Grad sah ich die „Elegy of the Land“ von Alexander Sokurow: zwei Dokumentarfilme – einer über die Kolchosbäuerin „Maria“ (Voinova) und der zweite über den Kolchoz „Roter Leuchtturm“ – „Last Day of a Rainy Summer“ genannt. Beide Ende der Siebziger, Anfang der Achtzigerjahre im Oblast Gorkij gedreht.
Hier über einige weitere Arbeiterfilme:
A Workingclass-Hero was something to be
„Man kann sich noch erinnern, daß die ganze Welt stille stand – als China und die Tische zu tanzen anfingen,“ schrieb Karl Marx einst. Jetzt haben hier nicht nur wieder die Wahrsager und Zukunftsdeuter Konjunktur, es demonstrierten und protestieren auch dort – in den chinesischen Nordprovinzen Heilongjiang und Liaoning – zehntausende von Arbeiter und Arbeitslose gegen die rapide Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, nachdem immer mehr staatliche Fabriken und Industrieanlagen still gelegt wurden. In der Westpresse spricht man von den „größten organisierten Demonstrationen seit 1989“, etliche Aktivisten wurden inhaftiert. Es ist sogar die Rede von einer neuen Gewerkschaftsbewegung. Und der DGB sowie die Friedrich-Ebert-Stiftung müssen sich fragen lassen, warum sie – ähnlich wie zuvor in Südkorea – nur mit offiziellen Gewerkschaftsvertretern Kontakt halten. Insbesondere in der Stadt Liaoyang versuchen derweil die China-Korrespondenten dem Volkszorn auf den Grund zu gehen. Schon vor dessen öffentlicher Artikulation hatte sich ein junger chinesischer Filmemacher mit der Lebens- und Arbeitssituation in der Hauptstadt Shengyang der Provinz Liaoning beschäftigt – seine fünfstündige Dokumentation wurde hernach heimlich nach Berlin gebracht und sogleich auf der Berlinale gezeigt.
„Das ist wahrscheinlich der interessanteste Film des diesjährigen Festivals“, so kündigte eine Sprecherin der Sektion Forum den Film „Tiexi District“ von Wang Bing an. Beeindruckend genug war diese lange Elegie auf das Industrieproletariat jedenfalls – obwohl oder weil es seit dem Zusammenbruch des Sozialismus hunderte solch filmischer Elegien gibt.
Die meisten entstanden im Rahmen der Pflichtprogramme öffentlich-rechtlicher Sender – und befaßten sich z.B. mit der „letzten Schicht“ auf einem Lausitzer Braunkohlebagger, im Kalibergwerk Bischofferode und im Wolfener Filmwerk ORWO – oder mit der Abwicklung einer Textilfabrik in Bombay, einer Werkzeugmaschinenfabrik in Moskau, einer Kolchose in Polen. Berühmt wurde der amerikanische Dokumentarfilm über die Schließung der Chrysler-Fabrik in Flint „Roger and Me“ (von dem die IG Metall mehrere Kopien zu Schlungszwecken erwarb); ferner der englische Spielfilm „Brassed Off“ über die Arbeiter einer globalisierungungsbedingt platt gemachten Zeche in Yorkshire; der aufwendige französische Film „Réprise“ – über die stillgelegte Batteriefabrik „Wonder“ (von dem die französischen Gewerkschaften ebenfalls etliche Kopien erwarben); außerdem der finnische Film von Aki Kaurismäki über zwei Arbeitslose, die eine Kneipe mit dem sinnigen Namen „Zur Arbeit“ eröffnen; sowie der englische Dokumentarfilm von Ken Loach über den Kampf der entlassenen „Docker von Liverpool“; und die Hommage von Alain Tanner auf die Genueser Hafenarbeiter: „L’Hommes du Port“, die ihre Arbeitsplätze quasi eigenhändig privatisieren.
Dieser Film kommt der chinesischen Langzeitdokumentation „Tiexi District“ am nächsten: der Regisseur Tanner arbeitete einst selbst im Hafen von Genua. Und den Aufnahmen des jungen Regisseurs Wang Bing merkt man an, daß er ebenfalls mit seinen Protagonisten eng befreundet ist.
Dreieinhalb Jahre drehte er illegal in dem riesigen Industriekomplex der Stadt Shengyang, Hauptstadt der mandschurischen Provinz Liaoning. Auf der Berlinale meinte er: „Wenn man etwas von der Geschichte Chinas verstehen will, muß man dort hingehen“. Der „Tiexi District“ war das Symbol für den „Traum einer Generation“, schreibt der Germanist und ehemalige Rotgardist Fang Yu dazu im Katalog.
1931 wurde das Gebiet von den Japanern besetzt, die wenig später im „Tiexi District“ ein Kabelwerk, eine Fahrradfabrik und ein Stahlwerk zur Herstellung von Bajonetten bauen ließen. Auf dieser industriellen Grundlage errichteten die Sowjets im Rahmen ihrer Bruderhilfe in den Fünfzigerjahren 157 neue Metallfabriken, wobei sie teilweise zuvor in Deutschland requirierte Industrieanlagen verwendeten. Zu Hochzeiten arbeiteten im „Tiexi District“ bis zu einer Million Arbeiter. Seit Beginn der chinesischen Wirtschaftsreformen der Neunzigerjahre und der harschen Parole „Xia Gang“ (Runter vom Posten) wurde jedoch ein Werk nach dem anderen stillgelegt bzw. langsam abgewickelt.
Von unten kam es infolge der zunehmenden Arbeitslosigkeit zu Gewaltausbrüchen – wie die der berühmt-berüchtigten „Hammer-Bande“ von Changchun. Und von oben zu massenhafter Korruption. Die Regierung ging gegen beides drastisch vor und forcierte zugleich die Investitionstätigkeit in den drei besonders von „Strukturproblemen“ betroffenen Provinzen Jilin, Heilongjiang und Liaoning. In letzterer wurden allein 319 leitende Angestellte sowie der Bürgermeister von Shengyang hingerichtet, weil sie sich beim Verkauf der alten Maschinen persönlich bereichert hatten. Darüberhinaus versuchte man die Agonie der riesigen Schwerindustrie-Standorte zu verlängern. Die Arbeiter bekamen entweder eine einmalige Abfindung oder eine Rente, ansonsten hoffte man, daß sie, die immer schlechter entlohnt wurden, einzeln nach und nach verschwinden würden, um sich eine neue, bessere Arbeit zu suchen. Es gab auch welche, die z.B. in der Fahrradfabrik, die in ganz China berühmt ist, einzelne Abteilungen übernahmen – und sich so vom Arbeiter zum Kleinunternehmer wandelten.
Als der Regisseur Wang Bing 1999 mit den Dreharbeiten begann, war die Eisenschmelzhütte mit dem Stahlwalzwerk, das größte Chinas, bereits in Konkurs gegangen und geschlossen worden. In den Schmelzhütten und Elektrolysefabriken für Kupfer, Blei und Zink sowie in einem Teil des Kabelwerks wurde jedoch noch dreischichtig mit etwa 12.000 Leuten gearbeitet – wenn auch nur noch lustlos und immer mehr improvisierend.
Sämtliche Betriebe des „Tiexi Districts“ sind mit einer Eisenbahnstrecke verbunden, auch diese war noch in Betrieb. In der Dispatcher-Baracke der Eisenbahner, wo einige Arbeitslose untergeschlüpft waren, die sich dann für die Beheizung des Raumes zuständig erklärten, hielt sich der Regisseur oft und gerne auf. Gelegentlich fuhr er auch auf einer Lokomotive mit und filmte die mehr als 20 Kilometer lange Strecke, an der immer öfter Kohlenklauer lauerten. Am Schluß versuchten viele Arbeitslose auch, Teile der Werke – Kabel z.B. – selbst zu demontieren, um sie auf eigene Rechnung zu verkaufen. Die meisten Szenen des Films spielen in den Arbeitshallen und den Aufenthalts- sowie Waschräumen der Arbeiter, die oft und gerne duschen bzw. baden, um sich von der Giftproduktion zu reinigen. Einige Male filmte er auch auswärtige Spezialisten-Brigaden, die auf Vertragsbasis noch schnell diese oder jene Reparatur in den Werken ausführten oder z.B. Waggons entluden.
Für die letzten übriggebliebenen der Stammgelegschaft war Wang Bing auch so etwas wie einen kleine Hoffnung, insofern er ihre Existenzsorgen und -nöte festhielt, um sie hernach allen vor Augen zu führen – zunächst in Berlin. Wobei er jetzt im Anschluß daran durchaus Gefängnis zu befürchten hat, weil er ohne Erlaubnis in den Fabriken sowie im Arbeiter-Sanatorium drehte und seinen Film dann an allen Zensoren vorbei ins Ausland schmuggelte.
Merkwürdigerweise sieht man kaum Trauer,Wut oder Verzweiflung. Es herrscht eine Art grimmige Aussichtslosigkeit. Es wird weiterhin gut und oft gegessen, man vertrödelt die Zeit mit Kartenspiel, zankt sich über Kleinigkeiten oder singt zusammen. Die Brigadiers – mit roten statt blauen Arbeitshelmen – ermahnen ihre Leute, sich trotz des absehbaren Endes weiterhin Mühe zu geben. Im letzten Fünftel befaßt sich der Film auch noch mit dem alten Wohnviertel der Stadt, das ebenfalls brutal abgerissen wird, um dem neuen postmodernen Shengyang Platz zu machen. Einige Familien weigern sich jedoch zu weichen: ohne Wasser und Strom hocken sie nun frierend in ihren Pechhütten. Aber auch sie lassen sich nicht unterkriegen: bei Kerzenlicht wird gekocht und dann erst mal gut gegessen. „Was Du im Bauch hast, kann Dir niemand mehr nehmen,“ lautet ein altes chinesisches Sprichwort.
Die letzten Arbeiter des „Tiexi Districts“ halfen nicht nur dem Regisseur, ins Werk zu gelangen, sie unterstützten sein Projekt auch materiell. Jeder Einstellung merkt man außerdem an, daß sie gewissermaßen mitspielten: Niemals starrt jemand in die Kamera oder winkt bei vermeintlichen Peinlichkeiten – wie etwa einer Schlägerei zwischen Betrunkenen oder wenn jemand nackt durch den Aufenthaltsraum läuft – ab. Die Nostalgie, die sich ganz sicher bei den letzten Zuckungen der „Heavy Industry“ einstellt, äußert sie höchstens in solch knappen Bemerkungen – wie etwa die beim Frühlingsfest 2001: „Auch das Feuerwerk war in den Achtzigerjahren besser!“ Auf der Berlinale betonte der Regisseur: „Das ist kein Film über Arbeitslosigkeit!“ Darüber berichten auch die chinesischen Medien seit nunmehr fünf Jahren nahezu täglich – u.a. um den Bürgern zu helfen, mit „der schwierigen Lage“ fertig zu werden. Wang Bings fünfstündiger und übrigens farbenprächtiger Dokumentarfilm, gedreht mit einer kleinen DV-Kamera und großer Kenntnis der schwierigen und verwirrenden Riesen-„Location“, ist vielmehr die vorläufig definitive Elegie auf das Industrieproletariat schlechthin (nicht nur auf das chinesische), dem infolge der sogenannten Globalisierung jetzt erneut das Genick gebrochen wird. Und diesmal ganz ohne aggressiven Antikommunismus.
„Die letzte Schicht gewinnen wir!“ (Aus einem alten Kampflied)
An der Ruhr-Universität Bochum hat kürzlich Vinzenz Hediger, der dort zuvor schon über Tierfilme geforscht hatte, die erste Professur für Industrie- und Arbeiterfilme bekommen. Fast gleichzeitig fingen einige öffentliche Institutionen an, ein Archiv für Arbeiterfilme aufzubauen. Daneben schrieb die Bundeskulturstiftung einen Wettbewerb über „Arbeit“ für alle Kunstsparten aus. Unter anderem wird nun dem Regensburger Kommunalkino eine Reihe mit Arbeiterfilmen gefördert.
In Hannover lief bereits eine solche, moderiert von Oskar Negt und Christian Ziewer. Ziewer drehte 1971 den ersten neudeutschen Arbeiterfilm, „Liebe Mutter, mir geht es gut!“ Zum klassengemäßen Vertrieb dieses Films entstand damals in Westberlin der „Basis-Filmverleih“, der sich heute jedes Mal sagen lassen muss: „Wen wollt ihr damit hinterm Ofen hervorlocken?“, wenn er einen Arbeiterfilm in seinen Vertrieb aufnimmt.
Ein 2005 in die Kinos gekommener Arbeiterfilm von Michael Glawogger deutete bereits im Titel an, dass diesem Genre hierzulande ein ähnliches Schicksal wie der DDR blüht – nämlich ein abgeschlossenes Forschungsgebiet zu sein. Der Film hieß: „Workingsman’s Death“. Darin geht es um die elendsten Arbeitsbedingungen weltweit. Er beginnt mit ukrainischen Bergarbeitern, die stillgelegte Kohlegruben auf eigene Faust ausbeuten, und endet in Duisburg, wo man aus einem Stahlwerk ein Einkaufscenter machte. Der Regisseur wollte damit „den Arbeiter zum Helden machen, ohne dass ich [noch] etwas von ihm will“.
Mehr Wirkung hatte der in Tansania gedrehte Dokumentarfilm „Darwins Alptraum“ von Hubert Sauper, in dem es um die dortige Fischindustrie geht, die Victoriabarschfilets für Europa produziert – und deren Arbeiter nur Gräten zu essen kriegen. Um die Agrarindustrie weltweit ging es 2006 Erwin Wagenhofer mit seinem Film „We feed the world“. Die Wochenzeitung Die Zeit verglich ihn mit dem „Dokumentarfilmklassiker „Septemberweizen“ (1980) von Peter Krieg und erwähnte auch gleich noch einen weiteren: „Unser täglich Brot“ von Nikolaus Geyrhalter. „Je härter die Zeiten, desto mehr haben Dokumentarfilme wieder Konjunktur“, meinte die Rezensentin dazu.
Als kürzlich im Kreuzberger Club Kato der Film „Die letzten Feuer“ über die militanten Arbeitskämpfe 1969/70 im Industrieviertel von Venedig lief, meinte einer der Veranstalter aus dem Wildcat-Kollektiv: „Das war nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem.“ Damals gingen aus diesen Auseinandersetzungen die „Autonomia“ und der „Operaismus“ hervor sowie die Organisationen Potere Operaio und Lotta Continua. Die Wildcat-Leute touren mit der Doku nun zwischen Palermo und Poznan, gedreht hat ihn die Venezianerin Manuela Pellarin, das Geld kam u. a. vom Oberbürgermeister Venedigs, der selbst einst Arbeiter in Porto Marghera war.
In der anschließenden Diskussion im Kato stellte man fest, dass es zwar hier und heute wieder viele Arbeitskämpfe in Betrieben, von Studenten, Schülern und Ärzten gebe, sogar mit steigender Tendenz: 2006 immerhin so viele wie seit 1992 nicht mehr, „aber die Kämpfe kommen nicht zusammen“. Abwehrkämpfe seien das. Es sterbe „jeder Betrieb für sich allein“, so ein Aktivist des gerade beendeten Streiks beim Spandauer Bosch-Siemens-Haushaltsgerätewerk (BSH), der gegenüber den Wildcat-Mitarbeitern mangelnde Solidarität sogar der nächstgelegenden Betriebe beklagte. Eine Ausnahme bildete die Belegschaft des gerade von einem indischen Konzern übernommenen EKO-Stahlwerks in Eisenhüttenstadt, die die BSH-Streikenden per Bus besucht hatte.
Auch ich besuchte dann das EKO-Stahlwerk:
Das Eko-Stahlwerk wurde 1950 in der strukturschwachen Oderregion auf Druck der Sowjets projektiert. Sowjetische Ingenieure leiteten auch die Planung. Die EKO-Baustelle wurde zu einem Sammelbecken für die unterschiedlichsten Menschen. Fast jeder dritte Beschäftigte stammte aus einer Familie, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten geflüchtet oder vertrieben worden war.
Am 10. April 1951 war Richtfest für den ersten Hochofen. Das Erz dafür kam aus Kriwoi Rog und die Kohle aus Schlesien. In den 80er-Jahren wurde der Betrieb vom österreichischen Konzern Voest-Alpine technologisch aufgerüstet. Zuletzt beschäftigte er 12.000 Menschen. Nach der Wende wollte die Treuhandanstalt ihn zunächst an die Krupp Stahl AG verkaufen. Aber die westdeutsche Stahlindustrie war sich einig, dass das EKO-Werk aus Gründen der Überproduktion geschlossen werden musste.
Der 50.000-Seelen-Ort Eisenhüttenstadt existierte jedoch nur vom und für das Stahlwerk. Deswegen konnte sich hier ein besonders zäher Widerstand gegen die Abwicklung entfalten. Gegen alle Widerstände der Stahlindustrie und der EU wurde das Werk an den belgischen Konzern Cockerill Sambre verkauft. Der wurde seinerseits von dem französischen Stahlkonzern Usinor übernommen und dieser von der Luxemburger Arcelor Gruppe, die dann von dem indischen Stahlkonzern von Lakshmi Mittal geschluckt wurde.
Mit dem Bau des Warmeisenwalzwerks schloss man 1997 die letzte Produktionslücke. Heute beschäftigt Eko 3.000 Mitarbeiter; in den Zuliefererbetrieben sind es noch einmal so viel. Und dank der hohen Stahlpreise sind die Gewinne derzeit mehr als zufrieden stellend.
Aus Verbundenheit mit der Stadt, deren SPD-Bürgermeister ebenfalls aus dem Stahlwerk stammt, hat Eko drei Stiftungen ins Leben gerufen: eine für den Kulturclub „Hans Marchwitza“, eine „Bürgerstiftung“ für das Soziale und eine „Stahlstiftung“ für die Kultur. Letztere fördert zum Beispiel die Ausstellungen des in Eisenhüttenstadt ansässigen Tübke-Schülers Matthias Steier. Generell geht es den Stiftern um die Förderung von Toleranz, Antineonazismus und, wegen ihres Stahlabsatzes, um eine gewisse Osteuropa-Orientierung, wie man mir erklärte.
Jetzt wurde erstmals der Stahlpreis für Literatur in Eisenhüttenstadt vergeben. Zum einen an die Gewinner eines städtischen Schüler-Schreibwettbewerbs und zum anderen an Wladimir Kaminer, den einer der Stifter als „idealen Schriftsteller für uns“ bezeichnete. Nicht nur arbeiten bereits etliche Ingenieure aus Russland und Litauen im Stahlwerk – sie haben meist in Freiberg studiert, wo die Studenten aus der Ex-UdSSR inzwischen 50 Prozent ausmachen. Es macht sich unter den jungen Deutschen auch eine zunehmende Abneigung gegenüber naturwissenschaftlich-technischen Fächern bemerkbar. So wurden zum Beispiel auf einer Bildungsmesse in Eisenhüttenstadt 50 Lehrstellen für den Beruf des Mechatronikers angeboten – aber es fand sich kein Bewerber mit einer besseren Mathematiknote als einer Vier, was Voraussetzung dafür war.
Zwar sind etwa 1.600 Russlanddeutsche nach Eisenhüttenstadt gezogen, aber noch mehr – vor allem junge Leute – von dort weg: Ganze Stadtteile mit Plattenbauten werden abgerissen. Dafür wird jedoch das zentrale Wohngebiet mit Stadtverwaltung und Theater, das komplett im sozialistischen Klassizismus errichtet wurde, sorgfältig renoviert, obwohl es teilweise mit einer Golddollar-Hypothek aus der Vorkriegszeit belastet ist.
In der Stadt „formte die gemeinsam erlebte Aufbauzeit eine starke Identifikation der Menschen mit dem Werk und ihrer Stadt und erzeugte gleichzeitig ein besonderes Eigentümerbewusstsein“, wie es in der Festschrift des Eko-Stahlwerks zum 50. Werksjubiläum heißt. Die neuen Eigentümer aus Westeuropa meinen darin: „Uns war von vornherein klar, dass jede Art von ,Eroberermentalität‘, von ,Wir sind die Erwerber, ihr seid gekauft‘, von ,oben‘ und ,unten‘ vermieden werden musste. Diese leider so oft angetroffene Fehleinstellung, aus der dann Antagonismen à la ,Wessis versus Ossis‘ erwuchsen, hat es in unserem Fall nicht gegeben.“
Dass Eisenhüttenstadt somit quasi eine (odernahe) Insel der Seligen ist, diesen Eindruck bestätigte uns dann das 14-stündige Programm der Stahlpreisverleihung im Werk, im Barockkloster Neuzelle und im Friedrich-Wolff-Theater. „Stahl ist gut für den Stolz“: An diese Weisheit der letzten US-Indianer als Hochhauserbauer fühlte ich mich dabei erinnert; Wladimir Kaminer dachte natürlich eher an Ostrowski und dessen sowjetischen Bestseller „Wie der Stahl gehärtet wurde“, als er von Eko-Betriebsräten und Personalchef eine Lobrede nach der anderen für sein Werk zu hören bekam. Erst um Mitternacht brachte uns die Werksfeuerwehr wieder nach Berlin zurück.
….hm-ja. arbeiterfilme. der zapatistas-film hier im innenhof zum beispiel war zum beiapiel am montag in der zweiten camping-woche auch spannend durchaus. es gibt bisher keine größeren uniformierten bewegungen zu vermelden, das lagerfeuer glimmt um 4:05 friedlich, indymedia freut sich über tägliche neuigkeiten… und nur die TAZ, das schwankende schiff, wie Du hausmeister es mal ziemlich treffend ausgedrückt hast, möchte weiterhin schweigsam an dem thema vorbei in den dienstag segeln. es gibt gründe zu grübeln…
jedenfalls also die rücktrittsforderung an dieter lenzen, zum beispiel wäre doch stark zu unterstützen.
dann auch die studentische viertelparität, findest Du nicht? neulich bei einem gespräch mit rainer wahls über dieses thema hat er erstaunt hochgeschaut mit der kurzen vorwurfsvollen frage: „was, das ist da immer noch nicht durch?!“ – nunja, ohne das hochdiepo-vermögen der ehemaligen raubkatze. „HM.“