernen“ entwickle und brauche im Übrigen vor allem eins – Geduld!
Während uns im Hans-Otto-Theater die Brigade der Bühnenarbeiter abrupt aus dem Gebäude vertrieb – „Feierabend!“ -, wurde in der Konrad-Adenauer-Stiftung anschließend noch Weißwein serviert. Dabei kam es zu einem Gespräch zweier CDUler aus Berlin: „Ein einziges Ei auf Kohl soll eine Änderung der Treuhandpolitik bewirkt haben? Da könnte man genauso sagen, dass das Ei auf Diepgen im Jahr darauf bei der Grundsteinlegung des Potsdamer Platzes eine Wende in der Stadtpolitik eingeleitet habe.“ „Da vergleichst du quasi Äpfel mit Birnen. Hinter dem Kunzelmann-Ei standen doch nur noch die Kreuzberger Chaoten, die damals vollends ins Abseits gerieten. Aber hinter dem eierwerfenden Juso in Halle stand die halbe ostdeutsche Bevölkerung, wenn nicht sogar mehr. In der Zeit erschien danach ein Artikel über den Eierwurf in der Geschichte, danach signalisiert das Werfen von Lebensmitteln nur den Beginn einer Radikalisierung und Ausweitung der Protestbewegung. Als nächstes werden dann Steine oder Molotowcocktails geworfen. In Deutschland flog 1964 das erste Mal ein Ei gegen einen Politiker – und zwar gegen den kongolesischen Ministerpräsidenten Tschombé: Damit begann die Studentenbewegung. Kannst du dir vorstellen, was sich aus dem Hallenser Ei alles hätte entwickeln können?“ „Ohne den Juso ein freilaufendes Huhn, nehme ich an… „
Unterwerfung – mit Augenzwinkern
Das gilt wohl für viele Auftragsarchitekturen, hier jedoch für die 18 kollektiven Vordiplom- Arbeiten der HdK-Architekturklasse von Professor Kelp. Dabei ging es um die Konstruktion eines neuen Imbißkiosks aus der Analyse eines an die Wand geworfenen mehr oder weniger weichen Gegenstands (Stoppung) – im Geiste des modernen „Snacks“. Die besten Arbeiten sollen bei einer „Kiosk“-Ausstellung der Architekturgalerie „Aedes“ berücksichtigt werden.
Anfänglich irritierten mich die ironischen Präsentationen der Arbeitsgruppen, die ihre Argumentationen nur simulierten – und möglichst mit einem Witz abbremsten, der ihr Projekt umriß: „Der Raum (U-Bhf Weinmeisterstraße) als Snack“ oder der als Video vorgeführte BVG- „Wunschautomat“. Kommilitonen-Applaus erhielt der Pkw-Kiosk mit ausfahrbarer „Verkaufsblume“ (aus Metall). Dozenten- Applaus bekam eine für den Hackeschen Markt standardisierte Kioskbatterie – wegen ihrer zeichnerisch überzeugenden Pragmatik.
Eher skeptisch wurde dagegen die Idee eines Imbißgeflechts auf dem Kulturforum aufgenommen, auf dessen variable Wände Berlin-Ansichten projiziert werden. Auch das Modell „Flugzeugküche mit Paravant drumherum“ sah Filmprojektionen vor, hier war die „zeitgemäße Konsumform“ jedoch auch noch nach witzigen „Lifestylen“ ausdifferenziert – mit szenetypischen Speise- und Getränkeangeboten. Mehrere Arbeitsgruppen sahen die Fortentwicklung des Kiosks im Automaten, eine entwarf zum Beispiel für den Alexanderplatz drei Ausgabe-Stelen, die von unterirdischen Kiosken gespeist werden.
Eine andere Gruppe plazierte dafür ihre raumschiffähnlichen Imbißstände auf die Flachdächer von Hochhäusern. In einem dazugehörigen „Manifest“ sprach sie vom „Imbißtendenceday: Die Stadt definiert den Imbiß – bis zum Tag X, ab da definiert der Imbiß die Stadt“.
Drei Ebenen sah der Kiosk der Gruppe Friedrichstraße vor – mit „Suppe und Literatur“, als eine „Hommage an die Subkultur“. Noch aufwendiger war der Kiosk am Hermannplatz, der neben Gemüse, Obst und Säften Filmprojektionen und Fernseher mit Infos über die Filmkünstler anbot. Auch das Internet fand mehrmals als „Snack“ Verwendung. So zum Beispiel in einem von sechs „Automatensäulen“ vor dem Bundesrechnungshof. Die Arbeitsgruppe Tofu-Imbiß bot dagegen einen Realsnack an einem 1:1-Kiosk an, den sie im HdK-Foyer aufgebaut hatte.
Politisch von den Erfahrungen der „Innenstadtaktion“ geprägt war das Modell „Adlon Total“, das aus dem Masterplan für den Salon der Republik (Pariser Platz) zitierte: Dort soll einmal eine „Häufung maximaler Kompetenz“ stattfinden. Der Arbeitsgruppe ging es um eine Umsetzung solcher „Klischees in Essen“, wobei sie die Hälfte des Hotel Adlon zu einem Imbiß umrüsteten, um eine Vermischung von Reich und Arm zu ermöglichen. Während viele Kioskkonzepte sich Kritik aus der Wirklichkeit gefallen lassen mußten, erntete dieser abstrakt-politische Witz nur Anerkennung.
Auch ein Obdachlosenkiosk an den Yorkbrücken, hinter dem sich ein ganzes Unterkunftskonzept bis hin zur Lebensmittel- Selbstversorgung auftat, bekam viel Lob, wenn auch seine ästhetische Umsetzung als nicht zwingend angesehen wurde. Der letzte Vortrag kam vom Flugblatt als „Infosnack“ auf schwimmende Kioske und Fließbandtheken – wie vom Hölzchen aufs Stöckchen, was eine TU-Architekturdozentin zu der Bemerkung veranlaßte: „Bei uns sind die Stundenten technisch versierter, können aber nicht so gut argumentieren.“
Keine der Arbeitsgruppen hatte es jedoch für notwendig erachtet, einmal mit den – zumeist ausländischen – Berliner Kioskbesitzern über deren Wünsche und Probleme zu sprechen – bevor sie ihrer Mittelschicht-Phantasie die virtuellen Sporen gaben. Auf der HdK-Toilette fand ich dazu später den passenden Spruch: „Das Reh springt hoch, das Reh springt weit. Warum auch nicht, es hat ja Zeit!“
Die Tegeler Kulturtage
So wie aus den proletarischen Massen plötzlich Sicherheitsbedienstete in Fantasieuniformen wurden, hat sich auch der Knast, einst Schule ihres politischen Kampfes, zu einem Dienstleistungsunternehmen gewandelt. Jetzt gibt es dort statt Klassen- eher Rassenkämpfe – und was früher die rote ist jetzt die braune Knasthilfe. Diese Entwicklung hat auch vor dem einst größten deutschen Knast – Tegel – nicht Halt gemacht.
Früher hatten die Knackis, die von dort rauskamen, noch mehrere Anlaufpunkte in der Linken. Ja, den Genossen mit Abitur wurde sogar geraten, Geldstrafen nicht zu zahlen, sondern abzusitzen, um die Angst vor dem Knast zu verlieren. Der Knastaufenthalt war so etwas wie ein Diplom. Die taz hatte anfänglich noch eine volle Stelle zur Betreuung von Knastabos und sogar mal eine Justizredaktion. Außerdem schulte sie gerne entlassene Terroristen um und gab ihre Seiten für Unterstützergruppen von Gefangenen frei, zuletzt am 19. Dezember. Aus Tegel schrieb der inhaftierte Dagobert Kolumnen, und die Berlinredaktion stellte einst den Knastzeitungsredakteur Peter Lerch als Reporter ein. Ansonsten drifteten die Szenen jedoch immer mehr auseinander – ähnlich wie bei der Drogenszene. Jetzt verirren sich höchstens noch ab und zu Kulturschaffende in den Knast. Jüngst stellte der Regisseur Kornel Miglus seine Videoarbeit aus dem für polnische Kriminelle reservierten Knast in Spremberg vor, und Lilli Brand berichtete über ihre Karriere in einem vor allem mit Ausländerinnen belegten Frauenknast, in dem zuvor ein ambitioniertes Theaterstück inszeniert worden war. Aus dem Gefangenentheater „aufBruch“ (sic) heraus entstand gerade der Gefängnis-„Bericht Einschluss“ des Dramaturgen, Privatdozenten und Schriftstellers Hans-Joachim Neubauer. Von den 1.700 Männern aus fast 50 Nationen, die dort eingeschlossen sind, hat er mit einem Dutzend mehrere Jahre lang Interviews geführt.
Im Zentrum seines Buches stehe nun die Zeit, meint der Autor. Aus den Interviews machte er eine Reihe von Erzählungen: „Ich war Geschäftsführer einer Immobilienfirma. Nach der Ermordung meines Chefs kam auch ich in den Strudel der Ermittlungen…,“ so erzählt einer, und ein anderer: „Ich bin sechseinhalb Jahre inhaftiert, aber bin unschuldig“. Ein dritter: „Ich bin schon zwei Jahre hier, wegen versuchten Mord. Ich habe in einer arabischen Firma gearbeitet, mit meinen Freunden zusammen, als Baupolier …“. Ein wegen Sittlichkeitsverbrechen Inhaftierter sagt: „Zeigen, dass ich einen mag, das konnte ich nicht. Nur meinem Hund.“ Ein krimineller Autohändler erklärt: „Wir waren eine mobile KFZ-Zulassungsstelle, Tag und Nacht geöffnet.“ Ein falscher Autobahnpolizist berichtet: „Die Polizei stritt mit der Rostocker Kripo darüber, wer meine Kelle und den Ausweis kriegte“. Und ein Neonazi meint: „Wir wollen eigentlich keinen Bürgerkrieg im engeren Sinne.“
Der Autor hat die Geschichten der Knackis sortiert – und den Kapiteln „Gelände“, „Wirtschaft“, „Zeit“, „Ordnung“ und „Die Strafe“ zugeordnet. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt sowie etliche Teilanstaltsleiter unterstützten die Arbeit an seinem Bericht, was seiner Meinung nach vom Mut dieser Institution zeugt. Ich würde dagegen behaupten, dass die (linke) Initiative jetzt von den Inhaftierten auf die Inhaftierer übergegangen ist. Einer der Inhaftierten kann dazu im Buch aus eigener Erfahrung beisteuern: „Wenn du auf Droge bist und auf Beschaffung, verschwinden diese Werte, der Stolz und die Ehre und die Ethik und dieses ganze alte Ganoventum und Gauklertum und was da alles noch drin ist. Wenn du auf Droge bist, fällt das völlig weg …, dann nimmst du auf nichts mehr Rücksicht.“ Ein anderer, der schon in der DDR im Knast war, meint: „Hier ist jeder auf Lockerung aus.“ Bei uns gab es früher mehr „Zusammenhalt“ sowie eine Verständigung über Klopfzeichen. „So etwas gibt es hier auch nicht“ (mehr). Es wäre ja auch paradox gewesen, wenn einzig Tegel eine Insel der Seligen geblieben wäre.
Die Vaclav-Havel-Höhe
Das Krankenhaus Havelhöhe in Gatow war früher das zweitbeste, was einem in Berlin passieren konnte, wenn man einen „schlechten Trip“ genommen hatte oder sonstwie stationäre Hilfe brauchte. Das letzte Mal besuchte ich dort jedoch keinen Patienten, sondern den Psychiater Laszlo Kruppa. Er war im Jahr 1968 aus Ungarn geflüchtet, ich kannte ihn aus einigen Bremer Ulrich- Sonnemann-Seminaren. Laszlo erwartete uns bereits mit Kaffee und Kuchen. Plötzlich meldete eine Krankenschwester: „Jockel ist verschwunden.“
Wir standen alle auf und durchstreiften das zur Klinik gehörende Waldgelände. Es lag Schnee und war kalt. Jockel war während der Nazizeit auf einem Dachboden versteckt worden, aber die Befreiung hatte ihm kein Glück gebracht: Er kam in die Psychiatrie, wo er dann als ruhiger, aber paranoider Dauerpatient weiterlebte. An diesem Tag hatte es Streit auf einer Geburtstagsfeier gegeben, in dessen Verlauf Jockel eine Torte vom Tisch gefegt und daraufhin ein Beruhigungsmittel verabreicht bekommen hatte. So – gedämpft – war er dann abgehauen. Im Wald war er nirgends zu finden. Die Krankenschwester wurde langsam panisch: „Wenn er draußen einschläft, überlebt er nicht.“ Laszlo informierte den Wachdienst. Wir anderen fuhren die Allee in Richtung Heerstraße ab. Kurz vor einer Straßenkreuzung fanden wir Jockel schließlich: Er ging gemächlich den Radweg entlang. Als wir anhielten, stieg er ein und ließ sich in die Klinik zurückfahren, dabei konzentrierte er sich auf das Autoradio. Unser Kaffee bei Laszlo war inzwischen kalt geworden. Später bedankten wir uns bei ihm für das spannende Klinikerlebnis.
Als wir später erfuhren, daß „die Anthroposophen“ die städtische Klinik Havelhöhe zu übernehmen gedächten und es deswegen zu Protesten gekommen war, fuhren wir erneut hin. Laszlo arbeitete indes nicht mehr dort, er war nach Paris zur Fortbildung bei einer lacanistischen Psychoanalytikerin gegangen. Von anderen Mitarbeitern hörten wir, daß man immer noch heftig gegen einen „Trägerwechsel“ kämpfe, dafür seien mittlerweile 26.000 Unterschriften gesammelt worden. Nun hoffe man, daß der Senat, der noch nicht über den „Bettenplan“ entschieden habe, „die Rudolf- Steiner-Leute“ verhindere: Diese ohne Defizit arbeitende Klinik müsse so erhalten bleiben, wie sie ist! Hinter der unfreundlichen anthroposophischen Übernahme stecke ein Komplott (mit System): Ost-CDU-Gesundheitssenator Peter Luther und sein Staatssekretär Orwat hatten erst den Gatower Chefarzt nach Buch vermittelt, dann drei Psychiater gehen lassen und schließlich einen Oberarzt nach Potsdam. Dazu hatte man mehr als 50 Krankenschwester-Stellen unbesetzt gelassen, für die das Geld vorhanden ist. „Da hat ein Exodus eingesetzt, der wie ein Dolchstoß wirkt“, so Klinikchef Zschernack, der auch um das Weiterbestehen der (berühmten) „Drogenstation 19“ fürchtet.
Nach Meinung anderer Informanten hat überdies Orwat einen sehr guten Draht zu Morgenpost, Tagespiegel und Berliner Zeitung, wo man bisher in der Tat eher hämisch über Zschernacks Versuche der Rettung seiner Klinik berichtet hatte. Es kam noch hinzu, daß Senator Luther ein Faible für anthroposophische Heilkunst besitzt: Seine Doktorarbeit schrieb er über die Steinersche Universaldroge Mistel. Laut Humboldt- Professor Prokop, der seine Arbeit betreute, stieg Luther jedoch aus, bevor endgültige Untersuchungsergebnisse vorlagen. Prokop hält im übrigen die ganze Mistel-Medizin für Mist. Ich nicht, aber man darf dieser Ethik-Mafia nicht alles durchgehen lassen. Der Psychoanalytiker Laszlo Kruppa machte sich nach seiner Rückkehr aus Paris am Kottbusser Tor selbständig. Inzwischen hat er dort Patienten aus 81 Nationen – um sich von ihnen zu erholen besucht er einmal im Jahr eine ethnopsychoanalytische Konferenz.
Dirty Hand Steven K.
Steven K. wurde 1983 in Charlottenburg geboren. Anfangs wohnte er bei den Großeltern, seine Mutter hatte Drogenprobleme. Als er sechs wurde, nahm sie ihn zu sich nach Neukölln. Seine Mutter arbeitete inzwischen als Prostituierte, um sich Geld für Drogen zu beschaffen, 1994 wurde sein Bruder geboren, was der Mutter noch mehr „Probleme“ bereitete. Steven wurde oft von ihr verprügelt, auch ihre Männerbekanntschaften hielten sich nicht zurück. Er musste auf seinen kleinen Bruder aufpassen und wurde deswegen von seiner Mutter oft aus der Schule genommen. Sein Spielzeug verkaufte sie für Drogen.
Nach vier Jahren hatte er „die Schnauze voll“ und machte ihr seinerseits „Stress“. Er hatte angefangen zu kiffen und begriff langsam einiges. Vor seiner Mutter hatte er „keinen Respekt mehr“, ihm fehlte „eine Autorität“, wie er rückblickend meint. Als er 15 wurde, schmiss seine Mutter ihn raus und sorgte überdies dafür, dass er kein „betreutes Wohnen“ vom Sozialamt bekam. Drei Jahre lebte er auf der Straße, eine Zeit lang in einer verlassenen Schule, wo er sich von der Außenbeleuchtung Strom abzapfte und auf dem Mädchenklo Hanf anbaute: zweieinhalb Kilo erntete er alle drei Monate, die er an einen Araber verkaufte.
1999 bekam Steve seinen ersten Graffitiauftrag, gleichzeitig begann er damit, sich durch Raub zu finanzieren. „Mit Zeichnen und Malen hatte ich schon in der 6. Klasse angefangen. Der Auftrag kam vom Onkel eines guten Freundes, der einen Laden in der Budapester Straße am Zoo hatte. Dort lernte ich drei Jugendliche kennen, die andere Jugendliche abzogen, also überfielen. Mit denen bin ich mitgegangen. Da konnte man gut Geld mit machen. Eine Zeit lang bin ich dann alleine auf den Ku’damm gegangen – zum Abziehen. Ich war mit einem Messer bewaffnet und wurde bald gesucht – dann auch geschnappt Ende 1999. Wegen etwa einem Dutzend schwerer Raubüberfalle steckte man mich erst mal sieben Monate in U-Haft.
Draußen habe ich anfänglich nur Tags gemacht, bis auf ein paar Bombings, damit mein Name überall bekannt wird – in der ganzen Stadt und darüber hinaus. Einmal habe ich irgendwo in einer märkischen Allee an einen Baum gepisst und dabei mit dem Messer meinen Namen reingeritzt. Drei Jahre später haute mich ein Freund an: ,Ey, ich habe deinen Namen neulich sogar an einem Alleebaum entdeckt‘ – ebenfalls beim Pissen.
2001 hatte ich in Moabit meinen Prozess. Ich war noch Jugendlicher und bekam zwei Jahre auf Bewährung. Danach nahmen meine Großeltern mich wieder bei sich auf. Seitdem wohne ich bei denen in Moabit. Graffiti habe ich immer weiter gemacht, ich traf dabei Leute, die mich weitergebracht haben – nicht nur immer diese Standard-Bombings. Meine wurden dann immer bunter, ich habe mir die Hochglanzmagazine Backspin und Overkill geklaut. So was wie die dort abgebildeten Bombings und Buntbilder wollte ich auch machen. Zwischen 2001 und 2004 schaffte ich, was ich mir vorgenommen hatte, dass ich überall bekannt wurde.
Der Kern der Graffitibewegung in Berlin bestand damals aus etwa 400 Leuten. Ich war zwar nicht der Beste, aber einer der Bekanntesten. Heute ist die Szene anders: Die Jungen kennen mich nicht mehr, und die Alten machen jetzt auch oft Kunst oder Auftragsgraffiti. Die Werte von damals sind verloren gegangen. In meinen Kursen im Jugendzentrum versuche ich, sie den Kids wieder nahezubringen. Dazu gehörte, dass man mit einem Bombing über ein Tag rübergehen durfte und mit einem Buntbild über ein Bombing. Einzelne haben auch das nicht geduldet, und andere haben sich nicht an diese Regel gehalten. Aber heute sind sie allgemein verschüttet.
Es gibt so viele Leute, die sprühen – darunter verfeindete Crews. Früher gab es diesen Hass untereinander nicht. Man traf sich am Writerscorner in der Friedrichstraße oder am Alex. Gibt’s nicht mehr. Heute gibt es wieder eine Verbindung zum Hiphop, die Rapper spannen gerne Graffitikünstler ein, bei den arabischen ist das allerdings seltener der Fall. Die meisten neuen und guten Graffitikünstler kommen aus dem Osten, während die meisten Rapper aus dem Westen kommen.
Auch das Material hat sich geändert: Früher waren die Dosen schweineteuer. Wir sind immer in die Baumärkte, haben uns eine Kiste vollgepackt und die dann in die Gartenabteilung zu anderen Kisten gestellt. Nachts sind wir dann übern Zaun gestiegen und haben unsere Kisten mit Dosen abgeholt. Das ging ein Jahr gut, dann haben die das gemerkt und wir haben die Dosen wieder einzeln geklaut. Heute gibt es Hersteller, die sehr gute Dosen sehr billig anbieten. Früher kostete eine 18 DM und jetzt 3 Euro 70 in besserer Qualität. Der Dosendruck ist auch höher geworden, sodass man damit schneller arbeiten kann. Für die meisten Graffiti an der S-Bahn, die bunten Linepieces, da braucht man aber immer noch eine Woche, wenn man ein bis zwei Stunden nachts an ihnen arbeitet.
Graffitimalen ist bei mir mit der Zeit zu einer Sucht geworden: ich musste überall meinen Namen hinschreiben – ging nicht anders. Meine ganze Stadtorientierung lief bald nicht mehr über Straßennamen oder Gebäude, sondern über die Graffiti. Das machen viele Sprüher so: sie kucken beim S-Bahn-Fahren nach Graffiti – und ärgern sich über die Scheibenkratzer. Das habe ich auch eine Zeit lang gemacht, scheibenkratzen, es dann aber sein lassen: ich will auch rauskucken.
Es gibt einige markante Gebäude in der Stadt, da reißen sich die Sprüher drum. Es hat zum Beispiel nur einer bisher geschafft, den Reichstag zu bemalen. Und der wurde gleich darauf geschnappt. Mich haben sie zehn Jahre lang gar nicht erwischt. Ich gehörte zu den Vorsichtigen – besonders wenn es um Züge, S-Bahnen und so was ging. Aber kürzlich bin ich mit einer Gruppe auf ein altes Industriegelände in Charlottenburg. Das war da schon fast eine Wall of Fame – also sah nicht besonders gefährlich aus. Gerade da haben sie mich aber erwischt. Und deswegen bekomme ich nun einen Prozess. Das war mein Ausstieg aus der Szene.
Jetzt sprühe ich nur noch in meinem Keller oder im Malkurs, im Moabiter Jugendzentrum „VIP-Lounge“. Das Einzige, was ich sonst noch mache, ist, dass ich Aufkleber habe, die ich mitnehme und klebe – wenn ich z. B. durch Bayern fahre. Dafür hängen jetzt meine Bilder im Bundestag, in der Berliner Bank im Wedding, bei ein paar Privatleuten und in Arztpraxen. Oder ich male im Auftrag Wände oder Türen an – in Kinder- und Jugendclubs, das sind meine Hauptauftraggeber. Die Arbeit mit den Kids macht mir Spaß, ich versuche, sie von den ganzen Fehlern abzuhalten, die ich selber gemacht habe.
Killroy was here!, damit fing alles an – gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, ein Ami war das. Inzwischen sind die meisten Graffiti – zumal an S-Bahn-Strecken und Autobahnen – eindeutig eine Verschönerung. Es gibt viele Graffitikünstler, die nur auf Droge arbeiten können – Amphetamine meistens, ich habe immer nur Zigaretten und Haschisch gebraucht. Dazu kommt der Adrenalinausstoß: andere Leute sind zwei Stunden ins Kino gegangen, ich bin über die S-Bahn-Strecke geschlichen. Das ist auch schlimmer geworden: Früher konnten wir uns noch vor dem ,Wachschmutz‘ hinterm Busch verstecken. Heute fliegt der BGS mit Wärmebildkameras über die Strecken. Und sie stellen Fallen auf: etwa einen Stadtrundfahrtbus, der nachts auf offener Strecke – vorm Ostkreuz – hält. Da denkt doch jeder: Den muss ich machen, da fährt mein Bild um die ganze Stadt. Und zack! haben sie ihn.
Seit 2004 wurde ich ruhiger. Das war natürlich auch gut für meine Akte. 2003 bin ich aber erst mal zur Bundeswehr, ich war als Scharfschütze in Torgelow stationiert, in der Nähe von Pasewalk ist das. Ich habe mir da die silberne Schützenschnur verdient. Nach dem Bund kamen alle möglichen Maßnahmen vom Arbeitsamt. 2005 fing ich eine Ausbildung zum Maler/Lackierer an. Da habe ich ein halbes Jahr kein Geld gekriegt und aufgehört. Dann habe ich mich von den Drogen entwöhnt – es ging nicht mehr, ich bin aus Moabit nicht mehr raus. 2006 habe ich da eine Künstlerin kennengelernt, die war von der „VIP-Lounge“, wo sie malte. Von ihr erfuhr ich: Sie bräuchten da noch einen Graffitimaler. Ein halbes Jahr habe ich das ehrenamtlich gemacht – und dann Malkurse gegen Bezahlung gegeben.
Die Leiterin der „VIP-Lounge“, Frau Winter, hat mich darauf gebracht, Leinwände zu benutzen. Auf meine erste Leinwand – 50 mal 70 – habe ich eine Skyline gemalt, inzwischen bin ich schon fast ein Skyline-Experte. Manchmal habe ich so viele Aufträge, dass ich welche an Freunde abgebe. Die arbeiten auch meist in der „VIP-Lounge“, habe ich nach und nach da reingeholt. Funda zum Beispiel, die kann sehr gut fotorealistisch malen, nicht sprühen, sondern mit Aquarellfarben. Sie malt ab, während ich mir was ausdenke, wobei ich jedoch noch meinen Stil suche.
2005 hat mir das Arbeitsamt eine berufsvorbereitende Qualifizierungsmaßnahme bei „Zukunftsbau“ in Mitte verpasst. Erst wollte ich da meinen Schulabschluss nachmachen, aber ich habe wie gesagt ein Autoritätsproblem. Deswegen habe ich wieder aufgehört damit. Ich kam dann in ein „Profiling“ bei Zukunftsbau: das war auch Scheiße, habe ich aber zu Ende gemacht, ohne dass was bei rausgekommen ist.
Ein Jahr später habe ich dort dasselbe noch mal mitgemacht – und geriet an den Profiler Gert Groszer. Mit dem komme ich gut klar. Der hat mich wie ein Mensch behandelt, nicht wie einen Hartz-IVler, und hatte Interesse an meinen Graffiti. Er hat jetzt auch eine Ausstellung in der Prignitz in einem Jazzkeller in Dahlhausen für mich organisiert. Da habe ich ein Bild verkauft. Bei allen meinen bisherigen drei Ausstellungen habe ich jeweils ein Bild verkauft, komischerweise immer die, die mir selbst am wenigsten gefallen. Angefangen habe ich mit 25 Euro pro Bild, mittlerweile bin ich schon bei 100-200 Euro.
Es lässt sich alles so weit gut an. Aber es ist mir was dazwischengekommen: Der Exfreund meiner Freundin Corinna hat sie so penetrant verfolgt, auch eingesperrt, geschlagen und bedroht, dass ich ihn zu Hause besucht habe. Das war moralisch in Ordnung, aber nicht rechtlich: Ich habe dafür 1 Jahr und 9 Monate ohne Bewährung bekommen, wegen Körperverletzung. Dagegen bin ich in Berufung gegangen. Der Exfreund von Corinna hat wegen Freiheitsberaubung und und und nur eine Geldstrafe von 450 Euro gekriegt. Jetzt warte ich auf meine Berufungsverhandlung und bau mir in der Zwischenzeit einen Laden aus: ,Dirty Handz‘ soll er heißen.
Mein Opa ist kürzlich gestorben – an Krebs, und meine Oma braucht mich jetzt. Früher hat sie mir geholfen und mein Material finanziert, deswegen bleibe ich nun erst mal bei ihr in der Wohnung.“
Und sogar Steglitz ist eine geschlossene Veranstaltung, wenn man es genau nimmt.
„Diese kleine Welt rund um den Bierpinsel nun quasi von oben“ (Uwe Johnson 1981)
teglitz gibt immer neue Rätsel auf – z.B. die dortige Polizei: Da tobte morgens um 5 Uhr auf der Schloßstraßen-Kreuzung vor dem noblen Einkaufscenter „Schloß“, wo ein Rock- und ein Popkonzert stattgefunden hatten, eine blutige Massenschlägerei u.a. wegen Haschisch – und die Polizei fuhr einfach daran vorbei – es gab später über diesen „Vorfall“ nicht einmal einen Eintrag im Dienstbuch, das heute natürlich aus einem PC mit umfassenden Zugriffsmöglichkeiten besteht. Aber dann rückte am vergangenen Freitag die Polizei um 8 Uhr abends mit 9 Mann hoch und einem Hund bei einer Familie im dritten Stock um die Ecke an. Sie stellten die Frau und ihren Freund sowie auch ihren 18jährigen Sohn und drei Freunde von ihm an die Wand und legten ihnen Handschellen an. Während die Wohnung durchsucht und die vier Jungs verhört wurden – sie hatten Haschisch geraucht, es lagen leere Tütchen und Geldscheine auf dem Tisch, wurden die beiden Erwachsenen im Badezimmer eingesperrt. Um Mitternacht brachte man sie alle mit einem Mannschaftswagen zur nächsten Wache, wo sie u.a. erkennungsdienstlich behandelt wurden. Auf der Fahrt dorthin sperrte man die gefesselte Frau in die für den Rauschbgiftsuchhund reservierte Kabine. Am morgen um vier wurden sie wieder entlassen und durften nach Hause gehen. Als die Frau das den Nachbarn am nächsten Tag alles erzählte, zitterte sie immer noch. In Steglitz wohnen die geschiedenen und weggezogenen Männer vielfach gleich in der Nähe, so dass sie in etwa mitbekommen können, wer oder was ihre „Ex“ besucht. Das war auch bei der Frau der Fall. Sie hatte gerade – einen Tag vor dem Polizeiüberfall – ein Schild mit dem Namen ihres neuen Freundes an ihren Briefkasten geklebt, nachdem mehrmals Briefe für ihn mit ihrer Anschrift irregeleitet worden waren. Kurz darauf war ihr Exmann ins Haus gekommen, um seinem Sohn eine CD in den Briefkasten zu werfen. Dabei hatte er das Schild mit dem Namen des Mannes, den er kannte, entdeckt. Als sein Sohn sich bei ihm für die CD bedanken wollte, scheuerte er ihm eine, weil der die ganze Zeit nichts verraten hatte. Und anschließend muß er wohl die Polizei auf ihn und seine saubere Mutter gehetzt haben, d.h. er hat seinen kiffenden Sohn verpfiffen („Gefahr im Verzug!“ Sie hatten nicht mal einen Durchsuchungsbefehl, aber jede Menge schlechte amerikanische Filme im Kopf).
Dabei liegt das wahre Böse so nah – auch und gerade von Steglitz aus: Die Medienpraktikantin Julia aus der Rothenburgstraße rief bei einem Hauptstadtsender an, der gerade Freikarten für die Adlon-Disco „Felix“ verloste – und gewann prompt zwei Karten. Um ihr Glück auf die Probe zu stellen, rief sie kurz darauf noch einmal beim Radiosender an, als der erneut Freikarten – diesmal für „Belle et Fou“ – im Wert von 60 Euro verloste. Auch hier gewann sie sofort – wieder zwei Freikarten. Diese Revue entpuppte sich dann jedoch als ein übles Nackttanz-Etablissement mit Oben-Ohne-Bedienung und ausschließlich alten geilen Säcken, deren Augen sofort flackerten, als nach und nach eine ganze Gruppe von Steglitzerinnen eintrudelte – die alle Freikarten gewonnen hatten. Welch ein Zufall! Julia und ihre Freundin hatten Mühe, aus der schwülen Anmachatmo wieder nach draußen an die frische Luft zu gelangen – und anschließend eine Stinkwut auf den Radiosender, aber auch auf die BZ, die die „Revue“ und andere üble Table-Dance-Clubs laufend anpriesen. Diese „Medien“ kamen ihnen vor wie die allerschmierigsten Zuhälter, die den männlichen Gästen mit ihren verlogenen Werbekampagnen laufend neue Mädchen zuführen – aus Steglitz auch noch! „Haben die denn gar kein Gewissen?“ fragten sie sich. Wie zum Hohn erschien dann am Montag auch noch der Spiegel mit einem Aufmacher über das hippe New-Berlin, in dem die ganze Scheiße als hauptstädtische Highlights durchgingen.