Die kommunistische Ostberliner Junge Welt gründete vor einigen Jahren eine Genossenschaft, um zu überleben. Zuvor hatte bereits die alternative Westberliner tageszeitung eine (Leser-) Konsumgenossenschaft gegründet, in der dann eine Produktivgenossenschaft (der Mitarbeiter, die vorher einen Verein mit diversen GmbHs bildeten) aufging. Dies war die „kleine Lösung“ (zur Behebung der bis dahin immer wiederkehrenden „taz-Krisen“) – vor allem der Nicht-Redakteure, die damit die „große Lösung“ der Redakteure ausstachen. Diese favorisierten zuvor ein Sanierungs-Konzept, das darin bestand, sich z.B. an den Spiegelverlag/Augstein zu verkaufen. Etwa so wie der aus einem Wagenbach-Putsch einst entstandene Rotbuch-Verlag an Rowohlt. Ähnliches unternahm zuvor auch das taz-Vorbildprojekt „Liberation“, indem es sich mit dem „Big Business“ verband. 2006 wollte der Kapitalgeber das weiterhin Verluste machende Blatt jedoch wieder loswerden und versuchte, es ausgerechnet an den deutschen Springerverlag zu verscherbeln, wo dann wahrscheinlich der ehemalige Frankfurter „Autonomie“-Herausgeber Thomas Schmid für die „Libé“ verantwortlich gewesen wäre, der einst gegen den Springerstiefel-Verlag kämpfte und nun dort ausgerechnet für dessen „Intelligenzblätter“ zuständig ist: „Mit Schmid“, sagt ein Springer-Mitarbeiter etwas gespreizt, „soll in der ganzen Gruppe eine gewisse Intellektualität einziehen“.
Die taz hat neben der Genossenschaft, die immer mehr (zahlende) Mitglieder gewinnt, nun auch noch aus ihrem „Panter-Preis“ (für herausragende soziale Individualleistungen, die als „Tu gut“ gelten) eine Stiftung gegründet – und acquiriert jetzt also neben neuen Genossen auch noch fleißig neue Stifter. Ihre Stiftung soll einmal eine taz-Akademie finanzieren. Und diese wird dann der zunehmenden Zahl von Praktikanten statt eines zuckersüßen Arbeits-Lohns wenigstens ein vollkornherbes Bildungs-Brot anbieten.
Auch Google hat neuerdings eine Stiftung. Der kalifornischen Firma gelang es außerdem gerade, die unfreundliche Übernahme durch den Mikrosoft-Konzern abzuwehren. Während die zigmilliardenschwere und größenwahnsinnige Stiftung des Mikrosoftgründers Bill Gates fürderhin ausgerechnet mit den Genprodukten des gemeingefährlichen Schweinekonzerns Monsanto global Gutes tun will, ist die kleinere mit 1,3 Milliarden Dollar ausgestattete Google-Stiftung eher mit dem Gegenteil befaßt: Sie gibt Geld für Umweltschutz-Projekte aus. Und dazu hat sie nun als Stiftungspräsidenten den 68er-Acidkopf Larry Brilliant angestellt. Der sagt von sich: „Ich mache hundert Fehler am Tag. Ich liege und habe immer und werde auch in Zukunft immer hundertprozentig daneben liegen.“
Der Grateful-Dead-Anhänger fragt sich nun dennoch furchtlos: „Was möchte ich für die Welt tun und was kann ich für die Welt tun?“ Der US-Verschwörungskenner Matthias Broeckers hält Lary Brilliant als Google-Stiftungspräsidenten für geradezu brilliant: „Der macht genau das Gegenteil wie die Gates-Stiftung.“ Und gegenteilig gepolt wirkt Brilliant (von russisch Brilliantow) auch im Vergleich zu den jungen smarten Businesstypen aus der IT-Branche, die er jetzt um Spenden angeht: „Er ist 63 und kein sushi-sleek“, wie die Rolling Stone schreibt, „er hat einen Buddhabauch und einen Ziegenbart – und er ist Arzt“. Nach seiner Hippie- und LSD-Zeit arbeitete er in der Seuchenbekämpfung im Himalaja. Von daher ist ihm bewußt: „Das Problem mit den Philantropen ist, dass reiche Leute meistens nichts über arme wissen.“ (William Easterly).
Der Google-Konzern ist im Silicon-Valley in eine ganze Psychedelik-Kultur eingebettet, in der die Acidköpfe einst den Übergang von zentralistischen Großrechnern (IBM) zu vernetzten Personalcomputern (Apple) – als „Fahrräder für den Geist“ (Steve Jobs) bewerkstelligten. Das Google-Unternehmen wird dort gar als die erste „psychedelically informed superpower“ bezeichnet. Dennoch unterscheidet sich dessen Konzernziel nicht groß von allen anderen: Es geht wie immer darum, „to take over the world“. Und das alte kalifornische Hippiemotto heißt heute im Silicon-Valley: „Fuck with the System!“ Aber Brilliant wurde von Google als „Veteran der Revolution“ eingestellt, der sich noch immer als Teil der revolutionären „Counter-“ und nicht der „Computerculture“ sieht, die bis auf Jack Kerouac, Ken Kesey und den Merry Pranksters zurückreicht. Und er steht nach wie vor Richard Alpert, Timothy Leary und dem indischen Guru Neem Karoli Baba näher als den ganzen Google-Senior- bzw. Junior-Managern und allen smarten Zustiftern von ähnlichem Kaliber. Seinen eigenen neuen Stiftungsansatz bezeichnet er als „hybride Philantropie“: Mit den Projekten aus den Stiftungsgeldern wird er zwar eventuell auch Profite machen, „aber in Wirklichkeit engagieren wir uns nicht aus Profitinteresse, sondern weil das Geschäftemachen bessere Möglichkeiten bietet, Arbeitsplätze zu schaffen, als wenn man Almosen gibt.“
Der Kapitalismus basiert und boomt laut Werner Sombart und Alois Schumpeter auf und in einem Prozeß der fortwährenden „schöpferischen Zerstörung“. Dies gilt besonders für die aus der westlichen Militärtechnik im Zweiten Weltkrieg entwickelte Kybernetik – für die Organismen, Maschinen und Volkswirtschaften identisch sind und die in der globalen Durchsetzung der Computertechnologie gipfelte. Man spricht hierbei auch von einer Dritten (Elektronischen) Revolution. Die derzeitigen sozialen und kulturellen Auswirkungen ihrer schöpferischen Zerstörungskraft beschrieb Kurt Vonnegut bereits 1952 – in seinem Roman „Das höllische System“.
Zu den Gegnern dieses Systems zählte ab den Achtzigerjahren der Berkeley-Mathematiker und Computerpionier Theodore Kaczinski, auch bekannt als UNA-Bomber, dem der Leipziger Künstler 2004 mit seinem Film „Das Netz“ ein einfühlsames Porträt widmete, das Arte nun als ein „Roadmovie zwischen LSD-Kybernetik und Technophobie“ bewirbt. Der Hamburger Nautilus-Verlag gab dazu ein Buch heraus. Anders die Feinde und Briefbomben-Adressaten des UNA-Bombers – Bill Gates und alle anderen Dot.Com-Unternehmer, die mit ihrer schöpferischen Zerstörung der alten Schwermaschinen-Ökonomie derart viel Geld verdienten, dass sie sich nun daranmachen, mit ihren Stiftungen die Folgen auch wieder zu „heilen“. Ein absurdes Theater: Einerseits zerstört z.B. der New Yorker Multimilliardär George Soros mit seinen feisten Fondsgesellschaften weltweit alle sozialen Zusammenhänge, indem er z.B. in Berlin-Kreuzberg tausende von Wohnungen aus dem sozialen Wohnungsbau (Bewoge) aufkauft, um die Mieter dann erbarmungslos auszuquetschen, damit sich daraus eine gehörige Rendite „erwirtschaften“ läßt. Andererseits gibt der selbe Soros Zigmillionen aus, um – ebenfalls weltweit – soziokulturelle Projekte mit seinen fetten Stiftungen zu finanzieren. Dieses Vorgehen ist derart absurd, dass man am Liebsten alle Stifter sofort aus der Welt schaffen möchte, denn als solche haben sie ganz sicher bereits viel zu viel schöpferisch zerstört – sonst hätten sie nicht so viel Geld, um damit sinnlos und wie belämmert Gutes tun zu wollen. Wenn es sich bei den Stiftern um Amis handelt, dann wollen sie auch noch immer gleich die ganze Welt retten mit ihren schmutzigen Bucks. Unter dem tun sie es nicht!
Im Falle von Google-Vorständler Larry Brilliant resultiert dieser Widerspruch aus „68“: „The Sixties will be remembered as the time when we opened every book, turned over every rock, asked every question,“ meint er, der die heute notwendigen sozialen Veränderungen primär für eine Frage der „Transformation des menschlichen Bewußtseins“ und des „menschlichen Willens“ hält. Transformation klingt immer gut, so wie Struktur und Optimierung – ist aber alles bullshit!
1968 gingen nicht nur weltweit die Studenten und Arbeiter revolutionär gestimmt auf die Straße, sondern in gewisser Weise auch die Unternehmer, die – vom Geist der Unruhe erfaßt – meinten, sich jetzt auch etwas Neues einfallen lassen zu müssen. Der Bally-Konzern stellte 68 in Berlin z.B. einige Künstler ein, die sich neue Flipper-Automaten einfallen lassen sollten. Der letzte wurde 1991 in der Neuköllner Bally-Niederlassung entlassen, er eröffnete dann den Techno- und Exstacy-Club „Bunker“. IBM heuerte 68 eine Gruppe von LSD-Freaks an und stellte ihnen einen Computer hin, mit dem sie experimentieren sollten. Als die Gründer des Londoner Arts Lab, Jim Haynes und Jack Moore, aus England ausgewiesen wurden, bekam letzterer in Amsterdam von Sony ein Video-Labor eingerichtet – ebenfalls zum Experimentieren.
In Edgar Reitz‘ Monumentalfilm „Heimat“ handelt die 11. und 12. Folge des zweiten Teil von 68: Hier ist es eine Münchner Werbefilmfirma, die den Hauptdarstellern, eine Studentenclique, ein elektronisches Ton- und Filmstudio einrichtet – zum Rumspielen. In seinem Buch „Das Geschäftsjahr 1968“ hat Bernd Cailloux die Entwicklung des Strobo-Lights und seines daraus entstandenen erfolgreichen Firmenkollektivs beschrieben. Ähnlich entwickelte der Weddinger Erfinder Dieter Binninger 1968 verschiedene Video-Anwendungen – zusammen mit einigen Genossen vom Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, u.a. mit dem „Heiligen Steve“. Im selben Jahr zog Andy Warhols New Yorker „Factory“ um – in ein neues Gebäude, dort wurde dann nur noch „ernsthaft“ und „drogenfrei“ gearbeitet – zu „nüchtern“ für die Feministin Valerie Solanas, die im Sommer 68 mehrmals auf Warhol schoß.
In Berkeley bahnte sich 68 der Umbruch in der Biologie an – mit der „zellulären Revolution“ der dort lehrenden Lynn Margulis. Aber auch mit Humberto Maturana, der 68 von Heinz von Foerster an die University of Illinois eingeladen wurde, wo er sein Konzept der „Autopoiesis“ entwickelte. In San Francisco arbeitete derweil der Biologe Stuart Kauffman an einem Computerprogramm – zur Simulation evolutionärer Selbstorganisation. In Paris las Louis Althusser „Das Kapital“ neu – und eliminierte darin den „Humanismus“, er sowie viele seiner Schüler wurden später alle irre. Im französischen Fernsehen diskutierten 1968 Foucault, Lévy-Strauss, Monod und Jacob über die Analogie von Sprache und genetischem Code. Ebenfalls über den Ursprung der Sprache und die Revolutionierung der Wissenschaften diskutierten 1968 u.a. Waddington, Hayek, Bertalanffy und Jean Piaget unter der Regie von Arthur Koestler in Alpach: „Das neue Menschenbild“. Auf der jugoslawischen Insel Korcula erlebte die philosophische „Praxis“-Gruppe ihren internationalen Durchbruch – alle möglichen revolutionären Denker tauchten ab 68 dort auf: u.a. Marcuse, Fromm, Habermas und Bloch. Neben der „Arbeiterselbstverwaltung“ stritten sie 1968 dort über „Marx und die Revolution“. Der FU-Religionswissenschaftler Klaus Heinrich hörte dagegen 68 erst mal auf zu streitschriften, er hatte bereits 1964 alles über „68“ in seiner Habil „Über die Schwierigkeit nein zu sagen“ gesagt.
In einem Interview mit dem Leiter der Berliner Treuhand-Regionalniederlassung, Hans-Christoph Wolf, ein ehemaliger Siemens-Manager, kam dieser ebenfalls auf jenes Jahr zu sprechen: „Ich gehöre zu dieser Generation, die hier 1968 an der FU gewesen ist. 1972 gab es einen Unternehmerbrief in Berlin, in dem stand: Stellt die Demonstranten ein oder wie immer man sie genannt hat, also die 68er, dann werdet ihr feststellen, nach wenigen Monaten ist deren Engagement für euch nützlich. Das war ungefähr der Inhalt. Und das stimmt auch. Diese Querdenker, also diese halbe Mischung aus Querulant und Exzentriker, die sind unendlich wertvoll. Sie sind unbequem, klar. Sie stehen nicht unten, wenn der Chef kommt, und halten ihm die Tür auf, weil sie das gar nicht interessiert. Aber wenn man solche Leute in eine Organisation einbauen kann, dann sind solche Organisationen erfolgreich. Glücklicherweise gab es in der Industrie keinen Radikalenerlaß, auch wenn einige Betriebe sich so verhalten haben. Die Kraft liegt nicht in der Konformität.“ Das sagte der Manager 1993.
Nun sind wir jedoch vollends in restaurative Zeiten reingerutscht – und es gilt das Gegenteil bei gleichzeitiger Flucht nach vorne: „Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“ fragte sich Michel Foucault.