„Die unternehmerische Freiheit ist ein bloßer Irrtum, der auf Informationsmangel beruht!“ (Helmut Gröttrup, UDSSR-Raketenbauer und Siemens-Chefinformatiker)
Mich hat es immer gewundert, dass die Bolschewiki dahin tendierten, die Klassenherkunft derart materialistisch abzuleiten, dass sie sie biologisierten. Wenn etwa die Kinder eines Ausbeuters oder Kulaken als eben solche begriffen wurden. Langsam verstehe ich, dass sich dahinter ein anderes (juristisches) Denken verbirgt. Und dunkel erinnere ich mich an die Konzeption eines Bolschewiki für eine neue proletarische Justiz, die 1970 als Raubdruck zirkulierte.
Das Individuum wird darin sozusagen radikal negiert. Es ist völlig vergesellschaftet – allerdings nicht mehr im Sinne einer „Charaktermaske“, sondern als direkter Repräsentant seiner Klasse, seiner Herkunft und Nationalität (n-1). Das berührt sich mit der „Rasse“, diese wird jedoch sogleich durch Rekurs auf die Zahl außer betracht gesetzt, gleichsam überwölbt von „Gleichheit“ und „Planerfüllung“. Darin steckt auch ein schöner Gedanke: Dass jeder jeder sein kann. Mit der Betonung auf „könnte“. In die Wirklichkeit bildete sich jedoch dies ein: „Du schreibst eine Denunziation; du brauchtest sie nicht einmal zu unterschreiben. Alles, was du sagen mußtest, war, daß er Leute bezahlt hatte, um für ihn als Tagelöhner zu arbeiten, oder daß er drei Kühe besessen hatte.“ Die Leute betrachteten die so genannten Kulaken „als Vieh…; sie hätten keine Seelen, sie würden stinken…; sie seien Volksfeinde und beuteten die Arbeit anderer aus…Und es gab für sie keine Gnade, selbst die Kulaken-Kinder waren geringer als eine Laus“, schreibt Wassilij Grossmann 1955 in seiner Abrechnung mit der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Liquidierung des Kulakentums als Klasse: „Alles fließt“, die 1989 in der DDR veröffentlicht wurde.
Als Klasse liquidieren – das begriff ich als bloße Formel für eine flächendeckende Immobilien- und Bodenreform. In einem quasi offiziellen Roman aus den Dreißigerjahren „Wasja in der Metro“ deckt eine U-Bahn-Baubrigade eine junge Kollegin, obwohl sie herausbekommen hat, dass es sich dabei um ein „Kulakenmädel“ handelt, weil sie derart fleißig mithilft, den Plan zu übererfüllen, dass es einer Selbst-Entkulakisierung gleichkommt. Und das alles ist gut gemeint – in diesem Roman.
Ein solches Ego-Projekt oder vielmehr Wir-Werden strebten im übrigen auch all jene an, die Tagebuch führten – über ihre alltäglichen Bemühungen, ein „Neuer Mensch“ zu werden. Angedacht war dies schon bei den (christlichen) Pfadfindern: „Jeden Tag eine gute Tag“ – und erst recht bei den Jungpionieren dann. Deren veröffentlichte Tagebücher klingen allerdings mitunter so, als hätten ausgereifte Pädagogen sie verfaßt, was in der Tat oft der Fall war. Dennoch sollte man das „Strebend sich bemühn..“, zumal beim Aufbau des Sozialismus, nicht gering schätzen. Ich denke da nur an all die „Aufbaustunden“, die der Weissenseer Ingo Kuckuck seinerzeit beim Anlegen des Kamelgeheges im Tierpark Friedrichsfelde ableistete. An diese Tätigkeit und das dazugehörige Aufbaustundenheft erinnert er sich noch heute gerne. Ähnlich geht es etlichen Marzahnern, die beim Aufbau des dortigen Volksparks eingesetzt waren – und deswegen eine „ganz andere Beziehung zu diesem Erholungspark“ haben, wie sie sagen.
Zurück zur Klassenjustiz: Auf dem Papier beanspruchte die zukünftig proletarische humanistischer zu sein als die bürgerliche. Noch in den Sechzigerjahren sprach man von (gerechten) „Volksurteilen“, veranstaltete „Tribunale“, und einige bewaffnete Gruppen richteten „Volksgefängnisse“, u.a. in Westberlin, ein. Und bis heute wird diskutiert, ob die Gruppenaussage, Bundesanwalt Buback ermordet zu haben, nicht reicht – als Geständnis. Der Staat nahm desungeachtet kürzlich drei RAF-Mitglieder in Beugehaft, um herauszufinden, wer von ihnen denn nun wirklich geschossen hat.
Diese Art von Wirklichkeitsbegriff kann nur als allzuspätbürgerlich bezeichnet werden, ebenso wie die derzeitige Wahrheitsfindung in den Siemens-Schmiergeld- und Streikbrechergewerkschafts-Prozessen. Statt radikale Aufklärung nun emsigster US-Empirismus. Schon aus Liebe zur Erkenntnistheorie muß man das als Korinthenkackerei ablehnen. Sie endet regelmäßig nicht in größerer Klarheit, sondern in schnöder Zahlung (von Bußgeldern). Wenn nicht gleich ein sogenannter „Deal“ ausgemacht wird.
Auf der anderen – sozialistischen – Seite erwähnte Julius Wolfenhaut in seinem Bericht „Nach Sibirien verbannt“, dass ein Mann, der sich auf Dienstreise befand, in seiner Abwesenheit verhaftet werden sollte. Als er wenig später davon erfuhr, packte er schicksalsergeben seine Sache, verabschiedete sich von seiner Familie und stellte sich: „Jene aber blickten ihn gleichmütig an: ‚Kannst nach Hause gehen, wir haben den Plan schon erfüllt‘.“ Als Lehrer in Sibirien mußte Wolfenhaut seine Schüler zur Erntehilfe in die Kolchose begleiten. Nachdem sie alle Steckrübenfelder abgeerntet hatten, meldete er dies ein wenig stolz dem Brigadier: „Der machte eine wegwerfende Handbewegung. ‚Die verfaulen hier alle, wir haben nicht genug Beförderungsmittel, um sie einzubringen.‘ Wozu bauen Sie sie dann an?'“ „Es steht im Plan. So geht das nun von Jahr zu Jahr,“ meinte er resigniert. Andrej Amalrik, einst ebenfalls nach Sibirien verbannt, berichtete Ähnliches über seine Arbeit auf einer Kolchose dort. Er sollte dort Zahnpfähle einsetzen, dies waren jedoch schon alle angefault. Während der Arbeit begann der Autor ob der ganzen Schlamperei an der Planwirtschaft überhaupt zu zweifeln. Wie umgekehrt viele Unternehmer, u.a. Robert Owen, an der Planlosigkeit der Marktwirtschaft schier verzweifelten. Einige amerikanisierte Kommunisten setzen heute auf Computer und Internet: Damit könne man nun endlich in Echtzeit sozialistisch planen und regieren, meinen sie.