Progressive Serien
Das Birnen-Beispiel
Das Wirtschaftsmagazin „brand eins“ hat in seinem Augustheft das Thema „Liebe“ aufgegriffen – unter dem Motto „Wirtschaft braucht Leidenschaft“. Sehr löblich, auch dass der erste Text im Heft sich gleich mit „Genossenschaften – Vom Ich zum Wir“ – beschäftigt: „Genossenschaften beseitigen Probleme des Kapitalismus mit kapitalistischen Methoden. Und erzeugen dabei Wärme,“ heißt es dazu. Im Einzelnen geht es dann in dem Text 1. um das vergenossenschaftliche Schwimmbad von Nörten-Hardenberg (zur Erinnerung: auch in Berlin wollte eine Bürgerinitiative das Oderberger Bad vergenossenschaftlichen, aber dann starb ihr Aktivist Bernd Holtfreter und nun hat der schreckliche Projektemacher Architekt Müller das Bad für 100.000 Euro gekauft); 2. um die LPG in Cobbelsdorf, die sich nach der Wende zu einer Genossenschaft nach Westrecht umwandelte; 3. um Deutschlands größte Energiegenossenschaft Greenpeace Energy; und 4. um die Eichenschule in Scheeßel, die sich von einem überregionalen aber pädagogisch uninteressanten, um nicht zu sagen dummen Eliteinternat, wo u.a. die Preußenprinzen lernten, zu einer lokalen Schulgenossenschaft wandelte. Selten habe ich einen leidenschaftsloseren Artikel gelesen – als diesen über Genossenschaften im brand eins-heft über Leidenschaft in der Wirtschaft.
Wie aber nun wirklich die Leidenschaft bei der Arbeit entwickelt werden kann, das hat der Kaufmannsgehilfe Charles Fourier in seiner Genossenschafts-„Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen“ herausgearbeitet. Sie wurde 1966 von Th.W.Adorno auf Deutsch neu veröffentlicht und von Elisabeth Lenk bevorwortet. Hier sei ihr die „Anmerkung A – Über die progressiven Serien“ entnommen:
Ich muß einen Einwand vorweg wiederlegen, den man gewiß gegen die neue häusliche Ordnung, die ich progressive Serien nenne, erheben wird. Man wird sagen, dass diese Ordnung zu erfinden ein Kinderspiel war und dass ihre Einrichtungen nur Kurzweil seien. Was tut’s, wenn sie nur ihr Ziel erreichen, das in der Anziehungskraft der Arbeit besteht, darin, dass das Vergnügen daran uns zur Landwirtschaft locken wird, die heute für die Menschen aus guter Familie eine Strafe ist. Diese Tätigkeit, das Pflügen zum Beispiel, erfüllt uns verständlicherweise mit einer Abneigung, die an Abscheu grenzt, und der gebildete Mensch wird zum Selbstmord getrieben, wenn er sich nur durch die Pflugschar ernähren kann.
Dieser Widerwille wird durch die unwiderstehliche Anziehungskraft der Arbeit völlig überwunden, die die progressiven Serien erzeugen, von denen ich jetzt sprechen werde.
Wenn die Einrichtungen dieser Ordnung nur auf einem Kinderspiel beruhen, so ist das eine Wohltat der Vorsehung, deren Absicht es war, die für unser Glück nötigen Wissenschaften leicht faßbar zu machen. Somit begeht man, wenn man der Theorie der progressiven Serien ihre Einfachheit vorwirft, zwei Inkonsequenzen, erstens, indem man der Vorsehung vorwirft, sie habe die Berechnung unserer Bestimmung so einfach gemacht, und zweitens, indem man den Zivilisierten ihre Unbesonnenheit vorwirft, die sie die einfachste und nützlichste Berechnung versäumen ließ. Wenn es ein Kinderspiel ist, so stehen unsere Gelehrten noch tiefer als die Kinder, wenn sie das nicht gefunden haben, was mit so geringer geistiger Anstrengung zu vollbringen war; das ist der landläufige Fehler der Zivilisierten, die, von wissenschaftlichen Prätentionen aufgeblasen, zehnmal über ihr Ziel hinausschießen und durch ein Übermaß an Gelehrsamkeit unfähig werden, die einfachsten Vorgänge in der Natur zu erfassen.
Man hat noch nie ein schlagenderes Beispiel gefunden als das des Steigbügels, eine Erfindung, die so einfach ist, dass jedes Kind sie hätte machen können. Aber es hat 5000 Jahre gebraucht, ehe der Steigbügel erfunden wurde. Im Altertum mußten die Reiter sich aufs äußerste anstrengen, sie erkrankten schwer, weil sie keinen Steigbügel hatten. Längs der Straßen stellte man Steine auf, damit die Reiter ihre Pferde besteigen konnten. Jedermann staunt bei diesem Beispiel über die Torheit der Alten, eine Torheit, die allerdings fünfzig Jahrhunderte angedauert hat, obwohl jedes Kind hätte Abhilfs schaffen können. Da sie nun gelungen ist, wird, ich wiederhole es, jede Kritik an ihrer Einfachheit die Spötter und Gelehrten aus fünfundzwanzig Jahrhunderten lächerlich machen.
Wir wollen uns der Darstellung zuwenden, die ich versprochen habe. Ich werde hier nur die materielle Anordnung der Serien erklären, ohne von ihren Beziehungen untereinander zu sprechen.
Eine „Serie der Leidenschaften“ (als Gruppe betrachtet) besteht aus Personen, die sich in jeder Hinsicht voneinander unterscheiden, in Alter, Besitz, Charakter, Verstand etc. Die Mitglieder müssen so gewählt werden, dass sie miteinander kontrastieren und eine Stufenfolge von reich zu arm, von gebildet zu unwissend (von jung zu alt) etc. ergeben. Je größer und abgestufter die Unterschiede sind, um so mehr fühlt sich die Serie zur Arbeit hingezogen, erhöht sich ihr Gewinn und erzeugt soziale Harmonie.
Wenn eine größere Zahl von Serien richtig arbeitet, so teilt sich jede von ihnen in verschiedene Gruppen, deren Anordnung die gleiche ist wie die einer Armee. Um ein Bild davon zu geben, nehme ich ungefähr 600 Personen an, zur Hälfte Männer, zur Hälfte Frauen, die sich alle für eine bestimmte Arbeit begeistern, zum Beispiel die Züchtung von Blumen und Früchten.
Nehmen wir die Birnen-Serie an: man wird die 600 Personen in Gruppen aufteilen, die sich mit der Kultur von ein bis zwei Birnensorten beschäftigen. Es wird eine Gruppe von Züchtern der Butterbirne, der Bergamottbirne, der Rousseletten usw. geben. Wenn jeder sich in die Gruppe seiner Lieblingsbirne hat aufnehmen lassen (man kann in verschiedenen Gruppen Mitglied sein), so wird es vielleicht einige 30 Gruppen geben, die sich durch Banner und Zierrat unterscheiden und sich in 3,5 oder 7 Abteilungen aufstellen werden, zum Beispiel:
Die Abteilung 1. Vorhut – in 2 Gruppen – züchtet Quitten und harte Hybriden
Die 2. Aufsteigende Flügelspitze – in 4 Gruppen – züchtet Harte Kochbirnen.
Die 3. Aufsteigender Flügel – in 6 Gruppen – züchtet Harte Eßbirnen.
Die 4. Zentrum der Serie – in 8 Gruppen – züchtet Saftige Birnen (Butterbirnen).
Die 5. Absteigender Flügel – in 6 Gruppen – züchtet Feste Birnen.
Die 6. Absteigende Flügelspitze – in 4 Gruppen – züchtet Mehlige Birnen.
Die 7. Nachhut – in 2 Gruppen – züchtet Mispeln und weiche Hybriden.
Es ist unwesentlich, ob die Serie aus Männern, Frauen oder Kindern besteht, oder je zur Hälfte, die Einteilung bleibt immer die gleiche.
Die Serie wird, was die Zahl der Gruppen oder die Aufteilung der Arbeit anlangt, ungefähr so aufgeteilt: je näher sie diesem ordnungsgemäßen Aufstieg und Abstieg kommt, desto besser ist sie harmonisiert und um so eifriger wird sie bei der Arbeit sein. Der Kanton, der am meisten verdient und unter gleichen Bedingungen die besten Erzeugnisse ergibt, ist derjenige, dessen Serien am besten abgestuft sind und am stärksten kontrastieren.
Wenn eine Serie ordnungsgemäß gebildet ist, wie jene, die ich eben angegeben habe, werden sich die korrespondierenden Abteilungen untereinander verbünden. Der aufsteigende und absteigende Flügel werden sich gegen das Zentrum verbünden und werden trachten, ihren Produkten vor denen des Zentrums der Serie den Vorrang zu verschaffen. Die beiden Flügelspitzen werden sich miteinander und mit dem Zentrum verbünden, um gegen die beiden Flügel aufzukommen. Aus diesem Mechanismus ergibt sich, dass jede Gruppe nach Herzenslust herrliche Früchte hervorbringen wird.
Die gleiche Rivalität, die gleichen Bündnisse wiederholen sich zwischen den verschiedenen Gruppen jeder Abteilung. Wenn ein Flügel aus 6 Gruppen besteht, 3 Männer- und 3 Frauengruppen, werden Männer und Frauen miteinander an Arbeitseifer wetteifern. Dann gibt es noch die Rivalität innerhalb eines Geschlechts, zwischen der zentralen Gruppe 2 und den äußeren Gruppen, 1 und 3, die sich gegen das Zentrum verbünden, außerdem Bündnisse der Gruppe 2, Männer und Frauen, gegen die Ansprüche der Gruppen 1 und 3, Männer und Frauen. Schließlich werden noch alle Flügel gegen die Ansprüche der Flügelspitzen und des Zentrums zusammenhalten, so dass die Serien, wegen der Birnenzucht allein, sich in ein abwechslungsreicheres Intrigenspiel von Bündnissen und Rivalitäten verwickeln werden als alle Kabinette Europas zusammen.
Dazu kommen die Intrigen zwischen Serie und Serie, Kanton und Kanton, die auf die gleiche Weise entstehen. Man wird begreifen, dass die Birnen-Serie eine besondere Rivalin der Apfel-Serie sein wird, sich dafür aber mit der Kirschen-Serie verbünden wird, denn diese beiden Obstsorten haben so wenig miteinander gemein, dass keine Eifersucht zwischen den betreffenden Züchtern entstehen kann.
Je besser man es versteht, die Leidenschaften anzufachen, ebenso wie die Kämpfe und Bündnisse zwischen den Serien eines Kantons anzuregen, desto eifriger werden sie in ihrer Arbeit miteinander konkurrieren und das Ziel, für das sie sich begeistern, um so höher halten. So kommt es zu einer allgemeinen Vervollkommnung der Arbeit, denn man kann auf jedem Tätigkeitsfeld Serien bilden.
Handelt es sich um eine Zwitterpflanze wie die Quitte, die weder Birne noch Apfel ist, so stellt man ihre Gruppe zwischen zwei Serien, denen sie als Bindeglied dient. Diese Quittengruppe ist die Vorhut der Birnen-Serie und die Nachhut der Apfel-Serie. Es ist eine gemischte Gruppe zwischen zwei Arten, ein Übergang von der einen zur anderen, und sie gliedert sich beiden Serien an. Unter den Leidenschaften gibt es zwittrige und bizarre Neigungen, ebenso wie man unter den Pflanzen Mischformen findet, die keiner Sorte zugehören.
Die genossenschaftliche Ordnung zieht aus allen Wunderlichkeiten ihren Vorteil und weiß alle erdenklichen Leidenschaften zu nützen, denn Gott hat keine einzige unnütze geschaffen.
Ich habe gesagt, dass man die Serien nicht immer so ordnungsgemäß einteilen kann, wie ich es angegeben habe, aber man versuchte, diesem Vorbild so nahe wie möglich zu kommen, denn es entspricht der Ordnung der Natur und ist am geeignetetsten, die Leidenschaften zu entfachen, sie gegeneinander abzuwägen und sie zur Arbeit hinzureißen.
Jede Arbeit wird zu einem Vergnügen, sobald die Beschäftigten in progressive Serien geordnet sind. Dann arbeiten sie weniger wegen des Gewinns, als um des Wettstreits und der anderen Anreize willen, die ein Bestandteil der Serien sind (auch durch den Aufschwung der kabbalistischen oder zehnten Leidenschaft).
Daraus ergibt sich, wie überall in der genossenschaftlichen Ordnung, ein erstaunliches Resultat: je weniger man sich um den Gewinn kümmert, um so mehr verdient man.
Ja, die Serie, in welcher der Westtstreit am heftigsten tobt, diejenige, die ihrer Eigenliebe die größten geldlichen Opfer bringt, wird auch diejenige sein, deren Erzeugnisse am vollendetsten und wertvollsten sind, und die daher auch am meisten verdient, indem sie den materiellen Gewinn vergißt und nur an ihre Leidenschaft denkt. Wenn sich in ihr aber weniger Ränke, weniger Wettbewerbe und Bündnisse bilden, weniger Eigenliebe und weniger Begeisterung, so wird sie schwerfällig arbeiten, mehr des Geldes als der Leidenschaften wegen, und ihre Produkte und ihr Gewinn werden wesentlich schlechter sein als die einer rivalisierenden Serie. Sie wird umso weniger gewinnen, je mehr sie von dem Wunsch nach Gewinn getrieben ist. (In einer in Gruppen aufgeteilten Serie müssen ebensoviele Intrigen gesponnen werden wie in einem Drama, und die Hauptregel, der man folgen muß, um das zu erreichen, ist die Abstufung und Ungleichheit. Ich habe schon gesagt, dass, um die Erzeugnisse jeder Gruppe zur höchsten Vollendung zu bringen und die innere Spannung zu erzeugen, muß man sie soweit wie möglich der zunehmenden und abnehmenden Progression unterordnen.
————————————————————————————————————————-
Fourier und Lamarck
Die Schweizer Philosophin Christine Blättler hat sich in einem Beitrag für das noch im Entstehen begriffene Buch „Anti-Darwin“ mit der „Natur der Umgestaltungen – Jean-Baptiste de Lamarck und Charles Fourier“ beschäftigt. An einer Stelle schreibt sie:
„Lamarcks Philosophie zoologique von 1809, ein klassischer Text am Übergang der Naturgeschichte zur Biologie, und Fouriers Théorie des quatre mouvements von 1808, ein programmatischer Text des sogenannten utopischen Sozialismus, unterhalten untereinander keine Einfluß- oder Wirkungsgeschichte. Auch keine der Übertragung von einer biologischen Theorie auf gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Verhältnisse wie etwa beim Sozialdarwinismus. Doch die beiden Werke stehen in einer beziehungsreichen Konstellation und zeigen verschiedene Berührungspunkte, die in der Wirkungsgeschichte zu Korrespondenzen führen: im Wissen vom Leben, das auch ein Wissen vom Zusammenleben ist.“
An anderer Stelle schreibt Christine Blättler: „Fouriers Welt ist durch und durch erotisch. Alles begehrt und ist begehrlich. Alles basiert auf leidenschaftlicher Anziehung und richtet sich auf Lust hin aus. Das ‚wahre Glück besteht nur in der Befriedigung der Leidenschaften‘. Weit gefehlt, wenn damit das Begehren gestillt würde. Es wäre ‚ein großer Irrtum zu glauben, die Natur ginge mit den Talenten sparsam um; sie ist verschwenderisch, mehr als wir es brauchen und wünschen; ihr müßt nur erst lernen, die Anlagen zu entdecken und zu entwickeln.‘ Es gibt hier Begehren in der Überfülle, nicht Bedürfnis aus einem Mangel heraus.
Fourier geißelt das zivilisatorische Mißverhältnis von Produktion und Konsumption, das den meisten Menschen die Arbeit als Zwang und Strafe auferlegt und sie radikal vom Lebensgenuß trennt, der dann in der Freizeit nachgeholt werden soll. Das Recht auf Arbeit soll ein Menschenrecht sein, das Fourier für die neue Gesellschaftsordnung proklamiert und der Arbeit als ungeliebte Pflicht zur Ausbeutung entgegenstellt. Er setzt auf die Anziehungskraft der Arbeit, die von einer ,Ökonomie der Spannkraft‘ lebt. Durch Abwechslung und Austausch, das ist die eigentliche Arbeitsteilung, werden auch anstrengende Arbeiten zu einem Fest, denn sie fordern heraus und fachen die Leidenschaften an. ,Lästige‘ Beschäftigungen verwandeln sich in Vergnügungen, es gibt nur lustvolle Tätigkeiten. In Fouriers Universum macht die Unterscheidung von Werktag und Feiertag keinen Sinn. Es gibt nur Sonntage.
Wie Arbeit und Lust zusammengehen, kommt gerade beim Essen schön zum Ausdruck, dem Fourier grösste Wichtigkeit zuerkennt. Das betrifft die Herstellung der Zutaten, die Zubereitung der Speisen und das Essen selbst. Es gibt mindestens so viele Beschreibungen über Nahrung(smittel) und kulinarische Details wie über amouröse Verbindungen. Walter Benjamin bringt die Bedeutung des Kulinarischen bei Fourier auf die einfache Formel: ‚das Glück kennt Rezepte wie jeder Pudding‘. Von Bedeutung ist beim Essen ebenso die Gemeinschaft. Viel Wert wird gelegt auf ‚die kluge Zusammenstellung der Gäste, die Kunst, die Gesellschaft richtig und abwechslungsreich auszuwählen, sie jeden Tag durch reizende und unvorhergesehene Begegnungen noch interessanter zu machen‘. Schon die Produktion der Nahrung ist eine gemeinschaftliche Sache. Es kann gar nicht zu viele Birnensorten geben.
Zeitgenössischen Moralisten mochte es provoziert haben, dass Fourier die Leidenschaften nicht abwertet, sondern als natürliche positiv fasst. Im Paris von 1968 feierte man ihn gerade deswegen. Fast alle Graffitis an den Wänden des Quartier Latin sollen aus Werken von Fourier stammen. ‚Man darf die Leidenschaften des Einzelnen nie tadeln, sondern bloß die Zivilisation, in der die Leidenschaften nur im Laster ihre Befriedigung finden können und in der der Mensch gezwungen ist, auf unredliche Art zu Geld zu kommen, ohne das es kein Glück gibt.‘
Auch Lamarck hat die Gesetze der Natur studiert, und formulierte die zwei Naturgesetze des Transformismus: 1) Gesetz des Gebrauchs und Nichtgebrauchs. Durch stärkeren Gebrauch entwickelt sich ein Organ und wird grösser, durch Nichtgebrauch bildet es sich zurück und verschwindet letztlich. 2) Gesetz der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften. Die Veränderungen der Lebewesen aufgrund des sie umgebenden Milieus werden durch die Fortpflanzung an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.
Fourier fordert, ‚die Natur (zu) entwickeln, aber nicht (zu) korrigieren‘. Es gibt keine schlechten Leidenschaften, höchstens Vorlieben und Manien, die seltsam oder bizarr anmuten. Gewalt kann die Leidenschaften nicht unterdrücken, sondern verfälscht sie. Erst müssen sie von moralistischen Vorbehalten und Repression befreit, dann gehegt und gepflegt werden, bis sie sich in voller Stärke in einer sozialen Ordnung bewegen können. Entwicklung versteht sich hier als ,natürliche Erziehung‘, die das Ausfalten der verschiedenen Talente ermöglicht.
Fouriers ’soziale Metamorphose‘ geht wie die biologische Transformation in einem Milieu vor sich. Neben der kosmischen Dimension gibt es auch eine näherliegende Umgebung, in glücklichen Zeiten sind es die gesellschaftlichen Formationen und die genossenschaftlichen Verbindungen. Die größere Gemeinschaft baut auf harmonischen und sinnvollen Zusammenschluß, nicht auf Isolation und Fitness.“
Peggy Burian thematisiert in ihrer Soziologie-Diplomarbeit über „Das garantierte Grundeinkommen“ – als Idee von der Antike bis heute – auch Charles Fourier und seine Zeit:
Zeit der Restauration
Die Zeit der Restauration war durch die Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände
gekennzeichnet. Die während der Revolution bestehenden Freiräume für neue
gesellschaftliche Modelle verschwanden und die alte politische Ordnung wurde
wiederhergestellt. Die Idee des garantierten Grundeinkommens wurde in dieser Zeit
besonders durch Fourier verfolgt, der aus der bestehenden Situation heraus den Ansatz
gesellschaftlicher Veränderung durch vorbildhafte Mustergemeinschaften entwickelte. Wenig
später formulierte Charlier erstmals den Vorschlag eines garantiertes Grundeinkommen in der
heute diskutierten Form.
Charles Fourier Biografisches
Charles Fourier wurde 1772 als Sohn einer wohl situierten Kaufmannsfamilie in Besancon
geboren. Als einziger Sohn von 4 Kindern lag auf ihm die ganze Hoffnung der Familie, den
Beruf seines Vaters zu ergreifen. Er erlebte die Französische Revolution im Alter von 17
Jahren in Lyon, damals das größte Manufakturzentrum Südfrankreichs, wo er Hunger,
Arbeitslosigkeit und Massenelend der Seidenarbeiter kennenlernte.
Nach anfänglicher Tätigkeit als Handlungsreisender begann er 1791 nur widerwillig die
kaufmännische Lehre, da er zeitlebens alle Handelstätigkeit verabscheute. Nachdem er 1793
durch seine Volljährigkeit das väterliche Vermögenserbe antreten konnte, beendete er die
Ausbildung.
In Lyon gründete Fourier ein Handelsunternehmen, dem nur ein kurzes Bestehen beschieden
war: während eines Aufstandes girondistischer und royalistischer Kräfte wurde eine große
Warenladung beschlagnahmt, was zum geschäftlichen Ruin Fouriers führt. Obwohl ihm der
Handel so verhasst war, schlug er sich ab 1797 weiter mit verschiedenen kaufmännischen
Tätigkeiten durch. Als ,,trauriger Handlanger des siegreich vorstoßenden Handelskapitals“
(FOURIER 1980: XXII) sehnte er sich nach einer harmonischen Gesellschaft auf der Basis
,,gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Nutznießung ihrer Früchte“ (ebd.). In den 90er Jahren
des 18. Jahrhunderts unterbreitete Fourier der jeweiligen Regierungsgewalt oder einzelnen
Deputierten verschiedene sozialreformerische Vorschläge, stieß damit jedoch auf keinerlei
Interesse (BEBEL 1978).
Im Dezember 1803 veröffentlichte er einen kleinen Aufsatz mit dem Titel ,,Die allgemeine
Harmonie“ in einer Lyoner Zeitung. Darin berichtete er über die von ihm nach vierjährigem
Studium gefundenen ,,Gesetzen der sozialen Bewegung“. Diese kleine Arbeit enthielt
ansatzweise die wesentlichen Gedanken seiner Theorie, die er 1808 in seinem Werk ,,Theorie
der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen“ weiterentwickelte. In diesem
Werk legte Fourier seine gesamte Lehre und Weltanschauung dar: es reichte von der Analyse
und Kritik des damaligen Zustandes der Gesellschaft und deren Geschichte bis zu
Reformvorschlägen, eingebettet in seine naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen
Betrachtungen. Das Buch erfuhr nicht die von ihm erhoffte Aufnahme, wovon sich Fourier
jedoch nicht entmutigen ließ. Seine Mutter hinterließ ihm nach ihrem Tode eine kleine
Erbschaft, welche ihn für eine Weile von beruflichen Verpflichtungen freistellte. So nutzte er
die Jahre von 1817 bis 1821, um sein mehrbändiges Hauptwerk, später unter dem Namen
,,Theorie der universellen Einheit“ bekannt, ungestört fertig zu stellen. In der zweiten Hälfte
der zwanziger Jahre siedelte Fourier nach Paris um, wo 1829 ,,Die neue industrielle und
sozietäre Welt“ erschien, laut BEBEL die ,,präziseste und am klarsten geschriebene“ (zit. nach
FRANZ 1988: 68) Schrift von Fourier. Seine letzten Jahre verbrachte er, wie auch sein
bisheriges Leben, in bescheidenem Rahmen: er lebte bei einer seiner Schwestern, wo sich
einige seiner Anhänger um ihn geschart hatten. Unter ihnen ist besonders Victor Considerant
zu nennen, der später zum anerkannten Haupt der Fourieristischen Schule wurde. Bis zu
seinem Tod 1837 veröffentlichte Fourier Artikel in verschiedenen Zeitschriften und erstellte
Manuskripte zu unterschiedlichen Themen, die aber erst nach seinem Tod erschienen. Kurz
vor seinem Tod versuchte er mit der Schrift ,,Die falsche Industrie“ noch einmal, die
Öffentlichkeit für sein Ideen zu begeistern, jedoch ohne Erfolg (FRANZ 1988). Zu seinen
Lebzeiten blieb Fourier der breiten Masse gänzlich unbekannt.
Fouriers Werk
Die Meinungen über Fourier gehen sehr weit auseinander: für Bloch war er einer der größten
Utopisten (BLOCH 1987), Engels schätze ihn sehr und fertigte die erste Übersetzung eines
seiner Werke ins Deutsche an (,,Pamphlet gegen das goldene Kalb der Händler“, 1846),
während Fourier für andere nur ,,der halbverrückte Phantast“ (SCHILLING 1966: 400) ist.
Eine Analyse der Industriearbeit sucht man bei Fourier vergeblich, da es zu seiner Zeit in
Lyon noch keine Industrialisierung gab. Er schrieb entscheidende 30 Jahre vor Marx und Engels, die ein industrialisiertes England vor Augen hatten. Die Industrialisierung in
Frankreich setzte jedoch erst viel später ein. In Lyon wurde die Seide um 1800 noch nicht in
Fabriken, sondern auf Handwebstühlen hergestellt, wobei den Arbeitern weder Material noch
Werkzeug gehörte (LUCKOW in FOURIER 1977). In Frankreich setzte sich die industrielle
Produktionsweise im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch, hauptsächlich die Baumwoll-
und Seidenindustrie und die Metallindustrie. In den Augen Fouriers sind Fabriken nur
Gefängnisse, in denen die Sklaverei wiederhergestellt ist (ZAHN in FOURIER 1980).
Bewertung der gesellschaftlichen Umstände seiner Zeit
Recht auf Arbeit
Die durch die Revolution geschaffene, garantierte Freiheit für das Volk erachtet Fourier als
völlig ungenügend, denn sie bringe keine wirkliche Freiheit von rechtlichen und
wirtschaftlichen Abhängigkeiten, sondern lediglich physische Freiheit:
,,Die Masse, welche aus Lohnarbeitern des niederen Volkes besteht, ist zurückversetzt
worden in einen Zustand der einfachen oder körperlichen Freiheit. Durch ihre
Wirtschaftslage ist sie auf indirektem Wege zur Sklaverei verdammt, aus deren quälenden
Druck sie sich gerade befreien wollte.“ (zit. nach MORGENROTH 1929: 25)
Der Arbeiter kann sich oft nicht einmal das Recht verschaffen, seinen Lebensunterhalt zu
erarbeiten. Aus dem Zusammenhang zwischen rechtlicher Freiheit und der dafür notwendigen
tatsächlichen Unabhängigkeit folgert Fourier das ,,Recht auf Arbeit“. Ohne dieses Recht ist
der Arbeiter dazu gezwungen, seine Arbeitskraft täglich aufs Neue an einen Unternehmer zu
verkaufen. Die Revolution hat es versäumt, das Volk ,,von der Fessel der
wirtschaftskommerziellen Sklaverei zu lösen“ (FOURIER 1925: 15), indem sie nicht das Recht
auf Arbeit und ein Existenzminimum erwirkte. Bevor politische Freiheit wirksam werden
kann, bedarf es der einfachsten körperlichen Freiheit: zu essen, wenn man Hunger hat.
Dazu Fouriers recht bildhafte Darstellung:
,,Endlich die Souveränität es Volkes: Eine Phrase, welche gewisse Politiker o h n e
L a c h e n verkünden, obschon es schwer ist, sich vorzustellen, was ein Souverän ohne
Brot und ohne Kleider bedeuten soll.“ (zit. nach MORGENROTH 1929: 33, Hervorhebung im Original)
Das ,,Recht auf Arbeit“ leitet Fourier aus den 4 Elementarrechten ab. Davon ist das
elementarste Recht, das Recht zu essen, wenn man Hunger hat. Unter Bezug auf Markus 2 spricht Fourier von der Pflicht des sozialen Gemeinwesens, dieses Recht auf ein
Existenzminimum abzusichern, da in der zivilisierten Gesellschaft das Volk der drei anderen
Elementarrechte, nämlich der Rechte auf freie Weide, Ackerbau, Fischfang und Jagd, beraubt
ist. Eine Entschädigung dieser vier Rechte besteht im Recht auf Arbeit, die eine
Existenzsicherung ermöglicht (FOURIER 1925).
Ein weiteres Argument für eine Existenzsicherung durch das Recht auf Arbeit ergibt sich für
Fourier, so CONSIDERANT (1906), aus dem Eigentum an Grund und Boden. Die gesamte
Menschheit ist Nutznießer der Erdoberfläche; die Erde hat den Zweck, allen Menschen die
Mittel zur Entwicklung und zum Leben zu liefern. Das Recht auf Arbeit wäre ein Ausgleich
für das unnatürliche Eigentum an Grund und Boden:
,,Die unbedingte Voraussetzung für die Gesetzmäßigkeit des Besitzes also, daß die
Gesellschaft dem Proletarier das Recht auf Arbeit zuerkennt und daß die ihm für die
Verrichtung einer gewissen Tätigkeit mindestens ebensoviel Subsistenzmittel zusichert,
als diese Verrichtung ihm in dem ursprünglichen Zustand hätte gewähren können.“
(CONSIDERANT 1906: 37)
Zur Vermeidung eines Kampfes zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen, müsste den
von ihrem natürlichen Erbteil ausgeschlossenen Massen, als Ausgleich ein Recht auf Arbeit
zugebilligt werden. Dazu soll der Staat Arbeit organisieren, d. h. industrielle und
landwirtschaftliche Betriebe gründen, in denen diejenigen, die es verlangen, eine ausreichend
entlohnte Arbeit finden (ebd.).
Recht auf Existenzminimum
Später gelangte Fourier im Laufe seines Lebens weg vom Recht auf Arbeit hin zum Recht auf
ein Existenzminimum. Welche entscheidende Rolle das gesicherte Existenzminimum bei
Fourier spielt, fasst CONSIDERANT (ebd.: 96f) wie folgt zusammen:
,,Die erste Bedingung für die Unabhängigkeit eines Wesens besteht darin, daß seine
äußeren Lebensbedingungen nicht von dem Willen eines andern abhängen, und nicht der
Gewalt jedes Beliebigen ausgeliefert sind! Macht Revolutionen, Dekrete, Verfassungen,
proklamiert die Republik, in welcher Form es euch beliebt, ernennt zum Präsidenten oder
Konsul, wen ihr wollt für ernstliche, wahre, wirkliche Freiheit der Massen werdet ihr
damit nichts, a b s o l u t n i c h t s g e t a n h a b e n , so lange die Gesellschaft nicht
jedem Manne, jeder Frau, jedem Kinde ein angemessenes Existenzminimum garantiert,
so lange nicht jedem Menschen sichergestellt, aber sichergestellt als erstes seiner Rechte
als Glied der Menschheit, sind: K l e i d u n g , W o h n u n g , N a h r u n g u n d a l l e
für den Lebensunterhalt und die soziale Unabhängigkeit
s e i n e r P e r s o n n o t w e n d i g e D i n g e . “ (Hervorhebung im Original)
Nach FÜLLSACK (2002) forderte Fourier in seiner letzten Schrift ,,La Fausse Industrie“, den
Armen für den Verlust des direkten Zuganges zu den natürlichen Ressourcen eine
Kompensation in Form einer von Gegenleistung unabhängigen Unterstützung zu
gewährleisten. Zur Finanzierung soll, ähnlich wie bei Babeuf und Paine, durch die
Besitzenden eine Grundsteuer gezahlt werden.
Fouriers naturphilosophisches System und sein Gesellschaftsentwurf
Fourier ist sich darüber im Klaren, dass seine Ideen der Existenzsicherung unter den
gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht umzusetzen sind. Aus einem selbst
geschaffenen umfangreichen naturphilosophischen System erklärt er die menschlichen und
gesellschaftlichen Triebkräfte und leitet daraus mögliche Schritte und Organisationsformen
zur Erreichung einer idealen Gesellschaft ab.