vonHelmut Höge 08.04.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Dafür: Unterschriften sammeln, Flugblätter entwerfen bzw. verteilen & verbal intervenieren!

Das gilt für Christian Specht. Den letzten Bewegungsjournalisten der taz, der allerdings nicht selber schreibt – er läßt schreiben. Zwar hat der frühere „Holzjournalist“ inzwischen aufgerüstet: auf seinem Schreibtisch stehen zwei Telefone und ein Computer, aber ebenso wie seine frühere Journalistenausrüstung aus Holz ist auch diese ein Fake: die Geräte sind alle nicht angeschlossen. Christian kann sowieso nicht schreiben: Da „alles Geschriebene eine Sauerei ist“, wie bereits Antonin Artaud erkannte, hat er seinen schriftlichen Ausstoß auf Flugblätter und Unterschriftenlisten reduziert – und diese muß immer jemand in der taz für ihn anfertigen, Christian Specht layoutet die Texte dann nur noch – so, wie er sie haben will. Die Schere und der Pritstift, das ist also sein eigentliches mehr politisches als journalistisches Handwerkszeug. Es drängt ihn sowieso in die Landespolitik – erst kandidierte er für die PDS, nun versucht er über das Neue Forum ins Parlament zu kommen. Dazwischen – d.h. zwischen seiner Holzjournalistenkarriere und seiner politischen – war er eine zeitlang als DJ unterwegs – auf Parties und Straßenfesten: er legte Volksmusik auf und untermalte diese mit  seiner  Stimme. Aus dieser Zeit ist noch ein Ghettoblaster übrig geblieben, der ebenfalls auf seinem Schreibtisch in der taz steht. Die Ausrüstung aus seiner Holzjournalistenphase hat der Designer Stiletto in Verwahrung.
Die taz berichtete wiederholt über ihn:

1.

Christian Specht traf ich 1986 zum ersten Mal – in der U-Bahn, Linie 1, wo er mit einem Tonband nebst Mikrophon aus Massivholz einige Fahrgäste interviewte. Zum Glück nicht mich! Er war von schwerer Statur und so impertinent, daß viele der Interviewten sich arg bedrängt fühlten: augenscheinlich ein Verrückter! Aber wie harmlos?

Seit ihrer Gründung war die taz immer auch Obdach und sogar Büro für irgendeinen draußen ungewöhnlich Gemaßregelten. Mit Christian Specht kam 1987 zum ersten Mal jemand, der draußen nicht gescheitert war, sondern – im Gegenteil – immer wieder einen direkten Bezug zur „Bewegung“ herstellte: Bei jeder Demonstration, Hausbesetzung oder Massenveranstaltung war er dabei.

In den ersten Jahren meist ausgerüstet mit hölzernen, bemalten ZDF-Kameras, -Mikrophonen, -Gitarren und -Gewehren („Man kann mit einer Kamera eine ganze Stadt in Schach halten!“ Andreas Baader). Dazu besaß Christian noch „echte“ Presseausweise, die ihm taz-Kulturredakteurin Sabine Vogel regelmäßig neu ausstellte – er verlor sie immer wieder. Es kam deswegen sogar einmal zu einer kleinen Anfrage der CDU.

Auch ohne dieses alberne Polit- Echo war Christians „Holz-Journalisten“-Phase schon ziemlich genial. Und so nimmt es nicht wunder, daß der Avantgardist Stiletto ihn bald „entdeckte“ – und ein Interview mit ihm im Merveband „Berliner Design“ abdruckte sowie eine Sammlung Spechtscher Holz-Objekte anlegte, die er angeblich bald teuer verkaufen konnte. Für Christian waren diese von einem Tischler-Kollektiv hergestellten Utensilien irgendwann abgelebt, und er wechselte zu Symbolen, Fahnen und Parteien.

Der taz hielt er weiterhin die Treue, sogar einen Schreibtisch hat er dort, und immer wieder findet sich ein taz-Mitarbeiter, der seine Parolen oder Flugblätter vormalt. Auch Christians Geldsammlungen für irgendwelche Veranstaltungen beginnen meist in der taz. Denn mit der Bewegung in Kontakt zu bleiben, das kann mitunter teuer werden: Als ihn einmal die Autonomen nicht zu einer Antifa-Demo nach Plauen mitnehmen wollten, nahm er z.B. kurzerhand ein Taxi für 500 DM.

Jetzt haben zwei Filmer, Imma Harms und Thomas Winkelkotte, einen Film über ihn gedreht: „Oh Mitternacht, Oh Sonnenschein“. Harms war früher taz-Redakteurin, für Winkelkotte ist es die Abschlußarbeit an der Film- und Fernsehakademie. Die 52minütige Dokumentation wurde am Samstag vor über 200 begeisterten Zuschauern im Künstlerhaus Bethanien uraufgeführt.

Auch ich war begeistert, dennoch ist der Film erst ein Anfang in der Auseinandersetzung mit Christian Spechts politischem Engagement. Dazu gehört auch seine Vorliebe für Volksmusik – die er im Stil von Karaoke (ohne Bildschirm) eine Weile lang sogar in der taz-Kantine vortrug, bevor diese an einen ostdeutschen Bildhauer vermietet wurde. Sehr gut war dazu im Film schon mal die Spechtsche Spontan-TV- Show auf den Treppen vor dem Bethanien-Haus.

Dann sein Wirken in den Parteien des Preußischen Landtags – bei FDP, Grünen, SPD und PDS. Sie alle besucht er regelmäßig, er läßt sich mit ihren Emblemen und Mitgliedschaften ausstatten und trägt ihnen seinerseits Neues aus der Bewegung zu. Selbst die „Zivischweine“, „Zivilbullen“ im Polizeijargon genannt, kennt er fast alle – und enttarnt sie immer wieder gerne in situ, indem er sie bittet, sich auszuweisen. Manchmal fühlte er sich auch gezwungen, sie anzuschreien. Dafür wurde er aber auch von ihnen schon öfter zusammengeschlagen. Einige Polizeikontakte werden im Film mit wackeliger Kamera genüßlich mitverfolgt, die PDS wird dagegen arg vernachlässigt: Dabei ist sie die noch am meisten an Bewegungen interessierte Partei. Dafür zeigt der Film einen Aspekt von Christian Spechts Leben, den ich bisher noch gar nicht kannte: den als Sozialfall tendenziell von „Ausgrenzung“ Bedrohten. Hierzu wurden im Film neben dem taz-Empfangskollektiv ehemalige Lehrerinnen sowie die Oma des amtlich als Analphabeten Anerkannten zitiert.

Beim Betrachten des Films wird deutlich, wie wichtig Christians Arbeit an und mit den etablierten Parteien ist (bei der PDS-Fraktion weiß man das im übrigen selbst). Es ist genaugenommen eine Fortsetzung seiner holzjournalistischen Tätigkeit im Virtuellen, wie man heute gerne sagt: am „Logo“. Und sie war notwendig: In Gambia werden auf Wochenmärkten schon jede Menge Audio-High-Tech- Geräte verkauft, die aus Vollholz geschnitzt sind. In der taz verpaßt man sich gerade selbst eine „Reportage“-Schulung von einem Geo-Journalisten. Und die Politik? Es würde mich nicht wundern, wenn Herr Specht demnächst als Investor erfolgreich auftritt: das Lächeln dazu hat er.


2.

Eigentlich hat er den Holzjournalismus längst dialektisch überwunden, aber in dieser Phase lernte ich ihn kennen: Da kam so ein Irrer in die U-Bahn und interviewte alle Fahrgäste, mit Mikro und Tonband – aus Holz. Später sah ich ihn auf Demos – mit einer Fernsehkamera aus Holz. Ein Tischlerkollektiv hatte ihm diese Attrappen – nach seinen Angaben – gebaut. Der Avantgardist Stiletto schrieb darüber einen interessanten Text für das Merve- Bändchen „Geniale Dilettanten“. Er galerisierte auch die Holzjournalisten-Ausrüstung, nachdem Christian sie abgelegt hatte. Echte Journalistenausweise benötigt er jedoch weiterhin, weil er sie laufend verliert. In der taz bekam er irgendwann auch einen Schreibtisch, den er jedoch nie benutzt. Wenn er ein Flugblatt zu machen hat, dann tippt es ihm dort jemand. Er ist konsequent analphabetisch, manchmal bedauert er das, fürchte ich. Auch bei seinen Playback-Shows – „Volksmusik“ – verzichtet er auf genaue Textkenntnis: Er spielt die Platten und singt dazu über Lautsprecher. Die Musikkritik nennt das „subversiv“.

Bis auf die Bullen, mit denen er sich auf Demos ständig streitet, und die Zivis, die er immer wieder gerne enttarnt, mögen ihn eigentlich alle. Die Rathausparteien, speziell Grüne und PDS, wissen schon gar nicht mehr, was sie ohne ihn machen sollen. Wenn er sich mal drei Tage nicht bei ihnen blicken läßt, rufen sie sofort in der taz an und fragen besorgt, wo Christian steckt. Bei den Grünen hat er jetzt einen festen Job – als Diskussionspapierbote. Sie schenkten ihm außerdem ein Fahrrad und eine Bahncard. Die PDS lud ihn neulich nach Bonn ein. Die Reisegruppe bestand aus 50 Leuten. Nach den ersten Programmpunkten wollten die fünfköpfige AG Junge Genossen Treptow und ich uns abseits erholen, aber Christian hielt unser moralisches Gewissen auf Trab: „Da schlägt eine Mutter ihr Kind, los hin!“ Oder: „Dort wird gerade ein Penner von der Polizei abgeführt!“ Obwohl oder weil er friedlich der PDS-Kundgebung zur Erinnerung an die Verschleppung der Bonner Juden lauschte – „Das darf nicht sein, da müssen wir eingreifen. Die PDS guckt mal wieder weg!“ Die AG Junge Genossen Treptow und ich blieben zwar im Biergarten sitzen, aber – dank Christian – mit schlechtem Gewissen.

Ihm entgeht nicht die kleinste Ungerechtigkeit, selbst in die verwickeltsten Hierarchie-Sperenzchen der taz kann er mit schlafwandlerischer Sicherheit intervenieren. Wenn es um Moral geht, dann sind im Vergleich zu ihm selbst Kant und Camus ein Scheißdreck. Bevor die Grünen ihn anstellten, lief er ständig mit einer Sammelbüchse durch die taz-Etagen – jedesmal ging es um einen guten Zweck, d.h. um irgendwelche Opfer, denen unbedingt geholfen werden mußte. Wir gaben ihm reichlich, denn wir wußten, das Geld war vor allem für ihn selbst bestimmt.

Einmal nahmen ihn z.B. die Kreuzberger VW-Bus-Autonomen nicht mit zu einer Antifa- Demo nach Zittau, sofort sammelte er Geld – und fuhr mit einem Taxi nach Sachsen. Allein für das dumme Gesicht der Antifas, die das Taxifahren generell ablehnen, hätte ich ihm schon 500 Mark gespendet, er wollte aber nur fünf. Sogar der AG Junge Genossen Treptow, die an sich für jeden Quatsch zu haben ist, ist Christian manchmal zu „undogmatisch“ – so, wenn er sie z.B. bedrängt, geschlossen der FDP beizutreten. Ständig ist er mit Kampagnen oder Protestaktionen beschäftigt, und keiner weiß so gut wie er, wo welche Demo oder Veranstaltung stattfindet. Man will das ja meistens gar nicht so genau wissen, aber taz, Grüne und PDS leben nun mal von und auf diesem ganzen Mist (Humus). Das gilt auch für mich – als Sammler von Anekdoten (annektieren und dotieren lassen): Wenn ich Christian Specht zwei Wochen lang nicht gesehen habe, fühle ich mich vom wirklichen Leben wie abgeschnitten. Und so geht es vielen. Eigentlich traurig. Aber auf der anderen Seite spricht das natürlich für Christians Talent. Er ist ein Künstler des Sozialen, ach was: ein Young Urban Genius! Im Vergleich zu all diesen albernen Architekten, Planern, Stadtkritikern, -propagandisten, -developern: Urba-Nieten allesamt.

Wer wüßte das besser als die fassadenkritiktreibenden Grünen, die deswegen auch – wie früher das Tischlerkollektiv – seine Geburstagsparty ausrichten: „Ganz nach Christians Wünschen präsentieren wir einen bunten Abend mit Livemusik, ,gutem Futter‘ und politischer Diskussion.“ So soll es sein!

3. 

Christian Specht, der „Held vom Heinrichplatz“, (Heim und Welt), wurde erst vor wenigen Wochen auf Platz 8 der PDS-Liste gehievt. Eigentlich wollte er für die Grünen ins Rennen gehen. Diese hatten im Frühjahr seine Geburtstagsparty im Prater ausgerichtet, bei der ihm der innenpolitische Sprecher Wolfgang Wieland einen guten Listenplatz versprochen hatte. Dann versprach ihm auch noch der Kabarettist Dr. Seltsam einen Listenplatz bei der KPD/RZ.

Christian Specht hat noch immer einen Schreibtisch in der taz, sein Geld – 200 Mark im Monat – verdient er jedoch bei den Grünen: als Strategiepapier-Bote zwischen den Stadtteilbüros. Die Ökopartei stattete ihn mit Fahrrad und Bahncard aus. Auf seine PDS-Kandidatur reagierte sie jedoch giftig. Sie lud ihn zur 21-Jahr-Feier in Moabit aus, und Kreuzberg-Chefin Regina Michalik drohte ihm dazu mit Gehaltskürzung.

Mit dem im Kiez äußerst beliebten „Holzjournalisten“ Specht könnte die PDS im „Problembezirk“ gegenüber den Grünen an Boden gewinnen. Eigenwillig widerspricht der Kandidat der Forderung beider Parteien, wenn er sich in einem Flugblatt für den Erhalt des Berliner Polizeiorchesters ausspricht. Die Musiker bedankten sich bei ihm mit einem Ständchen auf seiner Geburtstagsparty.

Den Kreuzberger Wahlkampf bestritt Christian Specht vor allem mit seinen Thesen zur Behindertenpolitik. Als Analphabet, so mögen die PDS-Strategen gedacht haben, sind dabei Person und Sache identisch und seine Überzeugungskraft somit stärker. So wie die türkischen Kandidaten automatisch zu Türkenpolitik-Experten „gemacht“ werden und schwule Künstler vor allem unter den Camp-Kulturschaffenden auf Stimmenfang gehen.

Dieser PC-Rassismus ist jedoch Christian Spechts Sache gerade nicht. Mit seiner Aktionsmoral widersetzt er sich nicht nur jeder gefühlig-ethischen Appellpolitik, sein aufgrund der eigenen Aliterarität ins Äußerste gesteigerter Begriff vom „Anderen“ steht auch quer etwa zu Jacques Derridas ganz „Anderen“, das sich für den Berufsphilosophen allein in der Schrift manifestiert. Für Christian Specht löst sich demgegenüber das „Fremde“ – diesseits aller „Opfer“ (Behinderte) und „Täter“ (Polizeiorchester) – eher im Levinasschen „Gesicht“ auf: Als ein Gegenüber, bei dem es gerade nicht (mehr) um die gegenseitige Ausbalancierung von Erwartungen geht, sondern um eine grundeigentümliche Verantwortlichkeit. Levinas spricht in diesem Zusammenhang sogar – positiv – von „Geisel“. Dieser seiner – lebenslänglichen – Geiselhaft verdanken die Politaktionen von Christian Specht ihre Schwungkraft. Und er verdankt ihr seine einnehmend gute Laune.

4.

„Wir von den Medien hatten uns im Vorfeld eigentlich mehr von diesem Tag erhofft gehabt“, sagte ein Journalist zu einem Gewerkschafter – beim Auseinandergehen.

Für die ausländischen Bauarbeiter auf dem Potsdamer Platz begann der 1.-Mai-Terror bereits am Abend davor: Nachdem die Polizeitruppen alles abgesperrt hatten, durfte niemand mehr die Wohncontainer verlassen. Am nächsten Morgen ging von dort aus der IG- Bau-Demonstrationszug los. Im Gegensatz zu diesem wäre der Marsch der IG-Metaller absolut kümmerlich ausgefallen, wenn sich ihm nicht die ganzen „Schwarzköpfe“ angeschlossen hätten: die radikalen türkischen Blöcke. So akzeptierte die Berliner IG-Metall-Führung diese „Stalinisten“ denn auch diesmal wieder.

Ein IG-Metall-Ordner wies mich später noch auf einen weiteren Grund hin: „Die wirklich guten Berliner Betriebsräte waren früher fast alle kurdische Maoisten!“ Obwohl die IG Metall eine Art „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Polizei vereinbart hatte, nach der Eingriffe nur nach Absprache mit dem verantwortlichen zweiten Bevollmächtigten stattfinden sollten, griff sich ein Zivilfahnder einen Türken mit verbotenem Emblem aus dem Block des antifaschistischen marxistischen Komitees. Dies hatte zur Folge, daß nach einem Gerangel neben dem AFMK- Aktivisten noch ein kurdischer Arzt und der taz-Holzjournalist Christian Specht festgenommen wurden. Der Grünen-Sprecher Christian Ströbele erklärte sich sofort bereit, über Fax deren umgehende Freilassung zu fordern, und die IG-Metall-Ordner telefonierten ununterbrochen nach dem Ermittlungsausschuß.

Überhaupt war man wild entschlossen, an diesem Tag Solidarität zu zeigen: Auf dem Mariannenplatzfest wurde die „Multikulturalität“ geradezu Programm. Der „Stalin von Bad Schwartau“, Dr. Seltsam, bemühte sich obendrein, es so romantisch wie möglich zu moderieren. Statt des üblichen Punk-Rock-Geschrammels spielte und tanzte die Gruppe „Omayra“. Gegen Abend räumte die Polizei den Platz dennoch, dabei kam es zu Scharmützeln. Autos und Gerätschaften brannten beziehungsweise gingen zu Bruch.

Um Mitternacht stürmte die Polizei eine badensische Autonomenkneipe in der Oranienstraße. Im Anschluß an die West-Autonomendemonstration in Mitte (mit dem absprachewidrigen Emma- Goldmann-Motto „Wenn ich hier nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution“) gab es ähnliche Zusammenstöße zwischen kleineren militanten Gruppen – in der Oranienburger-Straße beispielsweise. In Prenzlauer Berg flammten sogar rudimentäre Barrikaden auf. Hierbei kam auch das Massenmedium Bauwagen wieder zum Einsatz. Einige polnische Bauarbeiter – in Kamerabegleitung – waren schwer beeindruckt davon.

An der Maoisten-Demo in Kreuzberg beeindruckte zum einen, mit wie wenig Türken man eine imposante und laute Demo hinkriegt, und zum anderen, wie blaß und grau, ja fertig, die Deutschen neben den „Schwarzköppen“ aussehen. Da half auch nicht die Parole meiner türkischen Lieblingsstalinistin „Das Proletariat hat kein Vaterland / Nie wieder Deutschland!“, mit der sie im zweiten Lautsprecherwagen ununterbrochen die Massen aufpeitschte. Neben mir gingen zwei Mädchen. Die eine sagte: „Ich hab‘ nur noch mit Türken und Arabern zu tun.“ Die andere: „Sag mir doch mal, wo du die alle kennenlernst!“

Neu war heuer, daß es auf der Autonomen-Demo neben dem sogenannten schwarzen Block noch einen rabenschwarzen gab: bestehend aus einer Gruppe aufgehübschter Grufties. Auf dem Humannplatzfest im Osten trafen sich fast ausschließlich gepiercte „Buntköppe“. Das Mariannenplatzfest organisierten diesmal alle Kreuzberger Gruppen – von SPD bis KPD/RZ – gemeinsam. Zwischen dem Gewerkschaftsfest vor dem Roten Rathaus und der PDS- Veranstaltung auf dem Alexanderplatz schlenderten die Massen hin und her, wobei eine Kartenlegerin in Mitte ein Bombengeschäft machte, indem sie den Leuten ihre Zukunft („Ist mein Arbeitsplatz sicher?“) voraussagte. Iraner, Tamilen und Äthiopier geißelten auf Flugblättern ihre Heimatregimes. Die Berliner Pfingst-Uni warb für ihren Themenschwerpunkt „Widerstand“, und die Frankfurter „Rosa-Luxemburg-Tage“ versprachen zum selben Datum „Eine Welt in Aufruhr“.

Die Gruppe „Revolutionärer Funken“ bewies indes in einem längeren Text: „Es müssen also unkonventionelle Lösungen her!“ Eine Gruppe junger Schöneberger hatte sie bereits: „Werd auch du so / wie ein Juso!“ – „Ein Tag der großen Worte“, resümierte der Spätausgabenkommentator der „Tagesschau“ den 1.Mai anschließend. Als Gehaltsempfänger sprach er sich sogleich auch noch mutig für die totale Lohnflexibilisierung aus.

Auch neu war diesmal, daß die Berliner Springer-Presse und sogar Jelzin in Moskau die Arbeiter aufforderten, ins Grüne zu fahren, um sich mal einen Tag so richtig zu erholen. Als böte der Ausflug ins Grüne noch eine Alternative zum städtischen Treiben. Eine Blitzumfrage unter einigen Berliner Demo-Spätheimkehrern ergab, daß die überwiegende Zahl gerade das urbane 1.-Mai-Angebot in diesem Jahr „super“ beziehungsweise „urst schau“ fand – die Reeskalationsstrategie des Innensenators war ihnen dabei weniger ein Problem als die – eventuell sogar zunehmende – Unfähigkeit, sich ihr kollektiv entgegenzustellen.

Schon bei der Festnahmeaktion im IG-Metall-Zug am Vormittag sei dies der „Knackpunkt“ gewesen. Und nichts hätte dies deutlicher machen können als die DGB- Sprecherin auf der anschließenden Kundgebung: „Wir fordern, daß Berlin sich als eine Stadt zu erkennen gibt, in der es sich lohnt, zu leben und zu arbeiten!“ Dies muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen…

5.

Seit 1980 schreibe ich für die taz, obwohl ich anfänglich – vor und nach dem Tunix-Kongress – dagegen war. In Frankfurt – beim Informationsdienst ID und beim Pflasterstrand – waren wir eher für „dezentrale linke Medienprojekte“. Aber die taz garantierte dann, und tut das noch, ihrer eigenen Monopolisierung (des Diskurses – wie Alfred Biolek sagen würde) entgegenzuwirken. Obwohl sie zunächst unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigte, als sie ihre von unten entstandenen lokalen „taz-Initiativen“ von oben in Berlin durch Korrespondenten ersetzte, die sie dann auch noch reduzierte.

Damals gab es dort aber auch z. B. eine Schwulen-, eine Kinder- und eine Justizredaktion, später täglich einen Bericht aus dem Lesbenzelt des Anti-AKW-Camps in Mutlangen. Aus den Bürgerkriegszentren Beirut und Managua berichteten gleich in drei Fraktionen zerstrittene Korrespondenten-Teams. Auf diese Weise setzte sich – ungeachtet aller Transformationen von Bewegung in Parteien und Unternehmungen – immer wieder das durch, was J.-F. Lyotard als „Patchwork der Minderheiten“ bezeichnete. Bis heute, da Le Monde diplomatique und neuerdings persembe beiliegen. Ich selbst war zuvor an den Beilagen „Betriebsräteinfo Ostwind“ und „Schülerzeitung Spätlese“ beteiligt gewesen. Und unsere „Russen-Beilage Neue proletarische Kunst“ scheiterte nur deswegen, weil Berlin- und Kulturredaktion die Texte des NPK-Redakteurs Wladimir Kaminer so schnell wegdruckten, dass nur noch einige wenige – schlechte – Beilagenbeiträge übrig blieben. Vorstellbar wäre darüber hinaus das IG-Medien-Sprachrohr als Beilage sowie die „Bio-Bäckerblume“.

Was bürgerliche Zeitungen das „Huckepackverfahren“ nennen, das in eine Art Mantelzeitung gipfelt, würde bei der taz im Effekt immer wieder auf ein neues Redaktionspatchwork hinauslaufen, das mit der Zentrale eigentlich nur organisatorisch verbunden wäre. Aus Frankfurt hieß es einmal: „Der Gestus Münchhausens, wie er sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einer jeden Erkenntnis, die mehr sein will als bloßer Entwurf.“

Das ist auch in etwa – wenngleich widerwillig – das Schema einer jeden taz-Rettungsaktion. Im „Rudi-Dutschke-Haus“ würde man sich über einen größeren Investor ebenso freuen. Auch eine „Investorenbeilage“ kann ich mir inzwischen gut vorstellen. Dass die ständige Professionalisierung der taz die Politisierung austrieb, ist ebenfalls nicht nur bedauerlich, weil diese „Anpassungsleistung“ der Besserwisserei entgegenwirkte. Obwohl immer noch viele Texte von Jungautoren als Empfehlungen an die Kapital-Medien abgefasst werden, können sich mittlerweile auch Altautoren über kleine kapitale Aufmerksamkeiten freuen. Allgemein werden ja mit der neuen Ökonomie Gegner und Partner identisch, aber gleichzeitig tun sich auch immer wieder neue soziale Bewegungen auf, die die Arschbacken der Homogenität auseinanderreißen – oder wie soll man sagen?

Da alle propalästinensischen taz-Redakteure inzwischen rot-grüne Politikberater geworden sind, könnte die Zeitung auch noch eine „Jüdische Umschau“ als Beilage anstreben. Ein mit Bauernhaus-Dachisolierung in der Mark gedanklich beschäftigter Mitarbeiter der taz-Geschäftsführung meinte unlängst, das Einzige, was ihn in der Zeitung noch interessiere, seien die Beilagen über „Gesundes Bauen und Wohnen“.

Für mich – ebenso wie für den Holzjournalisten und Parteienpartisan Christian Specht – sind dagegen ihre tagtäglich bevölkerten Redaktionsräume so etwas wie ein Basislager im besten Sinne.

Auch wenn ich einmal wütend pausierte.

Die politische Gleichschaltung kommt aus der Elektrotechnik, die sich zu den neuen Medien mauserte: Dabei fließt ein und derselbe Strom durch alle Glühlampen. Gegen den Wechselstrom zu schwimmen, das würde im konkreten Fall heißen, sich gänzlich von den Nachrichtenquellen abzukoppeln, die all die anderen speisen. Ökonomisch ist das vielleicht wenig sinnvoll, aber die Ununterscheidbarkeit führt ganz sicher in den Konkurs, d. h.: „Verliebe dich nicht in die Macht!“


6.

„Manchmal sagen sie Hallo“

Christian Specht über sein Verhältnis zur Polizei. Zum Geburtstag gab’s ein Ständchen

taz: Wie bewertest du den Besuch der Staatsschützer?

Christian Specht: Ich find das nicht so gut. Beim Ausweis haben die sich aber getäuscht. Ein bisschen eingeschüchtert bin ich aber.

Was machst du, wenn du das nächste Mal Polizisten triffst?

Ich hab eigentlich nichts gegen die Polizei. Aber ich finds nicht o.k, wie die manchmal vorgeht gegen die Leute auf Demos. Das ist oft nicht angemessen.

Dein Verhältnis zur Polizei ist aber besser geworden. Zum 30. Geburtstag hat sie dich zu einem Konzert des Polizeiorchesters eingeladen. Hat dir das gefallen?

Ich fand das sehr gut. Auch die Musik, die die gespielt haben. Da gab’s Evergreens, Frank Sinitra und alte Lieder wie die „Berliner Luft“. Manche hören das ja nicht so gerne, aber ich mag das.

Wann hattest du das erste Mal mit der Polizei zu tun?

Das war die Geschichte mit meiner Spielzeugpistole bei der Besetzung des Kubat-Dreiecks. Okay, das war blöd, dass ich mit der Pistole auf die Polizisten gezielt hab. Da haben sie mich das erste Mal hopsgenommen. Später wurde ich auf einer Antifa-Demo in Marzahn festgenommen. Warum, weiß ich nicht.

Welche Verfahren hattest du bisher?

Einmal hatte ich ein Verfahren wegen Beamtenbeleidigung. Das ist aber eingestellt worden. Dann hab ich einen Stinkefinger gezeigt, ist auch eingestellt.

Hattest du schon mal größeren Ärger mit der Polizei?

Eigentlich nicht. Ich bin keiner, der sagt, man muss die Polizei schlagen oder den Polizisten Steine an den Kopf schmeißen. Das sind eigentlich auch Menschen, die haben Kinder. Nicht jeder Beamte ist krass drauf. Manchmal sagen die auch „Hallo, Christian“. Und bei der NPD-Demo haben sie mich vor drei Nazis geschützt.

Was sollte die Polizei tun?

Sich mehr um Nazis kümmern, als bei Antifas Hausdurchsuchungen zu machen.

Welches ist die nächste Demo, zu der du gehen wirst?

Die Rosa-Luxemburg-Demo im Januar. Was am Wochenende los ist, weiß ich noch nicht. Wenn Demo ist, geh ich auf jeden Fall hin. Meinen Ausweis aus dem Abgeordnetenhaus nehme ich auch mit. Aber ich glaube nicht, dass ich ihn zeige. (Interview Richard Rother)

7.

Unser Lehrer Doktor Specht

Christian Specht kennt die Polizei. Meistens tritt der stadtbekannte Politikaktivist, der auf jeder linken Demo zu finden ist, den Ordnungshütern unerschrocken entgegen: mal mit einer Holzkamera, mal mit einer Spielzeugpistole bewaffnet. Gestern war es umgekehrt: Drei Beamte des polizeilichen Staatsschutzes besuchten Specht in der Neuköllner Wohnung, in der er mit seiner Oma wohnt. In der Hand hielten sie einen Durchsuchungsbeschluss. Der Vorwurf: Urkundenfälschung.

Das Urkundenunglück hatte am 14. September 2000 seinen Lauf genommen. An jenem Donnerstag war Christian Specht in der Kreuzberger Oranienstraße unterwegs, als ihm einige eifrige Schutzpolizisten auffielen. Die machten sich an einem Transparent zu schaffen, das quer über die Straße gespannt war. „Freiheit für Mumia Abu Jamal!“ stand darauf. Christian Specht solidarisierte sich – wie es seine Art ist – spontan mit dem schwarzen US-Journalisten, der von der Hinrichtung bedroht ist. „Sofort loslassen, das ist mein Transpi“, forderte der 31-Jährige. Um seiner Aussage Ausdruck zu verleihen, zückte er einen Ausweis aus dem Abgeordnenhaus.

Die Beamten nahmen daraufhin Spechts Personalien auf, schöpften aber noch keinen Verdacht. Sie ließen ihn gehen. Später aber müssen den Beamten Zweifel an der Seriosität des Ausweisträgers gekommen sein. Flugs schrieben sie eine Anzeige – wegen des Verdachts der Urkundenfälschung. Dass Christian Specht Abgeordneter des Landesparlaments sein konnte – das trauten die Beamten dem jungen Mann offenbar nicht zu. Dabei ist Specht nicht nur Mitglied fast aller demokratischen Parteien, er hat sogar schon für die PDS und die KPD/RZ kandidiert.

Doch Staatsschutz und Justiz kümmerte das nicht. Das Verfahren nahm, wie ein Justizsprecher gestern sagte, seinen „normalen Gang“. Es habe der Verdacht bestanden, dass sich Specht mittels Urkundenfälschung zu Unrecht als Abgeordneter ausgegeben habe. Dieses Offizialdelikts habe man sich annehmen müssen.

Der Staatsschutz, eine Unterabteilung des Landeskriminalamtes (LKA), übernahm die Ermittlungen, erwirkte schließlich einen Durchsuchungsbeschluss beim Amtsgericht. Diesen wollten die Beamten am Donnerstagnachmittag das erste Mal vollstrecken. Allerdings war Christian Specht – wie konnte es anders sein – in der Stadt unterwegs. Möglicherweise hielt er sich gerade in der taz auf, wo er im dritten Stock einen Schreibtisch nebst Telefon hat. Für Oma Specht war deshalb klar: „Kommen Sie morgen Früh wieder.“

Gesagt, getan. Eine Durchsuchung der Neuköllner Wohnung war gestern jedoch nicht nötig. Christian Specht rückte den Ausweis des Abgeordnetenhauses – Nummer 0029 – freiwillig heraus, und die LKA-Beamten zogen zufrieden ab. Wenige Stunden später tauchten sie wieder auf – diesmal im Abgeordnetenhaus. Specht war im Büro des PDS-Abgeordneten Steffen Zillich. Der Grund des schnellen Besuches: Die LKA-Spezialisten hatten herausbekommen, dass Spechts Ausweis echt ist, und wollten ihn zurückbringen.

Specht benötigt den Ausweis für seine tägliche Arbeit: Er verrichtet Botengänge für die PDS-Fraktion. Der Ausweis berechtigt ihn beispielsweise – wie andere Mitarbeiter der Fraktion auch – zu bevorzugtem Zutritt zu den Plenarsitzungen. Mit dem Ausweis können die Fraktionsmitarbeiter auch in das Hohe Haus, wenn eine erhöhte Sicherheitsstufe gilt – etwa wegen eines Staatsbesuches.

Fazit: Nach mehr als zwei Monaten intensiver Ermittlungstätigkeit sind die Staatsschützer dank ihres Lehrers Christian Specht nun schlauer: Ein Abgeordnetenausweis ist etwas anderes als ein Mitarbeiterausweis. Der PDS-Mann Steffen Zillich: „Das hätten die mit einem Anruf beim Pförtner rauskriegen können.“ Fürs nächste Mal hier die Einwahlnummer des Landesparlaments: 23 25-0. (Richard Rother)

 8.

Kenner der Politik

Christian Specht hat Gespür. Auch wenn er infolge eines Geburtsfehlers weder Lesen noch Schreiben kann, kennt der 31-Jährige die Berliner Politiker wie kaum ein anderer. Zum 30. Geburtstag schenkte ihm Gesundheitsministerin Andrea Fischer ein Ständchen, kurz darauf wechselte er zur PDS, für die er als Deputierter in Kreuzberg arbeitet. Doch auch auf die demokratischen Sozialisten ist Specht nicht immer gut zu sprechen. Eigentlich hatte ihm die PDS nämlich einen sicheren Listenplatz für die BVV versprochen.

Specht, in den achtziger Jahren noch ganz auf Seite der Autonomen, hat inzwischen auch ein entspanntes Verhältnis zur Polizei, zumindest zu jenen 95 Prozent der Beamten, die ihn kennen. Zu seinem Dreißigsten bekam der leidenschaftliche Anhänger deutschleitkultureller Volksmusik sogar eine Einladung des Polizeiorchesters.

9.

Wir nehmen Christian Specht ernst -betr.: „PDS verarscht Christian Specht“, taz vom 9. 6. 99

Christian Specht hat sich bei der Kreuzberger PDS beworben und ist aufgestellt worden, weil wir ihn für einen guten Kandidaten halten, der sich mit seinen Kenntnissen, seiner spezifischen Sicht engagiert für den Einzug der PDS in die BVV einsetzen wird. Er ist ein Kandidat neben elf weiteren (…), und er ist ein besonderer Kandidat. Die Kreuzberger PDS hat ihn nominiert, weil er mit seinen politischen Ansichten ein typischer Vertreter des links-grün-alternativen Milieus ist, in dem sich auch die PDS im Westen bewegt. Christian Specht kennt die Kreuzberger Szene, er ist hier politisch engagiert und hat schon öfter mit uns politische Aktionen durchgeführt. Es entsprach seinem eigenen Wunsch, hier nominiert zu werden, nachdem er bei der KPD/RZ entgegen deren Versprechen abgeblitzt war und von mehreren Grünen die Auskunft erhalten hatte, daß sie ihn nicht aufstellen würden.

Wir bedauern außerordentlich, daß offenkundig auch die taz es nicht für nötig hält, mit Christian Specht selber über seine Nominierung zu sprechen und ihn selber zu Wort kommen zu lassen. Halina Wawzyniak und Claudia Gohde, Mitglieder des Bezirksvorstandes Kreuzberg

10.

PDS verarscht Christian Specht

Das waren noch Zeiten, als PDS und Grüne 1995 die Bürgermeisterkandidatur des stadtbekannten Politikaktivisten Christian Specht unterstützten. Mittlerweile versucht die PDS, sich auf Kosten des sensiblen 30jährigen, der trotz seiner Behinderung ein großes Politikgespür hat, zu profilieren.

Mit den Worten „Im Gegensatz zu den Grünen halten wir unser Wort“, kommentierte der stellvertretende Landesvorsitzende der Berliner PDS, Udo Wolf, die Nominierung von Specht auf Platz 8 der Kreuzberger BVV-Liste der PDS. „Christian wurde von uns nie ein Listenplatz versprochen“, setzen sich die Grünen zu Recht zur Wehr. Der einzig versprochene Listenplatz war einer für die Kreuzberger Spaßguerilla KPD/RZ, der sich jedoch als schlechter Geburtstagsscherz herausstellte. „Wir würden Christian auch nie aufstellen“, ergänzt Andreas Schulze, Sprecher des grünen Landesverbandes. „Wir verarschen ihn nicht.“

Die PDS jedoch zeigt weniger Feingespür. Der Pressesprecher des Landesverbandes, Axel Hildebrandt, räumt zwar ein, daß der 8. Platz nicht besonders aussichtsreich ist. Doch er legt Wert darauf, daß die Nominierung Christians „ausdrücklicher Wunsch“ gewesen sei. Jeder, der Christian kennt, weiß, wie ernst er eine solche Nominierung nimmt, auch wenn sie nur zum Scheitern verurteilt sein kann. Da ist Hildebrandts Vorwurf, er hätte von den Grünen „mehr Lockerheit“ erwartet, geradezu zynisch. Denn die Grünen sind locker genug, Christian weiter als Botengänger zu beschäftigen. (Barbara  Bollwahn de Paez Casanova)

11.

Das ist eine von diesen Geschichten, wie sie nur das Leben in Kreuzberg schreibt: Da schenkt der stadtbekannte Kabarettist Dr. Seltsam dem stadtbekannten Politaktivisten Christian Specht zu dessen 30. Geburtstag einen Listenplatz der Spaßguerilla „Kreuzberger Patriotische Demokraten/Realistisches Zentrum“ (KPD/RZ) für die Bezirkswahl am 10. Oktober. Christian Specht ist hocherfreut und stellt, ganz Politiker, eine Bedingung: „Ich trete für die KPD/RZ nur unter der Bedingung an, daß die ihre Kandidatur auch ernst nehmen und nicht nach der Wahl sagen, daß sie doch nicht in die BVV gehen.“

Wie recht Christian Specht mit seinem Argwohn hatte, zeigt sich jetzt, zwei Monate nach seiner Geburtstagsfeier am 9. Januar im Prater. Vor wenigen Tagen mußte er erfahren, daß das Geschenk des seltsamen Gratulanten ein Schnellschuß war, der bei der Party entstanden war, auf der Gesundheitsministerin Andrea Fischer Saxophon spielte und Berliner Grüne Ballett tanzten. „Ich war bei dem Geburtstag angewidert, daß ihn die Grünen so maskottchenmäßig behandeln“, rechtfertigt sich Dr. Seltsam alias Wolfgang Kröske für sein Geschenk, das nun keines mehr sein soll. „Das ist schiefgelaufen“, gesteht er, „ich habe ein schlechtes Gewissen, daß ich Christian was Schlechtes antun mußte.“

Der Grund: Der seit dem 1. April vergangenen Jahres verschwundene Dieter Kunzelmann soll der Spitzenkandidat der KPD/RZ sein, die bei den Kommunalwahlen 1995 mit 4,9 Prozent in Kreuzberg knapp scheiterte. „Man muß sich überlegen, für wen man Propaganda macht“, so Dr. Seltsam weiter. Außerdem sei man bei der KPD/RZ, die offiziell 80 Mitglieder hat, aber in Wahrheit eher die Größe einer Wohngemeinschaft umfaßt, „nicht so richtig erbaut“ über Spechts Listenplatz gewesen. Christian sei zudem kein Kreuzberger und vielleicht gar nicht geschäftsfähig, redet sich Dr. Seltsam weiter heraus. Ob der Gründer der Kommune 1, Ex-Maoist und ehemalige AL-Abgeordnete Kunzelmann als gebürtiger Franke mehr Kreuzberger als der Neuköllner Christian Specht ist und ob es um dessen Geschäftsfähigkeit so viel besser bestellt ist, sei dahingestellt.

Fest steht, daß mit dem scheintoten Kunzelmann, dessen Wiederauftauchen mehrere Male angekündigt wurde, ein bunterer Wahlkampf zu machen ist. Und: Dr. Seltsam sagt, daß Kunzelmann sagt, daß er nur als Bürgermeister nach Berlin zurückkommt, weil er hoffe, daß er als Inhaber dieses Amtes die Haftstrafe nicht antreten muß, die ihm wegen Eierwürfen auf den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen droht.

Christian Specht indes, der nun erwägt, für die PDS in Neukölln zu kandidieren, ist enttäuscht. „Ich möchte dagegen protestieren, daß mit meinen ernsthaften Absichten, in Kreuzberg gemeinsam mit Bündnis 90/ Die Grünen, PDS, SPD und KPD/RZ Politik zu machen, so fahrlässig verfahren wird“, schrieb er in einer Pressemitteilung mit KPD/RZ-Briefkopf. Und Dr. Seltsam, der den Grünen Maskottchenhalterei vorwirft, bedient sich nun eben jener Partei, um Christian abzuschieben: „Seine politische Heimat ist bei den Grünen“, sagt er. „Ich wünsche ihm alles Gute, und es tut mir leid, daß ich so vorschnell war.“ (Barbara Bollwahn de Paez Casanova)

12.

Alle reden davon, Berlin soll sauberer werden. Die taz quatscht nicht lange rum. Die taz geht mit gutem Beispiel voran. Während CDU-Innensenator Jörg „Meister Proper“ Schönbohm und SPD-Justizsenatorin Lore Maria Peschel- Gutzeit (LPG) am grünen Tisch darüber lamentieren, daß „unsere Stadt verlottert und verwahrlost“, ist taz-Saubermann Christian schon längst unterwegs.

Mit seinem Hanfbesen (natürlich aus ökologischem Anbau) arbeitet er sich vom Rudi-Dutschke- Haus in der Kochstraße langsam durch die Hundehaufen zum Springer-Hochhaus voran, wo Lore Maria im Kampf gegen Müll und Dreck am sauberen BZ-Telefon Vorschläge sammelt.

„Wir können nicht jeden Arbeitslosen einfach zum Putzdienst verdonnern“, erklärt sie einer dreißigjährigen Hausfrau aus Neukölln. „Der Staat allein schafft es auch einfach nicht mehr, die Stadt sauberzuhalten. Da muß jeder freiwillig mitmachen.“ Gut gesprochen, Lore!

Wirtschaftsstaatssekretär Dieter Ernst sabbelt zwar vom „Sechs- Punkte-Pakt“ für ein sauberes Berlin mit den „Kernpunkten“ der Hundekotbeseitigung und Mehrfachreinigung von besonderen Schmutzecken wie Ku’damm und Alexanderplatz, dem Einsatz sogenannter Sauberkeitsposten und einer „schnellen Eingreiftruppe“ gegen Graffiti. Die Arbeit aber will er der Stadtreinigung überlassen. Typisch, nichts begriffen, der Mann. Setzen, sechs!

Unser tapferer Christian Specht dagegen watet knöcheltief durch die braungelben Tretminen. Hart gegen sich selbst, würgt er die aufsteigende Übelkeit hinunter: Das ist uns die Hauptstadt wert. Gehen auch Sie mit gutem Beispiel voran, werte Frau Peschel-Gutzeit und Herr Schönbohm! Krempeln Sie die Ärmel hoch, und reihen Sie sich in die taz-Besenbrigade ein! Berlin wird es Ihnen danken.  (Plutonia Plarré)

13.

Die Selbstdemontage bei der FDP geht unaufhaltsam weiter. Denn Christian Specht, stadtbekannter Demonstrant und geliebt- gehaßter Querulant, erhielt gestern ein Schreiben vom Ortsverband Marienfelde-Lichtenrade, in dem er aufgefordert wird, seinen Austritt aus der FDP bis zum Monatsende zu erklären. Der Vorsitzende des Ortsverbandes, Hans Pravda, wirft ihm vor, auch bei der SPD, der PDS und den Bündnisgrünen Mitglied zu sein. Als „Quelle“ wird ein taz-Artikel vom November vergangenen Jahres zitiert, in dem Specht erklärt, als Mitglied dieser vier Parteien sowie deren jeweiligen Jugendorganisationen „der ideale Gesamtberliner Kandidat“ für die Wahl des Regierenden Bürgermeisters“ zu sein.

Pravda zitiert in seinem Schreiben Paragraph 3 der Landessatzung, die eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der FDP und bei anderen Parteien ausschließt. „Sollten Sie also Mitglied einer anderen politischen Partei sein“, schreibt Pravda, „bittet Sie der Vorstand des Ortsverbandes, Ihren Austritt aus der FDP formlos schriftlich bis zum 31. Juli 1996 zu erklären.“ Kleiner Lacher am Rande ist ein Tippfehler bei dem Wort Mitgliedschaft. Durch ein fehlendes c wurde daraus „Mitgliedshaft“.

Als Christian Specht das Schreiben gestern erhielt, konnte er erst gar nichts damit anfangen. Denn die Alphabetkenntnisse des 27jährigen beschränken sich auf Buchstabenaneinanderreihungen wie PDS, FDP, SPD und CDU. Daß sich das auch bis zur FDP herumgesprochen hat, davon ist Christian ausgegangen, als er im Sommer letzten Jahres die FDP-Geschäftsstelle aufsuchte und mündlich darum bat, aus dem Computer gestrichen zu werden. „Das ist zu uns nicht vorgedrungen“, hieß es gestern aus der Geschäftsstelle.

Gestern nachmittag dann erreichte die Mitgliederzahl bei den Liberalen einen vorläufigen Tiefpunkt. Christian Specht ging aus Angst vor einem Ausschlußverfahren zur Geschäftsstelle und setzte seine Unterschrift unter das Austrittsformular. Jetzt ist er nur noch bei den Jusos, und die FDP zählt noch ganze 2.879 Mitglieder in Berlin. (Barbara Bollwahn)

14.

Christian Specht ist Mitarbeiter der taz und nutzt seinen Schreibtisch dort nicht selten. Aber er arbeitet nebenher außerdem noch freischaffend bei der PDS, bei der FDP, bei der SPD und bei Bündnis 90/Die Grünen. Weil er als Linker zudem gern bei den Autonomen mitmacht und auf fast allen Demos dabei ist, kennen ihn unglaublich viele Berliner.

Vielleicht haben seine genialen Playback-Volksmusik-Shows im Offenen Kanal auch für Starruhm in anonymen Fernsehzuschauerkreisen gesorgt, man weiß es nicht. Aber solche Fragen zu beantworten ist wohl auch nicht das wichtigste Anliegen des Dokumentarfilms „Oh Mitternacht, oh Sonnenschein“ von Imma Harms und Thomas Winkelkotte. Die beiden Filmemacher sind dem Künstler und Aktionspolitologen Christian Specht im vergangenen Sommer mit der Kamera in alle möglichen Büros und Amtsstuben gefolgt, haben ihn auf Demos begleitet und zu Hause bei seiner Oma in Neukölln besucht. Dabei ist ein unterhaltsames und leichtfüßiges Portrait entstanden, das eher nebenbei über Christian Spechts Behinderung erzählt.

Weil er weder lesen noch schreiben kann, gestaltet sich sein Alltag zuweilen kompliziert. Das beginnt mit einer Auflage des Sozialamtes, wonach dem 27jährigen Christian das U-Bahnfahren nur in Begleitung erlaubt wird, und endet bei bitteren Erfahrungen, die er mit vermeintlichen Genossen macht. Diese wollen ihn zum Beispiel nicht im Bus zu Demos außerhalb Berlins mitfahren lassen. In einer Szene des Films erzählt er, wie er sich gegen solche Ausgrenzungsversuche zur Wehr setzt: Er nahm sich für 500 Mark ein Taxi und fuhr allein zur Demo, um den anderen zu zeigen, daß er auf ihre Hilfe nicht angewiesen ist. Trotzdem haben sie ihn auch auf der Rückfahrt nicht mitgenommen.

Aber die Leute, mit denen Christian fast täglich zu tun hat, sind nicht nur komische oder gemeine Typen: Ähnlich wie die beiden Filmemacher gehören Christians ehemalige Lehrerin, das Empfangskomitee der taz und diverse Schreiner zu einem Netzwerk von Leuten, die Christian bei seinen Aktionen unterstützen.

Und warum sie für Christian Holzkameras basteln oder Transparente malen, weiß man spätestens am Ende des Films. In der Art, wie Christian Mikrophonkabel schwenkt, wie er singt oder auch Zivilbullen auf Demos enttarnt, bietet er vorbildlich subversive Unterhaltung mit einem absolut sicheren Gespür, seinerseits immer im Dienste der richtigen Sache tätig zu sein.

Der leider nur 52 Minuten lange Film ist ein Muß für seine Freunde und eine Entdeckung für die, die Christian Specht noch nicht kennen.  (Dorothee Wenner)

15.

Die Grünen sind noch immer für einen Spaß zu haben. Deshalb ließ sich Fraktionschef Wieland dazu hinreißen, einem 26jährigen Witzbold seine Unterstützung zuzusagen, falls dieser gegen den Regierenden Bürgermeister antritt. Der stadtbekannte Christian Specht stellte sich dann auch prompt am vergangenen Wochenende auf einem kleinen Parteitag vor.

Eigentlich müßten CDU und PDS die Stadt regieren, sagte er den grünen Delegierten. Weil dies aber unmöglich sei, will er Regierender werden. Die PDS unterstütze ihn. Großes Gelächter. Die ehemalige Schulsenatorin Volkholz mache er zu seiner Beraterin, die kann nämlich, im Gegensatz zu ihm, lesen. Am Ende seiner siebenminütigen Rede verabschiedete er sich mit den Worten: „Der Bürgermeister steht vor euch.“

Der Jubel im Publikum war so groß, daß noch heute alle von ihm begeistert sind. Der habe die beste Rede gehalten, sagt Renate Künast, die Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses werden will. Warum nur setzte sich für Specht niemand ein? Die Delegierten entschieden sogar, erst gar keinen Kandidaten gegen Diepgen aufzustellen.

Volkholz ist die Entscheidung bis heute unerklärlich. Sie hatte sich vom künftigen Regierungschef zusichern lassen, die Senatsverwaltungen für Inneres, Finanzen, Schule, Berufsbildung, Forschung sowie Wissenschaft zu bekommen. Die Ex- Senatorin wollte nach Belieben die Stellenzahl in Schulen erhöhen oder nach Lust und Laune die Staatsknete zum Unifenster hinauswerfen.

Specht will Diepgen zum Jugendsenator ernennen – wenn jener brav den Indianerschmuck trägt, der ihn auf Wahlplakaten zierte. Von dieser Idee war selbst SPD-Fraktionssprecher Stadtmüller begeistert. Der wiederum glaubt auch den Grund für die grüne Entscheidung gegen einen Bürgermeisterkandidaten zu kennen, bei dessen Vorstellungsrede CDUler toben und danach die Boulevardpresse wie in besten Hausbesetzertagen „Grünes Chaos im Parlament“ titeln würde. „Die sind feige.“

Die Angst vor mißliebigen Schlagzeilen weist Wieland mit einem breiten Grinsen von sich. Dann zückt er doch die Medienkeule: Bislang interessiere sich nur die taz für das Thema, der SFB etwa habe Specht noch immer nicht zu seiner Kandidatur interviewt. Die Berliner müßten ihn wollen – wenigstens die unabhängigen Intellektuellen.

Also, Akademiker, unterstützt Christian Specht! Grünes Fraktionstelefon: 2352-2450.

(Dirk Wildt)

16.

 Volksmusik ist gut!

Das »Superfestival der Volksmusik« am Sonntag in der Waldbühne

Die ganze Show war sehr toll. »Marianne und Michael« waren sehr gut. Die haben ihr neues Lied gesungen. Die Gruppe, die »Herzilein« singt, war sehr gut und auch Patrick Lindner vom »Musikantenstadl«. Ältere und junge Menschen waren sehr fröhlich. Die waren alle gut drauf. Die ganze Waldbühne hat mitgesungen und geschunkelt. Auch der Dieter Heckelmann war da. Den haben die Leute begrüßt, das war auch sehr toll. Manche haben aber auch »Pfui« gerufen.

Nur die Ordner waren schlecht drauf. Die haben die Leute, die sich auf die Treppen hinsetzen wollten, runtergejagt. Patrick Lindner zum Beispiel vom Musikantenstadl. Das ging dann bis sechs Uhr. Die haben dann noch die nächste Volksmusik- Show im ZDF angekündigt. Die meisten Zuschauer wollen nochmal nach Berlin kommen: zur Funkausstellung.

Enttäuscht bin ich über meine autonomen Kollegen. Die waren nicht da. Die mögen sowas nicht. Wenn ich mich auch in der Hauptstadtfrage für die einsetzen tu‘, sollen die gefälligst auch auf meine Richtung zugehen. Und sollen auch mal zur Volksmusik kommen. Da lernen die mal was Neues.

Volkmusik ist gut, aber die finden Volksmusik nicht so gut. Die singen auch zuwenig.

Christian Specht: Wie hat es Ihnen gefallen?

Ältere Frau: Sehr gut, die Thüringer fand ich am besten. Die hatten Schwung. Das waren unsere heimatlichen Lieder.

Was fanden Sie daran so gut, an der Volksmusik?

Älterer Herr: Etwas Volkstümlicheres kann es eben nicht mehr geben als die Volksmusik. Wir brauchen als ältere Menschen etwas, das zu Herzen geht, wie Michael immer sagt. Wenn ich morgens das Radio anschalte und höre nur Englisches, dann bin ich bedient. Deshalb bin ich ein Fan von Volksmusik. Ich will Ihnen mal etwas sagen: Wir haben in Berlin vier Sender: SFB 1, SFB 2, SFB 3, SFB 4. Und wenn ich die anschalte. Was höre ich? Neunzig Prozent englische Musik.

Und wie finden Sie den »Musikantenstadl«?

Mit Ernst Moik. Das ist sehr sehr gut. Das sind Titel, die zu Herzen gehen. Ich meine für die reifere Jugend. Unsere Kinder und Kindeskinder, die schwärmen wieder für etwas anderes. Das sind Generationsprobleme, die man so mit sich herumschleppt.

Berliner: Wunderbar. Original 100,6 Sender. Immer original. Alles, was Schamoni macht: Einwandfrei! Dann wünsch ich noch ’n schönen Tag. O-Ton-Bericht:

(Christian Specht/Detlef Kuhlbrodt)

17.

„Dafür bin ich der Beste“

Christian Specht, der mit Holzkamera- und Mikrofon zu Berühmtheit gelangte, ist mehrmals wöchentlich zu Besuch in der taz und deshalb in allen Abteilungen beliebt und berüchtigt. Mal kommentiert er lautstark die realpolitisch versumpfte Redaktionskonferenz, mal verlangt er kurz vor Redaktionsschluß im größten Arbeitsstreß Schere, Filzer, Schere und Papier um damit einen seiner diversen »Presseausweise« (taz, Radio 100, ZDF…) zu basteln oder eine neue Sammelbüchse für seine Spendenaktionen; mal verschreckt er taz- Neulinge mit seiner gnadenlosen Knuddelbereitschaft. Christian, herzensguter Brocken und Nervensäge zugleich, hat heute Geburtstag. Anläßlich dieses Ehrentages gab er der taz folgendes Interview.

taz: Früher hattest du die Holzkamera und deine Ausweise, jetzt sieht man dich immer mit Sammelbüchsen. Für wen sammelst du?

Christian Specht: Ich habe für Radio 100 und die besetzten Häuser gesammelt.

Wieviel ist das so im Schnitt?

Manchmal sind Hundert Mark zusammengekommen, manchmal auch nur dreißig.

Aber jetzt willst du das Sammeln lassen.

Ja, ich werde mich demnächst als Bürgermeister vorstellen. Berlin braucht jetzt sehr dringend einen neuen Bürgermeister. Die Obdachlosen, die brauchen doch auch eine Wohnung, nicht bloß die Russen. Soviele Häuser stehen leer. Ich habe mir da ein Konzept überlegt: Man fängt einfach mit einem leerstehenden Haus an, in das Obdachlose einziehen. Das Haus wird dann renoviert. Aber zügig. Dann kommt das nächste Haus dran. Es wird sofort verhandelt werden, nicht wie bei Eberhard Diepgen, der gleich die Häuser räumt. Dafür bin ich der beste Mann. Diepgen hat keine Ahnung. Und bei Momper hat die Mainzer Straße das gleiche gezeigt. Er hat gesagt, die Besetzer sind alle Gewalttäter. Das war natürlich nicht so. Auch die Polizei war gewalttätig. Die haben auch mit angefangen.

Du bist ja auf fast allen linken Demos – wie kriegst du raus, wo was los ist?

Übers Radio. Ich habe auch Informanten, deren Namen ich aber nicht nennen kann.

Du bist ja mehrmals wöchentlich bei uns. Wen besuchst du noch?

Bei euch, bei Radio 100, bei der AL in der Badenschen Straße oder im Rathaus. Bei SPD-Sitzungen laufe ich hinter Momper her um ihm zu sagen, ich bin der Chef.

Was würdest du als Bürgermeister noch anders machen?

Mehr Grünflächen, da haben wir zuwenig davon. Die Busspuren müssen bleiben. Und keine Unterdrückung von Ausländern. Ausländer haben das gleiche Recht, hier zu leben, wie Deutsche.

Was machst du noch außer deiner Bewerbung als Bürgermeister?

Ich suche schon jahrelang Arbeit, aber ich komme an keine heran. Ich habe zwar mal in einer Behindertenwerkstätte gearbeitet, aber das war Ausbeutung, zuwenig Geld. Wenn man zu spät kam, wurde noch was abgezogen.

Wie siehst du deine Chancen?

Wenn die Berliner mich wollen, werde ich gewählt. Ich bin gerne bereit, mit den Berlinern zu reden. Mit denen, die Kummer haben. (Hans-Hermann Kotte)






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kommentare

  • P.S.:

    Zur Zeit ist Christian Specht damit beschäftigt, sich für die Wahl als Abgeordneter des Neuen Forums zu präparieren. Zu diesem Zweck hat er sich mit dem Parteiprogramm, das angeblich nicht besonders lang sein soll, beschäftigt und daraus die Forderung nach „Abschaffung aller Geheimdienste“ übernommen, die er zu seinem Wahlslogan auserkoren hat, dergestalt dass er sie in allen Formen und Farben hat setzen und ausdrucken lassen, zusammen mit dem Neues-Forum-Logo, das aussieht wie ein Regenbogen und vielleicht auch einer ist. Beides layoutet und klebt er nun zusammen – zu einer Vorlage für Flugblätter.
    Die Abschaffung aller Geheimdienste ist an sich keine schlechte Forderung – aber ob er damit durchkommt? Ich hätte mir irgendwas Realistischeres ausgesucht: z.B. die Abschaffung des Rauchverbots auf unüberdachten Bahnsteigen von selten befahrenen Nebenstrecken.

  • Ergänzung zu 1:

    Christian Specht verliert nicht nur oft und gerne Presseausweise, sondern auch Handys. Eine zeitlang bekam man bei jeder Pressekonferenz anläßlich der Einweihung eines neuen Büro- oder Dienstleistungskomplexes als „In-Kontakt-Bleibe-Geschenk“ von den Investoren ein Handy geschenkt. Diese bot ich hernach jedesmal der taz-berlinredaktion an – für ihre rasenden Cityreporter, aber Ressortleiter Nowakowski winkte jedesmal entsetzt ab:“Dann telefonieren die ja noch mehr. Und außerdem kommen wir mit unserem Ressortbudget so schon nicht hin.Das geht doch alles auf unsere Kosten…“ Schließlich schenkte ich die Scheißdinger Christian Specht – zur Komplettierung seiner Journalisten-Fakeausrüstung, denn ich wollte sie auch nicht haben, kurz zuvor hatte ich mich bereits von meinem Festnetz-Anschluß getrennt: „Mit Telefonieren erreicht man überhaupt nichts!“ um den querulatorischen „Ritter von Spandau“ hier zu zitieren. Christian Specht telefonierte natürlich auch nicht, er hatte auch gar keine Nummern, ich weiß gar nicht, ob ihn Zahlen überhaupt interessieren, auf jeden Fall hantierte er jedoch sehr professionell mit diesen albernen „Mobiles“, aber irgendwann verlor er sie eben. Gut, dass ich dann schon das nächste „In-Kontakt-Bleibe-Handy“ von irgendeinem Schweineinvestor im Schreibtisch liegen hatte.

    Nachdem ich neulich Die „Heimat“-Filme von Edgar Reitz gesehen hatte, klebte ich ihm an seine beiden Fake-Festnetz-Telefone auf seinem Schreibtisch den Spruch „Fasse Dich kurz. Das Telefon gehört der Revolution!“ Dieser Spruch stand groß an der Wand neben dem Telefon der Berliner Kommune, die in der 13. Folge der Staffel „Zweite Heimat“ die Berliner Kommune 1 darstellen sollte.

    Siehe dazu auch die ausführlichere blog-eintragung vom 21.7.06 „Das kriegerische Instrument“ – so nannte Leo Trotzki einst das Telefon – vor der Revolution, das er und die seinen dann in und nach der Revolution so virtuos zu handhaben verstanden, dass schon der Reaktionär Iwan Bunin ganz erschüttert davon war – 1917 in Petersburg. Lenin war dann übrigens der erste, der einen Oberbefehlshaber an der Front telefonisch amtsenthob – Dushkonin oder so ähnlich hieß der Unglückliche, der erst mal umständlich klären lassen wollte, ob der Anrufer, Lenin, überhaupt der war, für den er sich ausgab und wenn ja, ob er in sich bereits in einer Position befand, irgendjemandem an der Front seines Amtes zu entheben. Das war noch in der Zeit der unklaren oder doppelten und dreifachen Herrschaft. Das Gespräch ist in einem der braunen Lenin-Bände abgedruckt. Der Kulturwissenschaftler Dr. Peter Berz hat es mit einem kleinen gelben Selbstklebezettel zwischen den Seiten markiert, man kann es dort also leicht finden, wenn man es denn genauer wissen will.

  • Lieber Herr Höge

    Da ich Sie auf anderem Wege nicht erreichen konnte, sie mir aber aufgrund ihrer Kommentare in guter Erinnerung sind, möchte ich Sie auf diesem Wege zu meiner Veranstaltung zum

    Blutmai 1929

    in der Stadtbibliothek Neukölln einladen. Ich hoffe es ist kurios genug für Ihre Ansprüche.

    Hier der werbende Text:

    Mehr unter

    http://www.bloxic.de/?w=esperanto

    Es gibt viele Gründe, sich im Vorfeld des 1. Mai sich mit diesem Event
    zu befassen.

    Lesung Stadtbibliothek Neukölln

    Lesung in der Stadtbibliothek Neukölln (Helene-Nathan-Bibliothek) zum
    „Tag des Buches“

    in den Neukölln Arcaden, Karl-Marx-Str. 66, 12043 Berlin
    Eingang Post: Karl-Marx-Str., Fahrstuhl bis Parkdeck 4

    Mittwoch 23.04.08 / 18.00 Uhr

    Auszüge aus dem Roman „Metropoliteno“ des russischen Autors Wladimir
    Warankin, in dem eine längere Passage die Vörgänge in Neukölln am 1. Mai
    1929 (Blutmai) behandelt. Orginalsprache Esperanto mit Übersetzung,
    Informationen zu den politischen Hintergründen und zu Esperanto in Neukölln.

    Eintritt frei

    Als „Blutmai“ ist der 1. Mai 1929 in die Geschichte eingegangen.
    Neukölln war neben Wedding einer der Brennpunkte der Außeinandersetzung
    zwischen Demonstranten und Polizei. Insbesondere in der Gegend südlich
    vom Hermannplatz bis zur Leinestraße entstanden spektakuläre Bilder von
    hastig errichteten Barrikaden und es dauerte drei Tage bis „Ruhe und
    Ordnung“ wieder hergestellt waren.

    Am historischen Ort, inmitten der damaligen „Unruhezone“ liegt die
    Stadtbibliothek Neukölln (Helene-Nathan-Bibliothek) in der am Mittwoch,
    den 23. April 2007 ein kaum bekanntes Werk vorgestellt wird, im dem die
    Vorgänge des Jahres 1929 literarisch verarbeitet worden sind.

    Der russische Schriftsteller Wladimir Warankin war bereits 1928 einige
    Wochen in Berlin und viele seiner Eindrücke von der Stadt und den
    Menschen sind in seinem Roman „Metropoliteno“ eingeflossen. Dieser Roman
    wurde im Orginal in der internationalen Sprache Esperanto verfaßt und
    war ursprünglich für internationalen Publikum gedacht, daß der
    kommunistischen Bewegung nahestand.

    Doch das Projekt stand unter keinem guten Stern. Als das Manuskript 1933
    fertig war, mußte der Berliner Verlag EKRELO – auf proletarische und
    revolutionäre Literatur in Esperanto spezialisiert – wegen der
    Machtergreifung Hitlers nach Amsterdam fliehen und verlor in Deutschland
    seinen wichtigsten Markt.

    In der Sowjetunion, wo Warankin anfangs noch in staatlichem Auftrag den
    Esperanto-Unterricht organisiert hatte, kam es zu Repressionen. Er
    selbst wurde 1938 verhaftet und wegen angeblicher Spionage verurteilt.
    Erst 1989 wurde bekannt, daß am Tag nach seiner Verurteilung am 3.
    Okotober hingerichtet worden ist.

    Sein Roman „Metropoliteno“ spielt einerseits vor dem Hintergrund der
    politischen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokratie und
    Kommunisten in Deutschland und reflektiert gleichzeitig das Aufkommen
    stalinistischer Tendenzen in seiner Heimat. Verschiedene Ebenen der
    Reflexion sind miteinander verwoben und nur vordergründig geht es um
    einen russischen Ingenieur, der sich in Berlin sachkundig machen soll,
    wie man mit einer U-Bahn die Verkehrsprobleme in Moskaus lösen kann.

    Dieser Klassiker der Esperanto-Literatur ist bisher wenig bekannt. Zum
    ersten Mal werden am 23. April 2008 in der Stadtbibliothek Neukölln
    ausgewählte Passagen dem deutschen Publikum vorgestellt, die nach ihrem
    lokalen und zeitlichen Bezug ausgewählt sind.

    Neukölln hat immer eine wichtige Rolle für Esperanto in Berlin gespielt.
    Als Warankin gegen Ende der 20er Jahre in Berlin war wurde an der
    Rütli-Schule bereits Esperanto unterrichtet. Der Initiator, Wilhelm
    Wittbrodt wurde später Schulstadtrat in Neukölln und hat hier die
    Esperanto-Liga Berlin mitbegründet. Viele Jahre befand sich das Berliner
    Esperanto-Zentrum in der Falkstaße.

    Daß es heute sogar einen „Esperantoplatz“ gibt, ist demEngagement von
    Eva Hoffmann zu verdanken, einer Anwohnerin, die mit Esperanto in
    Neukölln großgeworden ist.

    Ablauf

    * Begrüßung
    * Kurze Einführung zu Leben und Werk von Varankin
    * Einstimmung: Szene auf dem Hermannplatz (Lesung in Esperanto)
    * Hintergrundinformation zur politischen Situation vor dem 1. Mai 1929
    * Lesung der Szenen in Neukölln auf Deutsch (mit Text in Esperanto zum
    Mitlesen)
    * Einschätzung des Realitätsgehalts, Mythenbildung bei Sozialdemokraten
    und Kommunisten nach dem 1. Mai 1929, Arbeit und Ergebnisse der
    Untersuchungsausschüsse.
    * Diskussion

    Zum Weiterlesen über Esperanto und Neukölln.

    * Der Esperantoplatz und seine Geschichte
    * Espoteko, Treffpunkt für Esperanto in Neukölln (bis 2005)
    * Wilhelm Wittbrodt, Schulstadtrat und Lehrer an der Rütli-Schule

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