Der Platzwart von Compiègne hat, wie so viele Platzwarte von historischen Stätten, das Hauptexponat, hier ein Eisenbahnwaggon, mit einigen Pollern aufgewertet, wie er meint. In Wirklichkeit war dies jedoch bloß eine ebenso phantasielose wie dämliche Aktivität auf einem völlig sinnlos ins Staatsgeschichtliche erhobenen Öd-Gelände. Wikipedia schreibt – wie üblich in scheinbar sachlich-neutraler Dummdarstellung:
„Compiègne ist bekannt durch die Unterzeichnung zweier Waffenstillstände zwischen Deutschland und Frankreich (Waffenstillstand von Compiègne):
* Am 11. November 1918 wurde im Wald von Compiègne in einem Eisenbahnwagen der Waffenstillstand geschlossen, der den Ersten Weltkrieg beendete. Beteiligte: der französische Marschall Ferdinand Foch und der deutsche Politiker Matthias Erzberger.
* Fast 22 Jahre später am 22. Juni 1940 wurde der Waffenstillstand zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich unterzeichnet. Beteiligte waren die Generäle Wilhelm Keitel auf deutscher sowie Charles Huntziger auf französischer Seite.
Später wurde unter den Nazis in Compiègne ein Transit- und Internierungslager (von Juni 1941 bis August 1944) in Royallieu eingerichtet. Politisch umstritten war damals die Kollaboration des Vichyregimes mit der Besatzungsmacht. Der erste Zug mit politischen Häftlingen verließ Royallieu am 6. Juli 1942 in Richtung Auschwitz (Vernichtungslager).“
„Politisch umstritten“ – wie kann man eine solch dämliche Spießerfloskel nur in diesem Zusammenhang verwenden? Politisch umstritten ist vielleicht das Rauchverbot in Kneipen oder die Erhöhung des Kindergeldes für reiche Erzieher, aber doch nicht die verbrecherisch mit den Nazis paktierende Vichyregierung.
Das Photo schickte mir Peter Grosse, für den ich umgekehrt etwas über Zecken und Kühe und die damit zusammenhängende Frühjahrsmüdigkeit recherchieren sollte. Die von mir bisher darauf angesprochenen Medizin- bzw. Biologie-„Experten“ konnten mir nicht weiter helfen oder waren zu spezialistisch verstockt, um einen solchen Zusammenhang überhaupt zu denken. Überhaupt ist der Zeitpunkt für solch ein Denken derzeigt denkbar ungünstig, denn mit unserer zunehmenden Amerikanisierung schätzen wir die europäische Tradition der spekulativen Philosophie immer geringer – zugunsten dumpfesten Fact-Gathering. Aus Sinnhuber werden so Faktenhuber, dabei hatte Adorno schon doch schon fast alles über das Elend des US-Empirismus gesagt. Im übrigen gibt es neben dieser Alternative auch noch etwas Drittes: Meghuber – eine feministische Philosophie, von der ich jedoch schon lange nichts mehr gehört habe. Schade.
Zu „Compiègne“ sei abschließend noch der Text „Ein Gang durch den Wald von Compiègne“ erwähnt – von Cord Riechelmann, 2004 in der FAS veröffentlicht und demnächst in seinem Mervebuch über den Wald wieder auftauchend. Der letzte Satz darin lautet:
„Zurück in Compiègne, fiel einem dann aber doch irgendwie noch ein, daß man vergessen hatte, den Platz um jenen Waggonwagen zu besuchen, in dem erst der „Hochmut des Deutschen Reiches“ gebrochen wurde und dann etwas später ein Mensch, dessen Namen sie in Compiègne nicht so gern hören, seine Reiterstiefel-Ballettschritte aufführte. Aber der Waggon sei sowieso nicht echt, hatte der Fahrradverleiher noch gesagt, der richtige sei in Berlin verbrannt. Und man sah seinem Gesicht an, daß er das gut fand.“
Der Biologe und Waldforscher Cord Riechelmann fand auf dem Platz statt eines nachgebauten Waggons nur noch die dort in einem Halbkreis verlaufenden Schienen sowie einen (pollerförmigen?) Gedenkstein: „Das Ganze sieht aus wie ein modernes Kunstwerk,“ meinte er. Das obige Photo stammt noch aus der sogenannten Nazizeit, der Soldat ist also ein Deutscher, er sollte den Waggon und die ebenfalls von einem deutschen Platzmeister aufgestellten Poller vor den nicht einmal vor Gewalt gegenüber Sachen zurückschreckenden Terroristen der Résistance schützen. Als die Deutschen sich endlich zurückziehen mußten, nahmen sie dann auch den Waggon mitsamt den vier Pollern sicherheitshalber mit – heim ins Reich, d.h. nach Berlin, wo er wie oben erwähnt bei einem Terrorangriff der Alliierten in Flammen aufging. Die vier Poller soll angeblich der Direktor des deutschen Kohlmuseums, Stölzl, für viel Geld für das Deutsche Historische Museum Unter den Blinden gekauft haben, wo sie nun im Le Grand Magazin de Kohl/Stölzl liegen und fast täglich gewienert werden – von DDR-Museologen, die Stölzl 1992 zum Garderoben- bzw. Exponate-Putzdienst degradierte. „Gegenüber Stölzl war unser alter Museumsdirektor doch wirklich noch ein harmloser Bursche,“ so sagte es einer von ihnen. Aber diese Geschichte kennt man bereits – aus der Südstaaten-Schmonzette „Onkel Toms Hütte“: Auch dort erwies sich schon rückblickend der alte sklavenschinderische Planatagenbesitzer gegenüber dem neuen modernen Yankee-„Farmer“ aus dem Norden fast als ein wahrer Menschenfreund. Und heute haben wir wieder das selbe – in Deutschland: Mindestens 70% aller Ostler sind der Meinung, dass die brutale SED-Diktatur mitsamt Stasi und Hasi doch noch ein wahres Honigschlecken war – gegenüber dem neoliberalen BRD-Demokratie-Regime, das jetzt dort in Ostelbien west. „Der Sozialismus hat uns schon arg gebeutelt, aber der Kapitalismus macht uns nun völlig fertig,“ so sagte es der Melker Günter Schinske aus Pritzwalk – und hörte auf zu essen, zwei Wochen später war er tot.
Übrigens hat man auch schon früher Ostelbien stets mit den sklavenhalterischen Südstaaten verglichen. In der eingewesteten Kapitalpresse – bis hin zur Genossenschaft taz erregt man sich derzeit darüber, dass die Jugend so wenig über die DDR und die dortige „Brutal-Diktatur“ weiß. Man muß leider sagen, dass auch die eingewesteten Erwachsenen so gut wie nichts über die DDR wissen. Viele meinen z.B. sie sei an der Unfreiheit zugrunde gegangen. Weit gefehlt: Sie scheiterte nicht an zu wenig, sondern an zu viel Freiheit – im Produktionsbereich nämlich! D.h. die Arbeiter und Bauern (aber auch die Intelligenz) wurden in der DDR nicht hart genug rangenommen – ausgebeutet, so wie im Westen. Das selbe galt auch für die UDSSR und China, wobei man dort unterschiedliche Hebel anwandte, um eine nachholende Wiederversklavung zu erreichen. Nicht umsonst zählen Mao und Stalin dort zu den beliebtesten Promis, wie eine Umfrage gerade ergab. Die in Russland ist noch nicht abgeschlossen. Aber auch hier sind noch nicht alle Messen gesungen: Über kurz oder lang wird es erneut heißen „Gerechtigkeit statt Freiheit“. Wetten!