vonHelmut Höge 20.05.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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1. Die Siemenskultur

„Where we failed was leadership culture, not company culture“ (Siemenschef Peter Löscher)

Die 12.000 Siemens-Beschäftigten und 3.000 Leiharbeiter bei Siemens in Berlin wurden von der IG
Metall heuer quasi persönlich heraus zum 1. Mai gebeten. Die Vertrauensleute hatten extra einen Stand vor dem Brandenburger Tor aufgebaut. Der Konzern will demnächst rund 7.000 „Siemensianer“ entlassen. Seine Telefonanlagensparte wird mit Millionenzuschüssen verkauft – wahrscheinlich an den Finanzspekulanten Cerberus. Die Finanzkrise zeigt erste „Bremsspuren“, wie der Siemenschef es ausdrückte. Und die Korruptionsaffäre ist inzwischen so weit gediehen, dass sich die Topmanager gegenseitig verklagen …

„Was geht uns das an?“, mögen sich die Berliner Siemensbeschäftigten gefragt haben, denn es fanden sich nur wenige am IG-Metall-Stand ein. Drei von ihnen, die ich von der Betriebsräte-Initiative her kannte, sprachen mich am tazpresso-Mobil an: Sie kritisierten meine Blog-Berichte über Siemens. Ich hätte den Ernst der Lage noch immer nicht erkannt. Es ginge längst nicht mehr um „das volle Ausmaß der Korruption und schwarzen Kassen“ und auch nicht um deren Entstehung aus dem Schweizer Elektrokartell, das Siemens einst mit der AEG und General Electric gründete. Im Gegenteil! Ob ich schon mal was vom Harvard Reindustrialisation Committee oder vom Projekt „Renewing American Industry“ gehört hätte, wollten sie wissen. Ich verneinte. Dann sollte ich gut zuhören.

Wie ich ja wohl wüsste, sei Amerika seit Reagan weitgehend deindustrialisiert worden und auch das öffentliche Transportwesen verfallen. Aber dann leisteten sich immer mehr US-Städte Straßenbahnen – 55 Kommunen bis jetzt, und bald wohl über 500. Diese werden aber heute alle in Berlin hergestellt: von Siemens und Bombardier. Das Reindustriealisierungskomitee, das darauf aufmerksam machte, wurde zunächst belächelt, denn die Amis kauften ja überall im zerfallenden Ostblock und nicht nur dort Fabriken auf. Mit dem erfolgreichen Aufstieg Chinas und der Konsolidierung Russlands durch Putin änderte sich jedoch langsam die Einstellung des US-Kapitals. Nun geriet ihnen auch Mitteleuropa ins Visier. Die ersten Akquisevorstöße, zuletzt von General Electric in Ostdeutschland, wurden von Siemens noch mit der alten Kartellvereinbarung „Heimatschutz“ abgeschmettert. Deswegen versuchte man es umgekehrt: Dem Konzern wurde eine Notierung an der New Yorker Börse schmackhaft gemacht.

Dazu ließ man erstens die deutsche Gesetzgebung ändern: Korruption im Ausland war nun, ab 1999, auch hier strafbar. Und zweitens musste Siemens seine Rechnungslegung weltweit auf Standards umstellen, die von einer Stiftung festgelegt werden, die von US-Konzernen finanziert wird. Die Umstellung besorgte 1999 der Siemens-Finanzvorständler Josef Käser, der sich seitdem „Joe Kaeser“ nennt und schwer erpressbar ist, weil er natürlich in die Siemens-Schmiergeldwirtschaft verwickelt ist.

Des ungeachtet tritt er noch regelmäßig zusammen mit dem neuen Siemenschef Peter Löscher und dem neuen Antikorruptionsvorständler Peter Solmssen als Sprecher auf: Die beiden kommen von Harvard und waren dann Manager bei General Electric! Ihnen arbeitet die New Yorker Anwaltskanzlei Debevoise & Plimpton zu, die von Siemens bisher über 500 Millionen Euro dafür bekam, dass sie den gesamten Konzern „durchleuchtet“ – für die Amis. „Das muss man sich mal vorstellen: Einerseits muss die Ehefrau eines Siemens-Hausmeisters eine dreiseitige Schweigepflichterklärung unterschreiben, bevor sie ihrem Mann die Frühstücksstullen an den Arbeitsplatz nachtragen darf, und andererseits zahlt Siemens Millionen dafür, dass die US-Konkurrenz alle internen Informationen frei Haus erhält.“

Seit dem Platzen der Dotcom- und der Finanz-Blase dränge das US-Kapital immer mehr darauf, Siemens und einige andere EU-Konzerne unter ihren Einfluss zu bekommen. „Anfang 2007 wurden schon mal die zehn Siemens-Geschäftsbereiche auf drei Sektoren reduziert: Gesundheit, Industrie und Energie. Die Bahnsparte (TS), derzeit wegen Pannen bei ihren ,Combino-Straßenbahnen‘ unter Kritik, soll mittelfristig erst mal der kanadische Konzern Bombardier übernehmen …“

„Aber das ist doch die reinste Verschwörungstheorie“, unterbrach ich die drei Siemensianer. „Was soll dieser Einwand denn?!“, bekam ich zur Antwort, „schon Adam Smith wusste: ,Wenn sich mehr als drei Geschäftsleute treffen, handelt es sich ganz sicher um eine Verschwörung gegen die Öffentlichkeit.‘ Und hier haben wir es mit mehr als 300 zu tun. Außerdem haben wir noch gar nicht über den letzten Siemenschef Klaus Kleinfeld, den Cola-light-Trinker aus Bremen, gesprochen: Er ist jetzt Chief Operating Officer des US-Aluminiumkonzerns Alcoa – und die Aluminiumbranche ist die verschworenste, das heißt am strengsten kartellisierte Branche der Welt …“ –

„Aber was kann man eurer Meinung nach gegen diese ganzen Sauereien tun?“, fragte ich. „Nur die Politik kann hier helfen: Siemens muss verstaatlicht werden, bevor der ganze schöne Konzern, der nur mit Staaten Geschäfte macht, verschwindet“, wurde mir geantwortet.

2. Chiffre 68
„Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“ (Michel Foucault)

1968 gingen nicht nur weltweit die Studenten und Arbeiter revolutionär gestimmt auf die Straße, sondern in gewisser Weise auch die Unternehmer, die – vom Geist der Unruhe erfaßt – meinten, sich jetzt auch was Neues einfallen lassen zu müssen. Der Bally-Konzern stellte 68 einige Künstler ein, die sich neue Flipper-Automaten einfallen lassen sollten. Der letzte wurde 1991 in der Neuköllner Bally-Niederlassung entlassen, er eröffnete dann den Techno- und Exstacy-Club „Bunker“. IBM heuerte 68 eine Gruppe von LSD-Freaks an und stellte ihnen einen Computer hin, mit dem sie experimentieren sollten. Als die Gründer des Londoner Arts Lab, Jim Haynes und Jack Moore, aus England ausgewiesen wurden, bekam letzterer in Amsterdam von Sony ein Video-Labor eingerichtet – ebenfalls zum Experimentieren. In Edgar Reitz‘ Monumentalfilm „Heimat“ handelt die 11. und 12. Folge des zweiten Teil von 68: Hier ist es eine Münchner Werbefilmfirma, die den Hauptdarstellern, eine Studentenclique, ein elektronisches Ton- und Filmstudio einrichtet – zum Rumspielen.

In seinem Buch „Das Geschäftsjahr 1968“ hat Bernd Cailloux die Entwicklung des Strobo-Lights und seines daraus entstandenen erfolgreichen Firmenkollektivs beschrieben. Ähnlich entwickelte der Weddinger Erfinder Dieter Binninger 1968 verschiedene Video-Anwendungen – zusammen mit einigen Genossen vom Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, u.a. mit dem „Heiligen Steve“. Im selben Jahr zog Andy Warhols New Yorker „Factory“ um – in ein neues Gebäude, dort wurde dann nur noch „ernsthaft“ und „drogenfrei“ gearbeitet – zu „nüchtern“ für die Feministin Valerie Solanas, die im Sommer 68 mehrmals auf Warhol schoß. In Berkeley bahnte sich 68 der Umbruch in der Biologie an – mit der „zellulären Revolution“ der dort lehrenden Lynn Margulis. Aber auch mit Humberto Maturana, der 68 von Heinz von Foerster an die University of Illinois eingeladen wurde, wo er sein Konzept der „Autopoiesis“ entwickelte. In San Francisco arbeitete derweil der Biologe Stuart Kauffman an einem Computerprogramm – zur Simulation evolutionärer Selbstorganisation.

In Paris las Louis Althusser „Das Kapital“ neu – und eliminierte darin den „Humanismus“, er sowie viele seiner Schüler wurden später alle irre. Im französischen Fernsehen diskutierten 1968 Foucault, Lévy-Strauss, Monod und Jacob über die Analogie von Sprache und genetischem Code. Ebenfalls über den Ursprung der Sprache und die Revolutionierung der Wissenschaften diskutierten 1968 u.a. Waddington, Hayek, Bertalanffy und Jean Piaget unter der Regie von Arthur Koestler in Alpach: „Das neue Menschenbild“. Auf der jugoslawischen Insel Korcula erlebte die philosophische „Praxis“-Gruppe ihren internationalen Durchbruch – alle möglichen revolutionären Denker tauchten ab 68 dort auf: u.a. Marcuse, Fromm, Habermas und Bloch. Neben der „Arbeiterselbstverwaltung“ stritten sie 1968 dort über „Marx und die Revolution“.

Der FU-Religionswissenschaftler Klaus Heinrich hörte dagegen 68 erst mal auf zu streitschriften, er hatte bereits 1964 alles über „68“ in seiner Habil „Über die Schwierigkeit nein zu sagen“ gesagt. Hinzu kamen dann nur noch die Erfahrungen der „Kommune 1“ und „2“. In einem Interview mit dem Leiter der Berliner Treuhand-Regionalniederlassung, Hans-Christoph Wolf, ein ehemaliger Siemens-Manager, kam dieser ebenfalls auf jenes Jahr zu sprechen: „Ich gehöre zu dieser Generation, die hier 1968 an der FU gewesen ist. 1972 gab es einen Unternehmerbrief in Berlin, in dem stand: Stellt die Demonstranten ein oder wie immer man sie genannt hat, also die 68er, dann werdet ihr feststellen, nach wenigen Monaten ist deren Engagement für euch nützlich. Das war ungefähr der Inhalt. Und das stimmt auch. Diese Querdenker, also diese halbe Mischung aus Querulant und Exzentriker, die sind unendlich wertvoll. Sie sind unbequem, klar. Sie stehen nicht unten, wenn der Chef kommt, und halten ihm die Tür auf, weil sie das gar nicht interessiert. Aber wenn man solche Leute in eine Organisation einbauen kann, dann sind solche Organisationen erfolgreich. Glücklicherweise gab es in der Industrie keinen Radikalenerlaß, auch wenn einige Betriebe sich so verhalten haben. Die Kraft liegt nicht in der Konformität.“ Das sagte der Manager 1993. Nun sind wir jedoch vollends in restaurative Zeiten reingerutscht – und es gilt das Gegenteil: Arschkriecherei und Existenzangst. Nur dass dabei in Kunst und Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, in Partnerschaften und Projekten – nur Neobanalitäten bei rauskommen.

3. Früchte des Zorns

In dem mit einem Nobelpreis ausgezeichneten und verfilmten Roman von John Steinbeck geht es um amerikanische Kleinbauern, die während der „Great Depression“ von Großgrundbesitzern enteignet wurden und nach Kalifornien zogen, um sich dort als Erntehelfer – so genannte „Hands“ – zu verdingen. Der Begriff geht auf das 17.Jahrhundert zurück, als Millionen von Kleinbauern und Pächter im Zuge der gewaltsamen Auflösung der Allmende (des Gemeindeeigentums) in England und Irland von den Großgrundbesitzern vertrieben – und als „Hands“ zusammen mit „Negersklaven“ und Kriminellen auf die Plantagen in den britischen Kolonien der beiden Amerikas verschleppt wurden.

In den USA stellen heute die Mexikaner die meisten „Hands“, aber auch in Westeuropa wirbt z.B. Marlboro alljährlich Jugendliche als „Ranchhands“ für amerikanische Farmer an. Hier arbeiten dafür inzwischen Millionen Osteuropäer als Erntehelfer bzw. Saisonarbeitskräfte auf dem Land.

Zwar mögen Marx und Engels Recht haben, dass die Bauern langsam aber sicher den Agrarunternehmern weichen. Als erstes wanderten ihre Lohnarbeitskräfte in die Städte ab, wo sie mehr Geld verdienten. Die Bauern ersetzten sie durch Maschinen und stellten von arbeitsintensiven Feldfrüchten auf „Cash Crops“ um. Aber seit dem Ende des Sozialismus ist diese Entwicklung nahezu weltweit rückläufig: Die Löhne sind wegen der steigenden Arbeitslosigkeit derart verfallen, dass sich hier selbst für Kleinbauern wieder der Anbau von Gemüse, Obst, Blumen usw. und dazu der Einsatz von Erntehelfern lohnt.

In Deutschland müssen die landwirtschaftlichen Arbeitgeber mindestens 10% Arbeitslose einstellen. Aber diese versuchen der stumpfsinnigen und zudem schlecht bezahlten Akkordarbeit zu entkommen. Jedes Jahr sind deswegen die Zeitungen voll mit Drohungen: „Der Spargel verrottet auf den Feldern“, „Es fehlen Erntehelfer“, „Die Erdbeeren verschimmeln am Strauch“, „Deutsche arbeiten lieber in England und auch die Polen bleiben weg“, „Die Gurken vergammeln auf dem Feld“. Derweil sind die Großagrarier dabei, ins Ausland zu expandieren und wollen am Liebsten das ganze Jahr über ernten – im Sommer im russischen Norden und im Winter bis nach Marokko. Allein der norddeutsche „Salatkönig“ Rudolf Behr beschäftigt 6000 Erntearbeiter, sein Imperium reicht von Rumänien über Kroatien bis Spanien, und seine Erntehelfer sollen einmal wie die mexikanischen Wanderarbeiter in den USA dem Erntezyklus folgen. Sie wollen sich aber nicht „mexikanisieren“ lassen.

In Kalifornien, wo die Landarbeitergewerkschaft seit 1972 legal ist – und immer wieder Streiks organisiert, wird gerade an der Entwicklung eines Ernteroboters für Zitrufrüchte gearbeitet, weil man es dort der „ewigen Lohnerhöhungen“ der Erntehelfer leid ist. Im Gurkenstaat Holland, das halb Europa mit seinem Gemüse versorgt bzw. verseucht, arbeitet man an einem Gurkenernte-Roboter. Nicht, weil man die Kampfbereitschaft der Erntehelfer fürchtet, die teilweise aus Sachsen kommen, wo eine holländische Anwerbefirma aktiv ist, sondern weil man nie genug Erntehelfer kriegt. Da jedoch die Löhne für diese „Hands“ weltweit noch immer sinken, werden die teuren Ernterroboter wahrscheinlich noch lange nicht zum Einsatz kommen, in Deutschland wird die Entwicklung von „Spargelrobotern“ deswegen auch nicht staatlich gefördert. In Afrika und Asien, wo bereits über 12 Millionen Menschen von „privaten Unternehmen“ versklavt werden – die meisten in der Landwirtschaft und in Bordellen, wird sogar auf einfachste Erntemaschinen verzichtet, weil die Stundenlöhne – z.B. für Baumwollpflücker – in Afrika bloß 25 Cent, in Pakistan und Indien sogar nur 10 Cent betragen. In Kirgistan arbeitet inzwischen mehr als ein Zehntel der Bevölkerung oft unter menschenunwürdigen Bedingungen im Ausland – auf Tabakplantagen in Kasachstan oder auf halbprivatisierten Kolchosen und Großbaustellen in Russland. Weil es sich dabei überwiegend um Männer handelt, diskutierte das kirgisische Parlament bereits einen Gesetzesentwurf, der es den im Land gebliebenen Männern erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten. Die Entwicklung geht nicht über den Sozialismus hinaus, sondern zurück in die Barbarei. Das betrifft auch die von den heutigen „Hands“ geernteten „Früchte des Zorns“, die bis hin zum Supermarkt und dem Endverbraucher dort alle und alles vergiften – egal ob sie ökologisch oder biologisch und dynamisch angebaut werden.

4. Raumzeugen

So könnte man die „neozaptastische Bewegung“ nennen, die aus dem „lakandonischen Regenwald“ heraus „operiert“. Ihre Sprecher brachten 1994 einen neuen „Ton“ in die Auseinandersetzungen – und das nahezu weltweit. Bald pilgerten Linke aus aller Welt zu den mexikanischen Indianer, erst brachten sie die „Welt“ mit – und nun formieren sie sich dort zu „internationalen Brigaden“. Die Indio-Bewegung versteht sich als „historisches Gedächtnis“: 500 Jahre schafften die Indianer es zu überleben, obwohl von Beginn der Kolonisierung an bis heute ihr Verschwinden, ihre Ausrottung durch Vertreibung in die Slums der Städte oder als Wanderarbeiter bis nach Kalifornien einkalkuliert wurde.

Erst mit dem „zapatistischen Aufstand“ am Tag als der Freihandelsvertrag zwischen Mexiko und den USA in Kraft trat, sowie der „neozapatistischen Guerilla“ und dem „prozapatistischen Enthusiasmus“ – gelangten sie überhaupt wieder in das öffentliche Bewußtsein – bis hin zu den lateinamerikanischen „Weißen“, die manchmal bereits seit Generationen indianische Hausangestellte beschäftigten: Sie hatten sie bis dahin jedoch einfach nicht wahrgenommen. Die sogenannten Ureinwohner existierten nicht (mehr): sie waren nur noch Gegenstand von Musealisierungen. Nach einer stürmischen Phase der Ausbreitung der Indigenen-Bewegung, die geradezu eine Schwemme von Büchern über die Zapatisten und ihrer alten Parole „Land und Freiheit“ zur Folge hatte, begann in Chiapas eine Phase des Nachdenkens. Diese nutzte die dem Neoliberalismus verpflichtete Regierung Calderón zu einer Großoffensive im Bundesstaat: Statt eines Massakers unter den Indianern, wie in Acteal 1997, entschied man sich nun jedoch dafür, Chiapas mit Geld zu befrieden. Es werden Autobahnen gebaut und Privatinvestitionen dorthin gelenkt, gleichzeitig werden große Gebiete der Lakandonengemeinden enteignet, um daraus ein Naturreservat zu machen. Entweder nehmen die Indianer darin Dienstleistungsjobs an oder sie verschwinden. Die Maßnahmen werden vom Militär exekutiert: Das Pazifizierungsprojekt heißt „Ökotourismus“, so wie auch in Burma das Militär die schönsten „Tourist-Resorts“ im Dschungel betreibt – sie heißen dort sinnigerweise „Greenpeace“.

Die neozapatistische Guerilla weigert sich, in dieses „Paradies der Moderne“ einzutreten, sie ist gut bewaffnet und verfügt über reguläre „Soldaten“, dennoch zog sie sich in die Berge zurück, verweigerte also auch den Krieg. Sie begreift sich als Teil des „kulturellen Ökosystems“ – nicht nur der Region, sondern der ganzen Welt. Ihre akuten Gegner sind bloß Charaktermasken. Und sie streben sowieso nicht nach der Macht. Deswegen geht es ihnen statt um eine Parteigründung eher darum, noch tiefer in die Basisorganisationen einzudringen: „In die indianische Kultur des Widerstands,“ so ihr Subcommandante Marcos. Er und einige andere Kader haben dabei den Weg von der maoistisch-guevaristischen „Fokus“-Strategie bis zur „überlebenstüchtigen Unbestimmtheit“ zurückgelegt, wie ein französischer Beobachter meinte. Zunächst stießen sie mit ihrer Agitation bei den Indianern im Wald „gegen eine Wand“, aber dann gelang es ihnen, ihre „Sprache“ in einen „Code“ zu übersetzen, an dem dann auch der Regenwald und die Tiere – bis hin zum „niedersten“, dem inzwischen berühmten Käfer Durito – teilhaben.

Seltsame Dialektik: Je leiser sie wurden – d.h. in das Lokale eindrangen, desto lauter geriet ihre globale Resonanz, bis sie fast einem Spektakel glich. Die neozapatistische Guerilla zehrt vom Situationismus (Umdrehung/Entwendung/Prosituationismus, Masken in der Öffentlichkeit, die nichts verbergen, sondern etwas symbolisieren…), aber mehr noch von ihrem lang andauernden Versuch, den „verlorenen Gebrauch von Wörtern“ wieder zu finden und damit einen „neuen Raum zu schaffen“. Merkwürdig: Die Neozapatisten haben dabei Vorläufer – vor Ort quasi – gehabt: Antonin Artaud, B. Traven, Max Aub und Leo Trotzki.

Ihre „Befreiungsbewegung“ rekrutiert sich heute vor allem „aus der Masse der jungen marginalisierten modernen mehrsprachigen Indios, die bereits Erfahrungen mit der Lohnarbeit gemacht haben,“ wie Garcia de León behauptet. Insofern sie als „Bürger“ Mexikos akzeptiert werden wollen, kann man die Indigenenbewegung, die sich als Teil der weltweiten Migrationsbewegungen auf der Suche nach neuen Arbeits- und Lebensmöglichkeiten begreift, auch eine „Bürgerinitiative“ nennen, wie sie hierzulange gerade überall entstehen – und dazu Planungsbeteiligung und Volksabstimmungen durchsetzen: „Die Politiker sollen gehorchend regieren,“ so sagt es Marcos. Anderswo, in den USA, verlagert sich die öffentliche Meinungsbildung zunehmend von den Kapitalmedien in bürgerinitiierte Internetforen und -blogs. Solcherart „Klein-Werden Schaffen“ läßt überall die Repräsentationsformen erodieren.

5. Die Gegenseitige Hilfe

Es gibt Kaufs- und Verkaufs-Genossenschaften. In ersteren sinken mit jedem neuen Mitglied die Preise und in letzteren die Löhne, grob gesagt. Nach dem Genossenschaftstheoretiker Franz Oppenheimer gilt bei den Genossenschaften ein „Transformationsgesetz“. Zwischen den theoretisierenden Genossenschaftsgegnern und den -anhängern wird darüber gestritten, wobei es im wesentlichen um die Auslegung eines Oppenheimer-Zitats geht, es lautet: „Nur äußerst selten gelangt eine (gesperrte) Produktionsgenossenschaft zur Blüte. Wo sie aber zur Blüte gelangt, hört sie auf, eine (offene) Produktivgenossenschaft zu sein.“

Die Produktivgenossenschaften (sowie auch die „Magazingenossenschaften“) wandeln sich quasi automatisch zu „Ausbeutergenossenschaften mit aristokratischer Verfassung, die sich gegen Beitrittslustige sperren“. In der Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen merkt Werner Kruck dazu an: Wo man sich aber von der „Forderung nach Offenheit“ löst, hat man eine „Produzenten-Assoziation, die sich am Markt behaupten muß und auch kann“. In Israel wurden so gut wie die meisten Agrarassoziationen aus denen einst die Elite des Landes gekommen war und die besten landwirtschaftlichen Errungenschaften, aufgelöst. Sie hatten zuvor schon immer mehr „Kibbuzfremde“ beschäftigt und in immer profitablere Geschäftsbereiche investiert. In China hat man sogar sämtliche Dorfgenossenschaften quasi von oben aufgelöst – bis auf eine.

Die Folge war ähnlich wie bei der Umwandlung der osteuropäischen LPG und Kolchosen: Rund 9/10tel der „Kommune“-Mitglieder mußte emigrieren. Den Verbliebenen wurde eine andere Einstellung zur Produktion abverlangt. Anderswo wird die Prosperität der Genossenschaften durch eine Veränderung des Produkts erreicht. So scheint z.B. die Alternative taz auf dem besten marktwirtschaftlichen Weg zu einer reinen Arbeitsplatzerhaltungsgenossenschaft zu sein. Wie überhaupt die genossenschaftlichen Alternativbetriebe eine Halbwertzeit haben. Irgendwann sind sie ununterscheidbar von den restlichen Marktteilnehmern.

Selbst unter den Bedingungen des großen sozialistischen Schwungs und des russischen Bürgerkriegs machte der Pädagoge und Gründer von Landkommunen für „gefährdete Jugendliche“ Anton S. Makarenko diesbezüglich eine ernüchternde Erfahrung: „Anfangs [ab 1920] waren wir geneigt, nur die Landwirtschaft als wirtschaftliche Betätigung zu betrachten, und unterwarfen uns blind der alten These, die da behauptet, daß die Natur veredle. Diese These war in den Adelsnestern entwickelt worden, in denen die Natur in erster Linie als ein sehr schöner und gepflegter Ort für Spaziergänge und Turgenjewsche Erlebnisse aufgefaßt wurde…Die Natur aber, die den Gorki-Kolonisten veredeln sollte, schaute ihn mit den Augen der ungepflügten Erde an, des Unkrauts, das ausgerodet werden mußte, des Mistes, der gesammelt, aufs Feld gefahren und dann ausgestreut werden mußte, eines zerbrochenen Fuhrwerks, eines Pferdefußes, der geheilt werden mußte… Was konnte es da schon für eine Veredelung geben!“

Ähnlich war es dann mit den Gewerken, d.h. mit den „Kinderkolonien, die ihre Motivationsbilanz auf das Handwerk aufbauten“. Makarenko beobachtete dabei stets ein und das selbe Ergebnis: dass die Jugendlichen als angehende Schuster, Tischler, Maurer etc. immer mehr „Elemente des Kleinbürgerlichen“ annahmen. Und diese stehen der Entwicklung eines revolutionären Kollektivs entgegen, wie er es anläßlich des Umzugs der Gorki-Kolonie in eine größere (in der Nähe von Charkow) sogar an sich selbst entdeckte – nachdem sie alle ihr knappes Hab und Gut zusammengepackt hatten und dabei eine Menge sauer erworbenes bzw. organisiertes „Eigentum“ zurück ließen: „All diese ungestrichenen Tische und Bänke allerkleinbürgerlichster Art, diese unzähligen Hocker, alten Räder, zerlesenen Bücher, dieser ganze Bodensatz knausriger Seßhaftigkeit und Wirtschaftlichkeit war eine Beleidigung für unseren heldenhaften Zug…und doch tat es einem leid, diese Dinge fortzuwerfen.“

Aber auch der „heldenhafteste Zug“ ist irgendwann abgefahren. Nicht selten kommt dann so etwas wie ein neuer „Kollektivegoismus“ auf: Hauptsache unsere Genossenschaft blüht auf – und sei es auf Kosten anderer Genossenschaften. Da hilft auch kein Zusammenfassen zu immer größeren Einheiten. Bereits im „Jahr des großen Umschwungs“ 1929 ließ dazu der großartige Andrej Platonow einen der repressierten Großbauern (Kulaken) in seinem Roman „Die Baugrube“ sagen: „Ihr macht also aus der ganzen Republik einen Kolchos, und die ganze Republik wird zu einer Einzelwirtschaft…Paßt bloß auf: Heute beseitigt ihr mich, und morgen werdet ihr selber beseitigt. Zu guter Letzt kommt bloß noch euer oberster Mensch im Sozialismus an.“ Stalin, der das Manuskript las („mein einziger Leser“ – so Platonow), schrieb an den Rand: „Schweinehund“.

6. Früchte des Kampfes

In Berlin fand Ende 2007 eine Konferenz der „Europäischen Föderation der Gewerkschaften für den Lebensmittel-, Landwirtschafts- und Tourismussektor“ (EFFAT) statt, auf der es um die Europäische Agrarpolitik ging. Der Beitrag der deutschen IG BAU (Bauen Agrar Umwelt) befasste sich dort mit der Situation der Landarbeiter, denen in der europäischen Landwirtschaft eine „wachsende Bedeutung“ zukomme und die deswegen in der Agrarpolitik stärker berücksichtigt werden müssen, so sollten etwa soziale Standards bei der Zertifizierung von Agrarunternehmen eine Rolle spielen.

Die IG BAU beteiligte sich bereits 2004 an der Gründung des „Europäischen Verbandes der Wanderarbeiter“. Der EVW geht von 300.000 legalen Erntehelfern allein in der deutschen Landwirtschaft aus, hinzu kommen noch mindestens einmal so viele Illegale.

Angesichts der guten Gewinnaussichten der Unternehmen in der Landwirtschaft fordert die IG BAU in den anstehenden Tarifverhandlungen der Branche 5,5 Prozent mehr Lohn für die knapp 100.000 tarifgebundenen Agrarbeschäftigten: „Arbeitnehmer, die ständig in der Landwirtschaft beschäftigt sind, müssen an der positiven Entwicklung beteiligt werden – und zwar überproportional“, sagte IG-BAU-Verhandlungsführer Hans-Joachim Wilms. „Landarbeiter verdienen rund 30 Prozent weniger als vergleichbare Industriebeschäftigte.“ (im Durchschnitt 1552 Euro statt 2542), gleichzeitig bekommen die sie beschäftigenden Großbetriebe die meisten Subventionen (über 300.000 Euro jährlich pro Betrieb). Hier kämpft die IG BAU für eine Offenlegung der unsozialen, verdeckt erfolgenden EU-Vergabepraxis. Angeblich sollen insbesondere die adligen Großagrarier hiervon profitieren, sie wurden auch schon bei der Privatisierung der ostdeutschen Wälder bevorzugt bedient.

Kürzlich bezeichnete Michael Prinz zu Salm-Salm – als Präsident der AG Deutscher Waldbesitzerverbände (AGDW) – den tariflichen Mindestlohn für Waldarbeiter in Höhe von 10 Euro 26, den die IG BAU gerade mit dem deutschen Forstunternehmer-Verband (DFUV) ausgehandelt hatte, als „nicht-sachgerecht“. Die IG BAU konterte: „Es ist schon erstaunlich, dass Waldbesitzer, trotz beachtlicher öffentlicher Fördermittel, für Arbeiten, die dem Erhalt ihres Besitzes dienten, immer noch Billiglöhne bevorzugten.“ Zur Information der Landarbeiter und Erntehelfer gibt die Gewerkschaft neben dem altehrwürdigen „Säemann“ auch noch – online – den „L@ndworker“ heraus.

Ein Leitartikel beschäftigte sich mit dem Wandel der „Erntehilfe“: Die „landwirtschaftliche Saisonarbeit wurde bis in die Fünfzigerjahre hinein von ortsansässigen Menschen geleistet, die keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen. Anders als in anderen EU-Ländern, wo versucht wurde und wird, aus dieser Tätigkeit ein ausschließliches und ausreichendes Einkommen zu erreichen, ging es in [West-] Deutschland in erster Linie darum, Familieneinkommen durch Saisonarbeit zu ergänzen. Heute gibt es Betriebe, deren Existenz fast vollständig auf der Arbeit von zumeist polnischen Saisonarbeitskräften beruht. Das hat die IG Bauen-Agrar-Umwelt schon immer kritisiert. Sie hat auch die Frage aufgeworfen, ob solche Betriebe überhaupt Agrarsubventionen bekommen sollen. Die Arbeitsagenturen wollen nun verstärkt einheimische Arbeitskräfte für die Arbeit in der Landwirtschaft gewinnen.

So werden z.B. regionale Vermittlungskonzepte erarbeitet, geeignete Bewerber werden in einem Pool zusammengefaßt und durch Schulungen in Warenkunde und Erntetechnik qualifiziert. Fahrdienste, betriebliche Qualifizierungen und spezielle Aufwandsentschädigungen ergänzen mancherorts das Angebot. Wir meinen: Das ist ein positives Signal.“

Die Erntehelfer beschäftigenden Bauern – z.B. im Alten Land – würden jedoch lieber „ihre“ engagierten Polen behalten, als mit zwangsverpflichteten deutschen Arbeitslosen zu ernten. In dem von der IG BAU mitgegründeten „Europäischen Verband der Wanderarbeiter“ sind bis jetzt ebenfalls die meisten Mitglieder Polen, gefolgt von Rumänen und Bulgaren. Wenn es nach dem Willen der bis nach Spanien ausgedehnten deutschen Großagrar-Unternehmen geht, sollen diese osteuropäischen Erntehelfer schon bald die dortigen Araber zurückdrängen – bevor das dort in einen „Glaubenskrieg“ ausartet, wie „Die Zeit“ nahelegte.

7. Vorwärts! Es geht zurück

1917 führten die Bolschewiki die Ehescheidung ein, die fürderhin wie die Heirat nur noch aus einem einfachen Gesuch bestand – aus einer Unterschrift quasi. 1926 wurde von ihnen das „Gesetz über Ehe, Familie und Vormundschaft“ verabschiedet. „Es betrachtete die Ehe als Zuerwerbsgemeinschaft, in die beide Ehepartner im Falle einer gemeinsamen Haushaltsführung ihr Sondereigentum einbrachten. Aus alles, was sie während der Zeit ihrer Ehe erwirtschafteten, hatten beide Ehepartner gleiche Besitzansprüche. Eheähnliche Verhältnisse waren der Ehe gleichgestellt, im Falle der Beendigung eines eheähnlichen Verhältnisses sollten die Grundsätze des Scheidungsrechtes angewandt werden. Eheliche und uneheliche Kinder waren einander gleichgestellt und der Vater jeweils nach Maßgabe seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Beteiligung am Unterhalt verpflichtet,“ schreibt der Erlanger Slawist Helmut Altrichter in „Die Bauern von Tver“.

Auf dem Land, in den Dörfern galten damals jedoch noch andere, althergebrachte Sitten und Gebräuche. So klagte z.B. ein Bauer in einem Leserbrief, den die regionale Bauernzeitung „Das Tverer Dorf“ 1927 abdruckte: „Die neue Verpflichtung zur Zahlung von Alimenten führt nur zu deren Mißbrauch – ältere schon etwas angestaubte Mädchen, die längst die Hoffnung auf eine Heirat aufgegeben haben, machen sich über junge Burschen her und verschaffen sich so ein sorgloses Leben.“ Andere Leserbriefschreiber und sogar ein Dorfkorrespondent äußerten sich daraufhin ähnlich. Letzterer sah einen engen Zusammenhang zwischen der Einführung der Alimente und dem schamlosen Gebaren mancher Mädchen auf den Zusammenkünften der Dorfjugend. „Um sich einen schönen oder besonders reichen Burschen als Bräutigam zu gewinnen, sei ihnen jedes Mittel recht, auch der Geschlechtsverkehr, wenn nichts anderes helfe. Sollte der so Umworbene sie dann immer noch nicht zur Frau nehmen, müsse er zumindest den Unterhalt zahlen,“ wieder Helmut Altrichter, der vermutet, dass für die Bauern „die Versorgung der unehelichen Kinder wohl eher eine karitative als eine grundsätzliche Frage“ war und dass hier ein modernes universales Recht mit einer alten patriachalischen Agrarmoral zusammenstieß, die sich bereits mit dem Ersten Weltkrieg aufzulösen begonnen hatte, indem immer mehr Frauen den Boden bestellten, sich bildeten, sich an politischen Wahlen beteiligten usw.. Und das gelte gerade für das Tverer Gouvernement.

Nun könnte man sagen, dies sind alles alte vorrevolutionäre russische Bauernprobleme, aber weit gefehlt: Im industrialisierten Deutschland wurde das bolschewistische Ehegesetz von 1926 erst vor einigen Jahren in seiner ganzen Fortschrittlichkeit von Feministinnen durchgesetzt und die reaktionären Bauerngedanken dazu von 1927 wurden in Deutschland fast wörtlich noch einmal 2006 wiederholt – von hochbezahlten Dumpfmeistern wie den FAZ-Herausgeber Frank Schirmacher, den inzwischen gottseidank in die Wüste geschickten Spiegel-Kulturchef Matthias Matussek und dem Verfassungsrichter Udo di Fabio z.B.. Mit Wort und Bild predigen diese „Neokons“ eine Rückkehr zur „Blutigen Idylle des 19.Jahrhunderts“, wie die Autorin Claudia Pinl sich ausdrückte. Insbesondere Matussek ereiferte sich – nach einer für ihn allzu teuer gewordenen Scheidung – über all jene gebildeten Frauen, die sich seiner Meinung nach nur mit einem gutverdienenden Mann einlassen und sich von ihm schwängern lassen, um sich anschließend wieder von ihm zu trennen – und fortan mit seinem Unterhaltsgeld ein üppiges Leben ohne Arbeit und Mühen führen.

Andere Gutverdiener begreifen darüberhinaus auch noch die Scheidungsrichterinnen als unverantwortliche „Comrads in Crime“ – in ihrem laut Claudia Pinl „anschwellenden Bocksgesang“. Überhaupt haben wir es derzeit mit einer Rückkehr zu vermeintlichen Agraridyllen und Blubo zu tun, selbst die Gewerkschaft IG BAU hält es für einen Fortschritt, wenn die Arbeitsämter anfangen, arbeitslose kerndeutsche Städter gegen ihren Willen zu Vollzeit-Erntehelfern umzuschulen. „Es sind ausschließlich Männer, die die Rettung Deutschlands durch die heile Familie, wenn’s sein muss, nach islamischem Muster, beschwören,“ schrieb Claudia Pinl – noch bevor u.a. die neue Familienministerin und Eva Herman anfingen, den o.e. alten Böcken weiblichen Flankenschutz zu geben.

8. Produktiv-Genossenschaften

Die meisten Produktiv-Genossenschaften gibt es in Italien, darauf folgt Tschechien. Dort gibt es sie – mit Unterbrechung während der deutschen Okkupation – seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Entstanden sind sie wegen der starken ausländischen Konkurrenz – z.B. in der Textilindustrie. Deswegen taten sich einige kleine böhmische Textilunternehmer zusammen und gründeten eine Genossenschaft. In der Schweiz gibt es bereits seit dem 15.Jahrhundert Genossenschaften – mit formeller Satzung, um z.B. „die Nutzung der Almen, der Wälder und des Ödlands besser zu regeln,“ wie die Allmende-Forscherin Elinor Ostrom schreibt, die verschiedene Genossenschaften in der Schweiz, in Japan, in Spanien und auf den Philipinen studierte, um empirisch nach einen „dritten Weg“ zwischen Verstaatlichung und Privatisierung zu suchen.

Neuerdings hat dies auch das EU-Büro von Sarah Wagenknecht unternommen, in dem es zwei Studien über die Berliner Wasserwerke und die Sparkasse, die privatisiert werden sollen, in Auftrag gab. In Tschechien ist man quasi den umgekehrten Weg gegangen: Dort hat die Regierung des Neokons Vaclav Klaus in den Neunzigerjahren ein Genossenschaftsgesetz erlassen, dass diesen eine faktische Gleichstellung mit Kapitalunternehmen ermöglicht. Konkret heißt das z.B. dass eine mährische Genossenschaft, die Textilien produziert, sich ein Statut verpasst, in dem die Stimmen der Genossen sich nach der Höhe ihrer Einlagen richten. Auf diese Weise bringen es der Vorsitzende und sein Stellvertreter auf 68% der Stimmen. Die Löhne der rund 200 Näherinnen bewegen sich an der untersten Grenze der Durchschnittslöhne, die in Südböhmen/Mähren gezahlt werden – und sie arbeiten dafür im Akkord.

Anders eine benachbarte Produktivgenossenschaft, in der Nagelscheren und Ähnliches sowie Taschen hergestellt werden. Hier herrscht noch ein relativ gemütliches Arbeitsklima, das sich wesentlich von den chinesischen Textilfabriken unterscheidet, in denen hunderte von jungen Mädchen für einen Hungerlohn im Akkord z.B. T-Shirts zusammennähen, angetrieben von miesen Vorarbeitern, die ihre Arbeiterinnen nicht selten nach Feierabend auch noch sexuell ausbeuten. Aber diese versklavenden Arbeitsbedingungen sind weltweit vorbildhaft – auch die tschechischen Produktivgenossenschaften müssen sich an ihnen messen: d.h. ihre Lohnkosten dürfen nicht wesentlich über den chinesischen liegen. Und in der technologischen Entwicklung sind die Chinesen inzwischen sowieso führend.

Also bleibt den tschechischen Betrieben nichts weiter übrig, als Marktnischen zu besetzen: Sie stellen z.B. tolle Uniformen für die Schweizer Armee her oder schicke Erste-Hilfe-Taschen für die österreichische Bundesbahn. Mitunter können sie auch einen Absatzmarkt mit ökologisch sauberen Produkten halten – z.B. Kinderspielzeug aus Buche mit Naturfarben bemalt. Solche Produkte leistet sich dann die obere Mittelschicht in Japan und Amerika. Und die solcherart teures Kinderspielzeug herstellende Genossenschaft freut sich natürlich, wenn chinesisches Billigspielzeug unter Blei- und Kadmiumverdacht gerät, auch wenn sie deswegen noch lange nicht in die US-Schweinekette „Toys R Us“ aufgenommen wird. In Deutschland gibt es nur wenige Produktivgenossenschaften, die meisten nennen sich schlicht Alternativbetriebe und haben sich als GmbH oder AG registrieren lassen.

Aber in Berlin gibt es die taz und die Junge Welt als eingetragene Genossenschaften. Die erstere ist älter und operiert enger am Markt. Dabei tut sich jedoch ein Widerspruch auf: während die 7900 Geldgeber – als Zeichner von Genossenschaftsanteilen – das „linke Projekt“ mit ihrem Geld unterstützen wollen, drängt es die Redakteure zur (schwarz-grünen) Mitte. Dies hat zur Folge, dass es zunehmend schwieriger für die taz wird, weitere „Linke“ als Genossen zu gewinnen. Die Redakteure mag das jedoch nicht anfechten, insofern sie darauf spekulieren, mit ihrem Mainstreamkurs bald so erfolgreich wie z.B. die Bild-Zeitung zu sein – und damit gut und gerne auf weitere Genossen verzichten zu können. Hier ist die Genossenschaft also bloß ein finanzieller Nothebel, der mit dem eigentlichen Projekt kaum etwas zu tun hat. Wie es bei der Jungen Welt aussieht, weiß ich nicht, das mag die kommende Vollversammlung diskutieren. Grundsätzlich gilt jedoch, dass Journalisten für jeden Genossen unsichere Kantonisten sind. Nicht umsonst galten sie den Bolschewiki als „Klassenfremde“ – entfernter als die Verbrecher. Man muß sie deswegen besonders hart ins Joch zwingen. Pressefreiheit – d.h. für diese halbgebildete Schweinebande bloß, sich trotzdem einen Namen machen zu wollen. Ich weiß, wovon ich rede.

9. Chimären-Produktion

In der Sowjetunion begann die Chimären-Forschung 1927 – mit der Einrichtung einer Affenforschungsstation in Suchumi/Abchasien. Hier versuchten Otto Julewitsch Schmidt und sein Institutsleiter Ilja Iwanowitsch Iwanow Menschen mit Affen zu kreuzen, nachdem sie zuvor in Afrika Experimente zur Kreuzung von Affen mit Menschen unternommen hatten. Erst seit 1972 weiß man, dass sich so keine „Chimären“ erzeugen lassen: also Mischwesen – wie man sie von der „Chimären-Galerie“ auf den Türmen von Notre Dame kennt. Otto Julewitsch Schmidt stürzte sich dann zusammen mit seiner Frau Vera in die Psychoanalyse, die er – gefördert von Leo Trotzki und Adolf Abramowitsch Joffe – fast zu einer Staatswissenschaft ausbaute, u.a. profitierte Sigmund Freud davon. In Westeuropa profitierte man 1968 vor allem von den Erfahrungen seiner Frau Vera Schmidt – mit psychoanalytischen Kindergärten; ihre Schriften wurden hier zu Anleitungen für die „Kinderläden“.

Otto Julewitsch Schmidt wechselte noch in den Zwanzigerjahren von der Psychoanalyse zur Polarforschung. 1933 leitete er mit dem Kapitän Wladimir Woronin eine Expedition zur Erkundung des Nordlichen Seewegs. Dabei wurde ihr Schiff, die „Tscheljuskin“, in der Beringstraße vom Eis eingeschlossen und zerdrückt. Einen Monat mußte die Mannschaft auf einer Eisscholle ausharren, bis sie von Polarfliegern gerettet wurden. Ihre Rückkehr nach Moskau gestaltete sich zu einem Triumphzug – vor allem für die Polarflieger. Otto Julewitsch Schmidt ernannte man zum Leiter der Hauptverwaltung Nördlicher Seeweg. Daneben wurde er dann auch noch Herausgeber der Sowjetischen Enzyklopädie. Sämtliche „Säuberungen“ gingen an ihm still vorüber, in seiner Enzyklopädie schlugen sie sich jedoch alle peinlich nieder. Zuletzt widmete sich Schmidt der kosmologischen Forschung, die mit der Planung der ersten Raketenflüge in den Kosmos forciert wurde.

Dieser letzte Abschnitt seiner freimütigen Weltneugier stieß nach seinem Tod 1956 vor allem in den USA, wenn auch nur kurz, auf Interesse. Dort werden seitdem quasi am laufenden Band Chimären produziert. Es geht eben doch – mittels Gentechnik.

1997 versuchte der amerikanische Gen-Kritiker Jeremy Rifkin als Mitglied im „Rat für eine verantwortungsvolle Genetik“ ein Verfahren zur Herstellung von Mensch-Affen-Chimären patentieren zu lassen – um fürderhin alle ernsthaften diesbezüglichen Ansätze in den Genlabors besser bekämpfen zu können. Seit 1980 waren bereits etliche „Chimären“ zusammengebaut worden – angefangen mit genveränderten Bakterien, Fruchtfliegen und Mäusen über viele Pflanzen bis hin zu einer Kreuzung zwischen Schaf und Ziege. Inzwischen wurden bereits einige tausend Patente bewilligt für Gene und gentechnisch veränderte Zellinien, darunter auch menschliche Zellen. Während in Deutschland die Produktion von Chimären grundsätzlich verboten ist, reicht in den USA bereits die plausible „Beschreibung eines hypothetischen Experiments“ zur Patentierung, wie „Nature“ 1998 anmerkte.

Auf der Affenstation in Suchumi orientierte sich die Forschung ab Anfang der Vierzigerjahre auf das Trainieren von Affen für die Raketen- und Weltraumforschung. In einem anderen Institut, ebenfalls in Suchumi, arbeitete man zur gleichen Zeit an der Entwicklung einer sowjetischen Atombombe, u.a. war der Physiker Manfred von Ardenne daran beteiligt. Als die Sowjetunion auseinanderfiel und in Abchasien/Georgien ein Bürgerkrieg ausbrach, setzte sich der letzte Leiter der Affenstation Boris Lapin mit etlichen Mitarbeitern und Tieren nach Adler in Russland ab. Dort werden nun gegen Bezahlung medizinische Experimente mit den Affen angestellt. Das Institut verbraucht jährlich 3700 Tiere. In Suchumi werden noch 286 gehalten – in Käfigen; das große Freilandgehege wurde im Bürgerkrieg zerstört – die wenigen Affen, die überlebten, halten sich im Gebirge versteckt.

In Deutschland berichtete die Springerstiefelpresse 2003 mit Fotos aus dem US-Film „Planet der Affen“, dass Stalin laut einiger wiedergefundender Dokumente mit der Chimärenproduktion auf der Affenstation von Suchumi eine Geheimarmee besonders bestialischer Soldaten züchten wollte. Der „Independent“ wußte dagegen 2008 zu berichten, dass die Sowjets dort bestimmte „proletarische Prototypen“ entwickeln lassen wollten – mit denen sich das Tempo der Industrialisierung des Landes forcieren ließ.

Das stimmt zwar beides nicht, aber wahr ist wahrscheinlich, dass es im Westen inzwischen „mindestens 30 menschliche Chimären“ gibt“, sagt jedenfalls Michael Chrichton. 2005 wurde der Patentantrag von Jeremy Rifkin abgelehnt. Er ist darüber froh, denn damit wurde die Diskussion über die Produktion und Profitabilisierung transgener Lebewesen neu eröffnet. Die Forschung wird sie jedoch nicht aufhalten können: „Wir lösen uns sozusagen als Gattungsidentität auf“, in dem wie aus der „biologischen Matrix“ aussteigen, „das ist das, was heute ansteht,“ meint der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme, und dass damit die „Differenz“ zwischen Tier und Mensch langsam verschwindet. Wir müssen uns neu definieren. Das wollte auch schon Otto Julewitsch Schmidt mit seinen Experimenten – im revolutionären Überschwang.

10. Le Grand Magasin

So nennt der Bildhauer Andreas Wegner sein neuestes Projekt, das erst einmal darin besteht, dass ausgewählte Waren von Produktivgenossenschaften aus ganz Europa in der Galerie des Kunstamts Neukölln ab dem 19. September zum Verkauf ausgestellt werden. Von da aus weitet sich das EU-geförderte Projekt nach Usti nad Labem, Budapest und an den Plattensee aus, außerdem kommen eine Reihe von Künstlerinnen, die sich mit Genossenschaften beschäftigten, mit ins Spiel, sowie Diskussionen, Veranstaltungen etc.. In diesem Zusammenhang, quasi im Vorfeld, soll deswegen hier auch immer mal wieder von Genossenschaften die Rede sein.

Die taz ist übrigens eine (Leser-) Konsumgenossenschaft, in der dann eine Produktivgenossenschaft (der Mitarbeiter, die vorher einen Verein mit diversen GmbHs bildeten) aufging. Dies war die „kleine Lösung“ (zur Behebung der bis dahin immer wiederkehrenden „taz-Krisen“) – vor allem der Nicht-Redakteure, die damit die „große Lösung“ der Redakteure ausstachen. Diese favorisierten ein Sanierungs-Konzept, das darin bestand, sich z.B. an den Spiegelverlag/Augstein zu verkaufen. Etwa so wie der aus einem Wagenbach-Putsch einst entstandene Rotbuch-Verlag an Rowohlt. Ähnliches unternahm zuvor auch das taz-Vorbildprojekt „Liberation“, indem es sich mit dem „Big Business“ verband. 2006 wollte der Kapitalgeber das weiterhin Verluste machende Blatt jedoch wieder loswerden und versuchte, es ausgerechnet an den deutschen Springerverlag zu verscherbeln, wo dann wahrscheinlich der ehemalige Frankfurter „Autonomie“-Herausgeber Thomas Schmid für die „Libé“ verantwortlich gewesen wäre, der einst gegen den Springerstiefel-Verlag kämpfte und nun dort ausgerechnet für dessen „Intelligenzblätter“ zuständig ist: „Mit Schmid“, sagt ein Springer-Mitarbeiter etwas gespreizt, „soll in der ganzen Gruppe eine gewisse Intellektualität einziehen“.

Die taz hat neben der Genossenschaft, die immer mehr (zahlende) Mitglieder gewinnt, nun auch noch aus ihrem „Panter-Preis“ (für herausragende soziale Individualaktivitäten, die als „Tu gut“ gelten) eine Stiftung gegründet – und acquiriert nun also neben Genossen auch noch fleißig neue Stifter. Ihre Stiftung soll einmal eine taz-Akademie finanzieren. Und diese wird dann der zunehmenden Zahl von Praktikanten statt eines zuckersüßen Arbeits-Lohns wenigstens ein vollkornherbes Bildungs-Brot anbieten.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/05/20/weitere-diversitaeten/

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