vonHelmut Höge 20.08.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Ich beschränke mich auf einige Landarbeiter-Erfahrungen in der Eifel:

In der DDR gab es dieses Genre „Landarbeiter-Prosa“ noch, quasi eine Unterabteilung der „Dorf-Literatur“, wie sie aus Russland über Ostelbien gekommen war nach 45. Einer der bekanntesten DDR-Dorfliteraten war Erwin Strittmatter. Der gelernte Bäcker hatte als Landarbeiter, Tierpfleger, Fabrikarbeiter, Gärtner und Soldat gearbeitet, bevor er Schriftsteller wurde. In der BRD war die Landarbeiter-Prosa eher selten. Aber auch der Landarbeiter selbst starb nach dem Krieg langsam aus. Es gab hier mal eine Landarbeiter-Gewerkschaft. Sie ging vor einigen Jahren in der Industriegewerkschaft BAU – Bauen Agrar Umwelt – auf. Als nach der Wende das Heer der Landarbeiter wieder anstieg, es geht inzwischen schon fast in die Millionen, gab die IB BAU neben ihrem altehrwürdigen Mitgliederjournal „Säemann“ auch noch – online – ein Infoblatt namens „L@andworker“ heraus. Einer der ersten Leitartikel dort beschäftigte sich mit dem Wandel der „Erntehilfe“ in der BRD:

„Die landwirtschaftliche Saisonarbeit wurde bis in die Fünfzigerjahre hinein von ortsansässigen Menschen geleistet, die keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen. Anders als in anderen EU-Ländern, wo versucht wurde und wird, aus dieser Tätigkeit ein ausschließliches und ausreichendes Einkommen zu erreichen, ging es in [West-] Deutschland in erster Linie darum, Familieneinkommen durch Saisonarbeit zu ergänzen. Heute gibt es Betriebe, deren Existenz fast vollständig auf der Arbeit von zumeist polnischen Saisonarbeitskräften beruht. Das hat die IG Bauen-Agrar-Umwelt schon immer kritisiert. Sie hat auch die Frage aufgeworfen, ob solche Betriebe überhaupt Agrarsubventionen bekommen sollen. Die Arbeitsagenturen wollen nun verstärkt einheimische Arbeitskräfte für die Arbeit in der Landwirtschaft gewinnen. So werden z.B. regionale Vermittlungskonzepte erarbeitet, geeignete Bewerber werden in einem Pool zusammengefaßt und durch Schulungen in Warenkunde und Erntetechnik qualifiziert. Fahrdienste, betriebliche Qualifizierungen und spezielle Aufwandsentschädigungen ergänzen mancherorts das Angebot. Wir meinen: Das ist ein positives Signal.“

Die IG BAU erhofft sich davon nämlich ein kräftigen Zuwachs an (deutschen) Mitgliedern.

Der auf Regionalia spezialisierte „Rhein-Mosel-Verlag“ in Zell an der Mosel hat kürzlich in seiner vom Ministerium für für Wissenschaft, Weiterbildung, Forschung und Kultur in Rheinland-Pfalz geförderten Reihe „Edition Schrittmacher“ ein Buch der 1961 in der Eifel geborenen Germanistin Ute Bales herausgegeben: „Kamillenblumen“. Es zeichnet die Geschichte der 1884 geborenen Wanderarbeiterin und Kamillenverkäuferin Gertrud Feiler nach, die 1964 in der Psychiatrischen Klinik von Andernach starb. Sie wanderte fast 60 Jahre in der Eifel umher. Anfangs noch mit ihrer Mutter Maria, der erst der Vater, dann der Ehemann, schließlich ihr zuletzt geborenes Kind starb und die daraufhin Haus und Hof verlassen mußte, zusammen mit ihrer Tochter Traud. An einer Stelle des Buches heißt es:

„An die zehn Jahre zogen die beiden nun schon durch die Eifel, von Sassen, bis in die Struth, hinauf ins Ahrtal, hinunter an die Mosel. Stets in der Hoffnung auf mildherzige Menschen zu treffen, die entweder Arbeiterinnen brauchen konnten oder aber eine Verwendung für die getrockneten Kamillenblumen hatten, die sie gegen ein paar Pfennige, ein Ei, einen Kanten Brot oder ein warmes Essen eintauschten.“ Einmal versuchte die Traud auf der Großbaustelle „Nürnburg-Ring“, die die Nazis als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (ABM) iniiert hatten, unterzukommen. Aber die Vorarbeiter lachten sie nur aus, als sie – eine Frau, dazu noch klein und schmächtig – dort ankam.

Die beiden Frauen bewegten sich ansonsten in der Eifel in einer Art Netzwerk – im Kreis, der anfänglich aus nahen Verwandten und Bekannten bestand. Deswegen zog es Getrud Feiler auch immer wieder in ihren Geburtsort Kolverath zurück. Als sie kurz nach dem Krieg wieder mal dort anlangte, lag ein Brief – „der erste ihres Lebens“ für sie im Bürgermeisteramt:

„In dem amtlichen Schreiben explizierte man ihr in knappen Sätzen, dass der Verkauf von Kamille gegen das Arzneimittelgesetz verstoße. Jegliche Fortführung ihrer Handelsgeschäfte wurde untersagt: der Kamillenverkauf sei mit Frist bis September 1946 einzustellen, Zuwiderhandlungen zögen rechtliche Folgen nach sich.“

Die taz berichtete am 8.4.2006:

In Brandenburg dürfen Bauern keine Kräutertees mehr produzieren und verkaufen. Begründung: Nach dem Arzneimittelgesetz bräuchten sie dazu eine pharmazeutische Ausbildung. Die Partei der Grünen war empört: Damit wird die Verwertung traditionellen Wissens monopolisiert.

Weil er weder Arzt noch Apotheker ist, darf Landwirt Thomas Beutler keine Tees mehr produzieren und verkaufen, die Risiken und Nebenwirkungen haben könnten. Insgesamt elf Kräuter wie Birkenblätter, Malvenblüten, Frauenmantelkraut und Hirtentäschel hat das Brandenburgische Gesundheitsministerium als Arzneimittel statt als Lebensmittel eingestuft. Bauern und Landarbeitern bzw. Arbeitslosen ist damit die Produktion untersagt. Was wie eine Provinzposse begann, beschäftigt jetzt auch den Deutschen Bundestag. Die bündnisgrüne Abgeordnete Cornelia Behm hat einen schriftlichen Bericht der Bundesregierung über Kräuter vom Bauern angefordert. Auch im Agrarausschuss ist das Thema angemeldet.

Bisher hatte Beutler, der im brandenburgischen Belzig lebt, die Wiesen und Wälder der dünn besiedelten Fläming-Region nach diesen Kräutern abgesucht. Die Tees bot er als regionaltypische Produkte in Touristenshops an. Nicht als Einziger. Auch dem Inhaber eines großen Fruchthofs ist beispielsweise untersagt worden, Zitronenmelisse an Fruchtgelees zu mischen. Beutler wehrt sich juristisch gegen das Verbot. Das Ministerium hat gegen ihn Strafanzeige wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz erstattet. Aus anderen Bundesländern sind keine vergleichbaren Fälle bekannt. Doch Brandenburg hat sich mit einer bundesweiten Umfrage abgesichert: Demnach soll die Mehrheit der Länder die Brandenburger Einordnung der Kräuter als Arznei mittragen. Das will die Grüne Cornelia Behm nicht einfach hinnehmen. Es könne nicht sein, „dass viele Kräuter, die seit Jahrhunderten ganz selbstverständlich verwendet werden, nicht mehr von kleinen bäuerlichen Betrieben, sondern nur noch von Pharmazeuten produziert und vertrieben werden dürfen“. Der Bericht der Bundesregierung soll in nächster Zeit vorliegen. Behm: „Ob die Brandenburger Praxis dann Bestand hat, wird sich ja zeigen.“ Brandenburgs Gesundheitsstaatssekretär Winfrid Alber (SPD) verteidigt das Kräuterverbot. „Johanniskraut, Weißdornbeeren und die anderen anstehenden Kräuter fallen unter das Arzneimittelgesetz, weil sie bundesweit eine Standardzulassung als Arzneimittel haben“, hatte er im Februar erklärt. Behörden hätten deshalb „keinerlei Ermessensspielraum, einen Vertrieb als Lebensmittel zu gestatten“.

Lediglich bei einem verbotenen Kraut, dem Spitzwegerich, sei sein Ministerium zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen und müsse die Rechtslage erneut prüfen. Inzwischen will sich das Brandenburger Gesundheitsministerium zum Kräuterverbot allerdings nicht mehr öffentlich äußern, erklärte eine Sprecherin. Landwirt Beutler vergleicht seine Situation mit der von Bauern in Staaten der Dritten Welt. „Dort gibt es immer wieder Versuche der Pharmaindustrie, Pflanzen und traditionelles Heilwissen zum Patent anzumelden, um sich ein Monopol zu sichern.“ In Deutschland brauche die Pharmaindustrie nicht einmal ein Patent. „Es reicht eine Standardzulassung als Arzneimittel“, so Beutler. „Dann schaffen Ministerialbeamte den Pharmabetrieben lästige Mitbewerber vom Hals.“ Um Arzneimittel produzieren zu dürfen, benötigt ein Betrieb eine Anzeige beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und eine spezielle Herstellungserlaubnis vom Land. Dazu sind nach Auffassung der Brandenburger Behörden pharmazeutisch ausgebildetes Personal und spezielle räumliche Voraussetzungen erforderlich. Beutler hält diese Investitionen für bäuerliche Kleinbetriebe schlicht für nicht machbar.

Seit November 2005 beschränkt sich nun das Verkaufsverbot auf elf Kräuter: Johanniskraut, Echte Goldrute, Hirtentäschel, Malvenblüte, Beinwellkraut, Löwenzahnwurzeln, Birkenblätter, Weißdornbeeren, Spitzwegerich, Ackerschachtelhalm und Frauenmantelkraut. Hingegen dürfen Tees aus Schafgarbe, Kamille, Brennnesseln oder Lindenblüten wieder von Bauern produziert und außerhalb von Apotheken vertrieben werden. Weißdornbeeren sollen gegen Durchfall, Frauenmantelkraut und Beinwell bei Menstruationsbeschwerden helfen. Malvenblüten gelten als entzündungshemmend.

Indem Maria und Gertrud Feiler Zeit ihres Lebens als Wanderarbeiter in der Eifel blieben, galt für sie, was die IG BAU schrieb: Die „landwirtschaftliche Saisonarbeit wurde bis in die Fünfzigerjahre hinein von ortsansässigen Menschen geleistet, die keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen.“ Als sich das langsam änderte, d.h. als die Höfe weniger, dafür aber größer wurden und anfingen, „Farmworker“ bzw. Erntehelfer zu beschäftigen, war Gertrud Feiler schon zu alt und heruntergekommen, um noch mithalten zu können. „Die letzten Kriegsjahre hatte Traud mit noch unsteteren Wanderern als sonst verbracht“. Einmal erzählte eine Bäuerin von einem Brief ihres Sohnes, den dieser „von der Front“ nach Hause geschickt hatte:

„‚Unser Hubert hat geschrieben, dat er nachts wach gelegen hätt, weil ein Pferd in seiner Nähe net mehr aufgehört hat zu wiehern. Dat Tier hätt an der Lein gerissen und fürchtedrlich getan. Da is der Hubert aufgestanden und is gucken gegangen und wat meinst du? Da war dat unser Pferd, der Fanni, den sie uns weggenommen hatten. Wie ein Gruß von dahim wär dat gewesen. Dat Pferd hat unseren Hubert erkannt.‘ Die Bäuerin verbarg den Kopf in der Armbeuge. Der Arm wurde nass von Tränen. ‚Dat et so wat gibt‘.“

Eine ähnliche Geschichte erwähnte bereits Sergej Tretjakow in seinem 1968 veröffentlichten Roman „Das Ableben“, der die Geschichte des Kirchdorfes Poshary von 1917 bis in die Chruschtschow-Zeit erzählt, ein Erlebnis des „gescheiterten Bauernführers“ Iwan. Er will einem Kutscherjungen, der gerade mit Pferd und Wagen von der Molkerei gekommen ist, beim Abladen helfen. „Das Pferd war groß, schmutzig, unter dem enthaarten Fell stachen die Rippen hervor, traurig ließ es den Kopf hängen. Als Iwan hinzutrat hob es plötzlich den Kopf, sah ihn mit feuchtem Blick an und begann leise und wehmütig zu wiehern. Er hatte es nicht erkannt, aber das Pferd hatte ihn erkannt…Einer seiner beiden ‚grauen Schwäne‘ [wie er sie früher immer genannt hatte] – die Hufe beschädigt, die Fesseln geschwollen, der Bauch schmutzverkrustet, und der feuchte Blick, voller Wehmut und Trauer um das frühere Leben, um die warme Box und die liebevolle Hand des Herrn, die ihm Zuckerstückchen zwischen die samtigen Lippen gesteckt hatte. Er hatte seine Pferde geliebt, war stolz auf sie gewesen…Nie warf er einen Blick in den Pferdestall der Kolchose; wenn er seine Grauen irgendwo unterwegs sah, wandte er sich ab, zu schmerzlich war ihm der Anblick. Und nun stand er einem seiner Pferde Auge in Auge gegenüber, und das Tier hatte ihn zuerst erkannt.“

Ich bin auch einmal mit einem Pferd (namens Leinchen) durch die Eifel gewandert – als landwirtschaftlicher Betriebshelfer. Das war zu Zeiten der Schleyerfahndung – im sogenannten Deutschen Herbst 1977/78:

…..Dann die Fähre über den Rhein. Ich bekämpfe Leinchens aufkommende Panik jedesmal erfolgreich mit Zucker. Sie steht eingekeilt zwischen Autos, kuckt mir großen Augen auf die Wellen und spürt in den Hufen das Vibrieren des Schiffsmotors. Der Fährmann unterhält sich mit mir. Ein junger Typ mit Bart. Drüben will ich sofort nach Remagen weiter gehen – zu Heinz Erwer, einem Biogärtner, der während der Nazizeit für die Begrünung der Reichsautobahnen zuständig war, aber auf der Rheinpromenade entdecke ich eine Reithalle und meine wunden Füße machen sich bemerkbar. Leinchen hält zum ersten Mal besser aus als ich. Überhaupt kommt sie langsam in Wanderlaune. Der Reitstall ist besetzt, d.h. alle Boxen. Aber ein älterer Mann, der dort arbeitet, zeigt mir eine Weide mit dem besagten Schuppen, in dem ich jetzt liege. Er war bei der Waffen-SS, erzählt er stolz und gibt mir Stroh und Hafer und Wasser. Später nehme ich wieder die Fähre zurück nach Linz. Diesmal ohne das Pferd und ohne Zucker. In einem Lokal esse ich ein Schnitzel, um acht Uhr muß ich allerdings zahlen und wieder gehen, weil eine Gruppe von CDU-Leuten dort eine Versammlung abhält. „Innere Sicherheit“ ist das Thema.

10. November

Nach einem Frühstück im nahen Hotel gehen wir weiter. Es ist sehr warm – zwanzig Grad. Die Sonne scheint und es ist fast wie im Sommer. Nach einem Umweg von mehreren Kilometern finden wir endlich den Hof von Heinz Erwer. Sofort kommt die Einladung, hier bei ihm zu übernachten. Sein junger Mitarbeiter – ehemaliger Kunststudent und jetzt biologisch-dynamischer Gärtner – führt mich herum. Überall auf dem Gelände stehen Schilder mit Sprüchen von Heinz Erwer: „Der Regenwurm ist mein wichtigster Helfer. Heinz Erwer“. Draußen an der Straße steht ein großes Schild: „Paradies des Diplomlandwirts Heinz Erwer“, etc. Es ist peinlich. Überdies verfestigt es die Meinung der in der Umgebung wohnenden Leute; um so landwirtschaftlich arbeiten zu können, muß man studiert haben. Erwer ist ganz aufmerksam und fragt mich tausend Sachen. Besonders freut es ihn, „dass ich zu Fuß ganz aus Bremen hergekommen bin, um ihn zu besuchen“ – wie er allen Leuten erzählt. Andauernd kommen welche vorbei, um Obst oder Gemüse zu kaufen. Nach dem Abendbrot gehe ich nach draußen in den großen Garten. Eine warme sternenklare Nacht mit phantastischen Gerüchen. Ich zünde mir erst einmal eine Zigarette an. Herrlich. Dann schaue ich zum Pferd. Es steht in einer Ecke des eingezäunten Grundstücks; um ein paar Bäume habe ich meine ganzen Seile gezogen und so eine kleine Weide gebaut. Morgens werde ich von Müller geweckt. Das Pferd ist ausgebrochen. Seltsamerweise habe ich genau das geträumt – es war kein Angsttraum, nur etwas unbequem. Als ich rauskomme, steht es auf einem Stück Wiese und frißt Gras. Ich bringe es in seine kleine Weide zurück. Es ist mir ein wenig peinlich. Hoffentlich hat es keine Gemüsepflanzen gefressen. Statt eines Guten Morgen sagt Erwer: „Sehen Sie, das Pferd ist klüger als Sie. Daraus kann man lernen: erst die Praxis, dann die Theorie. Dann wäre Ihnen das nicht passiert. Stellen Sie sich vor, das Pferd hätte die Hügelbeete zerstört. Das wäre ein Schaden von mehreren tausend Mark gewesen.“ Zum Abschied bekomme ich von Frau Erwer eine Tüte Obst geschenkt. Die Äpfel essen Leinchen und ich gemeinsam auf. In den Ortschaften bin ich bei jedem Zigarettenautomaten stehengeblieben, um nach Overstolz zu suchen. Leinchen ist vor jeder Marlboro-Reklametafel stehengeblieben und sogar einmal schnurstracks über die Straße auf so ein Ding zugegangen: wegen der darauf abgebildeten Pferde. Vor den großen Schaufensterscheiben bleiben wir beide immer gemeinsam stehen: sie wegen ihres eigenen Spiegelbildes, ich wegen meines Spiegelbildes. Hinter Bad Neuenahr gehen wir in Richtung Südsüdwesten, d.h. in Richtung Nürburgring, Trier. Ein paar Mal geraten wir in eine Sackgasse: der Weg wird entweder zu steil oder die Bäume stehen zu eng. Danach verlasse ich mich zur Abwechslung mal auf Leinchens Einfälle. Und wir gehen auch nicht schlecht dabei. Wir sind schon fast in der Hohen Eifel. Auf einem Bergpfad, den ich alle 50 Meter von umgestürzten Bäumen freiräumen muß – manchmal benutze ich die kleine Axt, die ich mit habe, dazu, manchmal steigt Leinchen einfach drüber, zu meiner großen Überraschung. Plötzlich treffen wir auf zwei Mufflons. Sie stoßen spitze Schreie aus und stürmen bergab. Fünf Minuten später sehen wir sie wieder: diesmal über uns. Das geht so eine ganze Weile: sie sind ebenso neugierig, wie die ganzen Kinder, die wir immer in den Dörfern treffen. Ein Stück weiter stoßen wir auf ein Hirschrudel. Der große Hirsch hat es auch nicht eilig. Er schaut uns noch eine ganze Weile nach, bis wir um eine Wegbiegung verschwunden sind. In Cassel – in der Nähe von Kempenich – frage ich nach einem Quartier – bei einer Bauernhof-Pension. Leinchen bekommt den leerstehenden Ponystall zugewiesen, ich das leerstehende Gästehaus. Bald wird sich mir wieder ein anderes Problem stellen: Soll ich wieder auf einem Hof Arbeit suchen, oder erst noch eine Weile in Restaurants und Pensionen das Geld verprassen? Im Moment habe ich keine Lust zum Arbeiten – Urlaubsstimmung stattdessen. In der Dorfkneipe, wo ich jetzt sitze, könnte ich ewig bleiben, Traubensaft trinken und vor mich hin denken, aber schon macht mich wieder die Sorge um das Pferd nervös. Es steht jetzt allein im Stall und langweilt sich, stellt vielleicht sonst was an.

11. November

Gerade habe ich dem Pferd Gerste und Pellets und Wasser gegeben und danach mich lange mit der jungen Bäuerin unterhalten. Es ist ein lustiges Gespräch. Sie fragt mich auch nicht aus, kann überhaupt schlecht zuhören, wartet nur auf ein Stichwort, um selber sofort wieder weiter zu erzählen. Ihr Mann ist weg – zum St. Martinszug. Er bläst Trompete. Jetzt redet ihr endlich keiner dazwischen.

12. November

Nach dem Frühstück ging ich in die Scheune, während ich in aller Ruhe das Pferd sattelte, unterhielten wir uns noch eine Weile – über die Terroristen. Man vermutete sie in der Eifel. „Rübe ab mit ihnen“, sagte die Bäuerin und lächelte wieder dabei. Als ich dann losging, fuhr draußen auf der Straße gerade ein Polizeiwagen entlang. Ich versuchte, nicht von ihnen gesehen zu werden und ging langsam ein Stück die Landstraße entlang, das Pferd hinter mir herziehend, dann bog ich rechts ab – in den Wald, durch ein offenes Wildgatter – auf die „Kohlstraße“: eine ehemalige Römerstraße, die jetzt zu einem Waldweg zugewachsen ist. Es regnete in Strömen. Meine frei getexteten Lieder konnten den Regen nur einmal aufhalten. Und das auch nur für wenige Minuten. Nach drei Stunden war ich so durchnäßt, dass ich mit meinen klammen Fingern keine Zigarette mehr drehen konnte. Dann in der Nähe des Nürburgrings in einem kleinen Ort – Jammelshofen – beschließe ich Rast zu machen in einer Pension. Leinchen bekommt den Rinderstall zugewiesen, ich gehe erst einmal in die Gaststube. Vorher wechsele ich noch Schuhe und Strümpfe. Leinchen bekommt Heu und Rüben und ich in der Küche einen Teller heiße Suppe. Heute nachmittag wird das einzige Schwein geschlachtet. Es hat aufgehört zu regnen und klärt sich ein bißchen auf. Ich überlege schon weiterzuziehen. Aber plötzlich setzt wieder der Sturm ein und mit ihm Hagelschauer. Also bleibe ich. Die Sturmböe eben hat das ganze Dach von dem neugebauten Schuppen nebenan weggerissen – im Schneesturm helfe ich der Familie, es wieder hochzutragen und neu anzunageln. Wieder bin ich bis auf die Knochen durchnäßt und wieder gelingt es mir nicht, mir eine Zigarette zu drehen – bei einer Tasse heißer Milch diesmal. Draußen sind sie immer noch dabei, das Dach dicht zu machen. Ich sitze derweil mit einem kleinen schlechten Gewissen in meinem Pensionszimmer. Mittlerweile habe ich meine Eßvorräte im Stall mit dem Pferd geteilt und es mit Heu, Rüben und Wasser für die Nacht versorgt. Was soll ich machen, wenn das schlechte Wetter mit Sturm, Hagel, Schnee und Regen anhält? An der Mosel soll es weniger kalt sein.

13. November. Sonntag

Um halb Elf los. Ich brauche nicht alles zu zahlen: Essen, usw. erlassen sie mir, weil ich beim Dachreparieren und beim Schweineschlachten geholfen habe. Es ist bitterkalt, als wir losgehen. Über den Nürburgring – eine potthäßliche Gegend: Parkplätze mit den Nummern 86, 84a, 92 usw.. Dazwischen Blechhütten und Reklamewände. Einige Arbeiter fegen die Rennstrecke. Ich gehe auf der Bundesstraße dann. Alle Autofahrer, die mir entgegenkommen oder uns überholen, sind verhinderte Rennfahrer, meistens junge Leute in Mittelklassewagen, die Freundin neben sich. Es ist so bitterkalt, dass mir abwechseln die Hand abfriert, mit der ich jeweils das Tau von Leinchens Halfter halte. Ich fluche die ganze Zeit, zerre und schimpfe mit dem Pferd – sie hat aber Geduld mit mir. Hinter Kelberg überholt uns ein Wagen und stoppt. Heraus spring ein älterer Mann und spricht uns an. Unheimlich freundlich und ehrlich entzückt über unseren Anblick. „Über meinen Idealismus“. Leinchen frißt derweil. Endlich! Denkt sie. Der Mann ist Besamungstechniker und nebenbei Landwirtschaftsmeister. Er hat einen kleinen Betrieb mit vier Kühen und 8,5 ha Land. Er zeigt mir seine Besamungsausrüstung für die Kühe, die zu Pillen tiefgefrorenen Samenportionen. Er meint traurig, dass er leider Sonntags arbeiten muß. Ich beglückwünsche ihn dazu. Immer wieder kommt er im Gespräch darauf, mich zu sich nach Hause einzuladen – sein Hof liegt in der Nähe von Daun. Er will vorfahren und alles herrichten, für das Pferd hat er in seinem Stall noch Platz. Ich lehne dankend ab – es liegt nicht auf meiner Strecke, sage ich. Als er sich dann traurig von mir verabschiedet, weil ich ihm zuliebe diesen kleinen Umweg nicht machen will, hätte ich am liebsten meine Absage wieder rückgängig gemacht. Keine Sentimentalitäten unter Männern. Scheiße. Noch mißmutiger setze ich meinen Weg fort. An einer Straßenkreuzung steht ein Bauer. Wir kommen ins Gespräch. „So ein gutes Pferd und so eine gute Ausrüstung und so ein oller Strick“, sagt er. „Ist wohl geklaut …“, sagt er mißtrauisch. Ein Stück weiter – kurz vor Ulmen – hält ein dicker Mercedes, eine goldbehangene Frau kurbelt die Scheibe runter und ihr dicker Mann fragt mich nach dem Woher und Wohin und: „Hast du gewettet?“ „Handelt es sich um eine Wette?“ fragt seine Frau. Ich blicke mich um und sehe hinter mir den Fernsehturm von Cassel. Jetzt sehe ich dieses Ding schon drei Tage lang und habe es immer noch nicht hinter mir gelassen. All das verbessert meine Laune nicht. Hinter Ulmen biege ich von der fürchterlichen Schnellstraße ab ins Feld. Dann einen Hang runter, über eine Wiese, durch einen Bruch, die Äste kratzen an der Satteltasche, Leinchen geht einfach weiter. Plötzlich hört der Weg auf: Dickicht. Wieder zurück. Ich fluche und schimpfe auf Leinchen, die immer wieder den Kopf senkt, um zu fressen. Nächsten Weg rein. Es läuft ein kleiner Bach quer dazu – dreißíg Zentimeter breit. Leinchen geht nicht drüber. Ich zerre und schimpfe. Aber nichts zu machen: sie geht nicht rüber. Dabei ist es nur ein kleiner Schritt. Also wieder zurück. Nächster Weg. Sie will nicht einmal durch eine Pfütze gehen. Ich schimpfe noch lauter als vorhin und boxe ihr in die Rippen. Es hilft nichts. Wieder zurück. Nächster Weg. Endlich kommen wir aus diesem verdammten kleinen Tal raus auf einen normalen Waldweg. Keine weiteren Hindernisse mehr. Leinchen ist übereifrig und folgt brav. Ich entschuldige mich leise bei ihr für das von vorhin. Ich bin zerknirscht. Sie geht so überaus folgsam mit, sieht keinen Grashalm, nichts, dass ich jetzt ein besonders schlechtes Gewissen ihr gegenüber habe. Wir kommen aus dem Wald raus. Überall sieht man Hufspuren. Dann durchs Dort: Auderath. Ich wollte eigentlich bis Filz heute kommen, entdecke aber im Dorf ein Schild „Reiterhof“. Dort gehe ich hin. Leinchen bekommt sofort einen exquisiten Stall mit Blick auf die anderen Pferde. Ich bekomme an der Theke ein Bier und einen Korn für meine „Story“. Der Besitzer gibt den Reiterhof am nächsten Tag an einen anderen ab. Er ist einer von diesen jungen dynamischen Typen: krause Haare, Schnurrbart, Jeans und Parka. „Dolle Sache“, sagt er. „Das Pferd kann diese Nacht umsonst bei mir stehen“. (Ich bedanke mich lachend. Ich habe für das Pferd noch nie was zahlen müssen.) „Entschuldige mich bitte jetzt, ich habe da drüben noch Freunde von mir sitzen. Der eine ist der beste Unterwasserfotograf Deutschlands. Aber wir sehen uns ja noch.“ So ein Typ eben. Sein Hotel ist gemütlich aber protzig eingerichtet. So nach und nach trudeln die Gäste vom „Ausritt“ ein: Gymnasiastinnen mit reichen Eltern aus Aachen, junge Progressive aus der Umgebung, die High Society aus dem Dorf. Die Gespräche drehen sich um Pferde, um die Abenteuer beim Ausritt. Morgen werde ich wohl bis an die Mosel kommen und dann dort mir vielleicht doch einen Bauern bzw. einen Winzer suchen, um bei ihm in der Spätlese zu arbeiten und ein wenig über Weinbau zu lernen. Der Besamungstechniker (es tut mir immer noch leid, dass ich seine Einladung nicht angenommen habe) hat mir geraten, mir auch ja den richtigen auszusuchen – einen sympathischen, nicht zu großkotzigen. Dieser Besamungstechniker – ein prima Bauer unter hunderten, den habe ich mir entgehen lassen. Diese Begegnung habe ich auf ein Minimum reduziert. Verdammte Scheiße … und dabei brauche ich solche Begegnungen nötiger denn je. Aber das kommt davon, wenn man den ganzen Tag nur mit verkniffenem Gesicht eine Straßenkurve nach der anderen überwindet. Ich sitze immer noch in diesem stilvollen Reiterclub mit einer dicken Zeche auf dem Deckel und die Gespräche um mich herum interessieren nicht.

14. November

Als ich um acht Uhr aufwachte und aus dem Fenster schaute, war alles weiß, alles mit Schnee bedeckt. Und das, was ich nachts im Dunkeln als die Lichter einer Stadt im Tal ausgemacht hatte, erwies sich bei Tageslicht als die Grablichteransammlung auf einem Friedhof. Als es auch noch zu stürmen anfing draußen, kroch ich mißmutig wieder unter die Bettdecke. Um neun Uhr frühstückte ich dann ausgiebig mit Hans, einem Mitarbeiter des Besitzers – ein sympathischer arbeitsloser Werbemensch. Zuerst hatte mir die Frau vom Frühdienst ein freudloses kärgliches Frühstück hingestellt. Als er dann kam und sich dazusetzen wollte, ergänzte er es mit Schinken, Käse, Eiern, Orangensaft, Gin etc.. Einige belegte Brote packte ich in meine Satteltasche. Nach dem Frühstück half ich beim Aufräumen des Flaschenkellers. Eine junge Frau aus der Nachbarschaft – die die Tiere versorgte – hatte Leinchen inzwischen mit Hafer und reichlich Heu versorgt. Ich gammelte rum – unschlüssig, ob ich noch einen Tag bleiben sollte oder nicht. Die junge Frau bat mich, noch zu bleiben. Ich stellte in der Bar das Tonband an, trank Kaffee, hörte Musik: die internationalen Hitparaden rauf und raunter. Weil ich ihm geholfen hatte, machte der Besitzer mir einen „Sondertarif“ für die Übernachtung. Um elf Uhr gehe ich dann doch los. Fürchterlicher Wind aus Westen. Und Regen noch dazu. Wenn ich den Wind fast im rechten Ohr habe, liege ich richtungsmäßig richtig. Den Kompaß kriege ich sowieso nicht aus der Tasche – wegen der Kälte kann ich meine Finger nicht krumm machen und die Sonne sieht man nicht – der ganze Himmel ist grau. Außerdem ist es so neblig, dass man kaum 100 Meter weit sieht. In Lutzerath kommen wir an einer Schule vorbei. Aus allen Fenstern schauen mir die Kinder nach und die Lehrer müssen für einen Moment den Unterricht unterbrechen. Ich habe mir den Schal aus der Tasche geholt und eine dicke Hose und dicke Socken angezogen. Unterwegs sinkt meine Laune nicht unter den Gefrierpunkt. Trotz nasser Füße behalte ich so etwas wie eine grimmige Entschlossenheit bei. Erst als wir vor Bad Bertrich das Elfental verfehlen und in einem Lavabruch uns verirren und Leinchen an nichts anderes als ans Fressen denkt, werde ich langsam sauer und ungeduldig – zerre sie die Lavahaufen rauf und runter, schimpfe laut mit ihr. Schließlich treffe ich im Nebel auf einige Arbeiter, die mir den richtigen Weg nach Bad Bertrich zeigen – wir müssen ein ganzes Stück zurückgehen, wir haben im Nebel die Abzweigung verpaßt. Dann müssen wir ins Tal runter, auf einem Waldweg. Es ist ein tolles Tal und auch der Nebel lichtet sich langsam, aber ich muß Leinchen die ganze Zeit hinter mir her zerren. Ganz plötzlich ist der Waldweg zu Ende und wir sind in Bad Bertrich – es regnet nicht mehr, kein Wind, kein Nebel hier im Tal. Wir gehen an der Üßbach entlang durch die Stadt: ein protziges Hotel nach dem anderen, dazwischen neugebaute Sanatorien, in denen sich die Arbeiter, die zur Kur hierher geschickt worden sind, langweilen. Sie schlagen ihre Zeit mit Kartenspielen und Biertrinken in diesen trostlosen Tagesräumen tot. Ich beschließe, hier irgendwo zu übernachten – es ist schon 16 Uhr. Aber in Bad Bertrich – in diesen Kurhotels – gibt es natürlich keinen Stall, alles ist für Kurgäste ausgebaut. Man schickt mich drei Kilometer weiter in Richtung Alf, dort soll eine Pension einige Ponies haben. Wegen der nassen Schuhe fällt mir das Gehen immer schwerer. Der Wirt des Ponyhofes hat seine Pension schon geschlossen – Winterpause. Seine Weinstube ist noch geöffnet. Er bietet mir an, Leinchen über Nacht auf der leeren Ponyweide zu lassen. Ich bringe sie rüber und stelle das Gepäck bei ihm unter. Auf der Weide ist auch ein kleiner Unterstellschuppen, wo das Pferd im Trockenen stehen kann, wenn es anfängt zu regnen. Ich bin einigermaßen für diese Übernachtungsmöglichkeit für sie beruhigt, obwohl ich sie eigentlich bei diesem Sauwetter nicht mehr nachts draußen lassen wollte. Und gehe in das Lokal zurück, um Schuhe und Strümpfe zu wechseln, mir die Haare zu trocknen, einen Saft zu trinken und um Zeitung zu lesen. Danach will ich dann die zwei Kilometer zurück nach Bad Bertrich, um dort für mich ein Bett zu suchen. Aber an der Theke treffe ich einige junge Typen, die hier kurz eben ihr Bier trinken. Wir kommen ins Gespräch. Sie sind sehr freundlich. Einer von ihnen sagt mir, seine Eltern haben eine Pension in Alf, dort könnte ich übernachten (also weit weg von Leinchen – das erste Mal). Einer von den Typen bringt mich mit seinem VW sofort nach Alf. Unterwegs verabreden wir uns noch für einige Stunden später in der Diskothek. Zuerst einmal will ich mein neues schreckliches Doppelzimmer begutachten, einige Tassen Kaffee trinken und mir Tempotaschentücher in die schon wieder durchnäßten Schuhe stopfen.

Mit zwei Typen in der Diskothek gesessen, dann mit ihnen zu einer anderen gefahren, diese war aber geschlossen und dann zurückgefahren. Frank Zappa gehört im Autoradio. Sehr laut. Besonders die Leadguitarre. Aber dann die Paranoia durch alle Ebenen hindurch bekommen (wir hatten im Auto einen Joint  geraucht). Ich kann es in der Diskothek nicht aushalten. Der eine Typ fährt mich nach Hause. „Ist doch selbstverständlich“. Aber der Zustand hält an, läßt sich nicht abschütteln – draußen an der frischen Luft. Alles kreist um die Paranoia – alle Gedanken. Ich friere.

15. November

Ich muß dann trotz meiner Paranoia eingeschlafen sein, d.h. mit der Angst, die Macht hätte mich umstellt und aus dem Geschriebenen eben und in den Seiten davor werden ihre Vermutungen bestätigt. Meine Hände zittern heute Morgen beim Frühstück. Jetzt beim Durchlesen des nächtlichen schriftlichen Gestammels, verstehe ich einiges nicht mehr, es ist auch nichts weiter als ein krampfhafter Versuch, mich über Wasser zu halten. So hat es angefangen: Ich gehe im Regen von der Pension in den Ort. Unterwegs gehe ich noch in eine Kneipe. Die Gäste dort haben am Tag zuvor einen Film über Nazi- Deutschland gesehen, sie unterhalten sich darüber. Mich mustern sie ab und zu mißtrauisch (dieses ewige Mißtrauen macht mich krank). Der eine sagt: „Die SS hat nie auf die SA geschossen. So etwas gab es damals nicht.“ Eine junge Frau: „Als die SA Karneval gefeiert hat und die haben die alten Lieder gesungen, da ist mir richtig das Herz aufgegangen.“ Eine ältere Frau sagt zu dem Mann: „Doch. Die SS hat in Bad Wiessee auf die SA geschossen, das kannst du nicht leugnen. Ich habe gestern vor dem Fernseher auch stramm gestanden.“ Man streitet sich: „Herz aufgegangen“, „wer hat auf wen geschossen damals?“ Ich verstehe die ganze ziemlich heftige und emotionsgeladene Auseinandersetzung nicht, sie besteht fast nur aus Andeutungen, ab und zu schaut jemand zu mir rüber – sie sitzen zu acht an einem Tisch, dann noch der Wirt, ich sitze an einem Tisch allein, ich bin der einzige ,Andere‘ im Lokal. Es ist seltsam. Ich schlinge schnell mein Schnitzel runter und gehe in die Diskothek. Die Typen dort rauchen gerne einen Joint, gehen auf Feten, hören gerne Rock-Musik – nette Typen. In der Disko höre ich Novalis. Der eine Typ ist Drucker in einer Weinfirma, der andere bewirtschaftet mit seiner Mutter einen Weinberg und hat dazu noch einen Imbißstand. Sie trinken oft und gerne Wein hier und alle Eltern haben eigene Weinkeller. Der eine erzählt, eine Zeitlang hat er jeden Morgen – bevor er in den Berg ging zum Arbeiten – erst einmal einen Liter Wein getrunken, das turnt zwar anders als Shit, ist aber der Arbeit im Berg angemessener. Wir fahren in ein Jugendheim – unterwegs hören wir laut Frank Zappa. Auf einem Parkplatz rauchen wir einige Pfeifen. Das Jugendheim ist geschlossen. Ich bin schon so bekifft, dass mich alles lachen macht. Verkniffen, wie ich feststelle. Damit fängt der Horror an. Zurück in die Diskothek nach Alf. Ich höre den Gesprächen kaum noch zu. Muß unbedingt allein sein oder an die frische Luft – auf den Weg in die Pension. Der eine bringt mich mit seinem Auto dorthin. Im Bett legend, klopft die Pensionswirtin an die Tür: „Sind Sie da?“ Antwort: „Ja, warum, is was?“ Keine Antwort. Statt dessen geht sie nach unten an die Haustüre – ich höre Polizeistiefel, die eingelassen werden, leise. Und so geht es weiter. Polizisten gehen mit einem Gewehr im Anschlag am Fenster des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich schreibe im Bett. Das, was ich schreibe, ist verdächtig. Erst recht das, was ich davor alles so geschrieben habe, damit gebe ich ihnen Recht. Am Morgen während des Frühstücks ist die Paranoia noch immer existent, aber auszuhalten – wie die gewöhnliche eben – sie bleibt im Innern eingeschlossen oder draußen ausgeschlossen und brummelt nur ein bißchen vor sich hin.

Jetzt habe ich Zimmer und Frühstück bezahlt und gehe die drei Kilometer zum Pferd zurück. Es ist alles in Ordnung und Leinchen begrüßt mich bereits von weitem. Ich habe ihr Äpfel mitgebracht. Zuerst gehe ich in die gegenüberliegende Weinstube, wo mein Gepäck steht, um mich marschfertig zu machen. Ich bin schon wieder durchnäßt und immer noch leicht lädiert. Der Wirt bietet mir einen Traubensaft an. Plötzlich kommt seine Mutter runter – mit zwei Tellern Suppe und einem Brötchen. Das muß ich essen: „Nicht für Sie, fürs Pferd“, sagt sie, „damit Sie das Pferd sicher dorthin bringen, wo es hin soll.“ Wir unterhalten uns noch eine Weile, während ich meine Suppe löffele. Sie erzählt mir von ihren Gästen im Sommer, und dass es früher alles besser war. Um halb Eins gehe ich mit dem Pferd los in Richtung Süden, in Richtung Kinderbeuren. Dort hat mir der Besitzer des Reiterhofes die Adresse eines Pferdehofes mitgegeben. Der Weg durch den Wald ist steil und naß. Zweimal müssen wir umkehren, weil dicke, umgefallene Bäume den Weg versperren, wir nehmen einen Seitenpfad. Ein paar Mal muß ich das Beil rausholen, um Äste von umgestürzten Bäumen abzuschlagen, damit Leinchen drübersteigen kann. Jetzt sitze ich in der Dorfkneipe von Hetzdorf – bei Kinderbeuren -, das Pferd ist in einem Pferdestall bei einigen anderen Pferden untergebracht und ich trinke hier Kaffee und höre zum dritten Mal aus der Musikbox „Porqué te vas“. Unterwegs im Wald traf ich einige Waldarbeiter, ich fragte sie nach dem Hof Hetz. Sie verbesserten mich, es heißt Hetzhof und ist ein Dorf. Und den Pferdestallbesitzer Weber kannten sie auch. Sie zeigten mir eine Abkürzung dahin. Und so sitze ich jetzt also in der Dorfkneipe von Hetzhof. Mein Geld ist fast alle. Ich muß einen Hof suchen, auf dem ich arbeiten kann. Warum nicht hier in der Gegend – bei den Moselbauern. Vielleicht sind sie weniger anstrengend als die Westerwaldbauern? In dieser Kneipe frage ich jemanden nach einem Hufschmied. Sie antworten mir mit faulen Witzen. Dann frage ich nach einem Bauern, der eine Arbeitshilfe benötigt. Ein junger Typ springt auf und sagt, er weiß einen. Er fährt mich sofort mit seinem Wagen zu ihm hin – gerade, dass ich die Zigarette noch aufrauchen kann. Der Bauer ist freundlich. Obwohl es schon 22 Uhr ist, arbeitet er noch in seinem Stall. Er will sich bis Morgen entscheiden, sagt er. Ich soll Morgen früh wiederkommen – mit Pferd. Fürs Pferd hat er einen Stall. Zuerst müssen wir mit ihm noch ein Bier und einen Korn trinken. Bevor wir wieder abhauen, helfen wir ihm noch, seine zehn Kühe in einen neuen Laufstall zu treiben. Der Typ, der mich zu dem Bauern hingefahren hat, ist Polizist. Er lädt mich ein, heute Nacht bei ihm zu schlafen, „dann sparst du das Geld für die Pension“, sagt er. Ein Bulle. Zwanzig Stunden nach meiner Bullen-Paranoia jetzt dies. Der Bauer – Hans Hermann – ist sympathisch. Und das mit dem Hufschmied klappt wohl auch. Der Mann, der die Pferde vom Weber versorgt – ein kleiner Bauer im Dorf – will nächste Woche sowieso den Schmied aus Trier herbestellen, dann kann der Leinchens Vorderhufe gleich mitmachen. Wieder spricht mich einer in der Kneipe an: „Tagebuch führen?“ Ich erzähle ihm meine Geschichte, der Frage damit etwas ausweichend. Er sagt, er kenne den Bauern Hermann gut, und wenn ich bei dem arbeiten kann, dann „Frohes Schaffen, das ist ein ganz guter Bauer“. Das ist ermutigend – immerhin. Hoffentlich klappt es morgen beim Bauern. Sein Hof gefiel mir überhaupt nicht und die soeben fertiggestellten Laufställe (aus Betonrosten und verzinktem Eisen) auch nicht. Und der Bauer war so stolz darauf. Aber ich war auch nicht in Form: kalte Füße, nasse Hose, die Hände in der Hosentasche herumstehend, und dann musste ich noch ein kaltes Bier mittrinken.

16. November

Die ganze Nacht geträumt, ich fliege. Immer wenn es brenzlig wurde, hob ich ab und flog davon. Es war ein bißchen schwierig, aber es ging noch – fast wie früher. Gestern Abend saß ich noch in der Kneipe, redete mit dem und dem (einige blickten mich mißtrauisch an, andere wagten die Flucht nach vorne aus Neugier), dann kam der junge Polizist Heinz wieder und sagte sofort: laß uns gehen! Wir fahren den Berg hoch in eine Blockhütte. Eine Fete findet dort statt. Die Hütte gehört Udos Eltern. Seinen Vater habe ich schon im Wald bei den Waldarbeitern getroffen. Udo ist Forstwirt, bzw. Waldfacharbeiter. Ich habe ihn unterwegs schon mal gesehen: mit seinem Auto hätte er mich und das Pferd in einer Kurve fast überfahren. Wir trinken Cola-Whisky, Rum, Bier etc.. Langsam wird mir war, neben dem Bollerofen sitzend mich unterhaltend. Es sind ca. zehn Typen da und eine Frau. Alle so zwischen siebzehn und zweiundzwanzig. Eine Clique aus dem Dorf – die Clique. Es ist eine ganz gemütliche Atmosphäre. Udo sagt zu mir: „Du kannst heute Nacht unten bei mir schlafen, du kannst auch hier oben in der Hütte schlafen, solange wie du willst. Du kannst bei uns frühstücken und ich kann versuchen, dir einen Job im Wald zu besorgen. Du kannst alles von uns haben. Aber wehe du drehst ein krummes Ding. Wir kriegen dich, und wenn es in Südfrankreich ist.“ Er sagt diesen Spruch im Laufe des Abends mindestens zehn Mal – mit geringen Abweichungen. Dieses ewige Mißtrauen – diesmal anders. Einige von den Typen aus der Clique sind bei der Bundeswehr, einige arbeiten im Wald, einige machen eine Handwerkslehre. Heinz ist Polizist, das Mädchen Verkäuferin. Um Vier gehen alle nach Hause. Die Frau hat mich für den nächsten Tag zu sich zum Mittag eingeladen. Unten in Udos Zimmer erzählt Udo mir noch einmal vor dem Einschlafen seine Mißtrauensstory. Ich kenne sie mittlerweile auswendig. In seinem Zimmer hängen überall Auto- und Motorrad-Poster. Um neun Uhr stehe ich auf, geh runter ins Dorf in den Pferdestall und schaue nach dem Pferd, dann frühstücke ich in der Dorfkneipe. Sie heißt „Unter den Linden“ und unter einer Linde ist auch die Toilette. Es ist ein altes, schönes, vergammeltes Plumpsklo, aber die Wirtin schämt sich deswegen und will es so schnell wie möglich abreißen lassen. Danach gehe ich zum Bauern Hermann. Zuerst helfe ich ihm eine Weile, dann gehen wir ins Haus Mittagessen. Wir einigen uns schnell über die Bezahlung (wie gehabt überlasse ich es ihm, was er mir am Ende geben will), dann will er Papiere sehen. Ich zeige ihm ein „Zeugnis“ von Dirk, bei dem ich – in der Wesermarsch – über ein halbes Jahr gearbeitet habe. Das „Zeugnis“ weist mich als qualifizierten „Landwirtschaftlichen Mitarbeiter“ aus und dann noch ein Zeugnis von seinem Schwiegervater, das mich als qualifizierten „Betriebshelfer“ bezeichnet – als er in Kur war, habe ich seinen Hof fünf Wochen lang mitversorgt. Besonders die Frau von Hans ist pingelig und mißtrauisch: Sie will sogar die Adresse von Tichys in Gebhardshain im Sauerland haben, wo ich ein paar Wochen gearbeitet habe. Ich gebe sie ihr. Trotz alledem ist die Atmosphäre ganz locker: Hans macht ab und zu faule Witze, die ihr beider Mißtrauen mir gegenüber etwas verlächerlichen sollen. Er erinnert mich ein wenig an Dirk, in mancherlei Hinsicht ist sein Hof auch ähnlich, und die Art und Weise wie er die Sachen anpackt: Nicht schlecht. Danach gehe ich wieder ins Dorf zurück, trinke mit dem Bauern, der Webers Pferde versorgt, einige Bier und hole Leinchen aus dem Stall, lege ihr das Gepäck wieder auf und wir gehen zum Bauern zurück. Leinchen kommt in den ehemaligen leerstehenden Schweinestall, den ich zuvor fertiggemacht habe. Ich bekomme ein komfortables Zimmer mit Schreibtisch und Waschecke. Der Bauer besteht auf dem „Du“, weil: „sonst hat das gar keinen Zweck“, sagt er. Ich schaue mich um, diskutiere ein wenig mit ihm – Vor- und Nachteile von Spaltenböden, etc.. Ich merke dabei, dass mir langsam meine Erfahrungen in den verschiedendsten Landwirtschaften zugute kommen, bzw. dass die Bauern davon profitieren können, sie sind jedenfalls immer ganz begierig zu erfahren, wie es in anderen Gegenden Deutschlands mit der Landwirtschaft aussieht, wie man da und dort dieses und jenes anpackt und diese und jene Probleme löst. Es sind gerade diese ganz praktischen Erfahrungen, die sie zu schätzen wissen. Auf dem Hof arbeitet noch ab und zu der Bruder von der Frau von gestern Abend und ein alter Knecht – Philip, er ist 73 Jahre alt und er arbeitet nur für Essen und Trinken. Hans meint, er sei ein bißchen schwachsinnig. Auf jeden Fall redet er ein so seltsames genuscheltes Platt, dass ich ihn kaum verstehen kann. Er muß hier auf dem Hof arbeiten, weil er zu Hause bei seinem Bruder nichts zu essen bekommt. Zu den Mahlzeiten hier wird jedesmal gebetet. Nach dem Abendessen gehe ich wieder runter ins Dorf. Vorher habe ich noch mitgeholfen, die Kühe reinzubringen. Danach war ich wieder bis auf die Knochen durchnäßt. Dann habe ich noch Leinchen ausreichend mit gutem Heu und Hafer versorgt. Der Bauer musste noch mit seinem alten Mercedes Diesel zum Schmied fahren und die Bäuerin hat die Buchführung gemacht. In der Kneipe setze ich mich bei einem Glas Bier wieder den verstohlenen Blicken der anderen Gäste aus. Ich unterhalte mich mit der jungen Wirtin eine Weile.

18. November

Zwei Tage lang gearbeitet. Die Arbeit mit dem Bauern – er ist fünfunddreißig – läßt sich gut an. Und sie ist lehrreicher als ich gedacht habe. Morgens stehen wir um halb acht auf und heute ist es mir sogar passiert, dass ich vor ihnen schon in der Küche war. Nach dem Frühstück geht es sinnig los bis dreizehn Uhr, dann Mittag. Um 17 Uhr Kaffee, danach füttern und melken. Vorher hole ich noch die Kühe rein (sie kennen den Weg sowieso im Schlaf und würden auch von alleine kommen) und bringe Leinchen in den Stall – sie war auf einer großen Weide mit einem kleinen Berg und einem kleinen Wäldchen. Um 20 Uhr rum warmes Abendessen. Danach wird noch eine Stunde „geschafft“ und dann bin ich müde. Ich gehe dann noch einmal kurz in die Kneipe, Kaffee trinken und ein bißchen mit den Leuten reden. Morgen Abend will ich zusehen, dass ich irgendwie in die Diskothek komme, die ein paar Dörfer weiter ist. Was habe ich bis jetzt hier auf dem Hof so alles getan? In Gebhardshain gab mir der Bauer die 200 Mark mit der Bemerkung, „Sie haben ja doch noch was geschafft“. Mit der Betonung auf „doch“. Was habe ich hier aber in den letzten zwei Tagen so gemacht? Links und rechts in der Ecke des neuen Laufstalls ein Stück eingeschalt und mit Beton vollgegossen, ein Stück der Güllegrube mit Bitumenfarbe gestrichen (ich war nachher wie besoffen, weil ich unten angefangen hatte und die Dämpfe zu mir dann hochstiegen. Als ich Mittags in die Kneipe ging, hinterließ ich auf Tisch, Stuhl, Fußboden und Gläsern überall schwarze Spuren – die Wirtin und ich krochen mit Ata und Lappen auf dem Boden rum und versuchten, es wieder wegzuwischen. Es war mir furchtbar peinlich, aber sie lachte nur, dann das Vieh gefüttert – hier muß man die Getreidemischung in der Mühle auf dem Kornboden selber zusammenmischen, anschließend da und dort ein wenig aufgeräumt (meine Lieblingsbeschäftigung, außerdem ein guter Einstieg in einen neuen Betrieb: rumgucken, dies und das wegräumen, etc.), auf der Weise einen Elektrozaun gezogen, oben auf der Weide beim Pferd noch einen Draht angebracht, Silage reingeholt (Grassilage – bei der man riechen kann, ob sie gut schmeckt oder nicht), dem Schmied bei der Montage des Selbstfanggitters geholfen, mit der Kuh zum Bullen gefahren (der Bauer hat mit einem Nachbarn zusammen einen Deckbullen), die Kühe morgens zur Weise getrieben und abends wieder abgeholt (mich begleitete dabei der Hund. Er macht die meiste Arbeit selber, nur wenn er manchmal zu scharf rangeht, muß er zurückgepfiffen werden), mit dem Wasserbesen die Kotrosten gesäubert, auf denen die Milchkühe stehen, einen Haufen Schalbretter entnagelt. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Aber diese Aufzählung zeigt schon, dass es ganz abwechslungsreich war. Nicht zu vergessen, die vielen Gespräche mit dem Bauern darüber, dass man dies und das noch machen müßte und das so und so machen könnte. (Meine Phantasie kennt keine Grenzen, das beeindruckt ihn. „Du denkst mit“, sagt er.) Eine Grenze allerdings besteht darin, dass der Bauer so gut wie gar kein Handwerkszeug hat, nicht einmal einen Bohrer, nur Schraubenschlüssel, Hammer, Kneifzangen, etc.. Für alle komplizierten Arbeiten muß er den Schmied holen. Die Zusammenarbeit mit Hans ist prima – kumpelhaft. Ihn duze ich, die Bäuerin sieze ich – Maria, ebenso die Mutter vom Bauern; den Philip (mein Kollege, der Altknecht) duze ich. Aber da er schlecht hört und ich seinen Dialekt nicht verstehe, reden wir kaum miteinander. Der Tag endet mit einem Glas warmer Milch und Honig im Bett. Heute werde ich allerdings wachbleiben – eine Kuh soll kalben, aber sie läßt sich Zeit. In der Kneipe treffe ich ab und zu noch mal einen aus der „Clique“ wieder. Aber mehr als ein kurzes „Hallo“ kommt nicht mehr zustande. Meistens sind sie sowieso nur auf einen Sprung drinnen, um danach sofort wieder mit ihren Autos in die Nachbardörfer zu fahren, auszuschwärmen. Die ganze Nacht gehe ich alle halbe Stunde über den Hof in den Kuhstall um nachzusehen, ob es mit dem Kalben schon so weit ist. Der Bauer hat sich hingelegt.

20. November. Sonntag

Euphorie (gute Gespräche, warme, gemütliche Atmosphäre, frohes Schaffen, gute Ideen), Niedergeschlagenheit (sich deplaziert fühlen, sich nur immer scheibchenweise einbringen zu können, sich ausgenutzt vorkommen). Abwechselnd. In der Nacht von Freitag bis Samstag bis drei Uhr aufgeblieben, weil die Kuh kalben sollte. Sie tat es aber erst am Samstag Morgen während des Melkens. Die Kuh stöhnte, dann kamen die Füße des Kälbchens raus, sie wurden an einen Strick gebunden, der Strick führte in eine selbstkonstruierte Seilwinde, die man an der Wand befestigt hatte, der Bauer zog und langsam rutschte das Kälbchen raus. Die Kuh lag dabei ein wenig auf der Seite. Das Kalb rutschte dann über die kalten, nassen Kotrosten auf den dreckigen Gang. Dort blieb es liegen, wurde mit mehreren Eimern Wasser übergossen, mit dem Kehrbesen geschrubbt und dann in eine leerstehende Kälberbox auf die Holzrosten dort gelegt. Klappe zu. Den Tag über schrie es manchmal, versuchte aufzustehen, lag aber meistens da und zitterte, suchte am Eisengitter und an der Holzwand das Euter der Mutter, nuckelte daran herum. Abends bekam es zum ersten Mal was zu trinken: die Biestmilch aus einer Schüssel. Den ganzen Tag friere ich – mit dem Kälbchen zusammen, das naß und wacklig auf den Holzrosten jetzt steht und unter ihr fließt die Jauche. Und rechts und links und gegenüber, für das Kalb unsichtbar, stehen noch andere – schon etwas ältere – Kälber und wissen auch nicht, wie ihnen geschieht und warum. Aber die Hand, die ihnen doch täglich Milch und später dann Heu gibt (ihnen also quasi die Mutter, die Herde, die halbe Welt ersetzt), sie haben vor dieser Hand Angst, schrecken davor zurück. Wissen sie vielleicht doch noch (schon?), dass diese selbe Hand sie ohne Zögern in das ökonomische Kalkül preßt? Ich verliere den Tag über die Lust an der Arbeit (Aufräumen, wieder Betonieren, Anhängerklappe reparieren). Es stößt mir unangenehm auf, dass es in diesem strohlosen Stall nicht schön riecht. Es riecht wie in einem Neubau. In solchen Ställen ist es auch nicht gemütlich war, man wird nicht zum Verweilen eingeladen. Und dabei möchte ich das so gerne. Bei Bauer Tichy in Gebhardshain sah der Hof ziemlich schlimm aus, aber sein Kuhstall war ein Gedicht – die Wärme, der Geruch. Das fehlt hier, das fehlt mir. In solchen Ställen mit Stroheinstreu wird man motiviert, was zu tun: saubermachen, Wände kalken, Fenster putzen, Anbindungen reparieren, Geräteecken einrichten, Stallapotheke auffüllen, aussortieren, etc.. Hier in diesem Stall nichts. Keine Einfälle. Vor allem fehlt mir das Ausmisten und das Stroh einstreuen (der Kuh fehlt da noch ein bißchen und bei der könnte auch noch ein wenig mehr hin …). Abends bin ich froh, Feierabend zu haben. Schade. Ich zieh mich um, esse und fahre mit Carlo (ein netter interessierter Typ aus der Nachbarschaft, Bruder von Beate, der Dachdecker lernt und abends hier auf dem Hof noch mitarbeitet) auf seinem Trecker mit. Carlos Vater ist Waldarbeiter und hat nebenbei noch eine kleine Landwirtschaft (vier Kühe und einige Schweine). Carlo fährt mich nach Bengel. Dort vor einem Café setzt er mich ab und er fährt zurück nach Hause. In dem Café sitzen nur Jugendliche. Ich stehe etwas verloren an der Theke. Da kommt Beate rein (die Frau von der Fete von vor einigen Tagen). Sie will mich mit zu einer anderen Fete nehmen. Es ist gleich um die Ecke. Es gibt ein Rollbratenessen. Beates Vater hat gestern ein Schwein geschlachtet. Wir sind auf der Fete beide „zusammen“. Es sind ungefähr zwanzig Leute dort. Alle schwatzen sie in diesem gemütlichen Dialekt. Es gibt aber zig Abstufungen davon: vom für mich fast unverständlichen bis zum nahe an das Hochdeutsch heranreichenden. Anschließend nimmt mich Beate mit zu sich nach Hause, wo sie mir das Bett im Gästezimmer macht. Es riecht nach Äpfeln. Am nächsten Morgen bleibe ich nach dem Frühstück noch ein paar Stunden bei ihrer Familie und trinke mit ihnen zusammen Wein. Zurück auf dem Hof füttere ich erst einmal das Pferd mit einer irren Menge Hafer und Gerste, dann bringe ich es auf die Weise und arbeite noch eine Weile da und dort bis zum Kaffeetrinken. Maria hat vier Torten für den Sonntag gebacken. Nach dem abendlichen Füttern kommt Carlo mit einem Freund auf den Hof gefahren – mit ihren Mopeds. Sie wollen mich abholen – zum Weintrinken auf den Hof von Carlos Vater. Ich fahre wohl oder übel mit. Dort – wieder in der Küche – sitzen wir am Tisch, trinken den wirklich guten Wein, essen belegte Brote mit selbstgemachter Butter und selbstgemachter Wurst von dem frischgeschlachteten Schwein. Irgendwann kommt Beate und setzt sich zu uns. Die Drei erzählen sich bis weit nach Mitternacht Witze. Immer diese blöden Witze. Dann geht Beate ins Bett. Davor hatte sie sich die ganze Zeit mit den anderen beiden unterhalten oder sie irgendwie geärgert. Mich nur ab und zu aus den Augenwinkeln gemustert.

21. November

Morgens verschlafen, alleine gefrühstückt. Im Stall sagt der Bauer: „Jetzt habe ich schon zwei Knechte und wenn Arbeit da ist, ist keiner da.“ (Philip ist heute auch nicht gekommen.) Der Bauer sagt das ohne Bitterkeit, als Witz. Nach dem Frühstück fährt er nach Wittlich, Besorgungen machen. Ich spiele erst einmal eine Weile mit dem Pferd auf der Weide, dann mache ich mich allein an die Arbeit: mit Betonfarbe streichen, Silo abstechen, faule Silage wegfahren, den Weg, den die Kühe jeden Tag rein- und rausgehen, vom Schlamm freischaufeln. Ich bin guter Laune und die Arbeit geht gut los an diesem Tag. Als der Bauer gegen Mittag wiederkommt, freut er sich über das, was alles getan ist. Nach dem Mittagessen fahren wir beide nach Wittlich. Er muß einiges Werkzeug und Schrauben usw. einkaufen, er hat am Vormittag nicht dran gedacht. Außerdem will er mir die Stadt zeigen. Auf der Landstraße geraten wir in eine Polizeikontrolle. „Das ist bestimmt wegen der Terroristen“, sagt der Bauer und guckt mich komisch an. Aber der Polizist mit der roten Kelle winkt ihm, durchzufahren. Der Bauer und ich kaufen in einem Lager für Baubedarf ein. Werkzeug und Ähnlichen kaufen ist für mich immer ein Vergnügen. Zum Kaffee sind wir wieder auf dem Hof zurück. Als wenig später auch Carlo kommt, stapeln wir zu dritt Heu- und Strohballen vom Unterstand auf den Heuboden über den neuen Laufställen. Es macht Spaß, so zu dritt zu arbeiten – mit vielen Anpflaumereien und kurzen Gesprächen. Nach dem Abendessen muß der Bauer nach Bengel zum Bürgermeister. Ich will erst mit, um vielleicht Beate trotz zu treffen, verkneife es mir aber. Statt dessen gehe ich noch einmal kurz in die Dorfkneipe. Während ich noch in der Kneipe saß, kam der Bauer rein und wir haben zusammen was getrunken: dem habe ich einen ausgegeben und dem, und dem Leichenbestatter aus Kinderbeuren auch, und dabei viel Geld ausgegeben. Aber ich fühl mich gut.

22. November

Heute war wieder ein toller Tag. Vormittags füttern, Saubermachen, Fegen (ich fege so gerne), dann einen Spaziergang nach Bengel. Vorher habe ich Leinchen noch auf eine neue Weide gebracht – zu den Kühen. Eine riesige Weide mit Wald und sehr vielen Hügeln. Von dem höchsten konnte man bis auf die Moselberge sehen und dahinter irgendwo Frankreich vermuten. Das Pferd sprang rum, sprang vorne hoch, schlug hinten aus – in die Luft, lief sofort den höchsten Berg hoch, schaute lange in die Sonne, galoppierte wieder runter, den Kopf nach links und rechts zur Seite werfend. Die ganze Weide war nur mit einem Elektrodraht eingezäunt, der Draht an vielen Stellen zerrissen, außerdem sowieso ohne Weidegerät. Ich wollte ihn nicht anschließen, wollte das Pferd provozieren auszubrechen. Die Kühe brachen natürlich alle aus und gingen über einen Weg auf eine andere Weide. Leinchen blieb da. So wichtig waren ihr die Kühe nicht und so war sie näher am Haus. In Bengel ging ich in das Geschäft, in dem Beate arbeitete. Sie wollte gerade Mittagspause machen und ich fuhr mit ihr auf dem Moped nach Hause. Von dort ging ich dann zu Fuß zum Hof zurück. Hans hatte am Vormittag gepflügt. Ich hatte ihm noch geholfen, den Pflug an den Trecker anzubringen. Er war sehr genau, stellte den Pflug mit Wasserwaage und Meterband genau ein. Am Nachmittag fuhr er Kunstdünger aufs Land und ich grubberte mit dem großen Deutz das zuvor Gepflügte. Zuerst wollte er mich gar nicht an diese Arbeit ranlassen, dann erklärte er mir alles ganz genau und immer wieder, schaute mir dann eine ganze Weile mißtrauisch zu, als ich anfing. Ich hatte schon öfter gegrubbert, aber so wie ich es dann machte, war es ihm nicht ordentlich genug. Anschließend drillte er gleich den Winterweizen ein. Ich fuhr mit dem großen Trecker zurück zum Hof und holte die Kühe und das Pferd rein. Bei den Kühen half mir Rex, der Schäferhund. Er kennt seinen Job genau. Man braucht bloß auf eine Kuh zu zeigen, die sich von den anderen entfernt und schon saust er los und bringt sie wieder zu den anderen zurück. Der Knecht Philip wohnt ein Dorf weiter auf einem kleinen Hof zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester. Sie sind alle drei über Siebzig. Der Nachbar dort erzählte mir: „Die sind sehr nett, man kann alles von denen haben, wenn man mit ihnen redet und mit ihnen zusammen ißt, oder wenn man dies und das lobt und gut findet. Aber wehe, man bietet ihnen Geld an für irgendetwas, was man von ihnen bekommen hat, dann kriegt man nichts mehr.“ Das also ist ihr Schwachsinn, von dem alle reden.

23. November

Beim Abladen des Schalholzes auf dem Platz des Bauunternehmers wurde mir eine Flasche Ürziger Würzgarten (Federweiße) angeboten, die ich dann mit dem Bauern und dem Sohn des Chefs austrank. Das machte mich wieder betrunken. Der Bauer wollte mir die Mosel von oben, von den Moselbergen, zeigen und wir gingen zu Fuß den Berg hoch. Oben war ich wieder nüchtern, aber auch so fand ich den Ausblick sehr schön. Wenn es mich auch ein wenig störte, dass der Bauer neben mir so tat, als hätte er alles selbst gebaut: diese vielen Windungen des Flusses und die Berge zu beiden Seiten. Und dabei hat er noch nicht einmal davon gelernt: bei ihm ist alles gerade und eckig. Am liebsten hätte er Kühe in Würfelform. Zwar habe ich mit Weinbau hier nichts zu tun, aber mit jeder Flasche, die ich hier trinke, die man mir anbietet, lerne ich was über Weinbau dazu. Selbst die Vierzehnjährigen haben hier mehr Ahnung vom Weinbau als bei uns die „Weinkenner“. Die kleinen Bauern und Winzer, die nur Wein für ihren eigenen Verbrauch anbauen, die haben den besten Wein, sagt man hier. Oder „Müller-Thurgau“, der hat nie eine Weintraube gesehen, desgleichen „Kellergeister“. Heute Nachmittag werde ich wieder auf dem Feld ackern. Leinchen ist aus der Weide ausgebrochen. Als ich mit dem Ackern fertig war und den Berg runterkam, stand sie schon auf dem Hof und sah sich alles genau an. Als ich näherkam, kam sie mir entgegen und begrüßte mich freundlich. Ich nahm sie mit in die Scheune und in den Kuhstall und zeigte ihr alles, erklärte ihr alles, wiederholte noch einmal meine ganzen Kritikpunkte, die ich an diesem landwirtschaftlichen Betrieb, an kapitalistischer Landwirtschaft überhaupt, gesammelt hatte. Sie hörte zu, beschnupperte die Selbstfanggitter, unterhielt sich kurz mit den Rindern, wollte dann aber doch wieder rausgehen, ins Freie. Ich brachte sie in ihren Stall. Danach stapelte ich wieder Heu- und Strohballen um. Abends war ich dann todmüde. Dies vor allem deswegen, weil ich einen 50-Pfund-Sack mit Weizen-Saatgut den Berg hoch zum Bauern aufs Feld getragen hatte und weil die Heu- und Strohballen alle so verdammt schwer gewesen waren.

24. November

Beim Melken, besonders abends (morgens geht es immer hektisch zu, weil wir immer „zu spät“ aufstehen), sind Maria und der Bauer gerne alleine. Ich füttere dann die Kühe in der Zeit und die Rinder (und nicht zu vergessen: das Pferd). Die Mühle läuft, die Viecher kauen friedlich vor sich hin, die Melkanlage summt, Philip wurschtelt auch irgendwo noch vor sich hin. In solchen Momenten abends ist es dann doch wieder fast gemütlich. Maria und Hans gehen in aller Ruhe mit den Kühen um – keine Hektik, keine Rumschimpfereien. Und während die Anlage die Milch absaugt, stehen die beiden an der Wand und unterhalten sich, machen Witze über mich oder mit mir, umarmen sich und küssen sich manchmal auch sanft. Sie verstehen sich wirklich gut. Später stapeln wir wieder Strohballen um. Als ich eine Weile mal alleine arbeiten muß, setze ich mich still auf einen Balken und träume vor mich hin. (Heimlich sozusagen mache ich eine Pause.) In dem neuen Rinderlaufstall – in dem auch eine Hälfte der Kühe untergebracht ist, treten sich diese gegenseitig die Zitzen am Euter kaputt. Auf meinen Vorschlag, an der gegenüberliegenden Seite der Scheune für die elf Kühe Anbindeboxen zu bauen, geht der Bauer nicht ein. Er will statt dessen für tausend Mark Euterschutzbeutel kaufen und hofft, damit das Problem zu beseitigen. Von dem „Kampf“, in den er mit seinen Kühen verwickelt ist, will er nichts wissen, aber kämpfen tut er trotzdem. Wenn die Kühe sich am Euter verletzen, ist das eine sehr effektive Art des Kampfes, denn da können sie die Bauern wirklich kriegen. In der Kneipe sitzend und einen Kaffee trinkend. Plötzlich kam jemand reingestürmt und sagte wütend, irgendjemand aus dem Dorf hätte ihn und seine Putzkolonne wegen Schwarzarbeit angezeigt. Jetzt stehen sie an der Theke und gehen alle im Dorf durch, wer wohl dafür in Frage käme. So etwas zermürbt die Dorfgemeinschaft: wenn Einzelne sich mit denen da oben verbünden. Als ich auf den Hof zurückkomme, sind bereits zwei Schlachter da, die die beiden Schweine schlachten sollen. Es geht wie der Blitz. Sie arbeiten auch in Schwarzarbeit. Eines der beiden Schweine war ein Zwitter, dazu noch mit einem Hodenbruch und einer kaputten Leber. Armes Schwein. Zum Wurstmachen sollte man es nicht mehr verwenden, sagte der Fleischbeschauer und kassierte 25,50 DM. Morgen wollen wir den Frontlader wieder an den Deutz-Traktor anbauen, dann brauche ich nicht mehr jeden Tag die Silage mit der Schubkarre reinholen. Irgendwann in den nächsten Tagen muß ich Hans um Geld anhauen – ich habe nur noch drei Mark. Nach dem Abendessen noch eine Weile über die Kühe diskutiert, die sich auf dem Betonspaltenboden die Zitzen verletzen. Was soll man machen? Die Oma meint, es sind zu viele Kühe da und Anbindung auf Stroh ist am Besten. Ich gebe ihr recht. Sie hat wie dieselben Vorstellungen von einem landwirtschaftlichen Betrieb wie ich. Aber sie hat ja keine Ahnung, sagt ihr Sohn dann immer. Mir gibt er in dieser oder jener Sache schon eher Recht. Hans zeichnet mir auf, wie nächstes Jahr nach dem Anbau der Kuhstall für fünfzig Kühe in Boxenlaufställen aussehen soll. Die Oma hört davon zum ersten Mal und gerät völlig aus dem Häuschen: „Immer mehr vergrößern, immer mehr anbauen, immer noch mehr Kühe! Bist du denn verrückt!“ Sie meint – zu mir gewendet, denn bei ihm stößt sie auf taube Ohren, er lacht bloß über sie: „so wie früher war das alles besser. Heute pachtet er immer mehr Land dazu und nimmt den Kleinen alles weg und dann schuftet er noch fürs Finanzamt und für die Industrie. Und er soll bloß nicht noch mal stöhnen, es wäre zu viel zu tun.“ Ich bin begeistert über ihren Wutausbruch. Sie ist so klar im Kopf mit ihren siebzig oder achtzig Jahren. Müde, schon sehr müde, schleppe ich mich noch in die Kneipe. Selbst das Bier schmeckt mir nicht mehr vor lauter Müdigkeit. In der Kneipe saß die „Clique“ an einem Tisch, an der Theke hockten die ganzen 30Jährigen. Ich stelle verwundert fest, dass ich mit diesen gar nichts zu tun habe. Sie, die doch alle so zwischen 26 und 35 Jahre alt sind, sind so viel älter als ich. Sie sind fertig. Da halte ich mich doch lieber an die Jüngeren, die ja stellenweise auch schon vergreist sind, aber immerhin haben sie noch dieses Leuchten in den Augen, wenn es darum geht, „Scheiße zu bauen“.

25. November

Heute Morgen habe ich das Pferd wieder mit den Kühen auf die Weide geschickt. Diese Gesellschaft gefiel Leinchen eigentlich ganz gut – sie jagt gerne Kühe. Aber als ich dann kurze Zeit später noch einmal zur Weide ging, um nachzuschauen, ob alles in Ordnung ist (es ist nämlich schon vorgekommen, dass sie Kühe oder Rinder durch den Zaun gejagt hat), lief sie hinter mir her und war kurze Zeit später wieder ausgebrochen, und kam zum Hof zurück. Gegen Mittag brachte ich sie dann wieder in den Stall – mit einem schlechten Gewissen. Ich werde eine andere Weide für sie fertigmachen und das Weidegerät dort anschließen. Dann reinigte ich die Anbindeboxen der Kühe. Heute Morgen mit der Oma alleine gefrühstückt. Sie machte mich wieder froh, indem sie sagte: „Wenn ich über seine großen Pläne schimpfe, dann lacht er bloß immer. Wenn seine Frau doch bloß mal was sagen täte. Aber sie ist mit allem einverstanden, was er macht oder sagt. Es ist ja schön, wenn sie sich so gut verstehen. Aber so stehe ich immer ganz alleine da. Und auf mich hört er ja nicht.“ Die Oma ging dann brummig raus, um ihre Hühner zu füttern. Ich ging, um die Kühe zu füttern. Heute Abend will ich zusehen, dass ich etwas früher Schluß mache als sonst und dann in die Kneipe nach Bengel gehen. Den Tag über: Tränkebecken repariert, Anbindung für eine Kuh ausgewechselt, Scheunentor repariert, den Schweinestall ausgemistet, Frontlader angebaut, mitgeholfen, die Kälber mit einem Ätzstift zu enthornen. (Eine schreckliche Sache und so falsch: gerade an der Art und Weise wie die Hörner geformt sind und gebraucht werden, kann man erkennen – wenn man gewillt ist -, wie das Tier in seiner Welt steht. Hier achtet man nicht weiter darauf. Ja, man sieht zu, dass die Herde zu einer amorphen – unterworfenen – Gruppe verkommt.) In diesem Klassenkampf verbleiben den Kühen immer weniger Mittel und Möglichkeiten zum Zurückschlagen, genauer: zum Offenen sich Wehren. Es bleiben die subtilen Möglichkeiten: Krebs, Entzündung, Verletzung, Verstümmelung des Euters sowie Fehlgeburten, ausbleibende Bulligkeit. Auch mit der Enthornung wird also kein sozialer Friede geschaffen, es bleibt irgendwie alles wie es war. Alles bleibt in der Schwebe und kann jeden Augenblick umkippen – ein fragiler Friede. Warum also überhaupt enthornen? Ich fühle mich elend, gehe in die Kneipe, trinke einen mit Carlo, Heiner und einigen anderen. Fühle mich aber plötzlich fremd in der Kneipe. Dann stellt der Wirt den Fernseher an – die US-Serie „Der Magier“. Später fahren Carlo und ich besoffen auf seinem Traktor zum Hof seines Vaters. In der Küche liegt Beate auf der Couch und schaut sich „Der Magier“ an. Wir kochen uns erst einmal einen Kaffee. Anschließend gehe ich über die Weide, den Berg hoch. Oben zünde ich mir erst einmal eine Zigarette an. Es hat aufgehört zu regnen. Vollmond, eine herrliche Nacht.

26. November.

In der Futterküche werden in einem großen Bottich die Innereien des Schweines für die Würste gekocht. Alle gehen sie hin probieren. Ich muß auch mitessen: Wellfleisch, Herz, Lunge, Schnauze, Gehirn – dazu kleine Zwiebelscheiben. Alle sind begeistert über den guten Geschmack. Ich beiße immer nur ganz kleine Stückchen ab und laß den Rest dann wieder heimlich im Bottich verschwinden. Die Kühe haben heute ihre Euternetze verpaßt bekommen. Besonders die eine – Eva – hat verzweifelt versucht, sich dagegen zu wehren: Stehenbleiben, hinlegen, nicht weitergehen, weglaufen. Zum Schluß hat sie resigniert und aufgegeben. Vor Aufregung bekam sie Dünnschiß. Der Bauer bekommt vom Kulturamt einen Zuschuß zur Einzäunung einer größeren Weide – aus dem „Fond zur Förderung von rationellen Wirtschaftseinheiten“. Ein herrlicher Name. Aber manchmal ist die Situation wirklich haarig hier: so muß er z.B. für ein zehn Hektar großes Ackerstück an 32 Leute Pacht bezahlen. Was diesen Zuschuß für die Einzäunung betrifft, so darf er nicht irgendwie die Weide einzäunen, sondern muß imprägnierte Fichtenpfähle verwenden, und die darf er nicht einfach selber machen, er muß sie gegen Rechnung kaufen. Dazu müssen sie eine bestimmte Länge haben, sonst wird der Antrag nicht bewilligt. Und natürlich macht er mit dem Tischler, der nebenbei noch für alle Leute in der Gegend diese Pfähle herstellt, gemeinsame Sache und bescheißt so wenigstens das Kulturamt ein bißchen. Der Bauer hat als erster hier in der Gegend ein Silo gehabt, als erster jetzt den Betonspaltenboden, er hat eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert (nur solche Bauern können überhaupt bei der Landwirtschaftskammer einen Antrag stellen, der auch Aussicht hat, genehmigt zu werden). Daneben sitzt der Bauer noch im Gemeinderat und ist Feuerwehrhauptmann. (Gerade baut er im Dorf neben der Kirche ein neues Spritzenhaus – an den schon fertigen Rohbau hat er ein großes Schild angebracht mit der Aufschrift: „Klugscheißer werden nicht mehr gebraucht, nur noch Leute, die mitarbeiten“.) Er ist wer, abgesehen davon, dass er hier sowieso der größte Bauer in der Umgebung ist. Man sieht das schon, wenn er die Straße im Dorf entlanggeht – am Gang und daran, wie ihn die Leute grüßen. Und wenn ich mit ihm zusammen gehe, seine Kommentare über diesen oder jenen Nachbarn: „Der kommt auch nie auf einen grünen Zweig“, „Wie kann man sich nur so einen großen Mähdrescher kaufen, wenn man so gut wie gar kein Ackerland hat“, „Das ist kein landwirtschaftlicher Betrieb, das ist ein Schrottplatz“, „Mit dem hatte ich auch immer Ärger. Bis ich ihm mal gezeigt habe, was …“. Nur mit dem einen großen Bauern, mit dem zusammen er sich einen Zuchtbullen hält, verbindet ihn so etwas wie Freundschaft. Aber auch bei dem ist er auf der Hut, denn auf dem Hof hat noch immer der 70jährige Vater das Sagen und „das ist ein ganz ausgebuffter Hund“. Auch in der Dorfkneipe geht eine große Sicherheit von ihm aus. Und trotzdem ist er eigentlich so unsicher und hilflos und zwängt sich von einer ad-hoc-Entscheidung in die andere – selbst in seinem eigenen Stall, in dem er doch wirklich „sein eigener Herr“ ist. Aber es ist ja eigentlich nicht sein eigener Stall. Die Industrie hat ihn da hingestellt und er muß zusehen, wie er damit zurecht kommt. Dazu noch mit der belastenden Behauptung, dass es genau das richtige sei, dieser Stall.

Heute nachmittag haben wir die restlichen zwanzig Rinder von der Weide geholt und in die neuen Ställe getrieben. Das Treiben war schon eine Schwierigkeit, weil einige immer ausrissen und auch der Schäferhund sie nicht wieder zurücktreiben konnte und dann in der Scheune das Durcheinander, weil wir sie in den neuen Ställen jeweils nach Alter und Größe trennen wollten. Es dauerte Stunden. Was mir gefiel war, dass Hans und Maria dabei nicht die Geduld verloren (Maria nur einige Male, Hans schimpfte dann mit ihr). Aber auch so war es chaotisch genug und als wir endlich alle drin hatten, war die ganze Scheune vollgeschissen. Und dann kannten die Rinder die Selbstfanggitter natürlich nicht und wenn sie sich darin eingefangen hatten, dann rissen und zogen sie derart, dass sie sich fast das Genick darin brachen. Außerdem stießen die neben ihnen stehenden Rinder sie dann immer noch kräftig in die Rippen. Einige Male legte sich ein in dem Gitter eingefangenes Rind auch noch hin und wir mußten es mit mehreren Leuten wieder befreien, weil es sonst erstickt wäre. Hans gab nicht eher auf, als bis alle Tiere mit ihrem Kopf im Selbstfanggitter steckten und fraßen. Einige besonders gewitzte Tiere weigerten sich, dem Ding zu nahe zu kommen und wir mußten sie buchstäblich reinprügeln. Ich hatte gedacht, wir würden um 17 Uhr mit der ganzen Sache fertig werden, dann wollte ich nach dem Kaffee mit dem Zug nach Alf in die Diskothek fahren. Aber der ganze Spaß (einschließlich füttern und saubermachen) dauerte bis weit nach Mitternacht. Danach trank ich gerade noch einen Kaffee in der Küche und jetzt sitze ich wieder in meinem Zimmer – mit dem von Maria gemachten Bett im Rücken und dem von ihr geleerten Aschenbecher neben mir. Hans war sehr zufrieden mit mir vorhin im Stall. Die meisten Leute, die ihm auf dem Hof helfen, sind mit den Tieren immer viel zu hektisch – auch Philip. Sie verlieren schnell die Geduld, haben keine Ahnung von den möglichen Reaktionen der Tiere und lassen sich nichts anderes einfallen als prügeln. Die Knechte sind sowieso bekannt für ihre Brutalität im Umgang mit den Tieren. Ich kenne auch nur solche brutalen Typen. Entweder ist es deswegen, weil sie sich so wenig Arbeit wie möglich machen wollen, oder weil es nicht ihr eigenes Vieh ist, oder weil sie nach oben ducken müssen und deswegen nach unten treten. Auf den ostelbischen Höfen hat man deswegen den Knechten die Kühe gar nicht anvertraut. Da gab es den „Schweizer“ und der hatte seine Lehrlinge. Und der Schweizer arbeitete mit den Kühen selbständig, d.h. auf Gewinnbasis und einige Kühe aus der Herde gehörten ihm sowieso ganz alleine. So war jedenfalls gesichert, dass die Kühe anständig behandelt wurden und die Zucht sich langsam verbesserte. Von Lohnarbeitern ist so etwas anscheinend nicht zu erwarten. Hans wartet ab, sieht zu, was das Tier vor hat und geht mit den Kühen fast liebevoll um. Einige mag er allerdings nicht, auf die drischt er dann auch mit dem Stock ein. Und bei einigen anderen ist er einfach fest der Meinung, dass sie den gesamten Ablauf genau kennen müßten, genauso wie er und wenn sie dann irgendwie aus der Reihe tanzen, kriegen sie welche auf den Rücken. Einige Kühe hält er für intelligent, einige für dumm – und die mag er dann nicht, weil sie die Arbeit verkomplizieren. Und ich glaube, obwohl ich die Kühe nicht melke, kenne ich sie jetzt schon langsam alle, dass er damit nicht ganz Unrecht hat. Zwischendurch heute habe ich den Schlachtern beim Wurstmachen geholfen – den Fleischwolf drehen. Das Hackepeter schmeckte wirklich gut, die Leberwurst auch. Obwohl ich nicht so richtig auf den Geschmack gekommen bin bei diesen riesigen Mengen, die vor meiner Nase lagen und bei diesem Geruch in dem ganzen Raum, in dem die Schlachter arbeiteten. Der eine von ihnen, der ältere, erklärte mir alles ganz genau. Er hat auch sofort geschnallt, worauf es mir ankam, er sagte: „Paß genau auf. Damit du weißt, wie das geht. Damit du das auch noch kennenlernst. Was man Selbermachen kann, soll man auch machen. Und Schlachten und Wurstmachen gehört einfach dazu.“ Den ganzen Tag habe ich nach einer Gelegenheit gesucht, den Bauer um Geld anzuhauen (Vorschuß, Lohn, oder was auch immer). Ich habe sogar gedacht, es unbedingt heute tun zu müssen, morgen, wenn sich vielleicht eines der Rinder in diesen bescheuerten Selbstfanggittern erdrosselt hat, ist er bestimmt nicht gerade großzügig gestimmt. Abgemacht hatte ich mit ihm: Kost und Logis für Leinchen und mich frei, dafür arbeite ich umsonst auf dem Hof mit. Wenn er dann in Lohnarbeit in den Wald geht zum Holzrücken (er hat auf seinem großen Deutz-Traktor eine schwere Seilwinde zum Holzrücken), bekomme ich den vollen Anteil, den ein Helfer für diese Arbeit vom Forstamt bezahlt bekommt. Aber noch sind wir kein einziges Mal im Wald gewesen, weil wegen des Umbaus immer noch so viel auf dem Hof zu tun war. Er könnte deswegen jetzt sagen: mir steht nichts zu. Aber er würde es, glaube ich, nicht sagen. Er ist allgemein im Dorf hier als jemand bekannt, der seinen Mitarbeitern einen guten Lohn zahlt, deswegen arbeiten auch alle gern bei ihm. Trotzdem meinte ich, einen guten Moment abpassen zu müssen. Und dann verpaßte ich ihn vor lauter Arbeit heute doch.

27. November.

Zu früh aufgewacht, wieder eingeschlafen, verschlafen. Sonntags ist immer Hetze beim Melken und für Füttern, weil sie alle in die Kirche gehen wollen und der Bauer hernach zum Frühschoppen in die Kneipe. Gut, dass wir gestern die letzten Rinder von der Weide geholt haben. Heute Nacht hat es Stein und Bein gefroren und alles ist zugeschneit. Maria hat einen Teil meiner Wäsche gewaschen. Die Jeans hat sie hernach sogar gebügelt. Jetzt mit Bügelfalte mag ich sie kaum anziehen. Die Hose sieht schrecklich aus. Und dabei war es so nett gemeint von ihr. Oder meint sie vielleicht, dass es auf sie zurückfällt, wenn ich schlampig im Dorf herumlaufe – ihr Knecht? Maria und die Oma sieze ich immer noch. Maria redet mich mal so mal so an. Carlo erzählte mir neulich: im Stall hätte er mitbekommen, wie Hans seine Frau fragte: „Was, du siezt den immer noch?“ Worauf sie entgegnete: „Dann muß er mich erst einmal duzen“. Nach dem Mittagessen bringt mich der Bauer nach Kröv – den Ort, in dem die Oma groß geworden ist. Wir müssen über die Moselberge. Auf dem Weg dahin nimmt der Bauer drei junge Anhalterinnen mit. Sie kennen ihn: „Du bist doch der mit dem gelben Mähdrescher …“ Er freut sich, sagt: „Nein, den hatte ich mal. Jetzt habe ich einen grünen.“ Die Oma hat mir erzählt, früher hatte jeder in Kröv noch einige Kühe und die Weiden hatten sie auf der anderen Seite der Moselberge. Das Heu haben sie damals immer mit Ochsenkarren durch den Wald über den Berg gefahren. Und nebenbei hat jeder noch einen kleinen Weinberg gehabt. Jetzt ist Kröv ein reicher Ort geworden, wegen der vielen Touristen im Sommer und weil der Wein „Kröver Nacktarsch“ so berühmt ist. Die Straße führt in Serpentinen durch die Weinberge. Der Bauer setzt mich mitten im Dorf ab. Zuerst gehe ich an die Mosel. Es ist neblig heute. Ich setze mich an das Ufer. Schlechtes Gewissen wegen Leinchen. Sie war heute nur eine halbe Stunde draußen. Ich hatte sie wieder reingeholt von der Weide, weil ich in Kröv in die Diskothek gehen wollte und es vielleicht sehr spät werden würde. Das bedrückt mich jetzt, am Ufer der trüben Mosel sitzend an einem trüben Sonntag und gegenüber auf der anderen Flußseite die kahlen Weinberge und eine halbverfallene Burg. Ein Café suchen. Dort lese ich bei Kaffe und Kuchen die Zeitung. Danach schlendere ich durch die kleinen alten Gassen. Ich komme an einer Diskothek vorbei. Sie ist schon geöffnet. Am frühen Nachmittag. Ich gehe hinein – in eine andere Welt: Flashlight, Disco-Sound, ein Schwarzer als Rausschmeißer. Es sind überwiegend Teenager hier und einige wenige Schwarze – GIs. Zwei junge Typen setzen sich zu mir an den Tisch. Wir kommen ins Gespräch. In der Hauptsache reden die beiden, sie sind nervös wie junge Hunde. Sie kommen auch nicht von hier, sind hier wegen der Disko. Sind hier hergetrampt. Sie sind beide Heimkinder, jetzt Lehrlinge und wohnen in einem Lehrlingsheim. Hier in dieser Gymnasiasten-Scene in der Disko werden sie es schwer haben, jemanden kennenzulernen, obwohl sie sich äußerlich denen angepaßt haben. Nachdem sie die zehnte Cola ausgetrunken haben, verabschieden sich die beiden von mir – kumpelhaft, weil sie in mir einen Verbündeten, einen aus derselben Klasse, gefunden haben: auch so ein armes Schwein, weil ich Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft bin, weil ich kein eigenes Auto habe, keine Uhr am Handgelenk, keine Stereo-Anlage (wie sie rausgekriegt haben) und weil ich eine zerrissene Lederjacke trage. Ich gehe zu Fuß die elf Kilometer bis nach Kinderbeuren. Es ist bitterkalt und natürlich hält kein Wagen. Auf der Hälfte der Strecke – oben auf dem Berg – fange ich an zu laufen, querfeldein. Es ist herrlich. Wie ein Rausch. Unten im Dorf angekommen, schwitze ich. Unten angekommen, kommt der Mond hinter der Wolkendecke hervor.

28. November

Das Pferd auf die Weide gebracht, ein wenig mit ihm gespielt. Aber dann musste ich in den Stall, füttern. Ich war eh schon zu spät dran. Jeden Tag zerreißen ein paar Kühe ihr Euterschutznetz. Ich hoffe, es geschieht mit Absicht. Im Gegensatz zum Hinlegen, Nicht-Weiter-Gehen, usw. sind derlei Widerstandsformen zu subtil, um bestraft werden zu können. Man kann nur zähneknirschend ein neues kaufen.

29. November

Nachts ging ich noch einmal nach unten auf den Hof, schaute kurz in den Stall – das Pferd, das schon geschlafen hatte, sprang sofort auf und begrüßte mich, ich gab ihr etwas zu fressen und ging dann den Berg hinterm Haus hoch. Es war eine sternenklare Nacht. Ich starrte in den Himmel.

30. November

Strahlende Sonnen, überall Rauhreif und kalt ist es. Ich trage zum ersten Mal in diesem Winter meinen Fellmantel und meine Pelzhandschuhe. Leinchen spring ausgelassen auf der Weide rum. Ich hatte heute Morgen meinen Kompaß rausgeholt, um genau zu sehen, wo Süden ist. Meine euphorische Stimmung hält nicht lange an. Der Bauer holt mich beim Frühstück wieder runter. Unvermittelt sagt er – beim Zeitunglesen: „Diese Studenten, die demonstrieren, die müßte man alle an die Wand stellen und eine Reihe nach der anderen abknallen.“ Er will mich provozieren. Aber ich schaue aus dem Fenster über die Moselberge in Richtung Süden. Bald geht es wieder dem Sommer entgegen. Der Bauer und ich fahren heute auf die Moselberge. Dort auf einem Acker von ihm, liegen einige hundert Zentner Kalk, die ausgestreut werden müssen. Wir fahren mit zwei Treckern hin. „Zieh dich bloß warm an. Meine Frau hat dir noch eine zweite Hose oben hingelegt“, sagt der Bauer. Und fügt hinzu: „Ich will dich hier nicht vier Wochen krank liegen haben.“ „Sehr rücksichtsvoll“, erwidere ich. „Mit Rücksicht kommt man nicht weiter.“ Während der zehn Kilometer langen Fahrt singe ich: Übers schneebedeckte Feld. Der Bauer ist mit dem Kabinentrecker gefahren, der schneller als der alte Deutz ist, den er mir gegeben hat. Aber ich mag diesen Trecker, der offen ist, trotzdem gerne. Es ist der gleiche, den ich bei Dirk immer gefahren habe. Oben auf dem Berg schon überhole ich einen Bauern, der mit Pferd und Wagen unterwegs ist. Hinten auf dem Wagen sitzt sein Knecht. Er sieht häßlicher aus als der Klöckner von Notre-Dame. Seltsamerweise haben hier viele Leute in der Gegend einen Buckel. Auf dem Acker auf den Moselbergen hatte man einen phantastischen Ausblick – zur einen Seite auf die Eifel, zur anderen über den Hunsrück. Mit der Zeit werde ich immer gieriger nach Ausblicken von Berghöhen.

1. Dezember

In der Bauernzeitung die Rubrik „Zur Feder gegriffen“: Vor einigen Wochen schrieb eine Ehefrau, sie hätten eine Party gehabt, eine junge Frau hätte ihr Baby mitgebracht, das im Nebenraum schlief, dann sei es aufgewacht und die junge Frau hätte es gestillt, mitten zwischen den anderen Leuten. Viele hätten daraufhin empört die Party verlassen, andere hätten sich darüber gestritten – ist es schicklich, sein Kind vor den Augen anderer Leute zu stillen? Darüber streiten sie sich jetzt schon seit mehreren Wochen in dieser Rubrik. Ein anderes Stichwort: „Ich hetze von Adventsfeier zu Adventsfeier“. Auch darüber gibt es einen lebhaften Streit unter den Leuten, die der Zeitung Briefe schreiben. Manchmal steht aber auch was ganz Spannendes drin: da schreibt z.B. eine alte Bauersfrau: „Früher hatten wir oft nicht genug Holz zum Heizen den Winter über und haben oft gefroren. Heute haben wir Zentralheizung in jedem Zimmer und Warmwasserboiler und das ganze Haus ist gut isoliert und ich habe eine moderne Küche. Aber heute friere ich viel mehr als früher. Es ist viel kälter im Haus geworden. Die Atmosphäre zwischen uns im Haus ist so kalt geworden.“ Ein wunderschöner Brief. Nur, auf dieses Stichwort (vielleicht: „Energiekrise“) geht kein Schreiber ein, niemand antwortet der alten Frau. Heute haben wir wieder den ganzen Tag auf dem Reiler Berg Kalk gefahren. Wir hatten Essen mit und uns ein großes Lagerfeuer gemacht. Die Pausen zwischendurch wurden sehr schön: Kaffee und heißer Wein aus Thermosflaschen, belegte Brote, am Feuer sitzen, Zigarette rauchen. Zwei Männer im Schnee. Meine Aufgabe während der Arbeit war es, mit dem Frontlader den Düngestreuer zu füllen, dann fuhr der Bauer mit dem vollen Düngestreuer aufs Feld – verschwand auf dem riesigen Feld im Nebel meinen Blicken und ich schaufelte den auseinandergerissenen Haufen Kalk in der Zwischenzeit wieder zusammen. Am Feldrand lagen noch große Haufen Stroh, die nicht gepreßt worden waren und die ich anstecken sollte, aber das Zeug brannte nicht mehr gut. Es war zu feucht, voller Rauhreif und dann hatten die Wildschweine auf der Suche nach übrig gebliebenen Körnern auch noch darin rumgewühlt. Als ich Abends zurück auf den Hof kam – todmüde, zerschlagen und ein dickes Auge, weil mir Kalk reingeflogen war, fand ich mehrere Briefe auf meinem Schreibtisch.

2. Dezember

Schweinestall ausmisten, das ist wirklich „in der Landwirtschaft sein“. Aber diese ganzen mistlosen Ställe hier. Bei Dirk oder auch bei Tichy in Gebhardshain habe ich gerne im Mist gestanden und ausgemistet. Hier ist der Mist nur Abfall – lästiger Abfall. Und ich komme mir vor, als stünde ich im Abfall. So schnell geht das. Den Tag heute habe ich vertrödelt. Ich sollte auf einer entfernten Weide den Elektrodraht einrollen – ein paar tausend Meter. Als ich dort war, hatte ich schon nach kurzer Zeit keine Lust mehr … und verpißte mich einfach, ging nach Bengel runter, kaufte mir den „Stern“ und setzte mich in ein Café. Als ich wieder auf den Hof zurückkam, war gerade eine Kuh am Kalben. Aber es dauerte und dauerte. Die Fruchtblase hing schon raus. Als wir die anderen Kühe zum Melken reintrieben, sprang eine Kuh, die bullig war, der gerade kalbenden auf den Rücken. Die aber ließ sich weder von ihrem Geburtsvorgang noch von der bulligen Kuh auf ihrem Rücken beeindrucken, fraß ruhig weiter, versuchte ab und zu den Hund zu stoßen, wenn er ihr zu nahe kam. In dem Moment lief mir der Schweiß die Stirn runter. Später gebar sie Zwillinge – beides Bullen. Noch später brachte der Postbote einen Brief von Dirk für mich: „Es ist nicht grundlos, weshalb ich dir schreibe. Ich komme mit dem Bauen nicht voran. Mein Vorschlag deswegen: Gesetzt den Fall, du hättest noch Luft, mir zu helfen (nicht umsonst) und wieder bei uns zu wohnen wie im Sommer. Dann würde ich Dich dort abholen mit dem Pferd wo du bist. Den Winter über würdest du bleiben, sagen wir bis Mitte April. Danach würde ich Dich dort wieder hinbringen und Du würdest dann die Wanderschaft fortsetzen.“ Usw. Ich war so verdattert, dass ich erst einmal den Brief noch mal von vorne las, drehte und wendete und dann einen Spaziergang durch den „Kondelwald“ machte. Auf einem Waldweg kam mir ein Typ entgegen. Als er näher kam, sah ich, er trug Jeans, eine schmuddelige Jacke und hatte lange schwarze Haare. Hier in dieser Gegend hatte so gut wie niemand lange Haare. Als er näher kam, lächelten wir uns wie zu einer flüchtigen Begrüßungsformel zu. Dann blieb er stehen und murmelte irgendetwas, was ich nicht verstand und zeigte mire dann eine kleine Blechschachtel, die er öffnete. Darin lag ein noch lebender Salamander. Er sagte mir, er wolle ihn seiner Freundin zeigen und ihn danach wieder freilassen. Dann lächelte er mich wieder an, verabschiedete sich und wir gingen beide weiter. Das war alles und ich setzte meine Überlegungen weiter fort. Ich werde wohl Dirks Angebot annehmen. Aber was werde ich in Wienbergen arbeiten? Ausgerechnet einen neuen großen Mastschweinestall wollen wir bauen. Ein scheußliches modernes Ding. Noch schlimmer als der neue Laufstall bei Hans. Werde ich das durchhalten, ohne mich mit Dirk zu zerstreiten? Es sind ja nur vier Monate. Aber wieder der Ärger mit Dirks Schwiegervater – mit dem Boß, weil der mich für diese oder jene Kleinigkeit, die man leicht alleine erledigen kann, einspannt.. Und jeden Morgen müde und jede Nacht mit Doris unterwegs. Sonntag werde ich Dirk schreiben. Ich werde ihm schreiben, dass er mich am Donnerstag abholen soll. Dann kann ich für mich und Leinchen noch alles regeln und am Montag fange ich dann bei Dirk wieder an zu arbeiten. Als ich von dem Spaziergang zurückkomme, sitzt Maria mit einigen Frauen aus der Nachbarschaft bei Kaffee und Kuchen und sie begrüßen mich – höflich, freundlich, distanziert. Nur Maria lächelt ein wenig schelmisch. Ein nettes Lächeln. Bei solchen Treffen redet man auch über die Männer, quatscht sich aus und wenn einer von dieses Spezies dann zufällig mal dazu kommt, wird er gleich angefrotzelt. Mich machen die Frauen nicht an. Wenn Edith in Wienbergen sich mit den anderen Frauen getroffen hat – und das war mindestens ein-, zweimal die Woche der Fall, dann haben sie mich nicht aus ihrer bissigen Kritik ausgespart. Ich gehörte irgendwie dazu, zu den Männern, die so oft es geht in der Kneipe sitzen und über die Frauen herziehen. In Wienbergen haben die Frauen mehr als hier zusammengearbeitet. Sei es beim Rübenhacken, in bezug auf Kindergarten, Schule oder Ähnliches, oder beim Schlachten des Geflügels. Da kamen dann immer mehrere Frauen zu der einen und halfen der beim Schlachten und Ausnehmen und dann trafen sie sich am nächsten Tag bei der anderen, usw.. Und obwohl wir, die Männer, damit nichts zu tun hatten, fand ich es immer ganz lustig, wie sie so alle in einem Haufen Blut und Federn standen und sich dabei unterhielten und Witze machten und dabei ab und zu einen tranken. Die Männer arbeiten eigentlich nie so eng zusammen. Wurschteln mehr alleine vor sich hin – eingeschlossen zumeist in der Treckerkabine und als kleiner Punkt sichtbar übers Feld fahrend. Die Frauen haben eigentlich immer mehr mit denen zu tun, denen ihre Zuneigung gilt (Ehemann, Kinder, Nachbarsfrauen, etc.), die Männer mit denen, die, wenn sie nicht aufpassen, sie übers Ohr hauen können (Händler, Müller, etc.). Wenn ein Tippelbruder sich Wienbergen nähert, dann schmieren die alten Frauen Brote, die jungen hängen die Wäsche ab und die Männer rufen die Polizei. Seltsam übrigens, dass ich an den Wegrändern so viele Pornos gefunden habe und in den Wäldern so viele Frauenschuhe – auffallend viele Frauenschuhe. Was man so alles sieht, wenn man zu Fuß geht. Der Bauer arbeitet noch im Stall, ich gehe zu ihm hin und zeige ihm Dirks Brief. Er meint, ich soll mich doch von Dirk abholen lassen und dann soll er mich im Frühjahr gleich mit dem Auto nach Frankreich bringen.

3. Dezember

Beim Kartoffeln aussortieren hatte ich wieder meine Schwierigkeiten, die ich bei jeder Routine-Arbeit habe: ich bringe alles durcheinander – die kleinen und faulen Kartoffeln in die Säcke, die großen für die Schweine. Vor einigen Jahren habe ich mal in einer Sackfabrik gearbeitet: die Zuckersäcke wenden, reinigen und dann neun Säcke in einen stecken und zubinden. Nachdem ich dort schon aufgehört hatte, fand man durch Zufall heraus, dass ich meiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen war: mal hatte ich sieben oder acht in einen Sack getan, mal zehn, elf oder zwölf. Nie neun. Ich habe es einfach nicht geschafft. Und dabei hatte ich mich wirklich angestrengt. Nach dem Kartoffel-Aussortieren habe ich noch ein wenig Grassilage freigelegt für den Abend und bin dann ins Dorf gegangen – nur mal eben schnell einen Kaffee trinken und einige Platten hören. Der Wirt und sein Bruder erzählen mir Nichtssagendes. Sie sind beide einäugig und haben beide ein Glasauge. Ich weiß nie, wie ich sie anschauen soll. Dann kommen einige Gäste. Einer von ihnen hatte gestern Polterabend. Er gibt jede Menge Bier und Korn aus. Zurück auf dem Hof stolper ich besoffen die Treppen zu meinem Zimmer hoch. Oben liegt ein Brief für mich – von meinem Vater und Frauke: alles in großen Buchstaben geschrieben, mit fünf verschiedenfarbigen Filzstiften dahingerotzt, ein toller Brief: „Mein lieber Junge! Ich hoffe, dass jetzt, da du unseren Brief in den Händen hältst, das Kälbchen endlich das Licht der Welt erblickt hat. Meinetwegen könnten alle naselang Kälber des Bauern Hermann das Licht der Welt erblicken, bekämen wir doch auf diese Art Post von dir, von meinem großen Bengel, schweigsam sonst, so aber ausschüttend wie ein Monsunregen. Dieser Satz sollte nichts anderes ausdrücken, als dass wir uns sehr gefreut haben über deinen Brief, dass du noch gesund bist und das Pferd natürlich auch, und dass du wieder ein Dach über dem Kopf hast. Halt den Kopf hoch, trotz gelegentlicher Zahnschmerzen, argwöhnischer Gendarmen und mißtrauischer Bevölkerung und schiefen Nacken. Deine gesunden Abwehrmechanismen, die mir so gut bekannt sind, wirst du mit tiefem Schlaf (bis Mittag) wieder erlangen. Und dann wirst du bald auch wieder Geld haben. Deine Schuhe werden besohlt sein. Der Hufschmied ebenso wie der Bremer Zahnarzt, der auf seine Klötzchen wartet. Alles ist okay. Mittlerweile wird Mutter Hermann mit dem Essen auf dich warten. Hau rein, meine Junge. Wenn du nicht viel Geld bekommst, so hau wenigstens rein in die Frikadellen. Wir sind in Gedanken dabei, mit unserem Renterfrühstück. Dieses Frühstück, man könnte ebenso gut ohne Übertreibung auch Spätstück dazu sagen, weil es immer elf, zwölf Uhr wird, es macht uns fit für die harte Arbeit am Eisen. Bei dem Fritz sind wir immer noch am Machen, schweißen, schmieden und kloppen. Das Werk ist aber bald fertig. Der Schmied in Magelsen hätte nie im Leben so schief und krumm arbeiten können wie wir. Und er schlug den Amboß in den Grund. Und ich hätte das nie bezahlen können, Sieben Sauerstofflaschen, du kennst diese großen Jonnies aus Eisen, und fünf Azetylenflaschen haben wir inzwischen geleert, noch einige kommen hinzu … Es ist ein ganz lustiges Flaschenleeren. Das Ergebnis dieser ganzen Bemühungen ziert dann zentnerschwer die eicherne Eingangstür. Tür – sagte ich Tür? – es ist ein Portal, mindestens. Ich freue mich immer wieder, wenn du „machst“. Bei Dirk, bei den Bauern. Je mehr du machst, desto näher kommst du den Tieren, die so sind wie sie sind und ohne Ideenzwang. Aber ich glaube, dass es schon nicht mehr so früh ist, oder dass es schon wieder früh wird. Frauke schläft ruhig und tief und die beiden Hunde schnarchen. Ich möchte jetzt erst einmal den Brief beenden. Wünsche dir ‚Gute Nacht‘ und halte die Ohren steift; genauso wie das Pferd es macht.“ Jetzt sitze ich schon wieder bei einer Tasse Tee am Schreibtisch. Eigentlich wollte ich in die Disko, aber zu müde. Dabei habe ich heute so gut wie nichts geschafft. Eben schaue ich bei der Oma rein, um ihr zu sagen, dass ich noch einmal kurz fortgehe. Sie backt gerade Kuchen und nebenbei strickt sie Kleider für ihre Enkel – die Zwillinge. Sowas von emsig und fleißig. Und was sie sonst noch alles macht: Brot backen, einen Adventskranz flechten, ihre Hühner versorgen, kochen, Wurst machen, Einkochen, den Sohn ausschimpfen, wenn er mit seinen Investitionsplänen größenwahnsinnig wird, im Gemüsegarten arbeiten, ab und zu die Schweine versorgen, uns mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen unterhalten und belehren, die in alle Winde zerstreute Familie zusammenhalten … In der Kneipe hole ich mir nur kurz Zigaretten und geh dann wieder. Dort wieder die übliche Zecheratmosphäre. Der Bräutigam ist auch wieder da, diesmal mit seiner Braut. Die beiden zeigen Hochzeitsfotos herum. Er in schwarzem Anzug, sie in weißem Kleid. Beide lächeln und halten großen Blumensträuße in den Händen.

4. Dezember. Sonntag

Strahlend blauer Himmel, kalt und sonntäglich. Den ganzen Vormittag habe ich alleine im Stall gearbeitet. Die anderen waren in der Kirche – im Kloster bei Bengel. Ich hatte mir das Radio aus meinem Zimmer runtergeholt und habe dann die Rinder bei der Musik von irgendwelchen Klavierkonzerten gefüttert. In der nächsten Woche soll eines der Rinder geschlachtet werden. Schlachten. Eine seltsame Tätigkeit, eine merkwürdige Kunst. Im Ostblock, in China – wo doch Frauen in allen Berufen mittlerweile arbeiten, gibt es keine weiblichen Schlachter. Ich meine jene Leute, die dem Tier das Bolzenschußgerät auf die Stirn drücken. Das erste, was mein Vater mir erwiderte, als ich ihm sagte, ich wolle aufs Land ziehen und dort in der Landwirtschaft arbeiten, war: Tierzucht und Tierhaltung, das ist ja ganz schön, aber irgendwann müssen die Tiere ja auch mal geschlachtet werden. Das kannst du doch gar nicht. Du kannst doch noch nicht einmal Blut sehen … usw. Er verachtet sogar Leute, die „ein Tier umbringen können“. In den Landkommunenen ist das „Schlachten“ eines der beliebtesten Themen. Es wird regelmäßig wieder eingebracht. Und fast immer von den Männern. Die Frauen handhaben das Problem lockerer: erst einmal müssen die Kälber, Lämmer, Ferkel, etc. geboren werden, dann wird man immer noch überlegen können. Dann sind die Tiere geboren und die Männer drängen wieder darauf, das Problem zu diskutieren und dann kommt man wieder aufs „Fleisch essen“ und ob überhaupt und die Männer behaupten, ihnen würde es nichts ausmachen, so ein Tier zu schlachten, „das gehört einfach dazu“, etc.. Und die Frauen sagen dann: jetzt sind die Jungen erst einmal noch bei der Mutter, und da müssen sie noch eine ganze Weile bleiben und dann wird man weitersehen, wenn es soweit ist. Und wenn es dann soweit ist, geht die Diskussion wieder los. Und meistens holt man dann einfach den Hausschlachter und dann kommt der Fleischprüfer und die größten Stücke werden erst einmal ins Kühlhaus gebracht… Kurz vor Mittag kamen alle von der Kirche zurück. Der Bauer war noch in der Kneipe hängengeblieben. Vor knapp drei Wochen hatte ich mir eigentlich vorgenommen, heute loszugehen, weiterzugehen. Bei so einem tollen Wetter auch noch. Aber daraus wird jetzt nichts mehr. Heute – am Tag des Herrn – arbeiten nur die Frauen. „Heute arbeitet niemand“, sagen die Männer. Das Fell von Leinchen schimmert jetzt samtrot wie der Herbstwald in der Sonne. Alle Leute, die auf ihrem Sonntagsspaziergang an der Weide vorbeikommen, freuen sich über ihren Anblick. Nach dem Füttern fuhr mich der Bauer nach Wittlich. Beim Aussteigen drückte er mir noch dreißig Mark in die Hand. Ein sauberes, reiches, kleines Städtchen, das sich außerhalb einige trostlose Arbeiterwohnsiedlungen und einige Fabriken hingestellt hat und sich deswegen im Innern einigen Luxus leisten kann: teure Geschäfte, alte renovierte, aufpolierte Fachwerkhäuser, viele Bars und Disko-Clubs mit gediegenem Intérieur. Weil die Leute hier alle nicht tanzen können, hat man in den Diskotheken gleich auf die Tanzflächen verzichtet. In der einen bleibe ich trotzdem und bestelle ein Bier, weil ich einige langhaarige, verlodderte Typen entdeckt habe, die so wenigstens sympathisch aussehen. An der Theke gerate ich in ein Gespräch mit einer Gymnasiastin. Sie redet von den „Kannakern“ und meint damit die hier stationierten französischen Soldaten. Die Frau fand ich von Anfang an unsympathisch, jetzt freu ich mich darüber, dass sich mein „erster Eindruck“ bestätigt hat. Danach quatsche ich eine Weile mit einem Typen, der gerade sein Abi gemacht hat und jetzt bis zum Ersatzdienst rumhängt. Hier in Wittlich ist nichts los, meint er. Ich soll in eine Disko im Hunsrück fahren, dort wird zwar viel gefixt, aber ansonsten ist dort eine gute Atmosphäre und anständige Musik haben sie dort auch. Die Disko in Alf kennt er auch, meint, dort wird viel gekifft. Das kann ich bestätigen, denn als ich dort war, redete alles über Haschisch: dem einen hatte seine Mutter für hundert Mark Shit geklaut, während er schlief, der andere hatte sich gerade ein Stück für fünfzig Mark gekauft, usw.. Der Typ, mit dem ich quatsche, haut mich um einige Zigaretten an, verabschiedet sich dann: „Nichts los heute Abend.“ Auch da muß ich ihm recht geben. Ich gehe ebenfalls, schlendere noch ein wenig durch die Innenstadt. In einer Bar trinke ich einen Kaffee. Die anderen Gäste und der Wirt trinken Krim-Sekt. Der Wirt zuckt bei meiner Bestellung zusammen. Am Ortsausgang versuche ich zu trampen. Kein Wagen hält an, ich gehe zu Fuß weiter. Eine klare Nacht. Alle Sterne sind zu sehen. Nach sechs Kilometern Spaziergang ein Dorf, eine Kneipe. Ich gehe hinein und bestelle einen Tee. Inmitten dieser neugierigen und mißtrauischen Runde von Blicken. Ich frage den Wirt nach einem Telefon und wähle Dirks Nummer. Nach einer Weile meldet sich Edith. Noch ganz verschlafen. Sie denkt, man hat sie angerufen, weil auf dem Hof ihrer Eltern eine Kuh mit dem Kalben nicht weiter kommt und fragt, ob sie rüberkommen soll. „Nein“, sage ich, „soll ich kommen?“ Meine Stimme klingt natürlich nicht so, als würde ich gerade von der Mosel aus anrufen und deswegen fragt sie, ob ich schon in der Nähe bin. Dann reden wir noch übers Wetter und dann sagt sie, ich soll Morgen, wenn Dirk da ist, noch einmal anrufen. Ich lege auf. Jetzt ist erst einmal der Stein wieder ins (zurück-)rollen gekommen. Morgen dann werde ich mit Dirk die organisatorische Seite besprechen. Nicht viel besser gelaunt setze ich meinen Fußweg zurück nach Melchhof fort. Endlich hält ein Wagen. Ein Student, der zurück nach Mainz zur Uni will, nimmt mich mit. Er ist Nichtraucher und läßt mich nicht in seinem Wagen rauchen. Und dann ist es ihm auch noch peinlich, es mir zu verbieten. Und dann studiert er auch noch Geographie. Und dann sagt er auch noch, ich hätte Glück gehabt, sonst würde er immer die Bundesstraße 50 nach Mainz nehmen, nur heute würde er gerade mal die andere Strecke fahren. Was soll ich bloß darauf erwidern? Zurück auf dem Hof leiste ich noch eine Weile dem Pferd im Stall Gesellschaft. Aber es ist zu müde, immer wieder fallen ihm im Stehen die Augen zu. Ich gehe auch ins Bett. Bis zum Einschlafen höre ich noch ein wenig Radio.

6. Dezember

Gestern Abend bin ich noch zu der Oma ins Zimmer gegangen, um mir einen Fernsehfilm anzuschauen. Die Oma war gerade dabei, aus den Bändern, mit denen die Heu- und Strohballen zusammengebunden werden und die man sonst nach dem Gebrauch wegschmeißt, eine Fußmatte zu machen. Das ist wirklich irre. Wir beide schauten uns dann den Film an. Was ich nicht verstand, das waren ihre Zwischenbemerkungen während des ersten Teils. Danach schlief sie ein. Sie verstand einfach den Film nicht. Aber irre, dass ich das nicht vestand. Die Handwerker beispielsweise sind genauso blöd, wenn sie einfach nicht begreifen wollen, dass ein Nicht-Handwerker in handwerklichen Tätigkeiten laufend auf Schwierigkeiten stößt. „Was? Das kannst du nicht? Das ist doch puppeneinfach.“ Und lachen sich halbtot und können es gar nicht fassen. Vormittags habe ich mich in die Kneipe geflüchtet. Immer hoffe ich, dort niemanden zu treffen, nicht angequatscht zu werden, in kein Gespräch verwickelt zu werden. Einfach nur dasitzen, Musik hören, meinen Kaffee schlürfen, träumen. Zurück auf dem Hof machte ich ein großes Feuer – verbrannte das ganze Gerümpel, das sich seit dem Umbau der Scheune in einem Stall angesammelt hatte. Die Flammen schlugen haushoch und ich stand die ganze Zeit dabei und schaute in die Glut. Die ganze Familie hier ist um das Wohlergehen des sechsjährigen Sohnes besorgt. Die zwei Jahre ältere Tochter läuft dagegen einfach so mit – kaum, dass einer überhaupt hin hört, wenn sie bei Tisch mal was sagt. Sie ist jetzt schon immer ein wenig farblos und kränkelnd gewesen. Durch ihre Wehwehchen erheischt sie sich dann doch wieder ab und zu einige Aufmerksamkeiten und den süßen Hustensirup. Der Sohn dagegen ist klein, stark und strotzt vor Gesundheit und jeden Tag kämpft er nach dem Essen mit seinem Vater in der Küche rum. Wenn er zu seinen Eltern sagt „Du kannst mich mal“, freuen sich alle über seine Frechheit. Nur die Oma ruft „Na, na, so was sagt man doch nicht zu seinen Eltern.“ Die Tochter würde sich so etwas nie herausnehmen (können). Sie ist einfach schon unfähig dazu. So wird ein Hoferbe erzogen, der sich später durchsetzen kann – erfolgreich. Und die Tochter heiratet ja später sowieso. Sie hilft jetzt schon fleißig im Haushalt mit. Am liebsten putzt sie die Fenster oder backt Kuchen. Und sie ist ja nicht häßlich. Und dumm ist sie auch nicht. Wahnsinnig. Mit acht Jahren schon so viel Nicht-Sein aufgebürdet zu bekommen.

7. Dezember

Heute arbeiten wir den ganzen Tag verbissen daran, den neuen Laufstall in der Scheune wieder verschwinden zu lassen – wenigstens optisch.

Morgen kommt eine Kommission vom Kulturamt und besichtigt den Hof, um für den nächsten Anbau, der im Frühjahr gemacht werden soll, einen Zuschuß zu bewilligen. Angebaut werden soll ein Boxenlaufstall für die Kühe (das Neueste vom Neuesten). In diesem Anbau ist aber von der eingereichten Planung her auch der Rinderlaufstall mit enthalten, der ja schon in diesem Jahr gebaut worden ist. Und deswegen muß er morgen wieder verschwunden sein. Damit er genehmigt wird. Der totale Blödsinn. Aber mir gefällt die Idee. Erstens helfe ich ja mit, das Ding verschwinden zu lassen – und sei es auch nur für einen Tag (und außerdem sehe ich es ja nicht mehr, wenn er wieder zum Vorschein kommt, weil mich morgen Dirk abholen will), und zweitens bescheißt Hans auf diese Weise die Behörde. Und das finde ich auch in Ordnung. Wir haben uns lange Zeit überlegt, wie wir das machen sollen. Hans wollte eigentlich nur Strohballen von außen an die Selbstfanggitter stellen – bis unter die Decke. Maria und mir war das zu riskant, weil die Rinder ja schließlich Krach machen und vielleicht sogar die Strohballen umstoßen könnten. Ich hatte den Vorschlag gemacht, für die zwölf Kühe, die auch im Laufstall sind, an der anderen Seite der Scheune einen provisorischen Laufstall aus Holz zu bauen und die fünfzig oder sechzig Rinder für einen Tag auf die Weide zu treiben und dann die leeren Ställe mit Strohballen zuzupacken. Aber Hans was das zu viel Arbeit und außerdem war es für die Rinder draußen jetzt schon ziemlich kalt und ob sie überhaupt noch einmal freiwillig in diese scheußlichen Ställe zurückgehen würden, war auch unklar. Schließlich wurde folgendes beschlossen: die Rinder bleiben, wo sie sind und für die Kühe bauen wir in der Scheune aus Holz einen Laufstall mit dickem Stroheinstreu. Marias und meine Bedenken wegen des Lärms, den die Rinder wahrscheinlich machen werden, zerstreute Hans, indem er uns sagte, die vom Kulturamt, das sind alles so Akademiker und Bürohirsche aus der Stadt, die haben doch keine Ahnung von Landwirtschaft und „wenn da ein Rind blökt, dann sage ich denen, das war eine Kuh von nebenan aus dem Kuhstall. Außerdem sollen die da drinne nicht groß diskutieren, die sollen sich kurz das Ding angucken und dann wieder raus. Maria kann ja in der Zwischenzeit schnell einen Kaffee für die machen, den trinken wir dann im Haus und reden kurz über den Antrag und dann sollen die wieder verschwinden“. Er redete sich dabei richtig in Rage. Den Tag über bauten wir erst einmal den Laufstall und schmissen Strohballen runter. Aufschichten können wir sie erst morgen früh, weil die Rinder ja noch gefüttert werden müssen. Nach dem Füttern Abends ließ ich mir von Maria noch einmal ein paar Mark geben und trampte dann nach Alf. Hans hatte mich beim Abendbrot schon gefragt, wieviel Geld ich denn noch von ihm bekäme. Antwort: Nichts. Nach zehn Minuten an der Straße stehen, nahm mich ein Autofahrer bis fast nach Alf mit. Er war mißtrauisch. Fragte: Woher, wohin? Ich beantwortete ihm alle Fragen so gut es ging. Dann unterbrach er mich und sagte: „Hör zu, junger Mann. Ich nehm dich ja auch so mit. Aber hör auf zu lügen. Das stimmt doch alles nicht.“ Mißmutig stieg ich aus seinem Wagen und ging die letzten drei Kilometer zu Fuß. Es war genau die selbe Strecke, die ich an dem Abend vor meinem Horror-Kiffen schon mal gegangen war. Rechts oben auf dem Berg die Burg, von der man im Dunkeln nur eine scheußlich rot-gelbe Lichterkette sah und links oben ein Cruzifix aus Neonröhren. In der Diskothek war es wieder halbleer. Ich saß an der Theke und trank ein Bier. Von den Typen, mit denen ich gekifft hatte damals, war nichts zu sehen. Ein etwas älterer Typ, der neben mir saß, versuchte mit mir ins Gespräch zu kommen: „Nichts los hier heute …“ usw.. Er war Elektriker und arbeitete in der Zentrale der fünf Moselkraftwerke – „sehr viel Verantwortung“. Er erzählte, er hätte nebenbei noch eine kleine Landwirtschaft mit 25 Mutterkühen und bis vor einem Jahr hätte er mit zwei anderen Bauern eine gemeinschaftliche Landwirtschaft betrieben mit über hundert Hektar Land und über hundert Mutterkühen und Schweinen. Dann hätten sie sich aber gestritten und wären auseinandergegangen. Bis auf die 25 Kühe und ein bißchen Land hätte er dann alles aufgegeben, um als Elektriker arbeiten gehen zu können. Er wohnte in Bengel und auch Hans kannte er gut. Er hatte sogar Land an ihn verpachtet. Als er dann irgendwann gehen wollte, bot er mir an, mich in seinem Auto bis Bengel mitzunehmen. Wir unterhielten uns über Mutterkuhhaltung unterwegs im Auto. In Bengel lud ich ihn noch zu einem Bier ein. Die Kneipe war brechendvoll. Man feierte Nikolaus oder so was. Seine Frau saß auch dort an einem Tisch. Der Typ, der mich mitgenommen hatte, fragte mich plötzlich, nachdem er auf einem Bierdeckel irgendetwas ausgerechnet hatte: „Was hältst du davon, für 18.000 Mark brutto im Jahr meine Landwirtschaft für mich zu machen? Kost und Logis frei. Und wenn du den Viehbestand vergrößerst, erhöht sich dein Anteil …“ Ich lehnte das Angebot ab, sagte ihm, dass ich bis zum Sommer 1978 schon ausgebucht sei und danach wahrscheinlich irgendwo im Süden in der Landwirtschaft arbeiten wolle. Er wechselte das Thema: „In der Disko in Alf war auch nichts los, oder?“ Er gab noch eine Runde Bier aus und zahlte. Seine Frau wartete schon im Mantel an der Tür auf ihn. Ich ging auch. Durch den Regen über den Berg zum Hof zurück.

8. Dezember

Pünktlich um neun Uhr kam Dirk. Er brachte noch Werner – seinen Schwager und Pinki, seinen Treckerfahrer – mit. Sie mußten sich gleich an die Arbeit machen und mithelfen, die Strohballen vor die Laufställe in der Scheune aufzustapeln. Um 14 Uhr sollte die Kommission kommen, aber wir waren lange vorher fertig. Bevor wir anfingen, war Hans doch noch etwas nervös geworden. Gegen Mittag fuhren wir los. Leinchen hatte wider Erwarten keine großen Zicken gemacht und war ruhig in den Anhänger gestiegen. Allerdings hatte sie dann die ersten hundert Kilometer doch Angst und war völlig durchgeschwitzt. Ich war wegen ihr nervös und ließ Werner, den Fahrer, ein paar Mal unterwegs anhalten. Dann über die Rheinbrücke bei Köln. Das war nichts Großartiges mehr, nichts Triumphierendes, wie damals noch mit Leinchen auf der Fähre und es war das erste Mal auf einem Schiff für sie gewesen. Ich war mir vorgekommen wie ein Eroberer. Wir brauchten für die Rückfahrt mit Pausen acht Stunden, wofür ich viele Wochen gebraucht hatte. Zurück auf dem Hof brachte ich Leinchen in den Stall (es war der jetzt leerstehende Sommerstall für Sauen), verstaute meine Sachen in meinem Zimmer und dann gingen Dirk und ich zu Tante Anni, um einen zu trinken. Dort musste ich erst einmal von meiner Reise erzählen, ich gab ihr eine Kurzfassung, wobei ich den Schwerpunkt auf die Landschaftsbeschreibungen legte.

Für die taz schrieb ich später noch mal eine kleine Eifel-Weihnachtsgeschichte auf:

„Möchtest du zu Weihnachten eine Weihnachtsgeschichte lesen? Ich nicht!“- „Aber erzähl doch trotzdem “ Ich begann: Früher haben meine Eltern mir zuliebe Weihnachten gefeiert, aber irgendwann dann nicht mehr. Erst während der Schleyer-Entführung habe ich noch einmal ein Weihnachtsfest mitgekriegt. Ich war damals als Wanderknecht mit meinem Pferd unterwegs – und kam abends in der Nähe des Nürburgrings an einen Hof, wo ich den Bauern um ein Quartier für die Nacht bat. Er war erst unwillig, aber dann bat er mich doch rein. Den Ausschlag gab wie immer mein Pferd, das einen warmen Platz im Stall bekam.

Am nächsten Tag bat mich der Bauer, noch kurz mit seinem alten Vater zu sprechen, der krank im Bett lag. Er hatte Speiseröhrenkrebs und nicht mehr lange zu leben, wusste das aber nicht und ging sogar davon aus, bald wieder arbeiten zu können. Das Reden fiel ihm schwer und er spuckte Blut, wurde aber gleich ganz munter, als ich ihn in ein Gespräch über Landwirtschaft verwickelte. Am Schluss bat er mich, noch ein paar Tage zu bleiben, außerdem sollte ich mir sein Pferd, die Liesel, ankucken, die auf einer Hangweide im Wald stand. Sein Sohn zeigte mir den Weg dorthin. Die Weide war riesig. Es war kalt und neblig, das Pferd, ein dicker rotbrauner Kaltblüter, graste weit weg unter einem Baum, der als einziger seine Blätter noch nicht verloren hatte – sie waren in allen Farben geradezu explodiert. Aus dem Wald kam ein alter Mann auf mich zu. Zusammen blickten wir auf das Pferd unter dem Baum.

Der Mann stammte aus dem Nachbardorf und war ein guter Freund des kranken Bauern. Er erzählte mir, dass sie sich meistens in der Kneipe getroffen hätten. Der Bauer sei mit Pferd und Wagen dorthin gefahren. Wenn er betrunken war, legte er sich auf den Wagen und Liesel brachte ihn nach Hause. Wenn er zu betrunken war und in der Kneipe blieb, ging Liesel irgendwann ohne ihn los und wieherte dann leise auf dem Hof: Sein Sohn und seine Schwiegertochter holten den Alten dann mit dem Auto ab. Während mir der alte Mann das erzählte, liefen ihm dicke Tränen über das Gesicht. „Der Bauer hat immer noch mit der Liesel geackert. Wenn er stirbt, kommt sie zum Schlachter „

Der Baum leuchtete zu dieser traurigen Geschichte immer knalliger – wie auf einem LSD-Trip. Aber um es kurz zu machen: Sie baten mich, noch ein paar Tage „über Weihnachten“ zu bleiben. Ich musste nichts tun, außer mich mit dem alten Bauern zu unterhalten. Zwischendurch ging ich immer mal wieder zur Hangweide und fütterte die Liesel mit Süßigkeiten. An Heiligabend fuhr die Familie in die Kirche, ich blieb bei dem Alten. Er erzählte mir, dass und warum es besser sei, mit einem Pferd zu arbeiten als mit dem Traktor. Ich pflichtete ihm bei, aber er glaubte mir nicht. Er dachte, die Jungen, damals war ich um die dreißig, hätten für solch eine antitechnologische Einstellung, oder wie soll ich sie nennen?, nur Verachtung übrig.

Eigentlich habe ich den ganzen Abend damit verbracht, ihn davon zu überzeugen, dass ich seiner Meinung war. Aber seine Einstellung war nun mal, dass er sich von jungen Leuten nicht überzeugen ließ.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/08/20/landarbeitererntehelfer_-_gestern_heute_morgen/

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  • „Du näherst Dich dem Namen eines Ortes und läßt einen anderen Namen hinter dir. Aber der Name deines Pferdes bleibt,“ schreibt John Berger in seinem neuen Roman, der nach einem englischen und einen polnischen Fluß benannt ist.

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