Es geht mir bei diesem „Thema“ darum, die Genossenschaften von allen Seiten und in allen Ländern zu allen Zeiten zu beleuchten – was natürlich unmöglich ist.
„Das Ich ist nicht nur hassenswert, es hat nicht einmal Platz zwischen Uns und dem Nichts.“ (Claude Lévy-Strauss)
Der Tagesspiegel schreibt – unter „Selbsthilfe macht stärker“:
„Die genossenschaftliche Organisationsform, die auch heute mit den Begriffen Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung umschrieben wird, ist im Grundsatz ein Zusammenschluss von Menschen, die sich in gleichen oder ähnlichen Problemlagen befinden und gemeinsam Lösungen suchen. Der Genossenschaftsgedanke ist deshalb alt. Doch erst im Zeitalter der Industrialisierung greift die Genossenschaftsidee um sich. Vorreiter ist natürlich das Mutterland der industriellen Revolution – England.
Der Textilfabrikant Robert Owen baut ab 1799 im schottischen New Lanark einen Musterbetrieb auf. Der Sozialreformer sorgt für menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Er lässt Wohnungen bauen und besorgt Lebensmittel zu günstigen Preisen. Er verbietet die Arbeit von Kindern unter zehn Jahren und errichtet eine Schule.
Owens Wirken beeinflusst die englische Konsumgenossenschaftsbewegung. Durch gemeinsamen Einkauf versuchen Arbeiter, die Kosten des täglichen Bedarfs zu senken. Diese Bewegung ist zugleich Ausdruck einer landesweiten Misere. In keinem anderen Land konzentriert sich der Landbesitz auf so wenige Personen, ist die Zahl der Landlosen und die der Fabrikarbeiter so groß. Sie alle sind auf den Kauf von Lebensmitteln anwiesen, die sie von zum Teil skrupellosen Händlern beziehen müssen, die nicht davor zurückschrecken, verdorbene, verfälschte, gestreckte, gepanschte und überteuerte Waren anzubieten. Die Gründung der „Rochdale Society of Equitable Pioneers“ 1844 gilt heute als die Geburtsstunde der weltweiten Genossenschaftsbewegung. Nicht die Gründung als solche ist das entscheidende – Konsumvereine gab es schon vorher –, sondern die Leitgedanken legen den Grundstein für die Bewegung. Die Rochdaler Prinzipien, die offene Mitgliedschaft, der demokratische Grundsatz: eine Person – eine Stimme, die Überschussverteilung im Verhältnis zum Einkauf des Mitglieds, begrenzte Verzinsung der Geschäftsanteile, politische und religiöse Neutralität, Barzahlung und die Förderung von Bildung sind heute die Leitlinien des Internationalen Genossenschaftsbundes.“
Hinzugefügt sei: Die Rochdale Society gründete Jahrzehnte später auch eine „Rochdale Bank“ – zur Finanzierung genossenschaftlich geführter Unternehmen. Diese ebenfalls als Genossenschaft organisierte Bank war sehr erfolgreich – zu erfolgreich: Als sie wieder einmal sehr viel Geld aufgenommen hatte, um damit ihren Zweck zu erfüllen, zwangen die Kapitalgeber sie, sich in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Never trust a capitalist pigtrust! Die heutigen Genossenschaftsbanken haben darauf hoffentlich gelernt, die der „World Leading Worker Co-Operative“ Mondragon (MCC) im Baskenland behauptet es jedenfalls.
Alltagsprojekte:
Kürzlich wurde ein „ArchivKooperativerProjekte“ zusammengestellt, das besonders gründlich die Projekte in Berlin und sein Umland auflistet, ansonsten jedoch von „Aachen“ bis „“USA“ reicht. Daneben gibt es noch das Verzeichnis „eurotopia“ – über Gemeinschaften und Ökodörfer in Europa
recherchiert 2004/2005 vom „ökodorf siebenlinden“ in 38486 Poppa. Die Genossen dort schreiben:
„Dieses Verzeichnis ist das umfassendste und aktuellste Werk über Gemeinschaften und Ökodörfer in Deutschland und Europa. Als Weiterentwicklung der schon in mehreren Auflagen erschienen
eurotopia-Projekteliste stellen sich jetzt 348 Gemeinschaften und Ökodörfer in 23 Ländern dar: Mit ihren Charakteristika, ihren Zielen und ihren Besonderheiten. Sie geben damit den LeserInnen einen lebendigen Eindruck einer Lebensform, von der sich immer mehr Menschen einen Gewinn
an Lebensqualität erhoffen. Die neue Ausgabe enthält:
* einen redaktionellen Teil mit Artikeln zum Thema „Leben in Gemeinschaft“
* ausführliche Selbstdarstellungen und Adressen von 348 Gemeinschaften
und Ökodörfern
* übersichtliche Länderkarten, in denen die Gemeinschaften verortet sind
* Beschreibungen von 18 Netzwerken von Gemeinschaften und Ökodörfern mit
Adressen
* ein Kapitel zu Ökosiedlungen mit gemeinschaftlichen Aspekten
* nützliche Adressen rund um das Thema „Gemeinschaft“
* eine Bibliographie themenbezogener Literatur
* einen Index, der auch die in eurotopia 2000 erschienenen
Gemeinschaften beinhält.
* insgesamt 617 Adressen zum Thema „Leben in Gemeinschaft“
Alle Selbstbeschreibungen wurden im Herbst/Winter 2004/05 recherchiert,
von den Gemeinschaften selbst verfasst und unzensiert wiedergegeben. Das
ganze Buch ist ein Werk von Menschen, die selbst in Gemeinschaft leben.
Das Verzeichnis erzählt von den vielen Menschen in ganz Europa, die in
kollektiver Selbsthilfe der immer drängender werdenden sozialen,
ökologischen und wirtschaftlichen globalen Krise ihre eigenen Visionen
entgegensetzen. Sie entwickeln dabei erstzunehmende Lösungsansätze für
drängende Fragen, indem sie ihren Traum von einem gemeinschaftlichen
Leben selbstbewußt in die Tat umsetzen.
Ein Buch, das sowohl zu vielen (selbst-) kritischen Fragen anregt (wie
ist mein eigener Umgang mit Geld, mit Konflikten, mit Behinderten…?),
als auch viele praktische Fragen beantwortet: Welche Gemeinschaften
empfangen arbeitende Gäste gegen Kost und Logis? Wie sind deutsche,
italienische… Gemeinschaften untereinander vernetzt? Wie besucht
mensch eine Gemeinschaft am besten (nicht)? Welchen Gemeinschaften kann
man sich unter welchen Bedingungen anschließen? Wie gründet man eine
Gemeinschaft? …
Das eurotopia-Verzeichnis ist ein praktischer Helfer für alle, die in
Gemeinschaft leben wollen oder bereits leben, oder die schon immer mal
einen Eindruck von der Vielfalt dieser Szene bekommen wollten. Ein Buch,
das dazu anregt, sich über alternative Lebensformen Gedanken zu machen,
und das durch mehrere hundert „real-existierende“ Beispiele Mut macht,
diese Gedanken im eigenen Leben umzusetzen.
Natürlich ist es immer schön, solche oder ähnliche Kollektiv-„Projekte“ aber auch Individualprojekte (von Erfindern beispielsweise) zu besuchen, zu interviewen, zu propagieren, zu erfassen usw….
Vorstellbar wäre aber auch eine gedankliche Projektauflistung:
Es gibt zum einen künstlerische und soziale bzw. linke oder revolutionäre „Projekte“ und zum anderen Unternehmensprojekte (ein neues Industrieprodukt, aber auch das Start-Up eines Beschäftigungslosen z.B.). Die einen sind eher polis- und die anderen mehr oikos-orientiert, wenn ich so sagen darf. „Projekte im Alltag“ das können bei den ersteren, den nicht-kommerziellen Projekten, solche sein, die am Alltag bestimmter Leute anknüpfen – und z.B. ihre Wohnprobleme, Ärger mit Ausländerbehörden, ungerechtfertigte Entlassungen etc. aufgreifen („Die Berliner Tafel“, Grenzcamps oder Arbeitsloseninitiativen gehören z.B. dazu).
Bei den kommerziellen können „Projekte im Alltag“ solche sein, die sich den Alltagsproblemen bestimmter Konsumentengruppen annehmen oder dies mindestens versprechen: Hunde ausführen, mit Kindern Hausarbeiten machen, Pflege- und Reinigungsdienste übernehmen usw.. „Die Menschen da abholen, wo sie sind,“ wie die Politiker das nennen. Wenn es sich um Unternehmensprojekte handelt, sagt man jedoch eher: „All Business is Local!“ bzw. „Man muß bei den Alltagswünschen ansetzen“. Wobei es jedoch u.U. eine gewisse „Alltagsvergessenheit“ zu berücksichtigen gilt, die besonders männlichen Zielgruppen eigen ist.
Daneben oder darüberhinaus gibt es aber auch noch einen „Alltag von Projekten“ – der bei vielen sozialen und politischen Initiativen im wesentlichen aus Frankieren, Umschläge beschriften, Faxe senden, Telefonieren etc. besteht. Bei kleinen Firmen z.B. im Ärger mit Behörden, Finanzämtern, allzu skupellosen Konkurrenten, allzu mürben Mitarbeitern usw.. „Die Mühen der Ebene“ – frei nach Bertolt Brecht genannt.
Als Beispiel sei die Bemerkung eines Westberliner Projektemachers zitiert. Es handelt sich dabei um den Erfinder einer Glühbirne mit extrem langer Lebensdauer – Dieter Binninger, dem der Osramkonzern die Verwendung seines Warenzeichens verbot. Dazu meinte der Betroffene: „So macht man die kleinen Leute fertig. Wenn Sie so einen Brief von der Osram-Rechtsabteilung morgens kriegen, dann ist doch erst mal der Tag gelaufen, das können Sie sich doch vorstellen…“
Im Gegensatz zu Binninger gab aber z.B. die Ostberliner Chemikerin Brigitte Olschewski nicht nach, als der Henkelkonzern ihr kürzlich den Produktnamen für das biologisch abbaubare Waschmittel „Faliten“ verbieten wollte – weil es seinem Markennamen „Fa light“ zu nahe kam. Und sie gewann auch den Prozeß vor dem Münchner Patentgericht. Erwähnen möchte ich außerdem noch einen Satz aus dem Film „Das Leben der Anderen“. Es geht um eine Observierung, die der Stasi-Kulturverantwortliche als ein „wichtiges Projekt“ bezeichnet: „Denk dran – wir sind nicht mehr an der Hochschule – es geht nicht mehr um Noten gehe, sondern um Erfolg“, schärft er seinem Untergebenen ein, für den das kein Projekt, sondern ein Auftrag ist.
Ein Projekt ist immer etwas Gewolltes – im Gegensatz zur gesellschaftlichen Entwicklung – auch des Einzelnen in ihr. Der Sohn eines Stahlarbeiters, der Stahlarbeiter wird, redet ebensowenig von einem Projekt wie seine Schwester, die Friseusin wird. Ein Projekt ist Ausdruck der Freiheit, etwas zu wollen und zu planen. Eine 53jährige Freundin von mir, die gerade ihre Sekretärinnenstelle in einem Büro verlor, meinte, sie werde jetzt erstmalig in ihrem Leben anfangen, sich zu überlegen, was sie überhaupt machen will, d.h. in welche Richtung sie Arbeiten möchte. Ihre Arbeitslosenzeit will sie nutzen, um sich mit einem „Projekt“ selbständig zu machen. Aus der Not eine Tugend machen – das gilt jetzt für Millionen – die von der Entwicklung der Produktivkräfte „freigesetzt“ wurden und werden.
Gemeint ist damit die Elektronische oder Dritte Industrielle Revolution, die gedanklich aus dem Zweiten Weltkrieg hervorging, jedoch erst in den Achtzigerjahren offensichtlich Gestalt annahm. Als Beispiel sei hier die Entwicklung der Bürotechnik und ihre Auswirkung auf die Arbeitsplätze bei meinem Steuerberater Ulrich Wolffram erzählt: Er gehörte zu den ersten, die an der nach dem Krieg neugegründeten Freien Universität studierten. Danach kaufte er eine Praxis von einem Kollegen, der sich zur Ruhe setzte. Er übernahm ein Büro mit 12 Angestellten, sie bekamen 120 DM monatlich, seiner Bürovorsteherin zahlte er 200 DM, für ihn selbst blieben anfänglich um die 100 DM übrig.
Zitat: „Ich arbeitete 16, manchmal sogar 18 Stunden. Und mußte dann sogar noch mehr Leute einstellen. Da gab es ein Platzproblem. Der Vorgänger hatte sehr sparsam gewirtschaftet: Die ganze Firma befand sich zunächst nur in einem Raum – wenn da jemand zur Toilette wollte, mußten alle aufstehen. Ich mietete dann neue Räume. Mein Verwandter, der Steuerberater, der mich zum Studium motiviert hatte, besaß damals schon in seiner Kanzlei eine moderne Einrichtung mit Maschinen. Das vor Augen begann ich, meine Praxis zu reorganisieren und u.a. Geräte anzuschaffen. Ich bin mit deren Enwicklung von Anfang an mitgewachsen. Als ich anfing, gab es Buchführungsarbeiten in Form des amerikanischen Journals: das wurde also alles mit der Hand geschrieben, es wurde gerechnet, ausgewertet, übertragen, wieder alles geschrieben, usw.. Dann kamen die ersten Buchungsmaschinen. Davor, das waren im Grunde nur erweiterte Schreibmaschinen gewesen. Am Ende hatten diese mechanischen Maschinen aber schon 100 Speicher – die hingen da so ähnlich dran wie die Kilometerzähler am Fahrrad. Sie rechneten die eingegebenen Zahlenkolonnen aus. Die ersten wirklichen Buchungsmaschinen vereinfachten dann sie Arbeit insoweit, als sie auch gewisse Rechenfunktionen durchführen konnten: Sie haben also Bewegungen, die buchhalterisch erfaßt werden mußten, ausgewertet, Summen addiert,, multipliziert, und die Mehrwertsteuer errechnet, die ja damals schon entstanden war, vorher gab es die Umsatzsteuer. Die konnten also rechnen und verschiedene Arbeiten machen. Sie waren zu der Zeit auch noch relativ teuer.
Ich hatte hier Olivetti, die waren damals auf dem Gebiet führend, später sind sie dann abgesackt, weil sie mit der Entwicklung nicht mitgegangen sind. Man sollte damit auch Fehlerquellen vermeiden können, weil man Zahlen nicht mehr übertragen mußte. Nachher gab es schon Kontenblätter, die mit einem Magnetstreifen versehen waren, auf dem die Zahlen gespeichert wurden. Wenn sie allerdings auch nur ein bißchen beschädigt waren, dann war alles darauf verloren. Auch bei der Einsparung an Arbeit und Personal brachte meine erste Buchungsmaschine erst mal nichts: Die Angestellte, die daran arbeitete, schaffte am Tag, wenn es hoch kam, 200 Buchungen. Das ist nicht viel, es hätten mindestens 800 sein müssen. Nachdem das so eine Weile gelaufen war, habe ich mich mal neben die Mitarbeiterin gestellt und gekuckt, was die da machte: Die hat also eine Buchung eingegeben und dann aus Sicherheitsgründen, das, was die Maschine auf dem Konto gerechnet hat, noch mal im Kopf nachgerechnet. Dadurch hat sie natürlich viel mehr Zeit gebraucht. Ich habe ihr klar gemacht: So geht das nicht, Sie müssen hier jetzt arbeiten auf Teufel komm raus, die Maschine rechnet selber. Wir haben vereinbart: Sie bekommt über ein bestimmtes Pensum hinaus für jede Buchung Soundsoviel extra. Dann hat sie auf einmal 600 Buchungen, dann 800, 1200 Buchungen sogar gemacht.
Dann kamen die ersten elektronischen Maschinen, es fing an mit schwedischen Rechenmaschinen, die einen Papierstreifen hatten. Die waren ausgezeichnet. Sehr schnell, auch sehr sicher in der Handhabung, aber sehr sehr teuer: die kosteten damals, Anfang der Siebziger Jahre etwa, 6000 DM. Dann kamen die ersten elektronischen Buchungsmaschinen auf den Markt, die hatten auch nur begrenzte Möglichkeiten zunächst, dadurch daß die Programme, die gebraucht wurden, nicht über irgendwelche Datenträger übertragen werden konnten, sondern noch hier mit Schaltung verlötet werden mußten. Die schrieben also genau vor, welche Arbeit und welche Funktionen gemacht werden sollten. Zu der Zeit brachte Bosch die erste Maschine heraus. Da bin ich mit dabei gewesen – von Anfang bis Ende: Die haben von mir die Erfahrung gesammelt, darüber, wie es überhaupt zu sein hat. Technisch lösen konnten sie es, aber welche Arten von Buchung es geben mußte und wie die ablaufen mußten usw., dieses „Know-How“ haben sie von mir bekommen. Geld bekam ich nicht, dafür freute ich mich auf die fertige Maschine: Solch eine gab es bis dahin noch nicht! Die Entwicklungsgruppe saß drüben in Westdeutschland und ich bin da oft rübergefahren. Die Verbindung zu denen hatte sich über die Firma eines Mandanten ergeben, von dem habe ich mir dann diese Maschine später auch gekauft.
Der Durchbruch kam dann mit den Computern, die erstmalig die Möglichkeiten schufen, Programme elektronisch zu verarbeiten, die man als Befehle ihnen eingab. Nach der ersten Generation kam dann schnell die zweite, dritte, vierte. Jede brachte Neuerungen. Parallel dazu entstand als besondere Einrichtung der steuerberatenden Berufe die Datev – Mitte der Siebzigerjahre: Ein Rechenzentrum, das natürlich am Anfang auch mit großen Problemen behaftet war. Die hatten da natürlich große Rechner, die sich sonst keiner leisten konnte. Zusätzlich wurden dort auch noch Speicherkapazitäten geschaffen, indem man Daten auf andere Medien zwischenlagerte. Die erste Erfahrung mit dem Abspeichern auf andere Medien war bei mir so: Wir hatten eine Triumph-Adler-Maschine uns bestellt und viel viel Zeit damit verbracht, um vorher alles abzustimmen: welche Programme und was damit gemacht werden sollte, und es hatte dann auch geheißen, daß es angeblich gut gehen würde, aber dann kam der Termin am Jahresende, an dem wir uns umstellen wollten, und kurz vorher sagten sie uns: Es ginge nicht – was wir der Maschine abverlangen wollten, wäre zu kompliziert.
Bei Buchführungen muß man viel Sortierarbeiten machen, indem man z.B. Vorgänge, die gleichartig sind, in verschiedenen Bereichen speichert und von dort wieder woanders hin verarbeitet. So etwas kostet Rechner-Zeit. Wenn wir das Programm bekommen hätten, würden wir dafür einen Bestand von 2000 Magnetbändern gebraucht haben. Und ständig hätten wir wegen der geringen Speicherkapazität der Anlage alles auf Magnetbänder kopieren und wieder runterkopieren müssen. Für einen Vorgang, der heute zwei Minuten dauert, benötigte man damals zwei Tage. Also haben wir es dann sein lassen – und sind zu Telorix gegangen. Die hatten auch die Maschinen von Triumph-Adler, das war eigentlich nur eine Organisationsfirma. Die haben Programme entwickelt für vorhandene Hardware und uns gesagt: Wir entwickeln gerade ein Programm, das wird Ihre Probleme eher lösen. Dann haben wir uns sehr schnell mit denen zusammengesetzt und unsere Probleme da besprochen: wie das laufen mußte. Statt der ursprünglich 2000 Bänder haben wir dann nur noch 200 Bänder gebraucht, was auch noch sehr viel war. Schon allein die Verwaltung dieser Bänder, die Organisation, die war ja fehleranfällig – und ein Fehler zog sich dann immer weiter durch. Das, was da drauf war, das wurde dann ausgedruckt – auf Kundenblätter, mit denen man weiter arbeiten konnte. Für meine Computer-Kenntnisse habe ich nur wenig theoretische Anregung mir von außen geholt, wie ich das auf anderen Gebieten auch getan habe. In all den Jahren habe ich nur zwei berufsständische Tagungen besucht, weil ich mir gesagt habe: Ich kann mir die Lösung dieses oder jenen Problems alleine viel besser beschaffen.
Für die erste EDV, die ich hier als Stecksystem habe, die auch noch von der Programmierung her sehr einfach war und primitiv, habe ich mir am Anfang, 1986, noch einen Organisationsberater reingeholt, der mir die Programme entworfen hat, die ich hier brauchte. Dadurch daß ich ständig mit dem zusammengearbeitet habe, bekam ich natürlich auch dessen Kenntnisse mit, so daß ich heute alle Programme, die ich dafür brauche, selber machen kann. Problematischer ist es natürlich bei der EDV, wenn es darum geht, irgendwelche Datenbanken, die heute meist auf CD-Rom sind, zu verarbeiten: Dabei ist man heute auf Gedeih und Verderb auf die Qualität der angebotenen Produkte angewiesen.“
Fassen wir zusammen: Ulrich Wolfframs Firma hatte nach dem Krieg erst einmal 12 Angestellte. Weil sie erfolgreich war, erhöhte sich die Zahl der Mitarbeiter mit der Zeit auf über 24. Aber dann kam die elektronische Datenverarbeitung und jede neue Innovation reduzierte die Arbeitsplätze in Wolfframs Kanzlei – bis er schließlich nur noch eine Sekretärin beschäftigte, die er dann ebenfalls entließ, um zuletzt ganz alleine – für sich – in seinem Büro in Charlottenburg am Theodor-Heuss-Platz zu sitzen. Die Schilderung dieses wirklich erfüllten Arbeitslebens hat mich deprimiert – und ich glaube Ulrich Wolffram auch etwas. Ich möchte deswegen noch einmal auf die technologischen Anfänge dieser Entwicklung zurückkommen, die uns alle in Projektemacher verwandelt.
Bei den Philosophen an der FU fand dazu unlängst eine Veranstaltung statt. Die dritte Industrielle Revolution bereitete sich zur selben Zeit wie die Gründung von IWF und Weltbank am Ende des letzten (imperialistischen) „Zweiten Weltkriegs“ vor. Dazu fanden zwischen 1946 und 1953 die so genannten „Macy-Konferenzen“ statt, auf denen sich die „technokratische Wissenschaftselite der USA“, darunter viele Emigranten aus Europa, versammelt hatte – um ausgehend von der Waffenlenk-Systemforschung, der Kryptologie, der Experimentalpsychologie und der Informationswissenschaft sowie von Erwin Schrödingers 1943 erschienenem Buch „What is Life?“ Theorie und Praxis der „Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems“ zu diskutieren. Hierzu gehörten u.a. John von Neumann, Norbert Wiener, Claude Shannon, Gregory Bateson und Margret Mead, als Konferenzsekretär fungierte zweitweilig Heinz von Foerster.
Im Endeffekt entstand daraus die inzwischen nahezu weltweit durchgesetzte und empirisch fruchtbar gewordene Überzeugung, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind – also auf Tiere, Computer und Volkswirtschaften gleichermaßen – zutreffen. Als einer der ersten Gegner dieses bald immer mehr Wissenschaftsbereiche erfassenden Paradigmenwechsels trat 1953 der Schriftsteller Kurt Vonnegut mit seinem Buch „Das höllische System“ auf, in dem er die Massenarbeitslosigkeit produzierenden Folgen des kybernetischen Denkens bei seiner umfassender Anwendung beschrieb, die Herbert Marcuse dann als „Herrschaft eines technologischen Apriori“ bezeichnete. Was der Wiener Philosoph Günters Anders wiederum zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen und Recherchen zur „Antiquiertheit des Menschen“ machte.
Diese besteht nach ihm darin, dass spätestens mit dem Koreakrieg (1950-53) die rechnerischen Kalküle alle moralischen Urteile ersetzt haben. Selbst die antifaschistischen Charakteranalysen von Adorno im amerikanischen Exil fanden noch Eingang in die Macy-Konferenzmaschine, indem man schließlich auch den „‚Antiautoritären Menschen nach Maß‘ noch zum Ziel der Kybernetik erklärte“. In dem Aufruhr-Horrorszenario, das Kurt Vonnegut entwarf – indem er die Militärforschung des „Fathers of Cyborg“ Norbert Wiener und des Mathematikers John von Neumann weiter dachte – geht es um die Folgen der „Maschinisierung von Hand- und Kopfarbeit“, d.h. um die vom Produktionsprozeß freigesetzten Menschenmassen, die überflüssig sind und nur noch die Wahl haben zwischen 1-Dollarjobs in Kommunen und Militärdienst im Ausland, wobei sich beides nicht groß unterscheidet. Theoretisch könnten sie sich auch selbständig machen – „Ich-AGs“ gründen.
Zitat: „Reparaturwerkstätten, klar! Ich wollte eine aufmachen, als ich arbeitslos geworden bin. Joe, Sam und Alf auch. Wir haben alle geschickte Hände, also laßt uns alle eine Reparaturwerkstatt aufmachen. Für jedes defekte Gerät in Ilium ein eigener Mechaniker. Gleichzeitig sahnen unsere Frauen als Schneiderinnen ab – für jede Einwohnerin eine eigene Schneiderin.“ Da das nicht geht, bleibt es dabei: Die Massen werden scheinbeschäftigt und sozial mehr schlecht als recht endversorgt, während eine kleine Elite mit hohem I.Q., vor allem „Ingenieure und Manager“, die Gesellschaft bzw. das, was davon noch übrig geblieben ist – „Das höllische System“ (so der deutsche Titel des Romans) – weiter perfektioniert. An vorderster Front steht dabei Norbert Wiener. Schon bald sind alle Sicherheitseinrichtungen und -gesetze gegen Sabotage und Terror gerichtet. Trotzdem organisieren sich die unzufriedenen Deklassierten im Untergrund, sie werden von immer mehr „Aussteigern“ unterstützt. Der Autor erwähnt namentlich John von Neumann.
Nach Erscheinen des Romans beschwerte sich Norbert Wiener brieflich beim Autor über seine Rolle darin. Die Biologiehistorikerin Lily E. Kay bemerkt dazu in ihrem 2002 auf Deutsch erschienenen „Buch des Lebens“ – über die Entschlüsselung des genetischen Codes: „Wiener scheint den Kern von Vonneguts Roman völlig übersehen zu haben. Er betrachtete ihn als gewöhnliche Science Fiction und kritisierte bloß die Verwendung seines und der von Neumanns Namen darin.“ Vonnegut antwortete Wiener damals: „Das Buch stellt eine Anklage gegen die Wissenschaft dar, so wie sie heute betrieben wird.“ Tatsächlich neigte jedoch eher Norbert Wiener als der stramm antikommunistische von Neumann dazu, sich von der ausufernden „Militärwissenschaft“ zu distanzieren, wobei er jedoch gleichzeitig weiter vor hohen Militärs über neue Kontrolltechnologien dozierte.
Der Roman geht dann so weiter, dass die von der fortschreitenden Automatisierung auf die Straße Geworfenen sich organisieren, wobei sie sich an den letzten verzweifelten Revivalaktionen der Sioux im 19. Jahrhundert orientieren: an den Ghost-Dancers, die gefranste westliche Secondhand-Klamotten trugen. Im Roman heißen sie „Geisterhemd-Gesellschaften“ – und irgendwann schlagen sie los, d.h. sie sprengen alle möglichen Regierungsgebäude und Fabriken in die Luft, wobei es ihnen vor allem um den EPICAC-Zentralcomputer in Los Alamos geht. Ihr Aufstand scheitert jedoch. Nicht zuletzt deswegen, weil die Massen nur daran interessiert sind, wieder an Maschinen zu arbeiten. Bevor die Rädelsführer hingerichtet werden, sagt einer, von Neumann: „Dies ist nicht das Ende, wissen Sie.“
Und recht hatte er! Ähnlich äußerte sich 2001 z.B. Alexander Kluge in einem Interview: „Bei Heiner Müller gibt es nach dem Sturz der DDR durchaus eine lustvolle Beschäftigung mit den Abgründen des Westens… Siegeszüge sind selten endgültiger Art. Wir haben jetzt den absoluten Sieg des Börsen- und Finanzkapitalismus. Aber nach allen Regeln des Zusammensturzes wird das irgendwann wieder enden.“
Bereits 1984 hatte Thomas Pynchon den Gedanken von Vonnegut noch einmal aufgegriffen: „Is it o.k. to be a Luddit?“ fragte er sich in der New York Times Book Review – und antwortete dann: „Wir leben jetzt, so wird uns gesagt, im Computer-Zeitalter. Wie steht es um das Gespür der Ludditen? Werden Zentraleinheiten dieselbe feindliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie einst die Webmaschinen? Ich bezweifle es sehr…Aber wenn die Kurven der Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Molekularbiologie konvergieren. Jungejunge! Es wird unglaublich und nicht vorherzusagen sein, und selbst die höchsten Tiere wird es, so wollen wir demütig hoffen, die Beine wegschlagen. Es ist bestimmt etwas, worauf sich alle guten Ludditen freuen dürfen, wenn Gott will, dass wir so lange leben sollten.“
Eine Revolte, ein Volksaufstand gar, ist jedoch kein „Projekt“. Leo Trotzki hat sich immer darüber geärgert, wenn in diesem Zusammenhang von „organisieren“ die Rede war. Seiner Meinung nach konnten nur „faschistische Theoretiker“ wie Curzio Malaparte sich so etwas Massenverachtendes ausdenken, wobei sie jedoch nicht über einen „Staatsstreich“ hinauskämen – also über ein „Projektdenken“. Umgekehrt gilt denn auch: Was nicht organisiert werden kann, ist kein Projekt (mehr).
So besteht ein Gutteil von sozialen und linken Projekten darin, den Alltag von Benachteiligten zu organisieren – und sie gegebenenfalls auch noch für das Projekt selbst – eine Partei oder Gewerkschaft z.B. – zu mobilisieren, auf die Weise wird jedoch nur allzu oft eine soziale Bewegung kanalisiert statt entfaltet, d.h. dominiert wie 2004 die Arbeitslosen von „Attac“ z.B. „Wenn eine Ziege da ist, darf man nicht an ihrer Stelle meckern,“ sagt ein altes afrikanisches Sprichwort.
Das ist bekannt, ich möchte hier auf zwei so genannte „soziokulturelle Projekte“ zu sprechen kommen, die aus den Kulturförderungen von Bund, Ländern, Kommunen, EU usw. finanziert werden. Der Alltag solcher Projekte besteht zu einem nicht geringen Teil aus dem Ausfüllen von Förderanträgen und Projektpapieren. Das war schon bei den ersten Projektemachern im 17. Jahrhundert so, wie Georg Stanitzek herausgearbeitet hat. Nach ihm ist jeder Projektemacher mit seinen Plänen darauf aus, die Unwahrscheinlichkeit des Zueinanderfindens von Selbst- und Fremdselektion methodisch zu reduzieren, indem er mit seinem Projekt die Selektionen prospektiv engführt, d.h. in Form des Projektes gleichsam ein Exposé zu ihrer Verknüpfung vorlegt. „Wenn die Selbstselektion sich in Projektform annonciert, so ist sie von vorneherein präzise auf eine Fremdselektion hin adressiert, steuert sich nah an sie heran, macht sich beobachtbar und beurteilbar“. Dieses Suchen der Nähe tatsächlicher Anschlußmöglichkeiten läßt sich – mit Stanitzeks Worten – „durchaus Opportunismus nennen“, d.h. die Künstler und Wissenschaftler folgen mit ihren Projektanträgen den Wahrscheinlichkeiten – Moden und Diskurskonjunkturen, wenn sie erfolgreich sein wollen. „Die Produktivität der Künstler resultiert aus ihrer Fähigkeit, sich den wechselnden geistigen Strömungen anzupassen – aus ihrer moralischen Verkommenheit,“ so sagte es etwas überspitzt Joachim C. Fest, der dabei einen nach New York emigrierten Künstler plagiierte.
Nun zu meinem Beispiel: Als die Künstler Adam Page und Eva Hertzsch 2005 erfuhren, dass die städtische Wohnungsbaugesellschaft in Dresden WOBA ihren gesamten Immobilienbesitz an die US-Investorengruppe Fortress (Festung) verkaufen wollte, 6000 Wohnungen allein im Stadtteil Prohlis, begannen sie mit einer „Bestandsaufnahme der gegenwärtigen gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen der Prohliser Bevölkerung zu ihrem Wohnumfeld“. Gerade im Moment der Auflösung des Sozialwohnungsbaus wollten sie wissen, „was das Soziale gegenwärtig ausmacht“. Diese Auflösung schlug bundesweit Wellen: Oskar Lafontaine kam sofort nach Dresden und sprach sich dagegen aus, Wohnen zur Ware zu machen, während die dortige PDS bei der WOBA-Privatisierung gespalten war: Einige meinten, man sollte dem zustimmen, andernfalls müßten Kitas und andere soziale Einrichtungen geschlossen werden.
Page und Hertzsch hatten bereits 1997 auf der „documenta“ eine „Arbeit im öffentlichen Raum“ vorgestellt, die sich mit der Privatisierung befaßte und dazu eine Art „Gegenöffentlichkeit“ schuf. Sie stellten fest: Kioske verschwinden, Bahnhöfe werden „gesäubert“, Marktplätze werden zu Privatgrundstücken usw.. Daraufhin ließen sie 2000 mit städtischem Geld einen mobilen InformationsKiosk bauen und überlisteten damit Stadtbildpfleger und Feinde der Imbisskultur, die seitdem dieser „Kunst“ immer wieder neue Standorte gestatten müssen – wie z.B. dieses Jahr mit dem Projekt „FOR SALE“ in Prohlis. Zusätzlich mieteten sie dort auch noch eine Wohnung im 16.Stock eines WOBA-Hauses an. Im Kiosk zu sehen war u.a. ein Video von der Stadtratssitzung, bei der die Privatisierung der WOBA – für 100 Millionen Euro – beschlossen wurde, und die Dokumentation einer Führung mit 20 als Investoren verkleideten Künstlerkollegen, die sie per Handy durch Prohlis lotsten, um sie über die Kapitalisierung von sozialen Errungenschaften diskutieren zu lassen. „Wir arbeiten mit den Leuten“, erklären Page und Hertzsch dazu. Ihr noch andauerndes Projekt „FOR SALE“ basiert auf einen offenen Austausch von Informationen und Erfahrungen zwischen eingeladenen Gästen und Bewohnern. Anlässlich der Präsentation von „Fallstudien“ aus anderen Neubauvierteln (u.a. aus Rom und aus Halle/Neustadt) wurden Bewohner eingeladen, um über Themen wie Mieterschutz, Abriss, Arbeitsmaßnahmen und Selbstorganisation in Prohlis zu diskutieren. Dadurch entstanden für die Künstler, für die Gäste des Projekts und für viele Prohliser neue Allianzen, z.B. mit dem Mieterkomitee des vom Abriss bedrohten WOBA-Viertels „Sternstädtchen“, mit „Tanni’s Spätshop“, der allerdings inzwischen von der WOBA mit Hilfe der Polizei und dem Ortsamt vertrieben wurde, mit dem Heimatmuseum Prohlis und mit einer Kindermalgruppe. Die Diskussionen wurden u.a. mit Beiträgen von Stadträten, Vertretern der Stadtverwaltung, Quartiersmanagern und dem Mieterverein im Publikum ergänzt. Drei neue Arbeiten wurden von Künstlern aus Paris, Hamburg und Berlin in Zusammenarbeit mit ca. 30 Bewohnern entwickelt. Der Film „1.Orakel“ (von Prohlis) von Andreas Fohr setzt sich mit der akustischen Wahrnehmung des Viertels auseinander. Für die CD „Ein Song für Prohlis“ von Ania Corcilius sangen Bewohner Lieder über den WOBA-Verkauf. Bei der „Kartoffelshow“ von Margit Czenki und Christoph Schäfer kochten Kinder mit einem Meisterkoch ihre zuvor selbst angebauten Kartoffeln. Anfang September wurde im Heimatmuseum die Bewohner-Ausstellung „Not For Sale“ eröffnet, wobei man Interviews, Bilder,Texte und Fotos – in ein begehbares Stadtteilmodell integrierte.
Zwei Projekte von Bewohnergruppen wurden mit 300 Euro finanziell unterstützt, die ursprünglich auf Gelder des Förderprogramms „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ (LOS) hofften: eine Videoaufzeichnung der Selbstdarstellung einer Arbeitssuchenden und die Instandsetzung eines Kleingartens in Dresden-Freital als Ausflugsort für Familien. „Wir müssen uns mehr Gedanken über die ‚Nachhaltigkeit‘ der Kunst im öffentlichen Raum machen,“ meint Adam Page, „denn die Gelder werden immer knapper und die Projekte werden tiefer gehen müssen, bis dahin, dass sie sich selber tragen.“ Als Beispiel erwähnt er den „Spätshop“ im Erdgeschoß eines Hochhauses von Prohlis. Der Laden – die „Ich-AG“ eines jungen Mannes mit fünf Geschwistern – war von 18 bis 24 Uhr geöffnet: „Er wurde sehr gut angenommen, es traf sich dort bald eine Gruppe von Jugendlichen. Nach sechs Wochen kam prompt die fristlose Kündigung. Der Spätshop sorgte für Unruhe im Viertel. Der Polizeichef rief an und fragte: ‚Was soll die Zusammenarbeit des Kunstprojekts mit dem Laden bringen?‘ Der Spätshop machte dann um 22 Uhr zu. Die Jugendlichen müssen bis 23 Uhr verschwunden sein, die Polizei kontrollierte das. Inzwischen mußte der Laden sogar ganz schliessen. Nun verhandeln die Künstler und der junge Mann mit der Polizei über die Möglichkeit eines Spätshops im Info-Kiosk. In der Zwischenzeit macht er das Catering für Veranstaltungen im Heimatmuseum.
Das ebenfalls 2005 begonnene Projekt in Neukölln – „Play n‘ Win 44“ genannt – geht von den Wett- und Spielbüros aus, die dort boomen, obwohl das Glücksspiel nach Meinung von Experten in Rezessionszeiten eigentlich zurückgehen müßte. Hier war es ein Bildungsträger, der „Internationale Bund“, der ihnen einen kaputten Bauwagen zu einem rollenden Wettbüro umbaute. Dieser wurde dann an verschiedenen Orten in Neukölln aufgestellt. Im Innern liefen drei Fernseher, die die Quoten von Livesport-Veranstaltungen übertrugen. Dabei handelte es sich um Judokämpfe, Käfigfußball und Fahrradrennen, die von Schülern der Neuköllner Silbersteingrundschule und einigen Sportvereinen inszeniert wurden – mit bestochenen Schiedsrichtern. Mit den dergestalt manipulierten Quoten bzw. den damit eingenommenen Wettgeldern wurde eine Finanzierung angeschoben, um jene Teile des Tempelhofer Flughafengeländes zu kaufen, die zu Neukölln gehören. Der Flughafen soll zwar laut Senatsbeschluß 2007 geschlossen werden, u.a. weil die Flugzeuge (vornehmlich Privatjets) alle 15 Minuten direkt über Neukölln donnern – und es immer mehr werden, aber die Lobbyvereinigung „IG City Airport e.V.“, die CDU sowie die Senatsverwaltung für Wirtschaft, der SPD-Bürgermeister und der Chef der Bahn-AG Mehdorn machen sich für seinen Ausbau stark.
Für die Schließung des Flughafens kämpft die „Bürgergruppe Herfurt-/Oderstraße“, sie werden unterstützt von der Senatorin für Stadtentwicklung, die aus dem Gelände einen riesigen „Central Park“ machen will und von den Tempelhofer Grünen, denen ein neuer Zoo vorschwebt (dafür sollen die zwei bisherigen geschlossen werden). Die Flughafenbetriebs-Lobby will dagegen aus dem Abfertigungskomplex, einst das längste Gebäude Europas, das „größte Gründerzentrum der Welt“ machen, während Mehdorn für eine „Eliteuniversität“ plädiert, dazu soll die Bahn AG Teile des Gebäudes kaufen, was wiederum der Senatswirtschaftsverwaltung gefällt. Und dann gibt es da noch den Spekulanten und Kosmetikkonzern Lauder, der aus dem riesigen Abfertigungsgebäude eine Klinik für Reiche machen möchte, die dann dort direkt vor der Tür landen können. Er wird vor allem von der Springerstiefelpresse unterstützt.
Die Künstler Adam Page und Eva Hertzsch fragten sich dagegen, „wie kann man das von Neukölln aus entwickeln?“ In diesem Bezirk leben 160 verschiedene Kulturen – mittels eines Themenparks „Neukölln World“ möchte man erreichen, dass aus ihnen, aus ihrem Alltag heraus, Ideen dafür entstehen. Das Projekt zielt also auf eine „Public-Private-Partnership“ (PPP) – in seiner ursprünglichen Bedeutung, die es einst in Amerika bekam. Dazu eine kleine Abschweifung: Es gibt inzwischen in vielen Ländern PPP-Projekte, und dabei wird gerne davon abgesehen, ob es sich um welche von unten oder um solche von oben initiierte handelt. Dies ähnelt der Malapartschen Ununterscheidbarkeit von Volksaufstand und Staatsstreich.
In Cleveland/Ohio wurden schon während der Reaganomics die Stadtplanungsämter personell derart ausgedünnt, dass die Stadtbezirksverwaltung die Bürger bat, ihre Quartiers-Planung selber zu machen – und sie dann mit dem letzten noch verbliebenen Stadtplanungsbüro bloß noch abzustimmen. Dabei stellte sich heraus, dass von unten ganz anders geplant wird – nämlich unter maximaler Ausnutzung der vorhandenen Ressourcen. Das meint: dort lokalisierte Handwerkbetriebe, Firmen, Läden usw. Dieses „Cleveland-Modell“ wurde in der Folgezeit als „Public-Private-Partnership“ (PPP) bekannt. Ähnlich wie das 1997 in Wisconsin im Zusammenhang einer Reduzierung der Sozialhilfe entwickelte „Trial Job“-Modell hierzulande von der rotgrünen Regierung übernommen wurde, in dem dann von „Ich-AG“s die Rede war, wurde auch das PPP von den deutschen Staatsverwaltungen sofort aufgegriffen – dabei jedoch völlig auf den Kopf gestellt: Sie machten daraus eine „enge Kooperation“ zwischen Großkonzernen und der Regierung bzw. den Kommunen. Als Top-Vermittler gilt dabei u.a. die RSBK in Frankfurt/Main sein, Bei dem RSBK-Projekt von ehemaligen Politikern handelt es sich um die private Staatsconsulting „Rudolf Scharping Strategie Beratung Kommunikation“.
Der ehemalige SPD-Vorsitzende bietet darin zusammen mit ehemaligen Oberbürgermeistern und ehemaligen Staatsministern „Werkstattgespräche“ für „kommunale Entscheider“ an. Dabei geht es um „die Vorzüge von PPP“, d.h. ihnen sollen im „Dialog“ diejenigen nahe gebracht werden, die laut Albrecht Müller „als Käufer kommunalen Eigentums in Frage kommen“. Dadurch nimmt man ihnen die Skrupel bei der Privatisierung – zwecks Entschuldung ihrer Kommunen. Alle wesentlichen Parteien sind in der RSBK vertreten. Für die „Entscheider“ gibt Rudolf Scharping darüberhinaus auch noch ein monatliches Info namens „PPP-Kompakt“ heraus…“Kein Wunder, dass in diesen Netzwerken das Verscherbeln der mühsam aufgebauten öffentlichen Einrichtungen wie geschmiert funktioniert,“ resümiert der Journalist Albrecht Müller.
Nun sind die Bürger jedoch auch nicht auf den Kopf gefallen, wenn man so sagen darf. Ihre neueste Idee – Konter-PPP – kommt aus London, wo sich neben den staatlich finanzierten Quartiers-Managern (QM) „Kiezräte“ von unten bildeten – nachdem die EU im April 1006 beschlossen hatte, ihre Problemkiez-Fördergelder nicht mehr an den Staat, der sie an die QM weiterleitete, sondern an Bürger-Initiativen zu zahlen – eben an die Kiezräte, die daraufhin natürlich an manchen Stelle flugs ebenfalls von oben „initiiert“ wurden. Daneben oder darüberhinaus ist derzeit eine wundersame Genossenschaftsgründerwelle zu beobachten. Im Wedding haben sich kleine Unternehmen zu einer „Stadtteilgenossenschaft“ zusammengeschlossen, im „Stadtteilverbund Hellersdorf-Süd“ die sozialen Projekte und Vereine. Die nahe Mitte domizilierte Genossenschaft „Königsstadt“ erwirtschaftete bereits Überschüsse – und hat deswegen ihren Mitgliedern die 12.Monatsmiete entlassen usw..
Es gibt darüberhinaus nicht wenige Kunstprojekte, die ein Public-Private-Partnership anstreben. Neu sind jedoch Verbraucher-PPPs.: Da Gaskunden ihre Anbieter fürderhin selber wählen können, haben sich in Bremen und Bad Iburg bereits die ersten Verbraucher zusammengefunden – und „Genossenschaften“ gegründet. In Bad Iburg übernimmt die niedersächsische Teutoburger Energie Netzwerk Genossenschaft (TEN) das örtliche Gasnetz. Auch das ist eine Konter-PPP. Sie müssen dafür einige Million Euro zahlen, sagt der Ex-Betreiber RWE, der einst durch den PPP-Verrat des Kölner Oberbürgermeisters Adenauer groß wurde. Während viele künstlerische und politische Projekte mit bestimmten sozialen Bewegungen entstehen und vergehen, ist der größte deutsche Alternativbetrieb, die tageszeitung, ein Beispiel für ein Projekt, dass sich im Alltag wandelte.
Vor 1989 gab es hier – wie auch beim Pariser Vorbild Libération – zunächst eine Entscheidung oder Scheidung zwischen einer „großen“ und einer „kleinen Lösung“. Die große bestand darin, sich an einen Kapitalgeber zu verkaufen, die kleine, eine Genossenschaft zu gründen, also kleine Kapitalien von unten zu acquirieren. Die Libération entschied sich, der französischen Tradition folgend, für ersteres – und soll nun ausgerechnet an den Springer-Verlag weiterverkauft werden, die taz – zumindestens ihr nicht-redaktioneller Teil, der alternativökonomisch dachte – für letzteres. Daraufhin wurde hier jedoch das Projekt nach und nach umorganisiert: Am Anfang gab es im wesentlichen nur ein Entscheidungsgremium – die Vollversammlung, und die Ressorts waren noch nicht den bürgerlichen Zeitungen nachgeäfft, sondern den politischen Erfordernissen geschuldet. So gab es z.B., als die RAF-Prozesse sich mehrten, eine Justizredaktion, ferner eine Frauenredaktion und eine Redakteurin nur für die Betreuung von Gefangenen und ihren Knastabos. Dafür jedoch noch keine Wirtschaftsredaktion, weil, so wurde argumentiert, jeder Artikel ökonomisch, d.h. marxistisch fundiert sein müsse. Außerdem waren die Ressorts noch nicht streng voneinander geschieden, ebensowenig die Hand- und Kopfarbeit, d.h. es gab ein Hin und Her. All das wurde sowohl intern als auch extern als „chaotisch“ empfunden.
Die Sowjetschriftstellerin Marietta Schaginjan hatte dazu bereits in ihrem Buch über den Ersten Fünfjahresplan „Das Wasserkraftwerk“ (in Armenien) das Nötige gesagt – gegenüber einem linken deutschen Professor: „Man kann das neue Prinzip nicht mit alten Augen, nicht mit den alten Methoden der Wertung erkennen. Es scheint nur so, als würden wir alle einander stören, als hätten wir unsere Funktionen nicht gegenseitig abgegrenzt. Aber wie soll man anders die neue Gesellschaft errichten? Wie das Maß finden? Sie können es ja nicht am Schreibtisch erfinden, nicht auf einen Zettel schreiben: Du, Chef darfst von da bis dort, du, Arbeiter, von da bis dort. Das ist doch völlig unmöglich, denn wir alle, Mitglieder einer einzigen Gesellschaft, haben noch sehr wenig Erfahrung, haben diese Erfahrung noch nicht erworben, sie noch nicht gesammelt. Dadurch, daß wir auf die gegenseitigen Arbeitsgebiete übergreifen, dadurch helfen wir ja, das Maß zu finden, das wahre Gleichgewicht herzustellen.“ Und dabei geht es nicht um (neue) „Herren“, sondern um „Faktoren: „Daß sich jeder Faktor auf Kosten des anderen erweitert, eben das ist der Kampf um das Maß, der Kampf um das System, um die neue Gesellschaft.“
Sehr gut kann man das im Falle der taz an der Entstehung und Entwicklung neuer Redaktionen nachvollziehen: Eine Mitarbeiterin erklärte sich am Anfang für die Fotos verantwortlich, dann rang sie den Redaktionen nach und nach die Pflicht ab, alle Fotos erst einmal über ihren Schreibtisch gehen zu lassen – und dann entstand daraus eine ganze Abteilung. Nun klagt sie jedoch, dass es ihr zu viel wird: „Während die anderen Redaktionen zum Essen gehen, müssen sie weiterarbeiten. Ähnlich war es bei der Leserbriefredaktion und auch bei einigen anderen. Überhaupt kann man von einer wundersamen Stellenvermehrung im Alltag reden. Durch die hierarchisierte Struktur und Funktionsaufteilung zerfiel langsam das, was man einen gemeinsamen Projektwillen nennen könnte. Dies wurde und wird als Befreiung erlebt, denn das Projekt zerfällt in einzelne Willen von Mitarbeitern. Im Maße die ursprünglichen Projektansprüche vergessen werden, sind jedoch die alten Mainstream-Maßgaben wieder bindend – bis in das kleinste Vokabular, d.h. alle Wörter, die in einem normalen Betrieb verwendet werden, gelten nun auch hier.
Das Alternativprojekt ist damit nach innen wie nach außen von einem normalen Unternehmensprojekt kaum noch zu unterscheiden – außer dass die taz keinen Profit erwirtschaften muß. Auch die „Alltagsvergessenheit“, vornehmlich der männlichen Kollegen, wurde inzwischen auf die herkömmliche Art angegangen, d.h. es gibt outgesourcte Putzkolonnen, eine Firma, die die Handtücher wechselt, externe Callcenter für die Abobetreuung, einen Controller für die Ressortbudgets usw.. Man sagt: „Der Alltag hat unser Projekt eingeholt“. So etwas läßt sich auch von den sozialistischen Staaten sagen, die sich jedoch im Gegensatz zur taz, die man als „DDR im Kleinen“ bezeichnet hat, 1989/90 auflösten.
Zu Beginn, d.h. nach Oktoberrevolution und Bürgerkrieg, war der Projektbegriff in der Sowjetunion epidemisch – und es entstand eine reiche Projektliteratur, d.h. Werke, die den Aufbau von Industrie- und sonstigen Projekten begleiteten. Man könnte sogar sagen, die ganze Sowjetunion wurde nach und nach mit einem dichten Netz von Projekten überzogen. So meinte z.B. der Chefingenieur des o.e. armenischen Wasserkraftwerks: „Wenn ich hinter einem vorliegenden Projekt nicht ein Gefolge von zwei, drei, vier, zehn, einer ganzen Kette von Projekten erblicke, dann steht die Sache schlecht und ist nichts.“ Umgekehrt könnte man natürlich auch das Scheitern im scheinbaren Erfolg bei der taz mit dem Ausbleiben „einer Kette von Projekten“ erklären, so wie Trotzki bereits das Scheitern des „bolschewistischen Projekts“ nach der Niederschlagung der Revolution in Deutschland ahnte.
Je mehr dies deutlich wurde, desto üppiger entwickelte sich die Projektliteratur. Den Aufbau-Roman „Das Wasserkraftwerk“ der Stalinpreisträgerin Marietta Schaginian habe ich bereits erwähnt. Genannt sei ferner Anton Semjonowitsch Makarenkos Buch über den Aufbau einer „Kolonie“ für verwaiste Kinder und Jugendliche: „Der Weg ins Leben“, das sich wesentlich von seinem darauffolgenden Roman „Flaggen auf den Türmen“ unterscheidet, in dem es um die Realisierung seines zweiten Projekts – einem Industrieobjektfür Jugendliche – geht, und das bis in die Sprache bereits ganz von „Planerfüllung“ durchdrungen ist. Dann das Buch „Die Baugrube“ vom sowjetischsten aller sowjetischen Schriftsteller Andrej Platonow, der darin wie auch in seinen anderen Werken schon sehr genau zwischen einem Emanzipations-Projekt und einer -Bewegung unterschied. „Scheißkerl!“ schrieb Stalin an den Rand eines seiner Manuskripte. Außerdem Wassili Ashajews Bestseller über eine sibirische Großbaustelle: „Fern von Moskau“, zu dem Alexander Solschenizyn in seinem Buch „Der Erste Kreis der Hölle“ anmerkte, dass es ein verlogenes Werk sei, denn ohne dass es erwähnt wird, ginge es darin um ein Zwangsarbeitslager in Sibirien – „vielleicht sogar von einem Sicherheitsoffizier geschrieben“. Schließlich noch Fjodor Gladkows Bestseller „Zement“, aus dem Heiner Müller 1972 ein Theaterstück machte. Gladkow hatte sein Werk bei jeder Neuauflage überarbeitet – und dabei aus den Alltags-Dialogen sukzessive Sonntags-Reden, d.h. eine trockene Funktionärssprache, gemacht. Walter Benjamin, der das Buch in den Zwanzigerjahren las, hatte den Autor gerade deswegen gelobt, weil er ihm als der Erfinder des bolschewistischen Argot galt. Für seine Bühnenfassung gab Müller daraufhin zusammen mit Fritz Mierau die erste Übersetzung von 1927 noch einmal – quasi heimlich – heraus. Schließlich sei noch der Aufbauroman „Das Sägewerk“ von Anna Karawajewa aus dem Jahr 1927 erwähnt.
Kürzlich erschien auf Deutsch ein polnischer Roman von Daniel Odija, der ebenfalls „Das Sägewerk“ heißt. Es geht darin um die Bewohner eines Kolchosdorfes mit einer Kolchosensiedlung, aber seit der Wende ohne Kolchose, dafür jedoch mit einem neuen Sägewerk, das ein Projektemacher (Businessman) aufbaut und womit er einige neue Arbeitsplätze schafft. Er wird mächtig und kann sogar Politikern die Stirn bieten, aber nach einer Reihe von Fehlschlägen geht es bergab. Am Ende zündet er sein Werk an, damit es nicht seinen Gläubigern in die Hände fällt. Odijas neuer Roman könnte fast das Drehbuch zu einem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1997 von Ewa Borzecka sein: „Arizona“, in dem sich bereits einige identische Szenen finden. Der Film handelt ebenfalls von einer Gruppe langzeitarbeitsloser Bauern aus einem Staatsbetrieb, der aufgelöst wurde (bis 1989 wurde 20% der Gesamtfläche von solchen „Kolchosen“ bewirtschaftet), das Gutsgebäude kaufte ein Städter. In den Mittelpunkt ihrer Dokumentation stellte die junge Regisseurin den einzigen Lebensmittelhändler des Dorfes. Er fährt einen Mercedes und verkauft den Armen zwar in der Not kein Brot mehr, versorgt sie jedoch ohne Ende mit dem Billigwein „Arizona“. Dafür darf er die Sozialhilfe seiner Stammkunden bei der Behörde direkt kassieren. Borzeckas Dokumentationen des Elends – neben „Arizona“ ist das noch ein Film über Warschauer Obdachlose, die in der Kanalisation hausen sowie einer über ledige Mütter, die sich durch Beischlafdiebstähle ernähren – bezeichnete die polnische Kritik als „Pornographie“.
Es gibt sogar einen „Gegenfilm“ dazu: die Komödie: „Geld ist nicht alles“. Im Suff entführen darin arbeitslose Bauern einen Yuppie aus Warschau, der zufällig mit seinem dicken Auto durch ihr Dorf kommt. Statt ein Lösegeld einzubringen, hilft er ihnen dann jedoch, die Kolchose für die Marktwirtschaft fit zu machen. Odijas Roman „Das Sägewerk“ kreist ebenso wie sein Dorf um den Sägewerksbesitzer Mysliwski, der seinem mißratenen Sohn zuletzt auch noch seinen Mercedes überläßt – und sich ganz dem Alkohol widmet bzw. ergibt.
Einen Nachwenderoman über einen ähnlich scheiternden Unternehmer in einem Dorf gibt es auch von einem deutschen Autor – von Matthias Göritz: „Der kurze Traum des Jakob Voss.“ Hier ist es ein ehemaliger Bürgermeister, der – gleichermaßen inspiriert von frühsozialistischen wie spätkapitalistischen Ideen – einen riesigen Entenmastbetrieb aufbaut, mit dem er pleite geht. Im großen Ganzen hatte der holländische Sozialforscher Geert Mak dies alles bereits in seiner Studie über den „Untergang des Dorfes in Europa“ am Beispiel des friesischen Ortes Jorwerd befürchtet: Heute wird auch auf dem Land „ein Projekt nach dem anderen konzipiert – ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander“, resümierte er. Feriendörfer, Yachthafen, Straußenzuchten, Transrapid – es wimmelt von Masterplänen. So wurde Jorwerd zu einem Global Village – und verschwand damit. Eine solche individuelle Projektemacherei hat also keine Zukunft, im Gegensatz etwa zu dem sowjetischen Sägewerksprojekt der Karawajewa.
Ihr Roman wurde damals auf Deutsch im „Bücherkreis“-Verlag des sozialdemokratischen „Vorwärts“ veröffentlicht und behandelt im Gegensatz zu Odijas „Sägewerk“ den Aufbau eines modernen neuen Dorfes – mit Elektrizität, industriellen Arbeitsplätzen, Kollektivlandwirtschaft, Wohlstand und Frauenemanzipation. Hier wie dort kommt es dabei zu Toten und Verwundeten und einigen Alkoholismen, aber unter den Kommunisten geht es voran: ein Dorfsowjet wird gewählt und das Proletariat aus der Stadt bringt eine neue Kultur mit aufs Land…Auch hier geschieht eine Brandstiftung im Sägewerk – unter Alkoholeinfluß, aber der Täter realisiert hier sozusagen im letzten Moment noch, dass er damit Volkseigentum vernichten würde – und alarmiert die „Feuerwehr“. „Wann werdet ihr endlich begreifen, daß ihr jetzt selber die Herren seid?“ hieß es zuvor.
Ein etwas später auf Deutsch erschienener und noch agitatorischer angelegter Kolchosenroman aus der Sowjetunion – von Sergej Tretjakow – hieß schon im Titel „Feld-Herren“. Sowohl in dem Roman von Karawajewa als auch in dem von Odija regnet es viel. Manchmal sitzen die Menschen auch bloß so da, als ob es ihnen auf den Kopf regnen würde. Und hier wie dort geht es um den Aufstieg und Untergang eines gewitzten Kulaken. Was jedoch 1929 eine Befreiung war und Fortschritt bedeutete, auch im Zusammenhang der Schaffung neuer weniger entwürdigenderer Arbeitsplätze sowie auch eines Genossenschaftsladens – statt des wie auch schon wieder bei Ewa Borsecka skrupellosen Einzelhändlers, ist 2003 der Verlust eines Unternehmers, einer letzten Wirtschaftseinheit mit Arbeitsplätzen. Zurück blieben „die Leute“ – als habe man sie „allein ihrem Schicksal überlassen. Nie hatte man ihnen beigebracht, mit sich selber etwas anzufangen. Immer hatte ihnen jemand gesagt, was sie tun sollten. Jetzt sagte ihnen keiner mehr etwas. Sie mußten es sich selber sagen.“ Heißt es bei Odija.
Aber das ist rein rhetorisch – denn so weit geht der Autor nicht in seinem polnischen Dorfroman. Vielleicht ist das die Crux der Projektemacherei schlechthin, dass sie per definitionem nicht die Massen ergreifen, mitreißen kann, wie man so sagte. Mit anderen Worten: Die Begeisterung läßt sich nicht wie Salzheringe einpökeln! Deswegen haben vielleicht alle Projektaufbau-Romane – im Gegensatz zu solchen über das Scheitern von Projekten – etwas Verlogenes. Der in der Haft gestorbene Dichter Ossip Mandelstam schrieb – zu Zeiten der großen sowjetischen Aufbau-Romane:
„Es ist so weit gekommen… Sämtliche Werke der Weltliteratur teile ich ein in genehmigte und solche, die ohne Genehmigung geschrieben wurden. Die ersteren sind schmutziges Zeug, die letzteren – abgestohlene Luft.“ Und in den Samisdat-„Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ behauptete Boris Jampolski 1975: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karawajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie.“ Im Westen findet dies sein Gegenstück in den Autobiographien von Unternehmern und Projektemachern. Man nennt dieses Genre hier auch „Success-Stories“.
Sie handeln durchweg von Idioten – im klassischen Sinne, also von solchen, die sich erfolgreich um ihren oikos kümmerten – und keinen Gedanken an die polis verschwendeten. Die Weltmeister darin dürften all jene Amerikaner sein, die es mit Lug und Trug vom Hausierer-Sohn zum Multimillionär (wie John D. Rockefeller), vom Webersohn zum „Stahlbaron“ (wie Andrew Carnegie), vom Coca-Cola-Verkäufer zum „Großinvestor“ (wie Warren Buffett) oder vom Programmierer zum „E-Monopolisten“ (wie Bill Gates) brachten. Und die dann als „Superreiche bzw. „reichste Männer der Welt“ ihre „Verantwortung“, ihre „soziale Ader“ oder ihre „Vision“ entdeckten bzw. derart vom „schlechten Gewissen“ geplagt wurden, dass sie mitsamt ihrem oikos sich am Ende – kurz vor Toresschluss – doch noch der (langlebigeren) polis zuwandten.
In Form eines gemeinnützigen Projekts – einer Kultur-, Wissenschafts-, Friedens- oder Gesundheitsstiftung z.B.. Wobei letztere nicht selten eine Medizin (er)finden sollen – gegen eine Krankheit, an der zuvor der Big Spender noch gestorben war. Hiermit verklammert sich quasi postmortem die Hoffnung auf ein Fortleben des Selbst mit dem Fortschritt der Gesellschaft. Und das private, an sich geraffte Kapital, das dabei jede Menge Soziales „schöpferisch zerstörte“, soll nun testamentarisch – im Handstreich sozusagen – wieder gesellschaftlich sinnvoll wirken. Wenn das erste Leben ein ebenso gemeines wie unsicheres Alltagsprojekt war, dann ist das zweite gewissermaßen ein hieb- und bibelfestes Sonntagsprojekt.
Etwas anders sieht es mit der Panter-Stiftung der taz aus, die aus dem Panterpreis hervorging und Leute auszeichnet, die sich sozial, ökologisch usw. engagieren. Leute wie gesagt, also Individuen meist – und leider keine Kollektive.
Es sei in diesem Zusammenhang auch noch kurz auf die sogenannten Internet-Projekte eingegangen: Bei der Zerschlagung bzw. Privatisierung der bisherigen Wirtschaftseinheiten und der wachsenden Priorität des Individuums vor allem Gesellschaftlichen – bietet sich ja als neue Möglichkeit, um zueinander zu finden, das Internet quasi von selbst an, das einige ihrer Nutzerkollektive – „Indymedia“ und „Labournet“ z.B. – inzwischen sogar als neue Alternative zu den alten Gewerkschaften und sonstigen politischen Organisationsformen begrüßen. Das Berliner online-magazin „infopartisan“ kam jedoch kürzlich nach über zehnjährigem Bestehen zu dem entgegengesetzten Resultat, dass man die Leute gerade nicht über so ein Internetforum organisieren kann – damit werde das Pferd gewissermaßen von hinten aufgezäumt: „Sie müssen sich erst zu konkreten Aktivitäten zusammenfinden, erst dann wird – in einem zweiten Schritt, dieses Medium vielleicht für sie brauchbar“.
Kulturprojekte:
Der Philosoph des Judentums Emmanuel Lévinas meinte nach dem ersten bemannten Weltraumflug 1961: Mit Gagarin wurde endgültig das Privileg „der Verwurzelung und des Exils“ beseitigt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab jedoch einer der letzten Kosmonauten auf der MIR-Raumstation zu bedenken: „Wir haben unser Hauptproblem dort oben nicht gelöst. Wir können seit Gagarin in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.“
Wie im Himmel also auch auf Erden – tat sich derweil ein ähnliches Schwanken zwischen Optimismus und Zerknirschung auf. So meinte z.B. der brasilianische Philosoph Vilèm Flusser: „Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, welche die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreisst und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich jedoch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen. Und das ist auch die Erklärung für das aufkommende Interesse am Nomadentum.“
Man spricht von den alten – viehzüchterischen – Nomaden, deren Welt am untergehen ist, und den „neuen“, oder „modernen Nomaden“, die angeblich und nicht zuletzt dank Internet schwer im Kommen sind. Bei diesen Stadtnomaden unterscheidet man heute – wenigstens in Berlin – zwischen „urbanen Pennern“ und der „digitalen Bohème“. Beide zählen zur „kreativen Intelligenz“ und gemeinsam ist diesen jungen „Laptoppern“ auch die zunehmende Unmöglichkeit bzw. ihre Ablehnung einer Festanstellung. Im Gegensatz zu den ersteren, die mit ihrer prekären Selbständigkeit hadern, sehen letztere darin jedoch optimistisch gestimmt eine Chance. Die „Bohème“ leitet sich von den Zigeunern ab, schon Michel Foucault riet in seinen Thesen zur Einführung in das nicht-faschistische Leben: „“Glaube daran, dass das Produktive nicht seßhaft, sondern nomadisch ist!“ Wenig später machten Gilles Deleuze und Félix Guattari daraus eine ganze postmoderne „Nomadologie“, wobei sie davon ausgingen, dass mit dem Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft bzw. von der Industrie- zur Informationsgesellschaft alle „geschlossenen Systeme“ (Krankenhäuser, Knäste, Fabriken, Schulen usw.) sich öffnen müssen – und uns allen u.a. bald das schreckliche „Lifelong Learning“ drohe.
Der US-Arbeitsminister unter Clinton Robert Reich versuchte demgegenüber diese Entwicklung 1997 eher optimistisch zu sehen, in dem er den o.e. neuen Mittelschichtstypus, der sich im Zusammenhang der Globalisierung und der Reprivatisierungen nach dem Zerfall der Sowjetunion, herausmendelte zu den 20% Gewinnern der neuen Ökonomie zählte, die er „Problemlöser“ und „Problemfinder“ nennt. Dazu rechnet er Broker, Juristen, Programmierer, Gentechniker, Werbetexter usw..
Nur an ein Segment daraus dachte die linke Kulturpolitikerin Adrienne Goehler, als sie die sich immer mehr „verflüssigenden“ sozialen Umwelten in den Blick nahm, um die nomadisierenden Kreativen als produktive Antwort darauf zu begreifen. Da deren äußerst mobile Existenz bald für alle gelten soll, werde sich dabei aufs Ganze gesehen der „Sozialstaat zur Kulturgesellschaft“ wandeln, so Goehlers These, die der SPD-Theoretiker Peter Glotz bereits vorformulierte, als er 1987 vermeinte, die wachsende wirtschaftliche Bedeutung des Kultursektors erkannt zu haben. Dieser positiven Sicht auf alle „Verflüssigungen“ – infolge der dritten industriellen Revolution – hält der exilierte polnische Soziologe Zygmunt Baumann das Elend der „Überflüssigen“ entgegen: also das Schicksal all derer, die weltweit eine neue Existenzweise suchen – dabei jedoch nicht mehr wie noch vor 150 Jahren auf so genanntes „unterbesiedeltes Land“ auswandern können.
Mit diesen hält es der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko, wenn er meint: „Der Künstler muß heute als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen.“ Denn die Migranten sind jetzt – laut Neal Ascherson – zu Subjekten der Geschichte geworden: „die Flüchtlinge, die Gastarbeiter, die Asylsucher und die Obdachlosen“. Oder wie der Exilpalästinenser Edward Said es ausdrückte, „die Fackel der Befreiung“ ist von den seßhaften Kulturen an „unehauste, dezentrierte, exilische Energien“ weitergereicht worden, „deren Inkarnation der Migrant“ ist. Die Plätze, Märkte, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte werden durch sie zu neuen „Agoren“ (den Versammlungsplätzen in der griechischen Polis).
Neues Prekariat, kreative Klasse, Urban Nomads – das sind einige der Schlagworte für all jene jungen gutausgebildeten Leute hierzulande, die versuchen, sich als „Projektemacher“ (vulgo „Jobnomaden“) durchzuschlagen, weil es infolge der Umwandlung der Industriegesellschaft in eine Informations- oder Mediengesellschaft bzw. einer Disziplinargesellschaft in eine Kontrollgesellschaft, die alle geschlossenen Systeme zwingt, sich zu öffnen, immer weniger Festanstellungen für sie gibt. Im deindustrialisierten Berlin stellt sich diese Situation besonders drastisch dar, deswegen entstand hier auch eine zwischen Pessimismus und Optimismus schwankende Betroffenendiskussion, die um die Begriffe „urbane Penner“ und „digitale Bohème“ kreist. In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder gerne der Begriff des „Scheiterns“ thematisiert. Da diese Diskussion auch in der taz geführt wird – eine „Creative Village“-Praktikantengruppe veröffentlichte sogar ein taz-buch über das Scheitern und eine der umstrittenen Autorinnen, die sich dazu mit einer Buchveröffentlichung („Verflüssigungen“) zu Wort meldete, Adrienne Goehler, ist Aufsichtsrätin der taz – ist sie auch immer wieder Thema der „Generation Praktikum“.
Auf einer Veranstaltung in der Privatuniversität Witten/Herdecke, organisiert von Dirk Baecker, diskutierten darüber u.a. die Schöpfer der Wörter „Urbane Bohème“ und „Digitale Penner“, ich hatte dazu dort Folgendes zu sagen – beginnend mit deren Anfängen in Russland:
Anfänglich war die Arbeit noch „unmittelbar gesellschaftlich“ – in den frühen Dorfgemeinschaften z.B., (die nebenbeibemerkt in Rußland noch bis 1930 existierten und rudimentär in einigen Teilen der Welt bis heute). Mit der Trennung von Produzent und Produktionsmitteln löste sich diese von Marx sogenannte „Gesellschaftlichkeit der Arbeit“ jedoch immer mehr auf. Bis es mit der Verwandlung von Kaufmannskapital in Industriekapital – etwa ab Ende des 14.Jhds. – zu einer „Wiedervergesellschaftung der Arbeit“ kam, jedoch nur in ihrer abstrakten Form. Denn die Warenproduktion läßt nur eine solche zu. In ihrem „gesamten Umkreis herrscht Abstraktheit“, wie Alfred Sohn-Rethel sagt:
„In erster Linie ist der Tauschwert selbst abstrakter Wert im Gegensatz zum Gebrauchswert der Waren. Der Tauschwert ist einzig quantitativer Differenzierung fähig, und die Quantifizierung, die hier vorliegt, ist wiederum abstrakter Natur im Vergleich zur Mengenbestimmung von Gebrauchswerten. Selbst die Arbeit…wird als Bestimmungsgrund der Wertgröße und Wertsubstanz zu ‚abstrakt menschlicher Arbeit‘, menschlicher Arbeit als solcher nur überhaupt. Die Form, in der der Warenwert sinnfällig in Erscheinung tritt, nämlich das Geld,…ist abstraktes Ding und in dieser Eigenschaft, genaugenommen, ein Widerspruch in sich. Im Geld wird auch der Reichtum zum abstrakten Reichtum, dem keine Grenzen mehr gesetzt sind. Als Besitzer solchen Reichtums wird der Mensch selbst zum abstrakten Menschen, seine Individualität zum abstrakten Wesen des Privateigentümers. Schließlich ist eine Gesellschaft, in der der Warenverkehr den nexus rerum bildet, ein rein abstrakter Zusammenhang, bei dem alles Konkrete sich in privaten Händen befindet.“
Dies sind die Folgen der „Maschinisierung von Handarbeit“, könnte man sagen. Nun wäre zu fragen: Hat sich mit der Durchsetzung der elektronische Datenverarbeitung – also mit der „Maschinisierung von Kopfarbeit“ – etwas qualitativ Wesentliches in diesem oben beschriebenen Abstraktionsprozeß, in dieser immer abstrakter werdenden Gesellschaft, verändert? Margret Thatcher ging bereits so weit zu behaupten: „Ich kenne keine Gesellschaft, sondern nur Individuen.“
Als besonderes Kennzeichen der derzeitigen Globalisierung gilt die mähliche Abkopplung des Finanzkapitals von der Produktion, indem „Investitionen“ in fiktive Werte (wie Derivate, Hedge- und Equity-Fonds, Junk-Bonds und Währungen) profitabler geworden sind als solche in die Herstellung von Waren oder die Bereitstellung von Dienstleistungen. Die Banken bieten den Anlegern dazu immer neue „Produkte“ an. Robert Kurz spricht in diesem Zusammenhang von der „autopoietischen Bewegung des entkoppelten Finanzkapitals und seiner creatio ex nihilo in der Zirkulation von Eigentumstiteln.“ Dieser „potenzierten Verkehrung von Wesen und Erscheinung“ entspreche auch faktisch einer Verkehrung von materieller Produktion und Wertform als Geldform: „Nicht mehr die Realakkumulation trägt einen Finanzüberbau, sondern das Recycling von substanzloser Geldform generiert zunehmend überhaupt erst materielle Produktion, indem die Gewinne aus den Preisbewegungen der Eigentumstitel als Kaufkraft reale Güter nachfragen.“
Mit der Verselbständigung des Finanzkapitals wird die materielle Produktion“ zu einem „Nebeneffekt“, von dem jedoch „das Wohl und Wehe von Betrieben und ganzen Regionen abhängt, die nicht aus ihrem ‚Standort‘ aussteigen können, so wenig wie ein Mensch aus seinem Körper ‚aussteigen‘ kann.“ Robert Kurz spricht in diesem Zusammenhang von einer zunehmenden „Gesellschaftsunfähigkeit des Kapitalismus“. Beschleunigt wird sie noch dadurch, dass infolge der mikroelektronischen Rationalisierungen mehr Arbeiter freigesetzt werden als dass neue Arbeitsplätze entstehen – derweil die „Zonen der Barbarei“ – No Go Areas, Slums und Hyperghettos – sich nicht mehr nur an der Peripherie ausdehnen, sondern inzwischen bis in die Metropolen der Industrieländer reichen.
Wie konnte es dazu kommen? Die dritte Industrielle Revolution bereitete sich zur selben Zeit wie die Gründung von IWF und Weltbank am Ende des letzten imperialistischen „Zweiten Weltkriegs“ vor. Dazu fanden zwischen 1946 und 1953 die so genannten „Macy-Konferenzen“ statt, auf denen sich die „technokratische Wissenschaftselite der USA“, darunter viele Emigranten aus Europa, versammelt hatte – um ausgehend von der Waffenlenk-Systemforschung, der Kryptologie, der Experimentalpsychologie und der Informationswissenschaft sowie von Erwin Schrödingers 1943 erschienenem Buch „What is Life?“ Theorie und Praxis der „Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems“ zu diskutieren. Hierzu gehörten u.a. John von Neumann, Norbert Wiener, Claude Shannon, Gregory Bateson und Margret Mead, als Konferenzsekretär fungierte zweitweilig Heinz von Foerster. Im Endeffekt entstand daraus die inzwischen nahezu weltweit durchgesetzte und empirisch fruchtbar gewordene Überzeugung, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind – also auf Tiere, Computer und Volkswirtschaften gleichermaßen zutreffen.
Während die jungen Linken – Holm Friebe und Mercedes Bunz – sich für die neuen Möglichkeiten, die diese technologische Revolution bietet, begeistern, ist der Altlinke Thomas Pynchon eher von der Idee ihrer „schöpferischen Zerstörung“ beseelt. Anders seltsamerweise der Marxist André Gorz: Er richtet seine Hoffnungen gerade auf diese an und mit den neuen Maschinen arbeitende Kreativscene, die nicht dem Verlust von festen Arbeitsplätzen nachtrauert, sondern im Gegenteil, lieber beweglich bleiben will. Er nennt sie „namenlose Helden des Prekären“, „Pioniere der Wiederaneignung von Zeit“ und Projektemacher, die er – mit dem Begriff des US-Bestsellerautors Douglas Coupland – zur „Generation X“ zusammenfaßt. Sie sind für ihn so etwas wie ein Stoßtrupp von unten im Kampf gegen die heraufkommende elektronisierte Kontrollgesellschaft von oben, indem sie gerade dagegen „die vernakulären (d.h. hausgesponnenen) und spontanen Kompetenzen entwickeln und nicht verberuflichen“. „Ich weiß,“ sagt Gorz, „dass sich das nicht an einem Tag (massenhaft) entwickeln läßt. Ich weiß, dass schnell gehandelt werden muß, denn die ‚Desozialisierung‘ entwickelt sich noch schneller als die Massenarbeitslosigkeit und Armut.“
Zurück zur anfänglichen Macy-Konferenz: Die Ideen, die dort kurz nach dem Krieg formuliert wurden – gingen zumeist noch ins Künstlerische, Spielerische. „Das erste große Einsatzfeld“ der Kybernetik war der Vietnamkrieg knapp 20 Jahre später. Erst in Vietnam, dem ersten so genannten Medienkrieg, wurde es ernst. Auf einem Symposium über die Macy-Konferenzen, das unlängst an der Berliner FU stattfand, führte Rainer Fischbach dazu aus: Hierbei sei die, vor allem mit den Namen Mc Namara und Henry Kissinger verbundene, Kybernetik jedoch „gescheitert“, was die Militärs bis heute jedoch nicht daran hindere, sich nahezu weltweit und mit den selben Einsatzmitteln auf solche Kämpfe einzustellen – wozu sie u.a. Institute für Urbanistik gründeten. Die „Urbanismus-Diskurse“ der heutigen Stadtsoziologen und Architekten (für die „Kontrolle“ und „Kommunikation“ z.T. noch in Opposition stehen) seien in diesem Zusammenhang nur die spielerische Variante der Terrorbekämpfung, wie sie zur Zeit u.a. in den urbanen Zentren des Iraks stattfinde. Wenn hierbei nun die städtische Bevölkerung in toto als Guerilla und somit als Feind fixiert wird (wie sie – ebenfalls mit Clausewitz, aber in anderer Perspektive – auch schon von Michel de Certeau in seinem Buch „Die Kunst des Handelns“ als potentielle Partisanen dargestellt wurden), dann war es im Vietnamkrieg der unberechenbare Bauer als Vietkong, für den „der Krieg kein Spiel, sondern Kampf“ war, so daß „der rationale, kybernetische Krieg im Massaker endete, ohne auch nur ein einziges seiner erklärten Ziele zu erreichen“, wie Rainer Fischbach meint – der sich dabei sinnigerweise auf einen Fictionfilm, nämlich Coppolas „Apocalypse Now“, bezieht.
Günter Anders hatte dafür bereits den Begriff des „Telezids“ geprägt, um die vorherrschende Form der Gewalt zu charakterisieren, mit der die Differenz von Modell und Realität vernichtet wird. Fischbach fügte dem hinzu: Mit Reagans „Strategic Defense Initiative“ (SDI) sei dieses Denken auf ein „totalisierendes System“ hinausgelaufen, das im Konzept des „Cyberspace“ nun bis in das Leben der Individuen vordringe.
Die einst optimistische These von Marshall McLuhan: „Das Medium ist die Botschaft“, ergänzte Jean Baudrillard bereits, eher kulturpessimistisch gestimmt, dahingehend, dass es gar „kein Medium im buchstäblichen Sinne des Wortes“ mehr gäbe: „von nun an läßt es sich nicht mehr greifen, es hat sich im Realen ausgedehnt und gebrochen…“ Ebenso sei es „mit dem Zeitalter der Repräsentation, dem Raum der Zeichen, ihrer Konflikte, ihres Schweigens“ vorbei: „Es bleibt nur die ‚black box‘ des Codes, das Molekül, von dem die Signale ausgehen, die uns mit Fragen/Antworten durchstrahlen und durchqueren wie Signalstrahlen, die uns mit Hilfe des in unsere eigenen Zellen eingeschriebenen Programms ununterbrochen testen“.
Auch hier werden – wie bei Thomas Pynchon – alle Anwendungsbereiche der Kybernetik in ihrer Wirkung zusammengedacht. Allein auf die Molekularbiologie bezog sich die Bremer Humangenetikerin Silja Samerski, als sie in einem Interview ausführte: Das „‚Gen“ ist nichts anderes als ein Konstrukt für die leichtere Organisation von Daten, es ist nicht mehr als ein X in einem Algorithmus, einem Kalkül. Aber außerhalb des Labors wird es dann zu einem Etwas, zu einem scheinbaren Ding mit einer wichtigen Bedeutung, mit Information für die Zukunft . . . über das sich anschaulich und umgangssprachlich reden lässt. Es ist doch sehr fraglich, ob man umgangssprachlich über Variablen von . . . oder Bestandteile eines Kalküls oder Algorithmus sprechen kann, ob sich also überhaupt außerhalb des Labors sinnvolle Sätze über ,GENE‘ bilden lassen, die von irgendeiner Bedeutung sind. Wenn aber solche Konstrukte in der Umgangssprache auftauchen und plötzlich zu Subjekten von Sätzen werden, mit Verben verknüpft werden, dann werden sie sozusagen in einer gewissen Weise wirklich. Dadurch dass ,GENE‘ immer was tun, nehmen sie Gestalt an – hieße es X, wäre es ganz klar, X kann nichts tun – ,GENE‘ liegen auf den Chromosomen, sind Bausteine des Organismus, Vererbungseinheit und Träger von „Informationen“, wird behauptet, aber das sind alles lediglich Zuschreibungen. Man hat mir auch manchmal entgegengehalten, es sei eben abstrakt. Aber ein Abstraktum geht ja immer vom Konkreten aus, das ist beim ,GEN‘ nicht der Fall, da gibt’s nichts Konkretes…Und dieses ganze Gerede über ,GENE‘ ist meiner Meinung nach nur eine Einstimmung auf das Selbstmanagement, ins Management des Biologischen angeblich. Der Mensch, wird gesagt, nimmt jetzt seine Evolution selbst in die Hand, es wird gesagt, dass der Mensch sich neu definieren müsse usw.. Aber ich glaube, was neu ist, ist nicht, dass er sich neu definieren muss, sondern das er sich überhaupt definieren muss. Menschen haben sich bisher nie definieren müssen in diesem beschriebenen Sinne.“
Das Selbstmanagement geschieht derzeit u.a. mittels Schönheitschirurgie, Medizin, Jogging, Fitness, Wellness, Lifelong-Learning, Nichtrauchen etc.. Dies alles läuft – mindestens für die slowenische Philosophin Alenka Zupancic – darauf hinaus, dass man bald nicht nur für sein Unglück verantwortlich gemacht wird, die Lage ist noch viel perverser: das Unglück wird zur Hauptquelle der Schuldigkeit, zum Zeichen dafür, dass wir nicht auf der Höhe dieses wunderbaren Lebens waren, das uns ‚geschenkt‘ worden ist. „Man ist nicht etwa elend, weil man sich schuldig fühlt, man ist schuldig, weil man sich elend fühlt“. In seiner Habilitationsschrift Mitte der Achtzigerjahre sprach Jean Baudrillard von der „Kunst des Verschwindens“ – verstanden als ein „Tarnverfahren zum Überleben“ – als eine Subjektstrategie, die auf Verführung basiert.
Nun, kurz vor seinem Tod, hat er diese „Kunst des Verschwindens“ noch einmal thematisiert: Diesmal – nahe an Günter Anders – als Objektstrategie eines umfassenden „digital processing“, das den Menschen qua Technologie zum Verschwinden bringt – damit aber auch das Böse sowie alle Radikalität: „Wenn sie sich vom mit sich selbst versöhnten und dank des Digitalen homogenisierten Individuum trennt, wenn alles kritische Denken verschwunden ist, dann geht die Radikalität in die Dinge über. Und das Bauchreden des Bösen wechselt zur Technik selbst hinüber…Wenn die subjektive Ironie verschwindet – und sie verschwindet im Spiel des Digitalen – dann wird die Ironie objektiv. Oder sie verstummt.“ Ja, dank des „Klonens, der Digitalisierung und der Netze“, so Baudrillard, sind wir eigentlich schon so gut wie verschwunden: „Es ist ein wenig wie im Falle der Cheshire-Katze bei Lewis Carroll, deren Lächeln immer noch im Raum schwebt, nachdem ihre Gestalt entschwunden ist.“
Von der digitalen Boheme bzw. den urbanen Pennern wäre demnach nicht einmal mehr ihr volles Lächeln übrig – derart sind sie vorangestürmt: als Nutzer, Contentmanager usw.. Damit ist die Frage hier, in welchem Abstraktionsprozeß wir uns gerade befinden, für mich halbwegs beantwortet. Hinzugefügt sei: wir stecken noch derart in diesem Prozeß, dass man wahrscheinlich erst in 10 Jahren das ganze Ausmaß dessen, was die Neuen Medien derzeit mit uns anstellen, begreifen kann.
Der obige Text und seine Wirkung:
Lieber Herr Helmut Höge,
Ich habe ihre Emailadresse von Markus Krajewski und möchte Sie fragen, ob
Sie in der Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e.V. Berlin im Rahmen der
Ausstellung //unvermittelt (siehe Beschreibung unten) am 21.1.2009, 20:00
einen Vortrag im Kontext ihres Beitrages zu den Projektmachern (ca. 45min)
halten würden. Das Honorar wäre 300,-.
Der Abend würde aus ihrem Beitrag, einer Diskussion und anschließenden
„informellen“ Gespräch bei Bier und Wein in der Ausstellung bestehen.
Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie zu unserem Projekt beitragen würden.
Herzlich
Technische Universität Berlin
Institut für Soziologie
FB Kommunikations-/Mediensoziologie
und Geschlechterforschung
Projekt careers@communication
Franklinstr. 28/29
10587 Berlin
Sekretariat FR-2-5
Raum FR1050
Tel.: +49 (0)30 314 – 28709
Fax.: +49 (0)30 314 – 73301
//UNVERMITTELT
Rund 50 Aktivist_innen, Initiativen, Künstler_innen, Theoretiker_innen und
Multiplikator_innen aus der ganzen Welt arbeiten im Rahmen von /unvermittelt
an der Herstellung und Veröffentlichung eines gemeinsamen, solidarischen
„Denk-, Spiel- und Handlungsraumes“. So entwickeln sie ein zeitgemäßes
Konzept von Arbeiten und Tätigsein und stellen es im Zuge der Kampagne
/unvermittelt in öffentlichen Interventionen und Monumenten im Berliner
Stadtraum, Radio- und Fernsehbeiträgen, in Diskussionen und Publikationen
zur Debatte.
Teil der Kampagne ist eine vorbereitende wissenschaftliche Vortrags- und
Workshopreihe, die bereits im Januar 2008 begonnen hat. Unterschiedliche
Protagonisten und Positionen im Arbeitsmarkt sowie internationale Ansätze zu
alternativen Arbeits- und Erwerbsmodellen wurden vorgestellt. Audioarchiv:
http://zope2.inberlin.de/wsb/unvermittelt/archiv
In einer Abschlussausstellung in der NGBK im Dezember 2008/Januar 2009 wird
das gesamte Projekt evaluiert und ausgestellt. Eine Wanderausstellung ist
für 2009/2010 in Planung.
/unvermittelt ist eine AG der NGBK Berlin e.V., bestehend aus Danijela
Cenan, Frauke Hehl, Nadine Wothe, Rut Waldeyer, Uli Ertl unter der
Schirmherrschaft von Frau Senatorin Knake Werner (Senatsverwaltung für
Integration, Arbeit und Soziales)