vonHelmut Höge 10.10.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Auf der 14. internationalen Genossenschaftswissenschaftlichen Tagung in Köln referierte der griechische Experte für Agrarkooperativen Constantine Iliopoulos über das “Risiko”. Dazu hatte er nahezu systematisch den Norden der USA abgeklappert und dort Agrarkooperativen interviewt. Sein Fazit lautete in etwa so:

Während früher die Bauern, Handwerker und Kleinstunternehmer sich zu Genossenschaften zusammenschlossen, um durch gemeinsames Handeln ihre Risiken zu minimieren, ist es bei den “neuen Genossenschaften” eher umgekehrt: Es sind Zusammenschlüsse, um ein neues Risiko einzugehen. Man versucht beispielsweise andere Anbaumethoden oder Züchtungen auszuprobieren, oder investiert in Verarbeitungstechnik oder wagt sich auf neue Märkte bzw. baut sich eigene Vermarktungsorganisationen auf.

Genossenschaften existieren oft lange informell, bevor sie juristisch als eine solche fixiert werden. Erwähnt seien hierzu die autonomen Kollektivkneipen in Ostberlin, die erst einmal schwarz loslegen – und von der Steuerfahndung auch erst einmal in Ruhe gelassen werden, damit sie Zeit haben, sich zu “stabilisieren”, bevor der Staat anfängt, sie abzuschöpfen. Ähnlich war die Situation bei den vielen Landkommunen in Westdeutschland in den Siebzigerjahren, die auch erst einmal in Gang kommen mußten – und meistens auch nicht darüber hinausgekommen sind, so dass sich der ganze Aufwand mit der Legalisierung (bei Finanzamt, Agrarverband, -Versicherung etc.) sowieso nicht gelohnt hätte – auch nicht für den Staat.

Es gibt jedoch noch weit mehr “graue Genossenschaften”, womit hier nicht die neumodischen “Senioren-Genossenschaften” gemeint sind, sondern durchaus juvenile – die aber im grauen Bereich operieren.

Auf einem Treffen der Kooperationspartner des Kunstprojekts “Le Grand Magasin” kam dies heute zur Sprache. Während der Berliner Teil, in der Neuköllner Galerie am Ballhaus, bis zu seiner gestrigen Ausstellungseröffnung stets von den europäischen Produktivgenossenschaften, vermittelt über deren internationale, nationale und regionale Verbände, ausgegangen war – bei der Acquirierung ihrer Produkte/Waren als Ausstellungsstücke, geht der tschechische Teil, die Fakultät für Design/Kunst und ihre Galerie in Usti nad Labem von den Designstudenten aus, die dort für verschiedene Branchen (Textil, Glas etc.) ausgebildet werden. Sie sollen ab den nächsten Semestern ihre Zusammenarbeit mit den Produktivgenossenschaften (ihrer Wahl?) organisieren. Eventuell in Gruppen als eine Art von informellen Genossenschaften. Und diese werden dann wahrscheinlich auch die Ausstellung bestücken bzw. gestalten.

Wieder anderes gebrauchten die Leiterinnenden der Galerien in Budapest und im 70 Kilometer entfernten Dunaujvaros den Ausdruck: Zwar hatten auch sie an die Möglichkeit einer Parallelisierung von Künstler- und Produktions-Kollektiven gedacht, aber bei der Diskussion über die Definition von Genossenschaften und der Frage, wie eng diese im Projekt bisher gehandhabt wurde, kamen sie auf die informellen Genossenschaften beispielsweise der grenzüberschreitenden Zigarettenschmuggler zu sprechen.

Sie dachten dabei also an Formen gemeinschaftlicher Zusammenarbeit, die nicht nur gegen das Finanzrecht verstoßen, sondern gegebenenfalls auch noch gleich eine ganze Reihe anderer Paragraphen des Strafgesetzbuches verletzen. Diese werden jedoch sukzessive verringert.

Dazu hieß es beispielsweise in dem Vortrag, den der “Le Grand Magasin”-Initiator Andreas Wegner für die Kölner Genossenschaftswissenschaftliche Tagung verfaßt hatte:

Ab 1848 wurden in Deutschland nahezu alle Genossenschaftsbestrebungen innerhalb des städtischen Proletariats unterdrückt. “Die Anfänge deutscher Genossenschaftsgeschichte standen im krassen Gegensatz zur Staatsideologie. Die wirtschaftliche Betätigung des Berliner Bezirks der Arbeiterverbrüderung war für die Berliner Polizeibehörde ein strafwürdiges Vorgehen: ‘Auch wird die genauere Untersuchung ergeben, dass die Arbeiterverbrüderung sich verschiedener Gewerbe- und Gewerbesteuer-Contraventionen schuldig gemacht hat, indem sie eine Kattundruckerei, eine Schneider- und Schuhmacherwerkstatt und eine Seidenwirkerei … selbständig betrieben hat, auch mit dem An- und Verkauf von Waaren, … ein Gewerbe betrieben hat’.”

Erst die Arbeiterbewegung, nicht die Bürger setzte 1918 in Deutschland u.a. das volle Gewerberecht durch. In Russland gab es zwischen weißen und schwarzen Genossenschaften so gut wie nie irgendwelche Grautöne. Und so gründeten dort die Arbeiter überall Artels (was heute und hier Einkommensgemeinschaften und/oder Bezugsgenossenschaften heißt) – und zwar in der Fabrik ebenso wie im Gefängnis bzw. im Lager. Auf dem Land ist dies die Dorfgemeinschaft, die – wie Trotzki berichtete – auch noch in der Fabrik weiter besteht. Das selbe gilt für Garagengenossenschaften, die gerne “Tempo” heißen, wie für Datschensiedlungen und sogar Hochhäuser. Auch dort wählt man mitunter einen Ältesten. Auf dieses Senioritätsprinzip bei der Selbstregierung hat schon der Genossenschaftsutopist Fourier gesetzt. Und selbst die ab 1929 nach Sibirien verbannten Kulaken gründeten – wieder daheim – Obschtschinas, in denen ihre Produktionsmittel (die Äcker und Wiesen und ggf. der Wald) sich im Gemeinschaftsbesitz des Dorfes befinden. Sie hatten in Sibirien gelernt: Dort gilt das Konkurrenzprinzip nicht einmal bei den Tieren und Pflanzen, im Gegenteil: man sucht die Zusammenarbeit. Z.B. eine Alge und ein Pilz: sie haben sich assoziiert, sie kooperieren, um als “Flechte” auch in größter Kälte siedeln zu können. Auch die Flechtenforschung kommt aus Russland, das man seit Marx auch als Mutterland aller Genossenschaften bezeichnen kann.

Von einer weiteren grauen Genossenschaft berichtete auf der Ausstellung “Le Grand Magasin” der Künstler Adam Page, der zusammen mit Eva Hertzsch seit einigen Jahren im Dresdner Neubaugebiet Prohlis arbeitet, das die Stadt komplett an einen US-Investor verkauft hat. Dort, so erzählte er, habe sich eine Gruppe von Arbeitslosen und von Künstlern gebildet, die eventuell eine gewerbliche Genossenschaft gründet. Sie suchen gewissermaßen eine Produktionsidee bzw. ventilieren mehrere mögliche – auf ihre Machbarkeit hin.

Wladimir Kaminer hielt zur Eröffnung der Neuköllner Ausstellung einen Vortrag darüber, wie man sich das in etwa im Nordkaukasus vorzustellen habe, wo alles mehr oder weniger gemeinschaftlich geregelt werde. Z.B. die Milchversorgung im Dorf seiner Schwiegermutter: Eine Familie hält sich dafür zwei Kühe. Die Butter und Joghurtherstellung obliegt wieder anderen Familien. Ähnlich ist es mit der Honigproduktion, für die ein Musikdirektor, der neben der Schwiegermutter wohnt, quasi zuständig ist. Die Elektrifizierung des Dorfes geschieht dadurch, dass man die elektrische Oberleitung der nächtliegenden Eisenbahnstrecke anzapft – mit Wissen und Billigung der Bahnverwaltung.

In dem kürzlich erschienenen Buch über den “Kolchos-Archipel” in Russland kommen die dort zitierten russischen Agrarsoziologen zu dem Ergebnis, dass die Kolchos-Bauern (Landarbeiter) auch heute noch ihren Kolchos beklauen müssen, um über die Runden zu kommen. Dies erfolgt ebenfalls oft mit Wissen und Billigung der Kolchosleitung. Alle wissen, wenn zu viel geklaut wird, geht der Kolchos pleite, wenn sie zu wenig klauen, gehen sie selbst zugrunde.

Aus Berlin kam in der Diskussionsrunde des Ausstellungs- und Verkaufsprojekts der Hinweis, dass zu den grauen Genossenschaften in dieser Stadt auch gut 500 Bordelle gehören würden – insofern sie jeweils von einer Gruppe von Frauen selbstorganisiert betrieben werden. Es gibt weder einen Geschäftsführer noch einen Zuhälter. Und gerade wurde mit einem neuen “Prostitutionsgesetz” deren Gewerbe sozusagen vollends legalisiert – bis dahin, dass nun statt der einstigen Sittenpolizei eine neue Steuerfahndungsabteilung hinter ihnen her ist. Auch hier gilt jedoch, man läßt sie großteils erst mal noch gewähren. Sie sind damit vom Rotlichtmilieu ins graue der Autonomen-Kollektive gerückt – finanztechnisch gesehen. Von der anderen Seite werden sie von Großbordell-Betreibern ökonomisch bedroht/bedrängt – ihre Genossenschaft zu Gunsten einer neuen Selbständigkeit (in deren hygienischen “Eros-Centern) aufzugeben.

Den grauen Genossenschaften im Südkaukasus widmeten sich vor einiger Zeit die beiden JW-Autoren Lili Di Puppo und Nodar Dugladze (sie ist heute Dozentin in Tiflif und er arbeitet in London):

Direkt nach seinem Amtsantritt hat der neue georgische Präsident Michail
Saakaschwili der organisierten Kriminalität den Krieg erklärt. Der Kampf
gegen Korruption – mit dem sich Georgien langsam an die westlichen
Standards annähern soll – mag für manche Beobachter sehr abstrakt
klingen. Ähnlich abstrakt wirken solche Begriffe wie »OK«, »georgische
Mafia« oder »kriminelle Netzwerke«. Allerdings hat sich in Georgien schon einiges getan. Mehrere hochrangige Offizielle
aus der Schewardnadse-Ära stehen unter Haftbefehl oder befinden sich im
Gefängnis. Die energische Vorgehensweise der Regierung hat bereits
Kritiken von Nichtregierungsorganisationen und georgischen Medien wegen
Menschenrechtverletzungen und dem Verdacht der politischen
Parteilichkeit hervorgerufen. In diesem besonderen Kampf zielt die neue
Regierung aber nicht nur auf die Funktionsträger des früheren Regimes,
sondern auch auf Akteure, die mehr in der Schattenwelt tätig sind, ohne
deshalb weniger mächtig zu sein. Insbesondere wurde die Stadt Kutaisi
Schauplatz von mehreren Festnahmen. Dort sind seit je her die
berüchtigten »Diebe im Gesetz« – im Russischen »vory v zakone« – zu
Hause. Sie haben lange Zeit den Schutz der Polizei genossen, weil ihre
Präsenz den in Drogengeschäfte verwickelten korrupten Polizisten in
vielfacher Hinsicht von Nutzen war. Einige Beobachter betrachten die
»Diebe im Gesetz« als eine Art Säule des Schewardnadse-Regimes. Der
frühere Präsident Eduard Shewardnadse pflegte eine besonders enge
Beziehung zu Figuren der Unterwelt. Ein Blick auf die Geschichte der
Organisation der »Diebe im Gesetz« kann einiges über ihre prominente
Rolle in Georgien und ihre komplexe Identität verraten. Sie erzählt auch
von besonderen, bisher unbekannten Aspekten der sowjetischen Geschichte
insgesamt.

Die Sowjetunion wurde von den Dissidenten als eine Hydra bezeichnet. Sie
durchdrang alle Lebensbereiche. Obwohl im Sozialismus die einzige
gesellschaftliche Klasse das Proletariat war, existierte doch noch eine
Unterwelt. Die Unterwelt, die Welt der Außenseiter, die das System
ablehnten, war in der Sowjetunion aber auch nicht frei von Kontrolle.
Die Verkörperung dieser Unterwelt war der »vor v zakone« (der »Dieb im
Gesetz«).

Diese Gestalt entsprach zugleich der Sehnsucht nach Freiheit und einem
abenteuerlichen Leben und warf die Schatten des KGB auf die Unterwelt.
Der »vor v zakone« verkörperte die kriminelle Elite der Sowjetunion.
Diese geheime Bruderschaft, genannt Diebeswelt (»vorovskoi mir«), besaß
eine eigene Sprache, einen Ehrenkodex, besondere Rituale, eine
Hierarchie und eine gemeinsame Kasse. Äußerlich erkannte man einen »vor«
an seiner Sprache und an seinen zahlreichen Tätowierungen – z.B.
religiöse Motive, die seinen Glauben ausdrückten. Eine Legende besagt,
daß die Diebe Jesus Christus selbst Hilfe geleistet hätten: Als Christus
gekreuzigt wurde, fiel ein Nagel herunter; dieser Nagel wurde von einem
Dieb geklaut, wofür er von Christus gesegnet wurde. »Fenia« ist die
verschleiernde Sprache der »vory«, eine Umgangssprache, die Elemente des
Jiddischen, der Sprache der Roma und der Matrosen aufgenommen hat. Der
Ehrenkodex, genannt Diebesgesetz, regelte das Leben hinter Gittern.
Werte und Gesetze, die draußen herrschten, wurden mißachtet; die »vory«
entwickelten ihre eigene Moral.

Ein echter »vor« würde nur von gestohlenem oder beim Kartenspiel
gewonnenen Geld leben – und niemals arbeiten. Er existierte primär für
seine Bruderschaft und durfte keine Familie haben. Oft waren die »vory«
auch Waisenkinder, die früh eine kriminelle Karriere begonnen hatten.
Während einer Initiationszeremonie, die einer christlichen Taufe
nachempfunden war, erhielt der Kandidat eine Krone und einen Spitznamen
(»Klitschka«), nachdem er einen Eid geschworen hatte. Damit wurde er als
»vor« im Gefängnis neu geboren und trat in die Familie der Diebe ein. Je
länger der »vor« im Gefängnis saß, desto höher wuchs sein Ansehen. Im
Gefängnis würde er jegliche Arbeit ablehnen und dafür jede Strafe
riskieren, wie z.B. die Isolationszelle. Solche Ereignisse ließ der
»vor« dann auf seinen Körper tätowieren und stärkte damit sein Ansehen
als »Märtyrer«. Der »vor« konnte höchstens eine Brigade bilden, die er
für sich arbeiten ließ. Die Anwendung von Gewalt war prinzipiell
verboten und konnte nur im Ausnahmefall kollektiv befürwortet werden.
Bei seinen Taten durfte sich der »vor« kein Blutvergießen erlauben;
Gewalt kam nur in Frage, wenn die Ehre des »vor« im Spiel war. Während
ihrer überregionalen Treffen, der »skhodka«, wurden Urteile nach dem
Recht der »vory« (»vorovskaia spravedlivost«) gesprochen und
vollstreckt. Die Solidarität unter den »vory« war in einer gemeinsamen
Kasse symbolisiert – »obschyak« (»das Gemeinsame«). Der »vor« sollte
alles mit seinen Brüdern teilen und war an Reichtum nicht interessiert.
Verschiedene Verbote sollten die Verachtung für den Staat ausdrücken.
Der »vor« durfte in keiner Weise für die Regierung arbeiten und keinen
militärischen Dienst leisten. Die Gefängnisverwaltung und der Staat
waren für die Bruderschaft der »vory« erklärte Feinde. Dennoch kam im
Laufe der Zeit der »vor« als Ordnungshüter der Unterwelt diesen Feinden
gerade recht.

Der Mythos der »vory«, der sich in Filmen, in der Literatur und in
Liedern, den sogenannten Diebesliedern, verbreitete, wurde vom KGB
selbst mitgeschaffen. In der Sowjetunion waren alle geneigt, etwas zu
klauen; man wollte durch die »vory« diese Praxis kontrollieren. Jeder,
der nicht nach den Regeln der sowjetischen Gesellschaft leben wollte,
der z.B. nicht arbeitete oder anfing zu klauen, bekam es mit den »vory«
zu tun. Der »vor« wurde zu seinem Priester. »Vory v zakone« kann man
auch als Prediger des Gesetzes oder Wächter des Gesetzes übersetzen. Die
moralische Autorität der »vory«, die normative Kraft dieses Systems, war
eine Illusion, eine Pseudomoral, und wurde langsam korrumpiert.

Der Ursprung der »vory v zakone« ist unklar; die Anfänge liegen in der
Welt der Diebe, die Rußland seit dem 18. Jahrhundert kennt, und später
in den Moskauer Gilden der Bettler und Taschendiebe. Nach der
bolschewistischen Revolution von 1917 kam es zu einer ersten Annäherung
zwischen der Welt der Politik und den klassenbewußten Kriminellen.
Gemeinsam war den Bolschewisten und den Kleinkriminellen die Verachtung
für das Eigentum.

In den 20er Jahren wurde Tbilissi, die Hauptstadt Georgiens, Schauplatz
spektakulärer Bankraube. Hinter diesen Aktionen und der Vernetzung der
kaukasischen Region durch Untergrundorganisationen von
Banditen-Partisanen stand Stalin für die Kassen der bolschewistischen
Partei in Genf.

Unter Stalin etablierte sich dann eine regelrechte Kooperation zwischen
den damaligen sowjetischen Sicherheitsdiensten und den professionellen
Kriminellen. Die Sicherheitsdienste sahen in ihnen erst einmal ein
Mittel, um die Disziplin in den überfüllten Gefängnissen und Lagern
aufrechtzuerhalten und die »Volksfeinde« – gemeint waren damit die
politischen Häftlinge – zu überwachen. Sie wurden damit in ihrer Rolle
als kriminelle Elite der Unterwelt, die sich damals den Namen »vory v
zakone« gab, konsolidiert. Während der sogenannten »sutchja vojna« (dem
»Krieg der Denunzianten«) in den 50er Jahren versuchte das KGB einen
Vernichtungsfeldzug gegen die »vory« zu führen, nachdem sich die
Gefängnisse langsam geleert hatten. Zuvor war es zu Konflikten unter den
»vory« selbst gekommen, nachdem einige von ihnen von der Front
zurückgekommen waren, wo sie in der Roten Armee gekämpft hatten. Sie
hatten – als Kollaborateure – das »Diebesgesetz« verletzt. In diesem
Kampf verloren jedoch die Puristen, danach wurden ihre Gesetze nicht
mehr genau befolgt und die Kooperation mit den staatlichen Strukturen
nach und nach akzeptiert.

Die »vory« begannen daraufhin, die Gefängniswelt zu verlassen und sich
über das Land auszubreiten. Sie wurden besonders wirksam in zwei Orten:
in Rostow-am-Don und in Odessa; Rostow ist bis heute das Mekka der
Diebe. In einem Diebeslied heißt es: »Rostow Papa, Odessa Mama«. In
diesen Hafenstädten am Schwarzen Meer, wo täglich schwer zu
kontrollierende Migrantenströme durchzogen, spielten die »vory« die
Rolle von Informanten für die Polizei.

Dann wurden sie von Moskau auf die Sowjetrepublik Georgien angesetzt.
Bis heute gibt es genauso viele georgische »vory« wie russische, sie
stellen je ein Drittel der Gesamtzahl. Man wollte die traditionellen
verwandtschaftlichen Verhältnisse der Georgier zerstören und die dortige
Schattenwirtschaft kontrollieren. Der georgische Ehrenkodex traf mit
einem fremden Kodex zusammen. Die Schulhöfe wurden zum ersten
Einsatzort, wo die »vory« mit ihrer romantischen Ideologie die Jugend
beeinflussen sollten. Für Prügeleien und in den Beziehungen zu den
Frauen galten neue Regeln, ihre Sprache, die »fenia«, wurde ins
Georgische übertragen. Es entwickelte sich eine Schule der Straße. Ab
dieser Zeit begann aber auch die Korruption des Systems. Der Titel »vor«
wurde gegen Geld erworben oder in Familien weitergegeben. Die »vory«
hatten die Rolle eines Konfliktschlichters und eines Vermittlers
übernommen, sie kontrollierten ganze Stadtviertel. Sie konnten z.B.
kleine private Unternehmer, die in der Schattenwirtschaft tätig waren,
erpressen. In Georgien begannen die »vory« auch in der Politik
einflußreich zu werden: Ein Beispiel ist Jaba Ioseliani, der die rechte
Hand von Schewardnadse wurde und eine paramilitärische Einheit, die
»Mkhedrioni«, befehligte. Während einer »skhodka« 1982 in Tbilissi, der
Hauptstadt Georgiens, verabschiedete man sich von der Regel der
Nichteinmischung in die Politik. Mit ihrem Ursprung in der Sowjetunion
bilden die »vory v zakone« nach wie vor eine multiethnische Mafia. Außer
Russen und Georgiern gehören zur Bruderschaft Armenier, Aserbaidschaner,
Abchasier, Ukrainer, Usbeken und Kasachen. Nur die Tschetschenen mit
ihren engen Clanbeziehungen und die Kosaken erwiesen sich als immun
gegen das fremde Normensystem.

In Moskau begann Anfang der 90er Jahre ein Kampf zwischen den
Profisportlern oder Banditen, den Mafiosi aus den Sportclubs, und den
»vory«, wobei die letzteren ihren traditionellen Einfluß auf die
kriminelle Welt verloren. Die »vory« wurden als Relikt einer anderen
Zeit und als Parasiten betrachtet – von dieser neuen Mafia, die keine
Scheu zeigte, die Gewalt systematisch anzuwenden. Dennoch handelte es
sich eher um eine Neuverteilung der Einflußzonen als um die Liquiderung
der »vory«. Die hierarchischen Strukturen der neuen kriminellen Gruppen
mit ihren »Autoritäten« und »Brigaden« unterscheiden sich kaum von den
Strukturen der »vory«. Mit der Zeit sind auch Allianzen zwischen den
neuen »Autoritäten« und den alten »vory« entstanden. Einflußreiche
»vory« waren an der Geburt vieler krimineller Gruppen der 90er Jahre
beteiligt und wurden in der Rolle des Konfliktschlichters oder als
höchste Instanz in der Kriminellen-Justiz immer wieder bestätigt. Auch
kommt es immer noch gelegentlich zu »Diebeskrönungen«. Und bis jetzt
gibt es eine personelle Kontinuität in der sogenannten russischen Mafia,
die international agiert. Vyacheslav Kirillovich Ivankov, genannt
»Yaponchik«, wurde 1995 in den USA vom FBI festgenommen. Bis dahin hatte
er den amerikanischen Ableger der Moskauer Gruppe »Solntsevskaya
Brigada« geleitet.

Insbesondere in Georgien sind die »vory« immer noch sehr einflußreich;
das System hat in den georgischen Gefängnissen das Ende der Sowjetunion
überlebt. Zwei Persönlichkeiten sind als georgische »vory« weithin
bekannt: David Sanikidze, der in internationale Drogengeschäfte
verwickelt war, er wurde 1996 in Wien ermordet; und Oniani, der die
kriminelle Gruppe »Kutaiskaya Brigada« in Moskau aufbaute, zur Zeit lebt
er in Paris.

Heutzutage sind die »vory« Unternehmer und besitzen mehrere
Luxuswohnungen; sie würden nicht mehr ihre Zeit im Gefängnis verbringen
wollen und sie bringen die »obschyak« auf die Banken. Sie sind in der
Schweiz, Israel, Frankreich, Deutschland und in den USA wohnhaft. Wie
ihr Pendant, der KGB, haben sich die »vory« der kapitalistischen
Gesellschaft angepaßt und haben internationale Ambitionen. Die
Bezeichnung russische Mafia ist insoweit nicht korrekt, weil die
Gesellschaft der »vory v zakone« in ihrer Essenz eine multiethnische
Organisation ist, die aus dieser Multiethnizität ihre
Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen Systeme, Regionen und Branchen
bezieht. Inzwischen werden die Moskauer Friedhöfe nicht nur mit den
Grabstätten von russischen Dichtern und sowjetischen Prominenten
geschmückt, sondern auch mit monumentalen Denkmälern von Personen, die
ganz und gar nicht in der Öffentlichkeit wirkten. In diesen Gräbern sind
die »vory« nach den Ritualen ihrer Bruderschaft begraben und haben ihre
»Krone« mit in die andere Welt genommen. »Der Dieb ist tot, es lebe der
Dieb«!

Über die informellen Genossenschaften gäbe es noch viel zu sagen, aber die Berliner Ausstellungsmacher winkten ab: Da wird so viel drüber geforscht.

Und es stimmt: In der faz wird der ostelbische Ameisenhandel besungen. Und in der taz stapeln sich geradezu die Neuerscheinungen von und über Prostitutierte. Auch an Büchern über die Mafia ist kein Mangel. Die Produktion, erst recht die selbstorganisierte, wird jedoch, schon fast systematisch, vernachlässigt. Und wenn z.B. die faz doch einmal darüber berichtet, dann ist es entweder gelogen oder zynisch beobachtet – beides aus reaktionärem Motiv:

Anfang der Achtzigerjahre war die FAZ besonders aufgebracht über den geplanten Bau einer sowjetischen Gaspipeline – mit deutscher Hilfe, d.h. mit Röhren von Mannesmann. Sie setzte sich deswegen vehement für ein von den USA gefordertes “Röhrenembargo” ein – und begründete dies u.a. damit, dass “an der Pipeline der Schweiß, das Blut und die Tränen von Heeren sowjetischer Arbeitssklaven kleben” würde. Dies war glatt gelogen, denn die Arbeiter an der Gastrasse waren überaus privilegiert – und es gab zu jeder Zeit mehr Arbeitswillige als gebraucht wurden.

Andersherum sprach die FAZ angesichts der japanischen Produktionsmethoden des neuen Opel-Werks Eisenach Mitte der Neunzigerjahre zynisch von einem “ästhetischen Gesamtkunstwerk”, in dem die “Menschen am Band einer Ballettgruppe gleichen” – wohl wissend, dass sie ihre Arbeit auch nicht viel länger durchhalten als Balletttänzer: “Schwerbehinderte werden nicht eingestellt, die produziert Opel Eisenach inzwischen selbst – siebenundzwanzig bis jetzt,” bemerkte dazu die IG-Metallchefin des Tarifbezirks bitter.

Maxim Gorkij schlug 1923 vor, Betriebs-Biographien zu schreiben.

1985 schreibt der Genossenschaftsforscher Klaus Novy resigniert: “In der Geschichte der Arbeiterbewegung haben Selbsthilfeunternehmen eine große, von Historikern und Ökonomen bis in die jüngste Zeit fast völlig vernachlässigte Rolle gespielt. Was für die Fachwissenschaft gilt, trifft für eine breitere Öffentlichkeit allemal zu.”

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/10/10/informelle_genossenschaften/

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