vonHelmut Höge 14.05.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Grad sah ich die „Elegy of the Land“ von Alexander Sokurow: zwei Dokumentarfilme – einer über die Kolchosbäuerin „Maria“ (Voinova) und der zweite über den Kolchoz „Roter Leuchtturm“ – „Last Day of a Rainy Summer“ genannt. Beide Ende der Siebziger, Anfang der Achtzigerjahre im Oblast Gorkij gedreht.

Hier über einige weitere Arbeiterfilme:
A Workingclass-Hero was something to be

„Man kann sich noch erinnern, daß die ganze Welt stille stand – als China und die Tische zu tanzen anfingen,“ schrieb Karl Marx einst. Jetzt haben hier nicht nur wieder die Wahrsager und Zukunftsdeuter Konjunktur, es demonstrierten und protestieren auch dort – in den chinesischen Nordprovinzen Heilongjiang und Liaoning – zehntausende von Arbeiter und Arbeitslose gegen die rapide Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen, nachdem immer mehr staatliche Fabriken und Industrieanlagen still gelegt wurden. In der Westpresse spricht man von den „größten organisierten Demonstrationen seit 1989“, etliche Aktivisten wurden inhaftiert. Es ist sogar die Rede von einer neuen Gewerkschaftsbewegung. Und der DGB sowie die Friedrich-Ebert-Stiftung müssen sich fragen lassen, warum sie – ähnlich wie zuvor in Südkorea – nur mit offiziellen Gewerkschaftsvertretern Kontakt halten.  Insbesondere in der Stadt Liaoyang versuchen derweil die China-Korrespondenten dem Volkszorn auf den Grund zu gehen. Schon vor dessen öffentlicher Artikulation hatte sich ein junger chinesischer Filmemacher mit der Lebens- und Arbeitssituation in der Hauptstadt Shengyang der Provinz Liaoning beschäftigt – seine fünfstündige Dokumentation wurde hernach heimlich nach Berlin gebracht und sogleich auf der Berlinale gezeigt.

„Das ist wahrscheinlich der interessanteste Film des diesjährigen Festivals“, so kündigte eine Sprecherin der Sektion Forum den Film „Tiexi District“ von Wang Bing an. Beeindruckend genug war diese lange Elegie auf das Industrieproletariat jedenfalls – obwohl oder weil es seit dem Zusammenbruch des Sozialismus hunderte solch filmischer Elegien gibt.

Die meisten entstanden im Rahmen der Pflichtprogramme öffentlich-rechtlicher Sender – und befaßten sich z.B. mit der „letzten Schicht“ auf einem Lausitzer Braunkohlebagger, im Kalibergwerk Bischofferode und im Wolfener Filmwerk ORWO – oder mit der Abwicklung einer Textilfabrik in Bombay, einer Werkzeugmaschinenfabrik in Moskau, einer Kolchose in Polen. Berühmt wurde der amerikanische Dokumentarfilm über die Schließung der Chrysler-Fabrik in Flint „Roger and Me“ (von dem die IG Metall mehrere Kopien zu Schlungszwecken erwarb); ferner der englische Spielfilm „Brassed Off“ über die Arbeiter einer globalisierungungsbedingt platt gemachten Zeche in Yorkshire; der aufwendige französische Film „Réprise“ – über die stillgelegte Batteriefabrik „Wonder“ (von dem die französischen Gewerkschaften ebenfalls etliche Kopien erwarben); außerdem der finnische Film von Aki Kaurismäki über zwei Arbeitslose, die eine Kneipe mit dem sinnigen Namen „Zur Arbeit“ eröffnen; sowie der englische Dokumentarfilm von Ken Loach über den Kampf der entlassenen „Docker von Liverpool“; und die Hommage von Alain Tanner auf die Genueser Hafenarbeiter: „L’Hommes du Port“, die ihre Arbeitsplätze quasi eigenhändig privatisieren.

Dieser Film kommt der chinesischen Langzeitdokumentation „Tiexi District“ am nächsten: der Regisseur Tanner arbeitete einst selbst im Hafen von Genua. Und den Aufnahmen des jungen Regisseurs Wang Bing merkt man an, daß er ebenfalls mit seinen Protagonisten eng befreundet ist.

Dreieinhalb Jahre drehte er illegal in dem riesigen Industriekomplex der Stadt Shengyang, Hauptstadt der mandschurischen Provinz Liaoning. Auf der Berlinale meinte er: „Wenn man etwas von der Geschichte Chinas verstehen will, muß man dort hingehen“. Der „Tiexi District“ war das Symbol für den „Traum einer Generation“, schreibt der Germanist und ehemalige Rotgardist Fang Yu dazu im Katalog.

1931 wurde das Gebiet von den Japanern besetzt, die wenig später im „Tiexi District“ ein Kabelwerk, eine Fahrradfabrik und ein Stahlwerk zur Herstellung von Bajonetten bauen ließen. Auf dieser industriellen Grundlage errichteten die Sowjets im Rahmen ihrer Bruderhilfe in den Fünfzigerjahren 157 neue Metallfabriken, wobei sie teilweise zuvor in Deutschland requirierte Industrieanlagen verwendeten. Zu Hochzeiten arbeiteten im „Tiexi District“ bis zu einer Million Arbeiter. Seit Beginn der chinesischen Wirtschaftsreformen der Neunzigerjahre und der harschen Parole „Xia Gang“ (Runter vom Posten) wurde jedoch ein Werk nach dem anderen stillgelegt bzw. langsam abgewickelt.

Von unten kam es infolge der zunehmenden Arbeitslosigkeit zu Gewaltausbrüchen – wie die der berühmt-berüchtigten „Hammer-Bande“ von Changchun. Und von oben zu massenhafter Korruption. Die Regierung ging gegen beides drastisch vor und forcierte zugleich die Investitionstätigkeit in den drei besonders von „Strukturproblemen“ betroffenen Provinzen Jilin, Heilongjiang und Liaoning. In letzterer wurden allein 319 leitende Angestellte sowie der Bürgermeister von Shengyang hingerichtet, weil sie sich beim Verkauf der alten Maschinen persönlich bereichert hatten. Darüberhinaus versuchte man die Agonie der riesigen Schwerindustrie-Standorte zu verlängern. Die Arbeiter bekamen entweder eine einmalige Abfindung oder eine Rente, ansonsten hoffte man, daß sie, die immer schlechter entlohnt wurden, einzeln nach und nach verschwinden würden, um sich eine neue, bessere Arbeit zu suchen. Es gab auch welche, die z.B. in der Fahrradfabrik, die in ganz China berühmt ist, einzelne Abteilungen übernahmen – und sich so vom Arbeiter zum Kleinunternehmer wandelten.

Als der Regisseur Wang Bing 1999 mit den Dreharbeiten begann, war die Eisenschmelzhütte mit dem Stahlwalzwerk, das größte Chinas, bereits in Konkurs gegangen und geschlossen worden. In den Schmelzhütten und Elektrolysefabriken für Kupfer, Blei und Zink sowie in einem Teil des Kabelwerks wurde jedoch noch dreischichtig mit etwa 12.000 Leuten gearbeitet – wenn auch nur noch lustlos und immer mehr improvisierend.

Sämtliche Betriebe des „Tiexi Districts“ sind mit einer Eisenbahnstrecke verbunden, auch diese war noch in Betrieb. In der Dispatcher-Baracke der Eisenbahner, wo einige Arbeitslose untergeschlüpft waren, die sich dann für die Beheizung des Raumes zuständig erklärten, hielt sich der Regisseur oft und gerne auf. Gelegentlich fuhr er auch auf einer Lokomotive mit und filmte die mehr als 20 Kilometer lange Strecke, an der immer öfter Kohlenklauer lauerten. Am Schluß versuchten viele Arbeitslose auch, Teile der Werke – Kabel z.B. – selbst zu demontieren, um sie auf eigene Rechnung zu verkaufen. Die meisten Szenen des Films spielen in den Arbeitshallen und den Aufenthalts- sowie Waschräumen der Arbeiter, die oft und gerne duschen bzw. baden, um sich von der Giftproduktion zu reinigen. Einige Male filmte er auch auswärtige Spezialisten-Brigaden, die auf Vertragsbasis noch schnell diese oder jene Reparatur in den Werken ausführten oder z.B. Waggons entluden.

Für die letzten übriggebliebenen der Stammgelegschaft war Wang Bing auch so etwas wie einen kleine Hoffnung, insofern er ihre Existenzsorgen und -nöte festhielt, um sie hernach allen vor Augen zu führen – zunächst in Berlin. Wobei er jetzt im Anschluß daran durchaus Gefängnis zu befürchten hat, weil er ohne Erlaubnis in den Fabriken sowie im Arbeiter-Sanatorium drehte und seinen Film dann an allen Zensoren vorbei ins Ausland schmuggelte.

Merkwürdigerweise sieht man kaum Trauer,Wut oder Verzweiflung. Es herrscht eine Art grimmige Aussichtslosigkeit. Es wird weiterhin gut und oft gegessen, man vertrödelt die Zeit mit Kartenspiel, zankt sich über Kleinigkeiten oder singt zusammen. Die Brigadiers – mit roten statt blauen Arbeitshelmen – ermahnen ihre Leute, sich trotz des absehbaren Endes weiterhin Mühe zu geben. Im letzten Fünftel befaßt sich der Film auch noch mit dem alten Wohnviertel der Stadt, das ebenfalls brutal abgerissen wird, um dem neuen postmodernen Shengyang Platz zu machen. Einige Familien weigern sich jedoch zu weichen: ohne Wasser und Strom hocken sie nun frierend in ihren Pechhütten. Aber auch sie lassen sich nicht unterkriegen: bei Kerzenlicht wird gekocht und dann erst mal gut gegessen. „Was Du im Bauch hast, kann Dir niemand mehr nehmen,“ lautet ein altes chinesisches Sprichwort.

Die letzten Arbeiter des „Tiexi Districts“ halfen nicht nur dem Regisseur, ins Werk zu gelangen, sie unterstützten sein Projekt auch materiell. Jeder Einstellung merkt man außerdem an, daß sie gewissermaßen mitspielten: Niemals starrt  jemand in die Kamera oder winkt bei vermeintlichen Peinlichkeiten – wie etwa einer Schlägerei zwischen Betrunkenen oder wenn jemand nackt durch den Aufenthaltsraum läuft – ab. Die Nostalgie, die sich ganz sicher bei den letzten Zuckungen der „Heavy Industry“ einstellt, äußert sie höchstens in solch knappen Bemerkungen – wie etwa die beim Frühlingsfest 2001: „Auch das Feuerwerk war in den Achtzigerjahren besser!“ Auf der Berlinale betonte der Regisseur: „Das ist kein Film über Arbeitslosigkeit!“ Darüber berichten auch die chinesischen Medien seit nunmehr fünf Jahren nahezu täglich – u.a. um den Bürgern zu helfen, mit „der schwierigen Lage“ fertig zu werden. Wang Bings fünfstündiger und übrigens farbenprächtiger Dokumentarfilm, gedreht mit einer kleinen DV-Kamera und großer Kenntnis der schwierigen und verwirrenden Riesen-„Location“,  ist vielmehr die vorläufig definitive Elegie auf das Industrieproletariat schlechthin (nicht nur auf das chinesische), dem infolge der sogenannten Globalisierung jetzt erneut das Genick gebrochen wird. Und diesmal ganz ohne aggressiven Antikommunismus.

„Die letzte Schicht gewinnen wir!“ (Aus einem alten Kampflied)

An der Ruhr-Universität Bochum hat kürzlich Vinzenz Hediger, der dort zuvor schon über Tierfilme geforscht hatte, die erste Professur für Industrie- und Arbeiterfilme bekommen. Fast gleichzeitig fingen einige öffentliche Institutionen an, ein Archiv für Arbeiterfilme aufzubauen. Daneben schrieb die Bundeskulturstiftung einen Wettbewerb über „Arbeit“ für alle Kunstsparten aus. Unter anderem wird nun dem Regensburger Kommunalkino eine Reihe mit Arbeiterfilmen gefördert.

In Hannover lief bereits eine solche, moderiert von Oskar Negt und Christian Ziewer. Ziewer drehte 1971 den ersten neudeutschen Arbeiterfilm, „Liebe Mutter, mir geht es gut!“ Zum klassengemäßen Vertrieb dieses Films entstand damals in Westberlin der „Basis-Filmverleih“, der sich heute jedes Mal sagen lassen muss: „Wen wollt ihr damit hinterm Ofen hervorlocken?“, wenn er einen Arbeiterfilm in seinen Vertrieb aufnimmt.

Ein 2005 in die Kinos gekommener Arbeiterfilm von Michael Glawogger deutete bereits im Titel an, dass diesem Genre hierzulande ein ähnliches Schicksal wie der DDR blüht – nämlich ein abgeschlossenes Forschungsgebiet zu sein. Der Film hieß: „Workingsman’s Death“. Darin geht es um die elendsten Arbeitsbedingungen weltweit. Er beginnt mit ukrainischen Bergarbeitern, die stillgelegte Kohlegruben auf eigene Faust ausbeuten, und endet in Duisburg, wo man aus einem Stahlwerk ein Einkaufscenter machte. Der Regisseur wollte damit „den Arbeiter zum Helden machen, ohne dass ich [noch] etwas von ihm will“.

Mehr Wirkung hatte der in Tansania gedrehte Dokumentarfilm „Darwins Alptraum“ von Hubert Sauper, in dem es um die dortige Fischindustrie geht, die Victoriabarschfilets für Europa produziert – und deren Arbeiter nur Gräten zu essen kriegen. Um die Agrarindustrie weltweit ging es 2006 Erwin Wagenhofer mit seinem Film „We feed the world“. Die Wochenzeitung Die Zeit verglich ihn mit dem „Dokumentarfilmklassiker „Septemberweizen“ (1980) von Peter Krieg und erwähnte auch gleich noch einen weiteren: „Unser täglich Brot“ von Nikolaus Geyrhalter. „Je härter die Zeiten, desto mehr haben Dokumentarfilme wieder Konjunktur“, meinte die Rezensentin dazu.

Als kürzlich im Kreuzberger Club Kato der Film „Die letzten Feuer“ über die militanten Arbeitskämpfe 1969/70 im Industrieviertel von Venedig lief, meinte einer der Veranstalter aus dem Wildcat-Kollektiv: „Das war nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem.“ Damals gingen aus diesen Auseinandersetzungen die „Autonomia“ und der „Operaismus“ hervor sowie die Organisationen Potere Operaio und Lotta Continua. Die Wildcat-Leute touren mit der Doku nun zwischen Palermo und Poznan, gedreht hat ihn die Venezianerin Manuela Pellarin, das Geld kam u. a. vom Oberbürgermeister Venedigs, der selbst einst Arbeiter in Porto Marghera war.

In der anschließenden Diskussion im Kato stellte man fest, dass es zwar hier und heute wieder viele Arbeitskämpfe in Betrieben, von Studenten, Schülern und Ärzten gebe, sogar mit steigender Tendenz: 2006 immerhin so viele wie seit 1992 nicht mehr, „aber die Kämpfe kommen nicht zusammen“. Abwehrkämpfe seien das. Es sterbe „jeder Betrieb für sich allein“, so ein Aktivist des gerade beendeten Streiks beim Spandauer Bosch-Siemens-Haushaltsgerätewerk (BSH), der gegenüber den Wildcat-Mitarbeitern mangelnde Solidarität sogar der nächstgelegenden Betriebe beklagte. Eine Ausnahme bildete die Belegschaft des gerade von einem indischen Konzern übernommenen EKO-Stahlwerks in Eisenhüttenstadt, die die BSH-Streikenden per Bus besucht hatte.
Auch ich besuchte dann das EKO-Stahlwerk:

Das Eko-Stahlwerk wurde 1950 in der strukturschwachen Oderregion auf Druck der Sowjets projektiert. Sowjetische Ingenieure leiteten auch die Planung. Die EKO-Baustelle wurde zu einem Sammelbecken für die unterschiedlichsten Menschen. Fast jeder dritte Beschäftigte stammte aus einer Familie, die aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten geflüchtet oder vertrieben worden war.

Am 10. April 1951 war Richtfest für den ersten Hochofen. Das Erz dafür kam aus Kriwoi Rog und die Kohle aus Schlesien. In den 80er-Jahren wurde der Betrieb vom österreichischen Konzern Voest-Alpine technologisch aufgerüstet. Zuletzt beschäftigte er 12.000 Menschen. Nach der Wende wollte die Treuhandanstalt ihn zunächst an die Krupp Stahl AG verkaufen. Aber die westdeutsche Stahlindustrie war sich einig, dass das EKO-Werk aus Gründen der Überproduktion geschlossen werden musste.

Der 50.000-Seelen-Ort Eisenhüttenstadt existierte jedoch nur vom und für das Stahlwerk. Deswegen konnte sich hier ein besonders zäher Widerstand gegen die Abwicklung entfalten. Gegen alle Widerstände der Stahlindustrie und der EU wurde das Werk an den belgischen Konzern Cockerill Sambre verkauft. Der wurde seinerseits von dem französischen Stahlkonzern Usinor übernommen und dieser von der Luxemburger Arcelor Gruppe, die dann von dem indischen Stahlkonzern von Lakshmi Mittal geschluckt wurde.

Mit dem Bau des Warmeisenwalzwerks schloss man 1997 die letzte Produktionslücke. Heute beschäftigt Eko 3.000 Mitarbeiter; in den Zuliefererbetrieben sind es noch einmal so viel. Und dank der hohen Stahlpreise sind die Gewinne derzeit mehr als zufrieden stellend.

Aus Verbundenheit mit der Stadt, deren SPD-Bürgermeister ebenfalls aus dem Stahlwerk stammt, hat Eko drei Stiftungen ins Leben gerufen: eine für den Kulturclub „Hans Marchwitza“, eine „Bürgerstiftung“ für das Soziale und eine „Stahlstiftung“ für die Kultur. Letztere fördert zum Beispiel die Ausstellungen des in Eisenhüttenstadt ansässigen Tübke-Schülers Matthias Steier. Generell geht es den Stiftern um die Förderung von Toleranz, Antineonazismus und, wegen ihres Stahlabsatzes, um eine gewisse Osteuropa-Orientierung, wie man mir erklärte.

Jetzt wurde erstmals der Stahlpreis für Literatur in Eisenhüttenstadt vergeben. Zum einen an die Gewinner eines städtischen Schüler-Schreibwettbewerbs und zum anderen an Wladimir Kaminer, den einer der Stifter als „idealen Schriftsteller für uns“ bezeichnete. Nicht nur arbeiten bereits etliche Ingenieure aus Russland und Litauen im Stahlwerk – sie haben meist in Freiberg studiert, wo die Studenten aus der Ex-UdSSR inzwischen 50 Prozent ausmachen. Es macht sich unter den jungen Deutschen auch eine zunehmende Abneigung gegenüber naturwissenschaftlich-technischen Fächern bemerkbar. So wurden zum Beispiel auf einer Bildungsmesse in Eisenhüttenstadt 50 Lehrstellen für den Beruf des Mechatronikers angeboten – aber es fand sich kein Bewerber mit einer besseren Mathematiknote als einer Vier, was Voraussetzung dafür war.

Zwar sind etwa 1.600 Russlanddeutsche nach Eisenhüttenstadt gezogen, aber noch mehr – vor allem junge Leute – von dort weg: Ganze Stadtteile mit Plattenbauten werden abgerissen. Dafür wird jedoch das zentrale Wohngebiet mit Stadtverwaltung und Theater, das komplett im sozialistischen Klassizismus errichtet wurde, sorgfältig renoviert, obwohl es teilweise mit einer Golddollar-Hypothek aus der Vorkriegszeit belastet ist.

In der Stadt „formte die gemeinsam erlebte Aufbauzeit eine starke Identifikation der Menschen mit dem Werk und ihrer Stadt und erzeugte gleichzeitig ein besonderes Eigentümerbewusstsein“, wie es in der Festschrift des Eko-Stahlwerks zum 50. Werksjubiläum heißt. Die neuen Eigentümer aus Westeuropa meinen darin: „Uns war von vornherein klar, dass jede Art von ,Eroberermentalität‘, von ,Wir sind die Erwerber, ihr seid gekauft‘, von ,oben‘ und ,unten‘ vermieden werden musste. Diese leider so oft angetroffene Fehleinstellung, aus der dann Antagonismen à la ,Wessis versus Ossis‘ erwuchsen, hat es in unserem Fall nicht gegeben.“

Dass Eisenhüttenstadt somit quasi eine (odernahe) Insel der Seligen ist, diesen Eindruck bestätigte uns dann das 14-stündige Programm der Stahlpreisverleihung im Werk, im Barockkloster Neuzelle und im Friedrich-Wolff-Theater. „Stahl ist gut für den Stolz“: An diese Weisheit der letzten US-Indianer als Hochhauserbauer fühlte ich mich dabei erinnert; Wladimir Kaminer dachte natürlich eher an Ostrowski und dessen sowjetischen Bestseller „Wie der Stahl gehärtet wurde“, als er von Eko-Betriebsräten und Personalchef eine Lobrede nach der anderen für sein Werk zu hören bekam. Erst um Mitternacht brachte uns die Werksfeuerwehr wieder nach Berlin zurück.


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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/05/14/arbeiterfilme/

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kommentare

  • ….hm-ja. arbeiterfilme. der zapatistas-film hier im innenhof zum beispiel war zum beiapiel am montag in der zweiten camping-woche auch spannend durchaus. es gibt bisher keine größeren uniformierten bewegungen zu vermelden, das lagerfeuer glimmt um 4:05 friedlich, indymedia freut sich über tägliche neuigkeiten… und nur die TAZ, das schwankende schiff, wie Du hausmeister es mal ziemlich treffend ausgedrückt hast, möchte weiterhin schweigsam an dem thema vorbei in den dienstag segeln. es gibt gründe zu grübeln…

    jedenfalls also die rücktrittsforderung an dieter lenzen, zum beispiel wäre doch stark zu unterstützen.

    dann auch die studentische viertelparität, findest Du nicht? neulich bei einem gespräch mit rainer wahls über dieses thema hat er erstaunt hochgeschaut mit der kurzen vorwurfsvollen frage: „was, das ist da immer noch nicht durch?!“ – nunja, ohne das hochdiepo-vermögen der ehemaligen raubkatze. „HM.“

  • Zwei Filme über das, was nach der Workingclass-Epoche kommt:

    MARKT IST MORD

    In Osteuropa wurden nach dem Zerfall der Kommunismen viele große Sportstadien sofort zu Marktplätzen umgerüstet. Der „Jarmark Europa“ im und am Warschauer Stadion in Praga entwickelte sich sogar zum größten Arbeitgeber Polens. Gleichzeitig bildeten die von der globalisierten neuen Ökonomie überall freigesetzten Arbeitermassen Men-in-Sportswear-Banden, die einen schwunghaften Handel mit illegalen Waren bis hin zu Menschen betreiben. Auch die nun nicht mehr vom Warschauer Pakt bzw. vom Freien Westen gesponsorten Partisanenbewegungen machten sich weltweit auf diese oder ähnliche Weise wirtschaftlich selbständig. Der Berliner Politikforscher Herfried Münkler spricht von „privatisierten Kriegen“ – als „Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln“. Wohingegen der Jerusalemer Konfliktforscher Martin van Creveld diese Kriege als Fortsetzung des Sports mit anderen Mitteln begreift. Darauf deutet nicht nur die aus den schwarzen US-Ghettos stammende Banden-Mode „Sportswear“ hin, sondern z.B. auch die jüngste Verwandlung des Fanclubs „Roter Stern Belgrad“ in eine Tschetnik-Einheit. In der ehemaligen Sowjetunion besteht das Gros der Body-Guards von kriminellen Banden aus ehemaligen Profisportlern. Umgekehrt brachte es hier der nigerianische Profifußballer Jonathan Akpoborie bis zum Besitzer eines Fährschiffes daheim, das er auf den Namen seiner Mutter taufte und gerade zum Transport von Kindersklaven eingesetzt wurde.

    Mit dem Zerfall der ideologischen Großsysteme, so kann man vielleicht sagen, sind Sport, Krieg und Ökonomie neue Verbindungen eingegangen. Ihre Erforschung steht erst noch am Anfang. Als Pionierin auf diesem Gebiet gilt zu Recht die in Oxford lehrende Soziologin Malgorzata Irek. Sie forschte allein drei Jahre lang im „Schmugglerzug Warschau-Berlin-Warschau“, ihre Ergebnisse erschienen 1998 im Verlag Das Arabische Buch. In Berlin bzw. von Berlin aus widmen sich die beiden Urbanisten Wolfgang Kil (Ost) und Uwe Rada (West) diesem Marktwirtschafts-Thema. Ihrer Studie, die im Herbst im Basisdruck-Verlag erscheint, ist ein Rat des Harvard-Stadtforschers John Czaplicka vorangestellt: „Hören Sie auf, von Berlin als Ost-West-Drehscheibe zu reden. Akzeptieren Sie vielmehr, dass Ihre Stadt eine Grenzstadt ist, ein Fluchtpunkt für osteuropäische Migranten“. Berlin hat diesbezüglich bereits eine Besonderheit vorzuweisen: Es gründete sich hier eine – sehr erfolgreiche – Schlepperbande, die Osteuropäer aus dem Westen nach Osten schleust – nämlich all jene Arbeitsemigranten, die mit einem 3-Monats-Touristenvisum einreisten, das sie wegen des Notwendigkeit, hier Geld verdienen zu müssen, überzogen. Um bei der Ausreise kein Wiedereinreiseverbot verpaßt zu bekommen, zahlen sie nun der Berliner Schlepperbande bis zu 1000 DM, um schwarz über die Oder/Neiße-Grenze zu gelangen. In umgekehrter Richtung ist es sehr viel teurer – und auch umständlicher. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern für alle Waren: das Risiko, vom Zoll bzw. Grenzschutz erwischt zu werden – wird durch eine höhere Profitrate ausgeglichen. Ein junger Mann namens Kamal aus Bangladesch mußte z.B. 7000 Dollar für seinen Transfer über Moskau nach Berlin zahlen, wo er nun im „Treptower Kinderasyl“ Aufnahme fand. Die Schlepperbande, der er sich 1999 anvertraute, war – so wie die zuletzt gegen die Deutschen kämpfenden kommunistischen Partisanen – landsmannschaftlich organisiert, d.h. hinter jeder Grenze wurde seine Flüchtlingsgruppe von einer anderen Bande übernommen, wobei teilweise sogar die alten Partisanen-Schleichwege wieder benutzt wurden. Nähere Einzelheiten erzählte er einem Journalisten der Berliner Zeitung. In der Frankfurter Rundschau berichtete gerade Lilli Brand, wie der Frauen-Schlepp-Service von Kiew über die Karparten nach Berlin abläuft. Er ist bedeutend bequemer, weil er mit gefälschten bzw. über Bestechung erschlichenen Einreisevisa und per Zug funktioniert, aber in etwa genauso teuer. Und er wird jetzt noch teurer, nachdem man den bestechlichen deutschen Visabeamten in Kiew verhaftet hat.

    Bereits während der deutschen Okkupation und der Ausplünderung des Ostraumes waren zigtausende von Menschen gezwungen, vom Produktions- in den Informations- bzw. Dienstleistungssektor überzuwechseln, d.h. die Landwirtschaft, ihr Handwerk oder den Industriearbeitsplatz aufzugeben und Schmuggler – im Jiddischen auch „Macher“ genannt – zu werden. Die selbe Situation haben wir dort auch heute wieder, wobei der „Ameisenhandel“, wie man das jetzt nennt, sich inzwischen bis nach Asien und Afrika hin erstreckt. So filmte z.B. die polnische Dokumentaristin Jolla Grazyna die gefahrvolle Tour einiger Kirgisen, die regelmäßig auf dem Automarkt in Stuttgart einige PKWs kaufen und sie dann in ihre Heimat überführen, wo sie sie weiterverkaufen. Das Schlimmste unterwegs sind die korrupten Polizisten, sagt einer. Auf dem Luftweg blüht der deutsch-mongolische Kleinhandel – dank der Direktflugverbindung Ulan-Bator-Berlin und einer schon wieder auf etwa 5000 Menschen angewachsenen mongolischen „Diaspora“ in Ostdeutschland.

    Obwohl die Rußlanddeutschen die BRD als ihre Urheimat ansehen, kann man auch sie hier als eine „Diaspora“ bezeichnen, denn eine ihrer wenigen ökonomischen Möglichkeiten besteht darin, zwischen hier und ihren Herkunftsorten in Kasachstan oder Sibirien etwa einen „Ameisenhandel“ aufzuziehen. Unlängst schickte der SFB ein Filmteam auf eine Reise mit dem Kurswagen von Berlin-Lichtenberg über Saratow nach Sibirien. Der regelmäßig verkehrende Zug wird hauptsächlich von Rußlanddeutschen benutzt, die darüber u.a. die noch nicht Ausgesiedelten mit frischen Eindrücken und Farbphotos aus Deutschland versorgen. Diesen „Ameisenhandel“ mit Informationen durfte das SFB-Team hernach jedoch nicht zeigen, um den bisher völlig legalen Deutschenschmuggel nicht noch zu forcieren. Ähnlich nahm die FAZ neulich einen Beitrag von Wladimir Kaminer in letzter Minute wieder aus dem Blatt, weil er darin einige Überlebenstricks von illegal in Berlin sich aufhaltenden Russen geschildert hatte. Auf dem Warschauer „Jarmark Europa“ erzählte mir einmal ein vietnamesischer Sportswear-Händler, von denen es mehrere tausend dort gibt, daß zu seinen Lieferanten ein Händler aus Hanoi gehört, der die Textilstücke in Heimarbeit von seiner eigenen Familie herstellen läßt. Anschließend fährt er mit dem Zug nach Peking, von dort nimmt er die Transsib nach Moskau und in Warschau schließlich geht er mit seinen zwei großen Taschen ins Stadion nach Praha, wo er sich dann für den Rückweg wieder mit anderen Waren eindeckt, die er unterwegs – von Irkutsk über Ulan-Battor bis Peking und Hanoi – verkauft. An den Grenzen muß er jedesmal Zoll bezahlen, die Zöllner bestechen oder sich, noch besser, unsichtbar machen. „Ich glaube wirklich, daß er das kann,“ meinte der vietnamesische Händler und fügte hinzu: „Sonst könnte ich mir gar nicht vorstellen, daß sich das überhaupt lohnt!“

    Das ist genau der springende Punkt – den jetzt die postproletarischen Massen im Osten ins Auge fassen müssen: „Was Tun – damit es sich lohnt?“ In Berlin ist inzwischen die halbe Linke bzw. das was davon noch übriggeblieben ist, damit beschäftigt, hierfür mehr oder weniger legale Fluchthilfe Danach zu leisten. Das Spektrum reicht von der Schwarzarbeiter-Beschäftigung beim Landhaus-Ausbau über Scheinehen und günstigen Zigaretten- sowie Drogenerwerb bis zu Au Pair Girls aus Bratislava für die Kinder oder Nicht mehr selbst die Wohnung sauber machen und dafür eine ukrainische Putzfrau einstellen. Man hat damit mehr oder weniger Anschluß an die neue osteuropäische Marktwirtschaft gefunden – und zwar aktiv als Nutznießer. Im Hauptstadt-Feuilleton schreibt dagegen meist immer noch der scheinbar absichtslose Flaneur.

    Den in Frankfurt/Oder lehrenden linken Slawisten Karl Schlögel kann man inzwischen geradezu als Sänger der Marktwirtschaft bezeichnen. Schon die Titel seines letzten diesbezüglichen Essays deuten das an: „Die Geburt des Basars aus dem Zerfall“ und „Der Ameisenhandel kennt keine Grenzen“. Als Wissenschaftler unterscheidet er zwischen mehreren Phasen – wobei die „Basarphase“ in einigen Ostblockländern „schon wieder vorbei ist“. – Ebenso wie in einigen russischen Metropolen die Men-in-Sportswear-Bandenmode. Als Dichter sieht er aber vor seinem geistigen Auge das große Ganze: Ein riesiges „Netzwerk der Warenströme, das die östlichen Städte mit der Welt draußen und das die Städte ihrerseits mit der Provinz tief im Landesinneren verbindet“. Die Menschen, die daran beteiligt sind, bezeichnet Schlögel mit dem russischen Wort „Tschelnok“ – als Weberschiffchen: „Es rast hin und her und erzeugt mit dem Faden, den es abspult, jenes Gewebe, aus dem dann der feste Stoff entsteht“. In einer russischen Untersuchung, die Schlögel zitiert, wird dieser „neue Beruf“ als „kleiner Händler – in der Regel mit Hochschulbildung“ definiert, „der die Funktionen des Staatsmonopols zur Gewährleistung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und alltäglichen Bedarfsartikeln auf sich genommen hat“.

    Man sieht ihn förmlich vor sich – diesen neuen hochgebildeten jungen Pionier. „Geh nach Sibirien junger Mann, dort wachsen Dir die Gürkchen ins Maul,“ riet bereits Gorkij einem Arbeitslosen. Die Vietnamesen oder Kirgisen, die jetzt in umgekehrter Richtung als Kleinhändler Riesenstrecken durchqueren müssen, erledigen dabei, so sagt Schlögel, ihre „Shoppingtouren per Charterflug“. Und Hunderttausende lernen dabei im Westen, daß man „’normal‘ leben und die Früchte seiner Arbeit genießen kann“. Auf diese Weise werden die Marktbesuche ihnen – wie auch schon dem jungen Gorkij – zu „Schulen des Lebens“, d.h. wenn man ein Leben „im Sog und im Schatten des Basars“ führt, werden „nicht Institutionen ausgewechselt, sondern eine ganze Lebensform“. Diese ist zwar nicht mehr geplant – wie im Kommunismus, sie hat dennoch eine, wenn auch schwer erkennbare „Ratio“: Sie wird nämlich (wieder) gelenkt von einer „unsichtbaren Hand“ (der Marktwirtschaft selbst), die „nicht nur stärker als die Faust jedes noch so mächtigen Diktators ist, sondern auch effizienter“, denn sie setzt sich aus der „kollektiven Intelligenz Tausender von Menschen“ zusammen – aus der Summe ihrer Handelstätigkeiten quasi.

    Man merkt diesem Westberliner Marktbeobachter bzw. Basarbesucher an, daß er sein Geld nicht im Kleinhandel oder gar mit Prostitution verdienen muß, ja nicht einmal als Konsument dort auftritt. Denn eine ständige und stabile Konzentration auf das, was sich lohnt, also auf die mögliche Gewinnspanne beim An- und Verkauf einer Ware, die einem an sich völlig gleichgültig ist, verblödet einen Menschen nicht nur, sondern macht ihn – besonders all jene osteuropäischen Kleinhändler „mit Hochschulbildung“, die gezwungen sind, sich für den Rest ihres Lebens als Schmuggler durchzuschlagen – schier verrückt, d.h. mindestens depressiv. Vom Westen aus ist es unverschämt, diese massenhafte Deklassierung einfach als Zugewinn abzubuchen, während es dort eher als Weltverlust empfunden wird, in der neuen Ordnung alle Dinge in Zahlen umrechen zu müssen.

    Sehr eindrucksvoll schildert dies ein Film von Zoran Solomun und Vladimir Blazevski: „Der chinesische Markt“ in Budapest. Es geht darin um vier Intellektuelle aus Jugoslawien, Rumänien, Mazedonien und Ungarn, die mit dem Zerfall des Kommunismus ihre Existenz verloren haben und nun als Handlungsreisende noch einmal von vorne anfangen. Eine erzählt: „Alles brach um mich herum zusammen – es war ein Alptraum!“ Ein anderer rasiert sich jedesmal, bevor er sich wieder nach Budapest aufmacht, damit er nicht „wie ein Schmuggler“ aussieht. Auf dem Markt arbeiten 5000 chinesische Händler, aber auch z.B. ein ehemaliger Professor aus Kabul: Er verkauft dort chinesische Waren auf Kommission. Die Kleinhändler klagen: „Man muß jede Woche neu verhandeln“. Ihre großen schwarz-weißen Taschen, mit denen sie ihre Waren transportieren, nennen sie „Kühe“, weil sie so viele Menschen ernährt: die Großhändler, das Marktpersonal, Zöllner, Busfahrer…und am Ende dieser Kette auch noch sie selbst, d.h. „wenn noch etwas übrigbleibt“. Um das Risiko zu verringern, kaufen sie jedesmal alles Mögliche in Budapest ein: Lippenstifte, Mützen, Turnschuhe, Jacken, Uhren, Deosprays, Spielzeug etc.. Und so, wie die mit dem Zug nach Berlin reisenden polnischen Kleinhändler sich in Gruppen organisieren, wobei der Älteste den Schmuggeltarif mit den Zöllnern aushandeln muß, scharren sich die mit dem Bus regelmäßig Budapest ansteuernden Händler um ihr Buspersonal. Diese listen auf der Rückfahrt – bis zur ersten Grenze – alle mitgeführten Waren auf und verhandeln dann mit dem Zoll. Wenn es gut geht, gibt es anschließend keine Beanstandungen bei der Einzelkontrolle der „Kühe“, die jeder Kleinhändler den Zöllnern draußen noch einmal vorführen muß. Und danach wird im ganzen Bus gefeiert und gesungen. Aus gutem Grund.

    Während die Großhändler in Budapest zumeist von den chinesischen Fabriken abgesandt wurden, sind die Standbesitzer auf den regionalen Märkten – in Sarajewo und in Tetovo (Mazedonien) z.B. , denen die vom Filmteam begleiteten Kleinhändler ihre Ware liefern, ebenfalls „früher“ oft Lehrer, Akademiker, Journalisten und sogar Betriebsdirektoren gewesen oder sie kamen nicht mehr mit ihrer Rente hin. In Bosnien heißt einer ihrer Märkte „Arizona“, so genannt nach einem „Check-Point“, den die Uno-Schutztruppen dort als erstes eingerichtet hatten. In Polen ist Arizona dagegen der Name einer Billigweinmarke, mit der all jene sich besaufen, die ihre letzten Habseligkeiten auf dem Basar verkauft haben – mithin an der Marktwirtschaft gescheitert sind. Auch darüber gibt es einen – gleichnamigen – Film: von Ewa Borzecka. Er entsetzte halb Polen, als er im Fernsehen lief. Aber auch ihre anderen Filme – über Warschauer Obdachlose, die in der Kanalisation hausen wie früher die Partisanen, über alleinerziehende Mütter, die sich vom Beischlafdiebstahl ernähren sowie über eine Witwe, die 13 Kinder zu versorgen hat – beschimpfte die polnische Kritik als „Pornographie“. Der Film über den chinesischen Markt in Budapest wurde von dem deutsch-französischen Sender Arte ausgestrahlt, im Rahmen eines Themenabends über „Die Gesetze des Marktes“. Der Regisseur Zoran Solomun ist kein amtlich bestellter Sänger der Marktwirtschaft, sondern ein ehemaliger Belgrader Fernsehredakteur, der sich hier im Exil als selbständiger Filmemacher durchschlägt. – Und der deswegen mit seinen fünf grenzüberschreitend tätig werdenden Einzelhändler-Helden derart mitfühlt, daß man ihm höchstens eine gewisse Großhändler-Feindlichkeit zum Vorwurf machen könnte. Also, daß er die Budapester Chinesen fies gefilmt hat. Einer seiner Kleinhändler hat stets seinen Parteiausweis dabei: „als Amulett, das Glück bringt“. Er war früher Partisan, glaubt noch immer an den Kommunismus, und ist am Ende seines Lebens wieder zu einer Art Partisan des Alltags geworden. Dazu verhalf ihm am Anfang ein Existenzgründerdarlehen über 1500 DM von der Deutschen Bank-Filiale in Sarajewo. Bei jeder Verkaufstour kann er nun „400 DM für sich rausholen“.

    Dieses traurige Schicksal wird von den neuen Neoliberalen meist mit Statistiken vergoldet – über die optimistisch stimmende Entwicklung der Märkte selbst. Ihre frohe Botschaft kann jeder Besucher z.B. der „Polenmärkte“ gleich hinter der Grenze mit eigenen Augen bestätigen: Anfangs gab es nur ein paar Bretter auf Steinen, dann Zelte, Buden und schließlich ganze Boutiquen aus Chrom und Glas mit Neon. Gleichzeitig schritt die nachholende Entwicklung zügig vom Kiosk über den Laden bis zum Supermarkt fort: Man kann sozusagen aufatmen und Business as Usual vermelden – bis weit hinter den Ural bzw. von einer gelungenen Transformationsphase faseln. Vollends abgehoben ist es, davon zu schwärmen, daß der Ameisenhandel keine Grenzen kennt: Gerade die daran Beteiligten, vom Schmuggler bis zum LKW-Fahrer, kennen die Grenzen genau, geradezu intim. Dazu gehört auch das Wissen, daß weniger Angebot und Nachfrage die Preise regeln, sondern eher die Verfolgung. Nicht nur durch konkurrierende Banden. Auf den Märkten an der Grenze zwischen Polen und Rußland beispielsweise kommt es regelmäßig durch Staatseingriffe zum sogenannten Kaliningrader Schweinezyklus: Auf Druck der polnischen Alkoholhändler vertreibt der Zoll mit Razzien die russischen Wodkaschmuggler, die damit aber auch als zahlungskräftige Kunden wegfallen, woraufhin die übrigen polnischen Geschäftsleute protestieren und die Zöllner schließlich nachgeben – bis sich die Lage an der Grenze nach einiger Zeit wieder „normalisiert“. Diese „Wellenbewegung“ erklärte der Bürgermeister des Städtchens Braniewo gerade dem FR-Korrespondenten Klaus Bachmann. Die staatliche Deregulierung der reprivatisierten Versorgungs-Netzwerke hat insgesamt zur Folge, daß es einen permanenten Druck hin zur Legalität gibt (den man in Deutschland erst auf das nicht-versicherungspflichtige Hauspersonal ausübte und demnächst auf die nicht-versicherungsrechtlich anerkannten Prostituierten). Man kann das als Fortschritt feiern, umgekehrt ließe sich aber auch die Flexibilität und Kreativität der Illegalen als „Waffen der Schwachen“ und „alltäglichen Widerstand“ begrüßen, wie das gerade Janet MacGaffey und Rémy Bazenguissa-Ganga in ihrer Untersuchung „Transnational Traders on the Margins of Law“ getan haben, in der sie sich mit den Netzwerken der ebenfalls meist überqualifizierten Händler aus Brazzaville und Kinshasa befassen, die eng mit der kongolesischen Diaspora in Paris kooperieren. Ähnlich beeindruckt von ihren subversiven Fähigkeiten scheint die Filmemacherin Ulrike Ottinger von den Händlerinnen und Prostituierten in Odessa gewesen zu sein, Ende letzten Jahres berichtete ihre Mitarbeiterin Katharina Sykora bereits über die Dreharbeiten, wobei man den Eindruck gewann, daß viele Frauen dort sogar die Heirat mit einem Amerikaner bereits als partisanischen Akt in Angriff nehmen.

    Dazu paßt, das sich in den USA und in Deutschland ein neuer Wirtschaftsratgeber mit dem Titel „Guerilla-Marketing“ derart gut verkaufte, daß der Autor Jay Conrad Levinson gleich noch ein Buch mit dem Titel „Guerilla Verkauf“ nachschob. Wenn aber jeder Kleinhändler gleich zum „Privatpartisan“ erklärt wird, dann ist die neue Marktwirtschaft selbst ein einziger Bürgerkrieg – dessen Gefechte aus unfreundlichen Übernahmen, Mobbing, Kartellen, Razzien, Steuerfahndungen, Entlaubungsaktionen, Beschlagnahmungen etc. bestehen. Nicht zu vergessen: die Privatisierungen. Auf einer Konferenz ostdeutscher Betriebsräte in Rostock, 1993, sagte der Industrieverbandspräsident Till Necker – auf die Frage, wie eine derartig hinterhältige Privatisierung als Abwicklung durch die Treuhand beim Kalibergwerk Bischofferode passieren konnte: „Bei Kali hat es nie eine Marktwirtschaft gegeben – Ende der Durchsage!“ Und wie ist es mit der Elektrowirtschaft? „Dort auch nicht, die ist komplett kartelliert“. Und mit der Stahlindustrie? „Da erst recht nicht!“ Und beim Aluminium: „Da schon gar nicht! Fragen Sie mich nicht weiter – bei den Energieträgern Kohle, Gas, Öl, Atomstrom herrscht erst recht der staatsmonopolistische Kapitalismus, wie das immer die DDR nicht ganz falsch genannt hat. Das wird sich aber jetzt wohl ändern – mit den ganzen Deregulierungen und Privatisierungen“. Sechs Jahre später verteidigte der Vorstandsvorsitzende der russischen Aktiengesellschaft Gazprom auf einer internationalen Gaskonferenz in Berlin seinen Staatskonzern: „Man kann nicht auf Teufel und komm raus einfach alles privatisieren und die Karten neu verteilen – so wie in der russischen Ölindustrie etwa. Am Ende sind dann die Karten alle weg – und die Spieler auch“. Die „Neue Ökonomie“ wird selbst von ihren größten Nutznießern und Ideologen als Revolution von oben charakterisiert.

    Genau umgekehrt sehen das die französischen Autoren einer Aufsatzsammlung über die „Ökonomie der Bürgerkriege“, in der sie sich mit den Befreiungsbewegungen rund um den Globus und ihre Versuche, sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts wirtschaftlich auf eigene Füße zu stellen, befassen. Gerade dabei wird die Wirtschaft von ihnen in den Boden gestampft. Egal, ob die Guerillagruppen sich kommunistisch, nationalistisch, ethnisch oder religiös begreifen, ihre Geschäfte machen sie inzwischen meist mit Drogen, Waffen, Menschenschmuggel, im Sklavenhandel, als Erpresser, fliegende Zöllner und Ähnlichem. Beunruhigt sind die Autoren vor allem deswegen, weil die heutigen Rebellen dahin tendieren, ihre „befreiten Gebiete“ so lange auszuplündern, bis nichts mehr da ist – einschließlich der internationalen Hilfslieferungen. Man könnte hierbei von Selbstkolonialisierung sprechen. Wobei diese „Low intensity conflicts“ zunehmend an Stelle der regulären Staats-Kriege treten – und das kriegerische Handwerk – in Form von Söldnern – wieder goldenen Boden hat. Das begann bereits im libanesischen Bürgerkrieg. Oftmals werden jetzt schon Kinder gezwungen, vom Produktions- in den Destruktionssektor überzuwechseln.

    Es wird also böse enden. Die osteuropäischen und asiatischen Basare sind bereits eine einzige Kaderschmiede – was ja bereits die iranische Revolution befürchten ließ. Und auch hierzulande geht nicht nur die Entwicklung rückwärts – große Kaufhäuser schließen oder weichen Billig-Sortimentern und Sportcentern, daneben üben sich auch immer mehr Kinder hierzulande als Kleinhändler, indem sie ihr Spielzeug zum Verkauf auf der Straße ausbreiten. In den U-Bahnen und Kneipen wechseln sich derweil Musiker mit Zeitungs-, Rosen-, Feuerzeug- und Schmuckverkäufern ab, und aus den von Türken dominierten Trödelmärkten heraus entwickelte sich die „Kanack Attak“ , wie ihr Bundesprecher Feridun Zaimoglu einmal andeutete.

    In den rund 800 Bordellen Berlins dominieren inzwischen schon fast die illegalen Osteuropäerinnen mit Hochschulabschluß, was neulich eine Prostituierten-Expertenkommission aus Indien ganz besonders deprimierte, denn sie gingen bisher bei sich in Bombay immer davon aus, daß nur Aufklärung und Ausbildung die Frauen vor einem derartigen Schicksal bewahren kann: „Sind denn unsere ganzen Qualifizierungskampagnen alles Schwindel?“ fragen sie entsetzt. Auf der anderen Seite sind hier aber selbst die hochgejubelten „Start-Up-Firmen“ vielfach bloß reine Schwindelunternehmen – behauptete jedenfalls der Spiegel vor kurzem, und auch noch die völlig unkritische Berichterstattung darüber, im Handelsblatt z.B., kann man nur als „betrügerisch“ bezeichnen, meinte der Journalist Werner Rügemer in der Jungen Welt. Sogar ein so seriöser Konzern wie Siemens wird seit Beginn der sogenannten Globalisierung an allen Ecken und Ende der Welt der Korruption bezichtigt. Statt Luftkurorte, Erholungsheime und Recreation Center brauchen wir wahrscheinlich bald „Inseln der Integrität“, wo jeder Handel untersagt ist.

    THE INVISIBLE HAND ALS MISSING LINK

    Auf der Berlinale lief ein sehr schöner Dokumentarfilm über den „Jarmark Europa“ in Warschau: dieser Basar ist inzwischen der zweitgrößte Arbeitgeber Polens. Die Filmerin ließ sich Zeit und begleitete mehrmals zwei arbeitslose russische Akademikerinnen, eine Ärztin und eine Musiklehrerin, auf ihren regelmäßigen Zugfahrten nach Warschau. Die eine verkauft dort Uhren aus der ebenfalls von der neuen Marktwirtschaft gebeutelten Uhrenfabrik ihrer Heimatstadt Pensa, die andere russische Bücher, die sie sich vorher in Minsk auf einem nächtlichen Bücherbasar besorgt. Ihre Gewinne am Ende sind minimal: die mit ihrer Rente nicht hinkommende Chefärztin verdient sich auf diese Weise als Händlerin monatlich 40 Euro dazu. Der Slawist an der Viadrina und Osteuropaexperte der FAZ Karl Schlögel verfaßte desungeachtet für das hessische Unternehmerorgan eine fürchterliche Eloge auf diesen „Ameisenhandel“. U.a. heißt es darin: Hunderttausende lernen dabei im Westen, daß man „’normal‘ leben und die Früchte seiner Arbeit genießen kann“. Auf diese Weise werden die Marktbesuche ihnen zu „Schulen des Lebens“, d.h. wenn man ein Leben „im Sog und im Schatten des Basars“ führt, werden „nicht Institutionen ausgewechselt, sondern eine ganze Lebensform“. Diese ist zwar nicht mehr geplant – wie im Kommunismus, sie hat dennoch eine, wenn auch schwer erkennbare „Ratio“: Sie wird nämlich (wieder) gelenkt von einer „unsichtbaren Hand“ (der Marktwirtschaft selbst), die „nicht nur stärker als die Faust jedes noch so mächtigen Diktators ist, sondern auch effizienter“, denn sie setzt sich aus der „kollektiven Intelligenz Tausender von Menschen“ zusammen – aus der Summe ihrer Handelstätigkeiten quasi.

    Wesentlich kritischer als der ehemalige Maoist und Grünaktivist Schlögel sieht der amerikanische Währungsspekulant George Soros die gegenwärtige „Marktlage“ im Osten – wie im Westen. So bezeichnete er z.B. die von Bush Senior und junior weltweit durchgesetzte Politik des Neoliberalismus gerade als angewandten „Sozialdarwinismus“. Der US-Biologe Stephen Jay Gould würde dafür lieber das Wort „Spencerismus“ verwenden. Dieser – Herbert Spencer – hat jedoch Charles Darwins Selektionsthese vom „Survival of the Fittest“ wesentlich beeinflußt, so daß bereits der alte Lamarckist und Anarchist Kropotkin beide für den verwerflichen „Sozialdarwinismus“ verantwortlich machte, welcher dann in der Eugenikbewegung u.a. von den allerchristlichsten Topunternehmern – Rockefeller und Carnegie – gesponsort wurde, wobei man es selektiv vornehmlich auf die neuen Emigrantenmassen abgesehen hatte. Der amerikanische Genetiker Charles B. Davenport z.B. versuchte in diesem Zusammenhang noch 1925 die „genetische Minderwertigkeit“ insbesondere der jüdischen Emigranten nachzuweisen, indem er ihre „Wanderlust“ als „moralische Schwäche“ und diese wiederum als „erblich“ begriff. Dahinter stand die Idee von Herbert Spencer und Charles Darwin, wonach die Gesellschaft ständig ihre „ungesunden, langsamen und unzuverlässigen Mitglieder ausscheiden“ muss. Wer sie unterstützt und integriert, begünstigt nur die Vermehrung dieser „Unfähigen“ und handelt damit wider die Natur – was „der Nachwelt einen immer größer werdenden Fluch“ beschert. Ihren Höhepunkt erlebte die Eugenik-Bewegung im Nationalsozialismus – und mit diesem war sie dann auch erledigt. Wenn man die derzeitigen FAZ-Diskussionen über Darwin und Lamarck verfolgt, dann ist man erstaunt, daß ihre Autoren immer noch oder schon wieder zwischen den beiden Großtheoretikern lavieren, die dabei natürlich immer vom neuesten Stand der US-Menschenforschung ausgehen – also vom Individuum, das ihrer Meinung nun zwischen seiner genetischen Festplatte und einer permanenten Lernhaltung gegenüber seiner Umwelt geradezu oszilliert. Die unsichtbare Ich-Armee besteht aus lauter Projektemachern.

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