„Früher gehörte dem die Welt, der ein gutes Pferd und eine Stunde Vorsprung hatte. Das ist vorbei.“ (Ettohciuq Nod)
Was im Internet nicht alles als „Donquichotterie“ abgetan wird… Unglaublich! In den „Grundrissen“ schrieb Karl Marx: „Wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichotterie“. Rosa Luxemburg kam später in ihrer Kritik an Eduard Bernsteins Revisionismus noch einmal auf diese Anspielung auf Cervantes zurück: „Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten, seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher Beförderungsmittel gerittenen Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts andres heimzubringen als ein blaues Auge.“
1977 beging ich einmal mutwillig eine solche „Donquichotterie“, indem ich mich mit einem Pferd plus Satteltasche auf den Weg machte. Jeder hat seine Fluchtlinie, meine war „nach Süden“ hin, wohl wissend, dass auch dort die Revision bzw. Reaktion sich erholte und erhob. Unterwegs arbeitete ich bei einigen Bauern. Als der Arbeitgeberpräsident Schleyer entführt wurde – und die ganze BRD daraufhin von einer Terrorparanoia erfaßt wurde, da erwies sich mein Pferd als ein wahrhaft trojanisches, insofern es mir überall bei den pferdenärrischen Bauern Zutritt verschaffte – und damit Arbeit. Während wir aber so zu zweit auf den Kämmen der Hochgebirge durch den regnerischen Deutschen Herbst dahinstapften – ich ritt nicht, sondern ging neben dem Pferd her, das mein Gepäck trug – da kam ich mir manchmal doch vor wie der Ritter von der traurigen Gestalt und meine junge Hannoveranerstute glich mehr und mehr dem alten Klepper Rosinante. Obwohl ihr das Immer-Geradeaus-Gehen in Richtung Süden eigentlich gut tat und ich sie als Zweibeiner auch kaum überforderte.
In meiner Satteltasche befand sich neben der „Wesentlichen Einsamkeit“ von Maurice Blanchot das ebenso schmale Bändchen „Legende von der Unruhe“ von Wladimir Kosin. Das eine war kurz zuvor in Westberlin, das andere in Ostberlin erschienen. Kosin hatte sich 1929 zusammen mit vielen anderen Spezialisten und Generalisten als Zoologe am Aufbau des ersten Sowchos in Turkmenien beteiligt: „Scharenweise irrten sie kreuz und quer durch die russischen Lande, hefteten sich dem allgegenwärtigen, ach so rätselhaften Sozialismus an die Fersen.“ Vierzig Jahre später erzählte Kosin die Schaffung einer „Insel des Sozialismus“ in der Wüste Karakum als eine Schöpfungslegende: Die Pioniere sind teils in Lumpen, teils in Lackstiefeln gekleidet, als erstes besetzen sie alle Führungspositionen. Aber dann tritt der sprachmächtige „Ritter der Revolution“, Nomad, und sein tatkräftiger Gefährte Iwan, „der sich stets in die Richtung bewegt, in die er gestossen wird“, auf den Plan – und die Sache kommt in Gang. Irgendwann ist Nomad das Ganze jedoch nicht mehr schwungvoll genug: Er will weiterziehen – mit seinem Gefährten Iwan, der eigentlich lieber im Sowchos geblieben wäre: Man hatte ihn dort gerade vom Pferdeknecht zum Oberstallmeister befördert. „Aus der Distanz der 60er Jahre lässt Kosin seine ‚legendären‘ Helden in komischen und tragischen Episoden die ‚Schöpfungstage‘ des Sozialismus vorspielen,“ heißt es dazu heute in einem Antiquariatskatalog. Der Hauptkonflikt des Romans – Sozialismus oder rosaroter „Gnomensozialismus“ – liegt in dem Widerstreit zwischen dem revolutionären Geist Nomad, dem ewig jungen und sehnsüchtig Verliebten, der aus der Wüste einen Garten machen will, und Antiochus, dem Symbol selbstgefälligen Funktionärstums, der, ehemals Revolutionär, den Versuchungen der Macht erlegen ist.
Das erinnert an Erwin Strittmatters „Ole Bienkopp“, der seine Kolchose noch vor der Bodenreform gründen wollte – und ebenfalls bei den Funktionären auf heftigen Widerstand stieß. Auch er also ein (gescheiterter) Don Quichotte. 1989 erging es mir ähnlich, da ich als reingeschmeckter Rinderpfleger mithelfen wollte, die LPG Tierproduktion „Florian Geyer“ in Saarmund über die Wende zu retten – vergeblich: Schon eine kleine 12köpfige Demo vor der Schweinemastanlage reichte z.B. aus, damit der Rat des Kreises sie sofort schließen ließ.
Nun ist das Originalepos von Miguel de Cervantes – pünktlich zur Buchmesse – noch einmal neu bearbeitet worden. Eine Journalistin fragte die Übersetzerin Susanne Lange: War das nötig? Und sie antwortete: „Die meisten kennen den Roman nur vom ersten Teil her mit den komischen Episoden, wenn Don Quichote immer wieder Prügel bezieht und immer wieder scheitert oder gegen Windmühlen kämpft usw. Im Grunde sind das aber bloß Episoden am Rande. Der Roman ist eigentlich ein langes Gespräch zwischen zwei Leuten, die die ganze Zeit nebeneinander herreiten. Wie sich diese beiden Figuren anhand dieser Gespräche entwickeln, das ist das Interessante und Spannende. Sie beeinflussen sich gegenseitig. Sancho Panza ist zunächst der Bauer, der weder lesen noch schreiben kann und der am Anfang als nicht besonders hell bezeichnet wird. Im Gespräch mit Don Quichote entwickelt er sich aber vom ersten Moment an bis zum Ende des Romans immer weiter und Don Quichote übernimmt vieles von Sancho. Das ist eine ganz faszinierende Beziehung zwischen den beiden.“
Eine Herr-Knecht-Dialektik quasi, die zu immer flacheren Hierarchien führt?! Unterwegs im Deutschen Herbst hatte ich mich meist mit dem Pferd unterhalten, das seinerseits nur ab und zu nickte – ansonsten schwieg. Nur wenn wir in die Nähe eines Dorfes kamen, wieherte es laut – worauf alle Pferde im Tal antworteten. In den Städten ging es stattdessen freudig erregt auf jede Marlboro-Reklame zu oder auf sein Spiegelbild in den Schaufenstern.
Kosins „Nomad“ redete dagegen mit allen und ständig, hielt sogar aufmunternde Ansprachen. Nun hat der DDR-Schriftsteller Volker Braun das „Thema“ noch einmal aufgegriffen: Don Quichotte und sein Gefährte Sancho Pansa – ihre Abenteuer unterwegs. Heute. Jetzt helfen die beiden nicht mehr, den Sozialismus mit aufzubauen, sondern eher, ihn abzubauen. Und dabei sind sie mir – als „1-Euro-jobber“ (-päer) – auch wieder mehrmals nahe gekommen. Bei den beiden handelt es sich um den Havariemeister Flick aus Lauchhammer und seinen Enkel Ludwig, einen Heavymetal-Fan. Flick, der einstige Held der Arbeit im Lausitzer Braunkohlekombinat (BKK), wurde nach dessen Privatisierung und Umbenennung in die LAUBAG, die dann von Vattenfall übernommen wurde, in die Arbeitslosigkeit entlassen. Sein Enkel fand keine Lehrstelle – und war somit von Anfang an arbeitslos. Während jedoch Flick so sehr an die Arbeit gewöhnt war, dass er mit seiner vielen „Freizeit“ nichts mehr anfangen kann, ist der Enkel, „das Sorgenkind der Familie“, bereits in der neuen „Spaßgesellschaft“ groß geworden – und dabei „fröhlich verludert“, wie sein Großvater meint. Gemessen an der sozialistischen Utopie des Charles Fourier sind sie beide gescheitert: Dem einen gelang es nicht, alle Arbeit in Lust zu verwandeln und dabei die Trennung von Hand- und Kopfarbeit aufzuheben, der andere war drauf und dran, mit seinen Stöpseln im Ohr unter der Kapuze langsam zu verblöden.
„O Arbeit, besser wärs, du hättest nie begonnen. Einmal begonnen jedoch, solltest du nie mehr enden,“ so lautet das Motto von Volker Brauns 48 Schwänken – „Machwerk“ genannt – basierend auf dem „Schichtbuch des Flick von Lauchhammer“. Der Autor hat selbst einmal, bevor er Philosophie studierte, im Bergbau gearbeitet. Seinen Helden Flick nennt er einen „Durchreißer, wie er im Buche stand“. Dessen neuer „Dispatcher“ nun, die Sachbearbeiterin in der Agentur für Arbeit, Frau Windisch, hat jedoch nur Ersatzarbeitsplätze für ihn parat: „die Vorbereitung von Abfall zur Entsorgung, die Wiedervernässung von Mooren, das Auszählen von Vogelnistplätzen“. Erst einmal muß er aber eine Nummer ziehen: „Stell dich hinten an, wo dein Platz, Genosse, ist“. Und statt einer Komplexbrigade untersteht ihm dann beim Beräumen eines Truppenübungsplatzes der Roten Armee eine „Brigade voller Komplexe“. Früher sprach man von ABM-Kräften, nunmehr von 1-Eurojobbern, u.a. gehört dazu „ein früh berenteter Ökonom aus Karlshorst“. Sie diskutieren erst mal – wollen wohl gleich „zum geselligen Teil übergehn, der alten Mißwirtschaft,“ so verstand Flick das – und brachte sie auf Vordermann.
Auch bei seinem nächsten Einsatz, den das Jobcenter – Frau Windisch – ihm „vermittelte“, setzt er sich gleich an die Spitze der MAE-Brigade. Diese besteht aus zwei lahmärschigen Baumbeschneidern, denen er sofort die Motorsäge entwindet. Am Ende haben die Bewohner der Straße freie Sicht auf den Senftenberger See – den es dort gibt, „seit das Umland devastiert, abgebaggert und geflutet worden war“.
Der Aktionsradius von Flick wird immer größer. In Horno kommt er gerade noch rechtzeitig zum Einsatz, bevor das Dorf ganz verschwunden ist. Dort weigert sich nur noch das alte Gärtnerehepaar Werner und Ursula Domain, dem Braunkohlebagger zu weichen – und sich nach Neu-Horno bei Forst umsiedeln zu lassen. Die Firma Vattenfall beauftragt ungeachtet des noch schwebenden Verfahrens ein Subunternehmen mit dem Fällen der letzten Bäume im Dorf. Auch Flick ist als „1-Europäer“ mit dabei. Im Eifer des Gefechts legt er gleich die Obstbäume von Werner Domain mit um. „Dem war das Herz gebrochen,“ meint Volker Braun. Der Vattenfall-Konzern entschuldigte sich anschließend für das „Versehen“.
„Als es Flick später noch einmal an den Ort seiner Untat trieb, und das unschuldige Luder [Ludwig] durfte ihn begleiten, fanden sie die Stelle [wo Horno stand] gar nicht wieder. So groß und ungeheuer war die Wüstung.“ Die beiden beteiligen sich dort an der Umbettung der Toten auf dem Dorffriedhof – ebenfalls auf 1-Eurobasis. Dazu müssen die Skelettreste zusammengesucht werden. Hier wird Flick erstmals nachdenklich: Er ließ die anderen die „Knochenarbeit machen und gedachte der Seelenarbeit“. Volker Braun tut es ihm nach – ebenfalls mit Blick in die Gräber: „diese eingedeutschten Sorben und gewendeten Deutschen, Ackerbürger und feldgrauen Aktivisten. Ihr Wesen, schwer wie es ist, war wohl tief hineingesunken, und andererseits zu flüchtig, um sich nicht zu erheben! Diesem Elend, den Hoffnungen mußte nachgegraben werden oder anders nachgeblickt. Da war wenig abgegolten.“
Dies lesend fiel mir ein: Was machen eigentlich die Domains jetzt? Lebten sie überhaupt noch? Nachdem sie 2006 doch ihr Gehöft verlassen mußten und dafür 200.000 Euro von Vattenfall bekommen hatten, waren sie in ein schon Jahre zuvor gekauftes Haus nahe Guben gezogen. Seitdem hatte ich nie wieder etwas von ihnen gehört. Der Horno-Aktivist Michael Gromm hatte jedoch kürzlich mit ihnen telefoniert, er beruhigte mich: Es gehe ihnen gut, sie hätten neue Obstbäume gepflanzt und sich aus Teilen des alten Gehöfts einen Anbau fürs neue Haus geleistet. Das hätte der Zimmermann Ralph von den Besetzern der Lakomaer Teiche, die Vattenfall seit 2007 ebenfalls abbaggern darf, erledigt. Werner Domain dachte, er würde aus Solidarität da wochenlang bei ihm arbeiten, und fand dann die Rechnung von Ralph viel zu hoch. Obwohl er doch jetzt mehr als genug Geld hatte. Ich war erfreut, zu hören, dass der alte Domain anscheinend noch immer im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte war.
Auch bei den Lakomaer Teichen war irgendwann Flick mit seinem Neffen aufgekreuzt – anläßlich einer Besetzerdemo. Ludwig hielt dort „die Stellung“ – länger als Flick. Auf dem Alexanderplatz trafen sie dann „Die glücklichen Arbeitslosen“ ,namentlich ihren Gründer Guillaume Paoli, an dem Ludwig sogleich Gefallen fand. In der Volksbühne kam Flick während eines Nichtstücks mit und über 1-Eurojobber von Jürgen Kuttner ins Grübeln – über die richtigen Mittel für den Einsatz im Theater, die er aber nicht besaß (in seinem Werkzeugkasten). Im Kino sahen sie anschließend den Dokumentarfilm „Workingman’s Death“. Flick überlief es dabei heiß und kalt, Schweiß perlte ihm von der Stirn, so dass Ludwig ihn anstieß: „Großvater, come on!“
In Paris hausten sie eine Nacht lang in den „1-Euro-Iglus“ der Obdachlosen an der Seine. Und sogar bis nach Apulien verschlägt es sie, „Flick hielt Fühlung mit der Dispatcherin“, dort müssen sie mit einer polnischen Brigade u.a. Tomaten ernten – und werden dabei von den Wachen des Padrone wie „Sklaven“ behandelt. In einem der Schwänke kommt natürlich auch Flicks Kampf gegen Windkraft-Anlagen (WKA) vor.
„Man muß sich Sysiphos als einen glücklichen Menschen vorstellen!“ Wer hat das gesagt? Egal, diese kurzen MAE- (Mehraufwands-Entschädigungs-) Maßnahmen, das war jedenfalls keine Sysiphosarbeit. Flick wird darüber ganz krank, seine „Maschine“ macht nicht mehr länger mit. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wird, baut er mit seinem Neffen ein leichtes Motorrad mit einem Seitenwagen zusammen. In diesen setzt sich Flick, während Ludwig fährt. Der Alte läßt sich chauffieren. Sie kommen ins „Land der Frühaufsteher“. Hier bei Bitterfeld „lag die berüchtigte Grube Gottsche“, sie halten vor dem „Restloch“, Flick findet einen verschwundenen Fluß, kontrolliert den trockenen Lauf, ist sich nicht schlüssig, „ob hier ein Verweis oder die Prämie fällig wäre im Wettbewerb ‚Schöner unsere verschwundenen Dörfer und Städte‘.“ Es findet dort ein Rockkonzert statt. Das ist wieder eher was für Ludwig als für Flick.
Dies sind aber nur einige von 48 „lose zusammengefügten Schwänken“ (Berliner Zeitung), die die beiden durchstehen (müssen), bevor der alte Havariemeister endgültig in die Grube fährt („mit ihm ist eine Zeit zuendegegangen“) – und ein anderer „Experte ‚ganz ruhig‘ die Arbeitsagentur Nord“ betritt und den „Tisch der Sachbearbeiterin mit einem 5-Liter-Kanister Spiritus in Brand“ setzt. Diese „erleidet daraufhin einen Schock; aber auf dieses Mittel setzt Verf. nicht“ – fügt Volker Braun hinzu, vielleicht aus juristischen Erwägungen heraus. Dennoch scheint es ihm manchmal das einzig Sinnvolle zu sein. Die Kapitalmedien im Westen haben ihm das übel genommen: „Man fragt sich, weshalb er aus seinem Flick einen Schwank gemacht hat, wenn er es doch ernst meint…,“ schreibt die FAZ. Die ZDF-„Heute“-Sendung bemühte sich dagegen um sachliche Hintergrund-Information: „Das Kulturinstitut Cervantes ist nach dem berühmten spanischen Autor Don Quichotte benannt.“
In einem kleinen Nachwende-Text, eine Eloge auf den Dichter und Anarchisten Bert Papenfuß (damals noch) – Gorek, kommt Volker Braun auch auf Narva zu sprechen – sowie auf den Glühbirnenerfinder Dieter Binninger, der nachdem er seine Kaufofferte für das Berliner Glühlampenwerk Narva bei der Treuhand eingereicht hatte, mit dem Flugzeug bei Helmstedt abgestürzt war. Der Papenfuß-Text von Volker Braun wurde dann in einem orangenen Sammelband in der edition suhrkamp veröffentlicht.