vonHelmut Höge 07.04.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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1.
Bei meinem letzten Aushilfshausmeister-Einsatz in der taz kümmerte ich mich einmal auch um die Topfpflanzen im Büro der Chefredakteurin – es ist ein halbes Gewächshaus: das breite Fensterbrett ist völlig zugewuchert, in den Ecken stehen großblättrige Palmen, auf dem Glastisch eine Carla, am Schreibtisch ein palmenartiges Gewächs, auf dem Schreibtisch links ein Bonsaibäumchen und rechts eine Vase mit Schnittblumen und neben dem Bücherregel ein  Weihnachtsstern – so groß, dass man davon ausgehen kann, Bascha Mika und ihre Assistentinnen haben „green thumbs“. Während des vorsichtigen Gießens der Pflanzen überlegte ich mir, an was für Büros ich mich erinnern konnte…

Im gerade eingeweihten  „News-Room“ der Springerstiefelpresse fällt als erstes auf, dass hier den Journalisten völlig entpersönlichte Büroarbeitsplätze verpaßt wurden: Was an Papieren oder persönlichen  Dingen auf ihren Schreibtischen liegen bleibt, wird nachts von den Putzkolonnen gnadenlos vernichtet. Mit dieser Anonymisierung durch Virtualisierung der Arbeitsplätze stoppt man eine Entwicklung, die darin bestand, dass Büros und Büroangestellte auf Dauer zu einer Einheit  verschmolzen.

So wird z.B. die Verbrecherkartei des BKA in Tempelhof von einer stattlichen Blondinen geführt. Sie hat dazu ein großes Büro mit einem Schreibtisch nahe am Fenster, von wo aus sie wie in einem Internet-Café neun Bildschirme im Blick hat. Diese sind mit Trennwänden separiert und erinnern in ihrem schmutzigen Behördengrau an alte Schultoiletten oder Peepshow-Kabinen. Aber die bis in die Fingerspitzen äußerst gepflegt aussehende sowie natürlich gebräunt wirkende Angestellte hat diesem Eindruck  entschieden gegengearbeitet, indem sie überall, wo an den Wänden Platz war, große blauweiße Griechenland-Urlaubsplakate hingehängt hat. Und hinter ihrem Schreibtisch noch Dutzende von Griechenland-Postkarten und -Photos anbrachte. Außerdem liegen oder  stehen auf ihrem Schreibtisch etliche Griechenland-Souvenirs. Man erwartet unwillkürlich, wenn sie einen Anruf bekommt, dass dann der Klingelton ihres Diensttelefons zum Sirtaki aufspielt. Die Angestellte scheint sich zu freuen, wenn ein „Kunde“ bei ihr aufkreuzt. Es geht in diesem Fall um einen nächtlichen Raubüberfall von drei Albanern, die zwischen 20 und 30 Jahre alt und mit Totschlägern bewaffnet waren. Dazu soll der „Kunde“ sich nun an einem der Monitore 426 Porträtphotos  ankucken – in der Hoffnung oder mindestens Erwartung, darunter wenigstens einen der Täter wiederzuerkennen. Bei der Nummer 112 angekommen registriert er, dass die blonde Angestellte hinter ihrem Schreibtisch hervorgekommen ist und nun durch den Raum schlendert, anscheinend, um die freien Monitore zu kontrollieren, en passant klebt sie dabei eines der Griechenland-Urlaubspost, das sich von der Wand gelöst hat, mit einem Stück Tesafilm wieder fest. Der „Kunde“ dreht sich leise um und schaut ihr verstohlen dabei zu:  Wieviel angenehmer ist doch ihre Erscheinung – als die bisher 112 Verbrechergesichter…Sein Blick fällt auf ein himmelblaues Meer, ein Fischerboot und eine weiße berankte Hauswand, die von der Sonne beschienen wird…Schließlich wendet er sich wieder dem dämlichen Monitor zu.  Nachdem er alle 426 Photos durchgesehen hat, stellt sich Erleichterung ein. Dennoch verabschiedet sich der „Kunde“ von der freundlichen, aber wie  abwesend  wirkenden Angestellten mit einem schlechten Gewissen – so als sei er für nichts und wieder nichts in ihre griechische Privatsphäre eingedrungen: selbst fast ein Verbrecher. Schon wenig später avanciert dieses Hellas-Reisebüro des BKA bei ihm zum eigentlichen Ereignis – zwischen dem Raubüberfall am Mariannenplatz und der Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft zwei Wochen später – wegen Geringfügigkeit: Die drei Täter hatten nur 5 Euro erbeutet.

Ein weiteres unvergessliches Büro war das der Sachbearbeiterin für die „Künstlerhilfe“ beim Sozialsenat in einem der Nazigebäude am Fehrbelliner Platz, das dann – nach einem Umzug auf das Gelände des Notaufnahmelagers in Marienfelde, wo die Künstlerhilfe in Containern auf der grünen Wiese unterkam, noch weitaus schräger ausgestaltet wurde. Ihre einstigen Räume am Fehrbelliner Platz hatte der Verfassungsschutz beansprucht.

Eigentlich befanden (und befinden) sich die Büros des Berliner VS in Zehlendorf – auf dem Grat 2, aber kurz vor der Wende kam heraus, dass die Behörde im Eifer des antikommunistischen Gefechts und im Laufe der Zeit über schier jeden Westberliner Linken eine Akte angelegt hatte. Die damals gerade an die Macht gelangte „Rotgrüne Regierung“ bzw. ihr SPD-Innensenator Pätzold setzte daraufhin 1990 – noch im Taumel von Glasnost, Runden Tischen und den Stasidebatten mit seinem Ost-Kollegen Diestel – eine „Akteneinsicht“ durch – auf Antrag von möglicherweise Bespitzelten, gleichzeitig stufte er die Behörde zu einer „nachgeordneten“ herunter.

Da man den erbosten Linken jedoch nicht – erst recht nicht massenhaft – Zutritt zu den Räumen in der VS-Zentrale verschaffen wollte, mußten für das „Offenlegungsgesetz“ auf die schnelle neue Büroräume her – und zwar möglichst  weit weg von Zehlendorf. Und das war dann die Etage der Künstlerhilfe bei der Sozialsenatorin. Die meisten Westberliner Linken waren sowieso inzwischen Künstler geworden – und kannten von daher den Weg dorthin bereits. Die Räume wurden allerdings völlig neu eingerichtet und die Türen bekamen neue Schlösser, die nur mit komplizierten Geheimdienstschlüsseln zu öffnen waren. Bei der Möblierung ließ man sich von der Stasi-Ästhetik drüben leiten, den die Verantwortlichen gerade kennengelernt hatten. In das besonders große Auskunftsbüro kamen zwei alte, farblose Schreibtische und Schränke sowie einige Sessel, eine Couch und ein Couchtisch, wo der jeweilige Antragsteller es sich mit seiner Akte gemütlich machen konnte. Auf den leeren Schreibtischen stand vorerst nur ein Diensttelefon. Ähnlich leer wirkten oder taten auch die zwei Sachbearbeiter. Sie trugen arschlose Jeans und gestreifte Pullover, hatten Schnurrbärte und waren etwa 30 Jahre alt. Einer begann mit einer Art Einleitungsrede, die sachlich-professionell und beruhigend hightechmäßig klang, dem Sprecher jedoch komischerweise peinlich zu sein schien. Vielleicht, weil er dabei die Worte Nadis-Computer, Stammakte, manuelle Akte, Laufakte und Fehlentwicklung im Berliner LfV, weswegen keine Akten mehr vernichtet werden dürften – allzu unzusammenhängend verwendete, und dann abrupt schwieg. Daraufhin ergriff  sein Kollege das Wort. Er machte einen  konkreten Vorschlag: Man könne eine Erlaubnisgenehmigung zum Vernichten seiner Akte unterschreiben, aber nur, wenn man wolle. Dabei könne man sich zwischen mehreren  „Alternativ-Verträgen“ entscheiden (meistens entschieden sich die Betroffenen dabei für den mit dem kürzesten Text). Nach dieser Wahl ging es dann beinahe reibungslos – wie in einem richtigen Dienstleistungsunternehmen – weiter. Schließlich nahm man auf der Couch Platz – mit einer dicken Akte vor sich.

Im konreten Fall war diese aber nur deswegen so dick, weil darin mehrere Untergrundzeitungen aus den Siebzigerjahren komplett abgeheftet worden waren. Die wenigen Spitzelberichte dazwischen waren dagegen über und über mit dickem Filzstift eingeschwärzt worden.  „Weil an den Stellen Hinweise auf andere oder Namen von anderen Personen standen,“ wurde einem dazu  erklärt. Es klang wie eine Entschuldigung. Spätestens an der Stelle beschlich einen der Verdacht, total verarscht zu werden. Verbissen starrte man auf das Wenige lesbare: irgendwelche kryptischen Verben und Uhr- sowie Aktenzeiten.

Schließlich klappte man die Akte resigniert zu – was von den beiden Schnurrbärtigen, die inzwischen wieder an ihren Schreibtischen Platz genommen und auf diesen Moment anscheinend nur gewartet hatten, mit Genugtuung registriert wurde. Alles in allem ergab sich aus den gesammelten Spitzelberichten, dass sich in der WG, Mommsenstraße 60, wo man 1971 wohnte, regelmäßig die Redakteure der linksradikalen Zeitung „agit 883“ getroffen hatten – und zwar zu ihrer „Dienstagsschulung“. Sie „unterstützten  terroristische Aktivitäten“. Einer der Schnurrbärtigen begleitet einen zur Tür. Noch im dunkelbraunen Treppenhaus reduzierte sich das ganze Ereignis schon auf den kackgelben  Aktendeckel und die kotzgelbe Couchgarnitur. Oder war sie doch eher grünlich gewesen? So gut wie nichts hatte man mehr von der übrigen Büroeinrichtung und den zwei VS-Angestellten in Erinnerung. Eine tolle Leistung – von ihren Vorgesetzten oder der ganzen Behörde: Dieses sich fast Unwahrnehmbar-Machen. Einer der  Vorgänger des SPD-Innensenators, Heinrich Lummer, hatte die ausgeuferte Aktenanlegerei des VS seinerzeit noch mit den Worten verharmlost: Sie würden doch dort in Zehlendorf nichts anderes tun als die ganzen Journalisten in der Stadt auch: nämlich „Informationen sammeln“. In diesem Fall stimmten die Informationen jedoch hinten und vorne nicht. Die Spitzelberichte waren eine Mischung aus greller Unkenntnis und Wichtigtuerei (das gilt allerdings zugegebenermaßen auch für die meisten Texte von Journalisten. In Westberlin gab es darüberhinaus aber auch noch etliche Hybride – nämlich „VS-Journalisten“. Diese wollte der Innensenator gänzlich ausknipsen, d.h. ihre Identität „ermitteln“ lassen.) Was nun die VS-Akte 3171/LL/6  betraf: Weder trafen sich in der Mommsen-WG jemals „883-Redakteure“, das war eine Ecke weiter in der „Wielandkommune“ gewesen, noch „unterstützten“ diese damals „terroristische Aktivitäten“, im Gegenteil distanzierten sie sich mehr und mehr davon. Völlig unabhängig davon wurde in der „Mommsenstraße“ die Straßenzeitung „Hundert Blumen“ hergestellt. In der Akte abgeheftet waren jedoch einige Exemplare ihres militanzorientierten  Konkurrenzblattes „Bambule“. Beide wurden ersten 1972 gegründet… Je mehr man über dieses elende „Ermittlungsergebnis“ und die ganze Prozedur bis zur „Offenlegung“ nachdachte, desto wütender wurde man. Bereits im Jahr zuvor hatte man gleich nach Verabschiedung des Gesetzes den Antrag auf Akteneinsicht gestellt gehabt, zwei Monate später war ein Brief vom VS gekommen. Darin schrieb ein Dr.Nüske:  „aufgrund der zahlreichen hier eingegangenen Ersuchen ist es uns leider erst jetzt möglich, Ihre Anfrage zu beantworten.“ Zwecks Terminabsprache sollte man sich aber nunmehr zügig mit der „Arbeitsgruppe Auskunft“ telefonisch in Verbindung setzen. Dort bat einen dann eine VS-Beamtin – Frau Dolbe-Kern – erneut um Geduld: „Zum Jahresende wird es immer ein bißchen eng und hektisch hier – wie überall.“ Zwar heuchelte man sofort Verständnis, aber dann konnten einem nicht einmal die informiertesten Geheimdienstexperten im Bekanntenkreis erklären, warum es beim Berliner VS ausgerechnet zu Weihnachten immer besonders hoch hergehen solle. Zumal sich doch gerade um diese Zeit fast alle Linken in Westdeutschland –  bei ihren Eltern – befänden…

Aber ich wollte auf das Büro der Künstlerhilfe in Marienfelde zu sprechen kommen – und auf die (sympathische) Angestellte dort. Um zu ihr zu gelangen, mußte man ein schwer umzäuntes Riesengelände umrunden und dann bei einem alten, abgebrüht aussehenden Pförtner seinen Besuchswunsch vortragen. Vor der Pförtnerloge stieß man auf eine Gruppe von älteren Russlanddeutschen. Sie schienen dort zum Teil kleine Handelsgeschäfte zu tätigen, wobei jedoch unklar blieb, um was es sich dabei handelte. Neben der Pförtnerloge stand ein großes Drehregal mit revanchistischer Literatur: „Der Ostpreußen-Kurier“, „Die sudetendeutschen Nachrichten“ und Schlimmeres. Eine russische Zeitung gab es nicht – noch nicht. Der Pförtner schickte einen sodann an mehreren kasernenähnlichen Gebäuden vorbei. Dahinter stieß man auf eine doppelstöckige Aluminium-Containerreihe, die in der Sonne blitzte und an ein Wäldchen grenzte, von wo aus Vogelgesang zu hören war. Das Gebäude hatte  eine Außentreppe, oben zweigten die Büros von einem flugzeugähnlichen Gang ab. An einer Tür fand man dann das richtige Schild: Sybille Überhorst. Sachbearbeiterin. IV/2. Dazu noch ein weiterer Name.

Anklopfen, reingehen, die junge Frau Überhorst freundlich anlächeln. Es geht um die Genehmigung, 12 Lesungen in Altersheimen und Jugendclubs bezahlt zu bekommen. Dazu gehören noch 7 weitere  Autoren, die alle für 3000 DM in insgesamt 96 Sozialeinrichtungen Kultur reintragen sollen. Eine 9. Autorin ist für ihre Koordination zuständig und für Terminabsprachen mit den Heimleitern. Im Grunde war schon alles klar, es ging eigentlich nur noch darum, bei Frau Überhorst den „Werkvertrag“ zu signieren. „Setzen Sie sich doch,“ sagt sie und fragt, „möchten sie einen Kaffee?“ Es war ein eher kleines Büro – mit großen Fenstern und vielen Topfpflanzen davor und zudem zwei Schreibtischen. Dort saß für gewöhnlich eine Kollegin, die jedoch gerade im Schwangerschaftsurlaub war, so dass man sich auf ihren Stuhl setzen konnte – einen anderen gab es im Raum auch nicht. Auf die Frage, wie sie es denn in Marienfelde fände, antwortet  Frau Überhorst fröhlich: „Wir wollten erst nicht, aber jetzt sind wir gerne hier – im Grünen.“

Während der Kaffee durchläuft und Frau Überhorst mit den Tassen klirrt, schaut man sich im Büro um – und will seinen Augen nicht trauen: Alles ist hier in pink und schwarz – Frau Überhorst selbst, d.h. ihre Kleidung, ihre Schreibmaschinenabdeckung, die Schränke, die Stühle, die Blumentöpfe und -untersetzer, Kugelschreiber, Handtücher – alles. An den Wänden hängen lauter  Poster mit riesigen nackten schwarzen Männern- lasziv dahingestreckt oder leger dastehend. Nur nicht am Aktenschrank, dort klebt  ein großes – schwarz-weißes – Plakat mit Gregor Gysi drauf. Man glaubt es kaum. Selbst die Fingernägel, der Lippenstift und das Haarband von Frau Überholz sind Pink – stellt man nun schon nicht mehr groß verwundert fest, als sie eine Tasse Kaffee vor einen hinstellt. Es dauert eine Weile, bis der ausgetrunken und der Vertrag unterschrieben ist, außerdem fällt Frau Überholz noch das eine oder andere über ihre neue Büroumgebung ein, was sie unbedingt erzählen muß: dass z.B. schon mehrmals ein Kuckuck gerufen habe. Man hört ihr gerne zu, sie ist selbstbewußt und sieht gut aus. Da jedoch die Negerposter und das Gysiplakat und die ganze pink-schwarz durchgestylte Büroeinrichtung nicht zur Sprache kommen, wird man trotzdem langsam ungeduldig. Was die Vorgesetzten dazu wohl gesagt haben? Ist so etwas überhaupt erlaubt in öffentlichen Ämtern? Die Gedanken schweifen ab: In Marzahn wurde gerade die Tochter einer Freundin, die sich bei der Polizei beworben hatte, abgelehnt – weil die Mutter bei der PDS aktiv war (und immer noch ist). Begründet wurde dies aber damit, dass die Bewerberin  zu sehr Berlinern würde. Ja, Frau Überhorst von der Künstlerhilfe traut sich was. Aber wo hatte sie z.B. die pinkfarbene Schreibmaschinenabdeckung her und die schwarz glänzende -unterlage? Gab es vielleicht einen Laden in der Stadt, der auf Waren nur in diesen Farben spezialisiert war? Und von wo stammten die großen Sex-Poster – von Beate Uhse? Wenn sie so augenscheinlich auf schwarze Männer (be)stand – war das ein „Coming-Out“? Langsam wird die Konversation anstrengend. Es reicht. Aber an ihr Büro wird man sich noch lange erinnern…

Es soll hier noch von einem anderen Büro die Rede sein. 1968 bekam der damals noch in Ostberlin lebende Wolf Biermann den mit 10.000 DM dotierten Theodor-Fontane-Preis der BRD-Studienstiftung des Deutschen Volkes verliehen. 1972 wurde der Dichter dazu von einem  BRD-Fernsehteam befragt – in seinem Büro, genauer gesagt: in seinem gutbürgerlich eingerichteten Arbeitszimmer voller Bücher, einem runden Tisch, einem Teppich und mehreren Polsterstühlen. Alles war mit der Zeit etwas dunkel, aber umso gemütlicher  geworden – von Tabakqualm und Rotweindünsten vielleicht. Im Westen waren dagegen die Wohnungen der Linken eher karg und mit Sperrmüll möbliert gewesen (damals wurde erstmalig das Rausstellen von Sperrmüll erlaubt, woraus sich dann ganze Flohmärkte entwickelten). Man wollte buchstäblich in Bewegung bleiben. Ein Beispiel: Nachdem die Kommune I die Wohnung des abwesenden Schriftstellers Uwe Johnson in Friedenau besetzt hatte – und nach einer Anzeige von Günter Grass, der damals im Nebenhaus wohnte, wieder rausgeflogen war, bot ein Architekt, dessen Herz für die Revolution schlug, den Kommunarden an, kostenlos ein Kommunehaus für sie – nach Maß quasi – zu entwerfen. Sie lehnten jedoch ab – mit der Begründung: „Wir wollen nicht wohnen – sondern politisch arbeiten.“

Was Wolf Biermann im Interview sagte, war damals nicht besonders überraschend, aber irgendwie doch in Ordnung gewesen, außerdem ließ er sich erfreulicherweise vom staatstragenden Westinterviewer nicht einschüchtern – umgekehrt: Während er immer selbstbewußter wurde, mit seinen vielen Bücherregalen im Hintergrund, wirkte der öffentlich-rechtliche Journalist zunehmend kläglicher. Schaut man sich das Interview heute noch einmal an – dann interessiert allerdings mehr das Gesagte als der Arbeitsraum. Auszüge daraus hat kürzlich der  Nautilus-Verlag in seiner Zeitschrift „Die Aktion“ (Heft 212) abgedruckt – neben einer Rede von Rudi Dutschke, in dem es um die Guerillatätigkeit von (diplomierten) Genossen geht, die in Ämter und Behörden einsickern (was man wenig später maoistisch inspiriert „Den  langen  Marsch“ nannte). Die Genossen Wolf Biermann und Rudi Dutschke sollen nun gerade in Berlin groß geehrt werden: Der eine – inzwischen Verstorbene – mit einer Straßenumbenennung auf seinen Namen und der andere mit einem für alle Zeiten kostenlosen Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wie es jedem „Ehrenbürger“ der Stadt  zusteht. Darüberhinaus hat der Betreffende  zu Lebzeiten auch noch stets freien Eintritt im Botanischen Garten und im Bodemuseum. Hier der Auszug aus dem Interview mit ihm:

„Herr Biermann, Sie haben die 10.000 Mark des Fontane-Literaturpreises 1968 an Rechtsanwalt Horst Mahler überwiesen, damit sich die Studenten vor Westberliner Gerichten besser verteidigen konnten. Was würden Sie sagen, wenn diese 10.000 Mark in die Kasse der Bader-Meinhof-Gruppe gewandert wären und inzwischen in Waffen angelegt wären? Macht Ihnen das keine Sorgen?“

„Nein!“

„Ist das alles?“

„Nein, aber Sie erwarten doch sicherlich nicht von mir, daß ich mich von der Roten Armee Fraktion distanziere? Ich will nicht in den Orden linker Hoher Priester aufgenommen werden, die der Bader-Meinhof-Gruppe ihren Segen vorenthalten. Lenin hat gesagt, daß der erste Schuß erst abgefeuert werden darf, wenn die Revolution beginnt. Die Kommunisten der Bader-Meinhof-Gruppe werfen ihr Leben in die Waagschale für die Antithese. Sie wollen nämlich beweisen, daß, wenn nicht endlich der erste Schuß fällt, die Revolution verschlafen und verfressen wird. Daß Menschen ihr Leben für eine These aufs Spiel setzen, mag für die intellektuelle Öffentlichkeit komisch klingen, aber jedenfalls hat die Gruppe wichtige Antworten auf die Frage gegeben, ob und in welchem Maße die Methoden südamerikanischer Tupamaros in Westeuropa anwendbar sind. Solche Erfahrungen macht man nicht in Wortgefechten, sondern im praktischen Kampf. Billiger kann man neues politisches Wissen nicht erwerben. Linke Sekten können jetzt gemütlich bei einer Tasse Tee darüber schwätzen, daß Lenin recht hatte und gelehrte Marxisten können nun ein halbes Leben lang darüber schreiben, daß die Bader-Meinhof-Gruppe scheitern mußte.“

2.

Brecht erfand das Genre der Mitarbeiterinnengedichte, die er den Damen widmete, die für ihn sorgten. Auch heute gibt es sie noch, die guten Mitarbeiterinnengedichte

Eine kurze Recherche in Berlin ergab neulich folgende Ausbeute. Zum Beispiel aus einem Kreuzberger Postamt:

Am Schalter 4 die Uta / Ist schon frühmorgens jut da / Doch ihr verhuschtes Äußeres … / Selten sah man Keuscheres …

Und so weiter, zwölf Postamt-Strophen lang. Auf der Frauentoilette des Ku’damm-Karrees fand sich dieses Gedicht:

Alle Albaner sind süß – wie Lakritze / Doch Hamlet ist die einsame Spitze / Ich verteidige ihn mit Maul und Klauen / Dafür geht er für mich durch Stechen und Hauen. Darunter stand: „Schwester! Hüte dich vor den Albanern, sie können tödlich sein!!“

Das Splatter-Abenteuer gleich um die Ecke wünschte sich auch eine Kerstin – im „Loretta am Wannsee“:

Schräg gegenüber schaukeln die Boote / Ich wär so gern eine Mausetote / Schwämme einfach rüber / Und träfe da den Krüger / Er läge in seiner Koje / Und wartet auf seine Heulboje / Statt dessen komme ich / Und er erschrickt fürchterlich / Die eigene MTA als Wasserleiche / Das ist nichts für Wannsee-Reiche

Umgekehrt entstand im Seglerheim am Müggelsee dieses postsozialistische Mitarbeiterinnengedicht:

Mit unseren ABM-Kräften hatten wir immer Glück / Aber mit LKZ und HZA gibt es nun kein Zurück / Es sei denn der Junge ist mal breit / Und geht über Bord – / noch vor Ablauf der Ewigkeit

Die Sache rundet sich am Ostberliner Brechtzentrum:

Die IDA-Maßnahme bewies endlich Mut / Und taute auf am Abend / Seufzte leise: das tut mal gut! / Und laut …

Der Rest ist unleserlich. Aber wahrscheinlich so zotig wie „Praktikantinnenwitze“, die inzwischen die Blondinenwitze abgelöst und den Quantensprung zum Brechtschen Mitarbeiterinnengedicht geschafft haben. Ohne dabei jedoch das dem um sich greifenden Praktikantinnenwesen zugrunde liegende Ausbeutungsverhältnis zu problematisieren: à la „Simone steht am Farbkopierer …“ oder „Kerstin, du könntest ruhig wieder Sie zu mir sagen!“ Exploitation-Cut-ups. Ein Praktikantengedicht im Werbebüro geht so:

„Superbilder machen die / Aber Sie meinen es nicht so / Grad sagte ich ihren Pixeln Tschüß / Vorn, die letzte Rose am Euphrat / wünscht mir noch ganz viele Dornen.

Der Achtzeiler eines Elektrotechnikers bezieht seine halbe Bauwagencrew mit ein:

Meine Kollegin Tatjana / Hat Erwin den breiten Brigadier / Auflaufen lassen wie noch je / Klaus und Uwe sind völlig baff / Ich verstehe als einziger / neben den Polieren: / Sie wollte allen bloß imponieren / – Weiber!

Ähnlich klingen die Kollegengedichte in den Gästebüchern, wenn zum Beispiel Pensionswirte aus dem Westen in einer Pension im Osten übernachteten:

Ein 5-Minutenei ist und bleibt nun mal weich / Ansonsten wurden wir hier durch Erfahrung reich / Manche Dienstleistung grenzte – ans Betrügen / Insgesamt ist der Weg jedoch klar – für Rügen

Recht hübsch sind auch gewerkschaftliche Mitarbeiterinnengedichte:

Der Stadtteilsekretär Kollege X / begriff von der Liebe nix / Zwar geh’n ihm die Belegschaftssorgen / alle ganz tief ans Herz / Aber als alter Stadtindianer / kennt er natürlich kein Schmerz / Alldieweil versinkt die rote Sonne / hinter dem Humboldthain / Bald schenkt ihm niemand mehr / – reinen Wein ein (außer Uschi)

Apropos: Im Kramer-Verlag erscheint die erste feministische „Uschi-Reihe“. Angeblich sollen die fünf Autorinnen darin einem „postheroischen Self-Management“ das Wort reden: Neben Sabine Vogel, die bereits mit einer kleinen Chefprosa hervortrat, sind das unter anderem Katrin Schings und die Dichterin Christiane Seiffert, die vor der Wende schon „Die schönsten Stellen aus der Dissertation meines Mannes“ veröffentlichte. Oder waren es die „schärfsten“?

„Uschi – wem die Glocken schlugen“ stand lange Zeit mit großen Buchstaben an den Yorckbrücken – gleich hinter „Keine Rinderzucht auf Regenwaldböden“. Große Mitarbeiter-Dichttalente sind auch die Obdachlosenzeitungsverkäufer. Kürzlich hört ich folgendes:

Ich habe keine Bleibe mehr / Dabei bin ich voll auf Entzug / Und mir tun sämtliche Knochen weh / Trotzdem wünsche ich Ihnen noch eine angenehme Weiterfahrt

Im strengen Sinne ist dies jedoch an keine Mitarbeiterinnen mehr adressiert. Ich selber schrieb mal einer Vorgesetzten:

Liebe Christiane, daß in der taz kein Alkohol außer Sekt erlaubt sein soll – während der Produktion, kann ich einfach nicht glauben. Johanna ebenfalls nicht. Erkundige dich bitte noch mal. Dein Hilfsredakteur

Das war zwar genaugenommen kein Gedicht, aber ich schrieb es immerhin per Hand auf Papier. Heute wird so etwas dort per E-Mail geregelt. Als einer der letzten Zettel hat sich im 5. Stock der Hinweis erhalten:

Dieser Kaktus gehört dem Vertrieb. Hände weg.

Das ganze Flob (Floristisches Objekt) dort ist ein einziges Mitarbeiterinnengedicht. Neulich verließen drei Kulturredakteure das Haus. Auf einer Abschiedsfeier hieß es später:

Harry geht nach Frankfurt zur EfEr / Jörg fängt in der Berliner FAZ-Redaktion an / Und Petra bekommt in bälde ein Kind oder gar zwei.

An sich hat das Mitarbeiterabschiedsgedicht eine lange Tradition, es entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man unter dem Druck der erstarkenden Arbeiterbewegung auch noch dem geringsten Mitarbeiter am Ende etwas mit auf den Weg geben wollte – möglichst gereimt: Schiller über alle Parteien. Mit zunehmender vertikaler Mobilität geriet dieses Genre, das zunächst gewaltig ausgeufert war, immer knapper. Zuletzt ähnelte es sich in der besonders schnellen Branche Massenmedien der beliebten Rubrik „Leute“ des Zentralorgans der IG Medien „Menschen machen Meinungen“ an. Und da sind wir nun.


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