vonHelmut Höge 04.12.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Der praktische Solipsismus im Rausch der Geschwindigkeit und im Licht der Erkenntnis – Alfred Sohn-Rethels

Als Student in Heidelberg (1920/21) beschäftigte sich Alfred Sohn- Rethel „solide eineinhalb Jahre“ mit der Marxschen Warenanalyse, „um sie auf Herz und Nieren zu prüfen“. Dann versuchte er eine „kritische Abweichung“ zu formulieren.

Und damit ist er heute immer noch beschäftigt. Marx, so sagt er, habe sein eigenes Präzept der 1. Feuerbachthese nicht befolgt („Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts und der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv…“) Statt also nur auf die Eigenschaften Gebrauchswert und Tauschwert zu achten, müsse man auf die Tätigkeiten Gebrauchen und Tauschen zurückgreifen, dann werde einem vieles klar, was Marx verhültt geblieben sei, sagt Sohn-Rethel: „Ohne Befolgung der Feuerbachthese hätte ich nicht von der Warenanalyse zur materialistischen Erkenntnistheorie vorstoßen können“.

Als ich ihn im Sommer 1986 nach längerer Zeit wieder einmal in Bremen besuche, sitzt er wie fast immer an seinem Schreibtisch und denkt. Dabei schaut er sinnend an die Decke. Vor ihm liegen ein Blatt Papier, drei Bleistifte (Stärke „5 B“), sein altes Taschenmesser und ein Schleifstein aus belgischem Basalt („Das sind die Besten!“). Wenn an der weißen Decke nichts mehr zu holen ist, spuckt Alfred Sohn-Rethel auf den Schleifstein, schärft sein Messer darauf und spitzt dann mit der scharfgemachten Klinge die drei Bleistifte an.

Zur Zeit ist er mit dem Vorwort für eine französische Übersetzung seines Buches „Geistige und körperliche Arbeit“ beschäftigt. Zuvor hatte er, gewissermaßen zur Entspannung, einige Geschichten aus seinem Leben aufgeschrieben, die seine Mitbewohnerin Bettina Wassmann dann in ihrem Verlag veröffentlicht hatte. Eine, aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die er im Londoner Exil verbrachte, heißt „Sigurds Ratten“. Er hatte sie eines Abends beim Essen Bettina Wassmann erzählt. Nein, eigentlich hatte er etwas ganz anderes erzählt: Von seiner Arbeitsgruppe in Oxford, wo er den Numismatiker George Thomson kennengelernt hatte, der über die Frühgeschichte Griechenlands forschte. Mit ihm hatte er dann darüber gesprochen, wie mit dem ersten Geldverkehr das abstrakte Denken entstanden sein könnte. Bei Thomson hatte Alfred Sohn- Rethel das historische Material gefunden, das seine – 1972 unter dem Titel „Geistige und körperliche Arbeit“ veröffentlichte – marxistische neue Erkenntnistheorie mit der Plausibilität des Empirischen anreicherte. Später – in den siebziger Jahren, wieder in Deutschland, an der Bremer Universität, hatte er sich derart in das Griechenland der Ersten Philosophen eingearbeitet, daß man, wenn er in einem Seminar darüber sprach, das Gefühl bekam, er sei dabei gewesen, habe das antike Athen noch selbst erlebt. Ähnliches empfand man, wenn er über die Renaissance sprach – über die intellektuellen Duelle der oberitalienischen Mathematiker und dann über die Versuche Albrecht Dürers, die sich abzeichnende Aufspaltung der Handwerker in wenige Künstler oder Wissenschaftler – Kopfarbeiter – einerseits und viele (Hand-) Arbeiter andererseits aufzuhalten.

– Alfred, wenn einem mit Deiner Bearbeitung der Warenanalyse sozusagen ein Licht aufgegangen ist – über den Ursprung unseres wissenschaftlichen Denkvermögens und über die abstrakte Herstellung des gesellschaftlichen Zusammenhangs, in dem wir leben, dann wird man an allen Ecken und Enden immer wieder auf deine Erklärung gestoßen. Der Begriff der „Zeitökonomie“ beispielsweise, den Du in deinem Buch ‚Ökonomie und Klassenstuktur des deutschen Faschismus‘ bei der Erklärung des Nationalsozialismus verwendet hast…

– Darauf bestehe ich auch heute noch, ja heute erst recht, denn das ist meiner Meinung nach ein Schlüssel… Es geht nach wie vor um das Produzieren mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit, um aus den fixen Kosten, die dominierend geworden sind, den bestmöglichen Profit herauszupressen. Dafür kommt es ja auf die Stückkosten an, die am geringsten sind, wenn eine möglichst große Menge von Stücken sich in die fixen Kosten teilen und wenn kontinuierlich und pausenlos produziert werden kann. Dieser Kausalzusammenhang bewirkt, daß die heutige Großindustrie in der Rationalisierungsform des Fließbetriebes den Markt von vornherein mit Überproduktion beliefert. Dem Monopolkapital geht es längst nicht mehr um die Befriedigung irgendwelcher bestimmter Bedürfnisse, nach der es sich ausrichten könnte, wie das anfangs des 19. Jahrhunderts wohl noch der Fall gewesen ist. Heute geht es nur noch um die Höchstausnutzung der Kapazitäten mit Hilfe elektronischer Betriebsmittel zwecks maximaler Tempobeschleunigung. Wenn der Ausstoß bei allem Reklamedruck nicht abzusetzen ist, dann muß er eben außerhalb des Marktes untergebracht werden, nämlich in Gestalt von Rüstungsmaterialien oder Großverschwendung wie Raumfahrt etc., die nicht mehr aus dem Markt, sondern aus Staatsmitteln bezahlt werden. So ging es im Deutschland der 30er Jahre. Wenn der Staat mit solchen Zahlungen hantiert und nicht so reich ist wie die USA, dann müssen die Zahlungen mit der Gewalt der Diktatur aus dem Volk herausgepreßt werden. Oder aber man läßt die Schulden Schulden sein, auch wenn sie in die Hunderte von Milliarden Dollar steigen, und oben drauf noch SDI. Freilich gibt es außer der gleichartigen Ökonomie auch Verschiedenheiten, z.B. solche wie zwischen Reagan und Hitler und zwischen der soliden amerikanischen Demokratie und der deutschen Klassenverwirrung nach der Inflation. Aber wie groß ist der Unterschied zwischen dem Nazirassismus und dem Jingoismus à la ‚Top Gun‘? Gleichwohl zugegeben: das Skelett ist dasselbe, die Muskulatur aber, die es bewegt, eine andere. Die computerisierte Produktion und die Massenarbeitslosigkeit bei ständig wachsender Krisen-Lähmungsdauer sind hinzugekommen. Und der Krieg als Belebungsfaktor wie in den Dreißigern ist uns verwehrt, falls wir uns nicht selbst mitsamt der Zivilisation vernichten wollen. Heute handelt es sich um die Alternative, ob diese Gesellschaft sich durch einen Krieg selbst vernichtet oder sich durch zunehmende Arbeitslosigkeit zerstört. Das sind die Alternativen des Systems. Und das ist gar nicht sonderlich weitläufig gedacht, sondern ganz schlüssig und meiner Meinung nach unausweichlich. Der Einstieg in die Computerisierung der Produktion bewirkt hierbei keine Veränderung, nur eine Steigerung. Etwas anderes wäre es , wenn die Arbeitlosen selbst initiativ würden. Viele tun das ja auch, aber in ungenügendem Maße und mit ungenügenden Mitteln. Man sagt, daß ein qualifizierter Facharbeiter nach drei Jahren Arbeitslosigkeit alles Fachkönnen verloren hat. Er kommt dann nicht mehr in den inzwischen veränderten Arbeitsprozeß rein, er findet sich nicht mehr zurecht.

– Unterschätzt du damit nicht die Schwarzarbeit, die Schattenwirtschaft, die Selbstorganisation?

– Es gibt darin sicher eine Menge vielversprechender Ansätze und Projekte, aber die sind – mindestens derzeit noch nicht – verallgemeinerbar. Die ganze Profit-Basis hat sich ja mittlerweile verändert, die geht nur noch zum Teil und in ganz bestimmten Bereichen auf den Mehrwert zurück, aber in der High-Tech-Produktion gibt es ja kaum noch Arbeiter. Die machen ihren Profit nur aus der Konkurrenzjagd nach dem Kapitalumschlag mit der größten Geschwindigkeit. High-Tech- ist High- Speed-Produktion…

– Auch im intellektuellen Bereich. Das führt dann zu solch dromologischen Exzessen wie in dem Buch von Tracy Kidder ‚Die Seele einer neuen Maschine‘, in dem es um den Bau eines neuen Computers geht; über den 35jährigen Projektleiter steht dort: ‚Er war ein cleverer und ausgelassener alter Herr.‘ Normalerweise sind diese Leute bereits mit 30 „burned out“ – ausgebrannt, immer heller und kurzlebiger müssen sie strahlen. Apropos: Das erinnert mich an eine Bemerkung Rolf Schwendters: In den 20er Jahren beschloß das internationale Glühbirnen-Kartell (mit Ausnahme Japans), die Brenndauer von 28 auf 24 Stunden herabzusetzen; sowie auch an Dein Berliner Osram-Beispiel aus der Zeit der Hochinflation, als die Arbeiter mit Glühbirnen bezahlt wurden, was als Tauschmittel natürlich nur für kurze Zeit funktionierte – dann hatten alle Händler genug Birnen für den Rest ihres Lebens auf Lager. Du hast ja auch mal eine Glühbirnenfabrik in Rotchina besucht, während der Kulturrevolution: Dort brannten sie länger und heller. In deinen Seminaren bist Du vor allem immer wieder auf Parmenides zu sprechen gekommen, für den die Vernunft ein Geschenk der Göttin Dike war, in Form eines strahlend hellen Lichts…

– Mit Parmenides habe ich es ja nun ganz besonders: Ich leite die Abstraktion aus der Vergesellschaftung ab, und zwar aus dem Austausch, und die Weise, wie dieses Denken entsteht, hat mit dem ‚Geist‘ nichts zu tun. Die Trennung des Tausches vom Gebrauch, die die Ursache ist für die Abstraktion, geschieht nur der Tatsache nach – in den Handlungen. Das Bewußtsein nimmt daran nicht teil. Das kann sich ruhig mit dem Gebrauchswert beschäftigen, während getauscht wird. Nun ist aber die Frage, wenn das die Ursache des abstrakten Denkens sein soll, wie ich sage, dann muß man aufweisen können, wie sich diese Realabstraktion, die nichts mit dem Denken zu tun hat, umsetzt in die Denkabstraktion. Das hat Christine Woessler damals schon bemängelt, daß das bei mir nicht klar wird. Nun ist das natürlich sehr knifflig, aber ich habe mittlerweile eine Methode gefunden – und die zielt auf Parmenides ab. In einem früheren Aufsatz ‚Das Geld – die bare Münze des Apriori‘, den Du ja in einer früheren Version – als eine „Kritik der Kantschen Erkenntnistheorie“ in der Zeitschrift ‚Neues Lotes Folum‘ abgedruckt hast, freundlicherweise von allen Stalin- und etlichen Lenin-Zitaten befreit, die ich bei der Abfassung in den Fünfzigerjahren da reingeschrieben hatte, um den ML-Kollegen in Japan, aber auch in Ostberlin verständlich zu bleiben…In diesem Aufsatz hakte ich schon an der Tatsache ein, daß das Geld emittiert wird mit dem Versprechen, seinen Verschleiß zu ersetzen – für verschlissenes Geld bekommt man Neues auf der Bank. Der große Postraub in England damals basierte darauf: Eigentlich hatten die nur Altpapier – Makulatur – gestohlen, aber es wurde wieder Geld,dadurch daß sie es stahlen…

– Was hat der Postraub mit Parmenides zu tun?

– Das Geld darf sich nicht verschleißen, folglich braucht man dafür Materialien, die nicht verschleißbar sind. Solche Materialien gibt es in der Natur aber nicht. Das Geld hat also eine virtuelle Materie, mit der es natürlich nicht umlaufen kann, weil sie nicht sichtbar ist, und auchkeinen Geldwert hat. Das Geld steht immer ineins mit einem gebrauchswerten Material, Edelmetall ist ja Gebrauchsgut; also an die reine Tauschabstraktion kommt man nur auf dem Wege, daß man auf der Verschleißersetzung insistiert. Und da hat man nun eine merkwürdige Substanz, die keine natürliche und nicht anschaulich ist, die sich dem Parmenides aufgedrängt hat. Denn der einzig wirkliche Begriff, der dem entsprach, zu seiner Zeit, ist das „tò ón“ des Parmenides, sein Seins-Begriff. Dieser Begriff, den er da entwickelt hat, ist verträglich mit dem virtuellen Geldbegriff, und dieser virtuelle Begriff der Materie, die nicht verschleißbar sein darf, ist ein echter Bestandteil der Realabstraktion. Da kommt er her und wird bei Parmenides zum Begriff. Hegel bemerkt in seiner „Geschichte der Philosophie“ dazu: ‚Mit Parmenides hat das eigentliche Philosophieren angefangen, die Erhebung in das Reich des Ideellen ist hierin zu sehen‘. Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich das gefunden habe, denn es ist sonst wahnsinnig schwer, den Weg zu finden, auf dem man überhaupt beweisen kann, daß eine Realabstraktion, oder ein Teil davon, sich in Denkabstraktion übersetzt hat.

– Gleichzeitig hat sich Parmenides aber auch schon Gedanken darüber gemacht, wo die Vernunft, das abstrakte Denken, denn nun herkommt…

– Ja, er hat sein ‚tò ón‘ nicht erfunden. Das ist sehr wichtig. Es ist ihm fertig gegeben worden. Er sagt, es ist von Dike, der Göttin des Rechts und der Wahrheit. Hier habe ich die Stelle – über das Seiende: ‚Weil ungeworden, ist es auch unvergänglich, ganz, einzig, unerschütterlich, ohne Ende, und nie war es oder wird es sein, da es jetzt zugleich ein einheitliches zusammenhängendes Ganzes ist. Was wolltest du denn auch für einen Ursprung für das Seiende erfinden, woher sollte es gewachsen sein…‘ Er kommt da an den Begriff heran. Und weiß natürlich nicht, daß es mit dem Geld zu tun hat. Da muß ihm erst später ein anderer – Anaxagoras – aushelfen. um seinem Begriff des Einzigen, Unvergänglichen, des Seins, die nötige Bewegung zu verschaffen. Anaxagoras führt dabei als erster – etwa gleichzeitig mit Demokrit – den Atom- Begriff ein. Dadurch lockert sich das Feld auf und dadurch kann dieser Gedanke und die Bewegung für die Naturwissenschaft ausgewertet werden. Ich habe jetzt für die französische Übersetzung meines Buches ‚Geistige und körperliche Arbeit‘ einiges überarbeitet darin, vielleicht kann ich daraus einen Abschnitt Dir hier mal vorlesen:

‚Die Tauschabstraktion gehört zum Warentausch, sie gehört nicht zu seiner geschichtlichen Vorform, dem Geschenk- oder Gabentausch. Der Gabentausch ist gekennzeichnet durch die Verpflichtung der Reziprokation der empfangenen Gabe, der Warentausch aber darüberhinaus gekennzeichnet durch das Postulat der Äquivalenz der getauschten Objekte. Diese Unterschiede und Gegensätze bedürfen der Aufklärung. Die erste umfassende Erforschung des Gabentauschs ist Anfang des Jahrhunderts durch Marcel Mauss erfolgt. Seine zwanzigjährigen Untersuchungen kamen 1924 in Paris zur Veröffentlichung in seinem berühmten Essay ‚Die Gabe – Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften‘. Seine Methode ist die des präzisen Vergleichs, sie reicht aus, ihm zur genauen Beschreibung der Phänomene in ihrer ungeheuren vielfachen Komplexität zu verhelfen. Eine historische Erklärung des Gabentauschs als solchen hat er nicht angestrebt. Es findet sich bei Mauss nicht einmal eine Definition dessen, was er unter ‚archaischer Gesellschaft‘ verstanden wissen will. Ich sublimentiere jedoch aus eigenem eine solche, wie sie mir am offenkundigsten erscheint. Als archaisch sollen Gesellschaften verstanden sein, welche zumindestens für ihre Primärproduktion, also Bodenbearbeitung, mit keinen anderen als steinzeitlichen Geräten und Werkzeugen ausgestattet sind. Mit solchen Ausrüstungen ist keine Einzelproduktion, keine individuelle Selbsterhaltung möglich, deshalb kollektive Produktion und Gemeineigentum der einen oder anderen Art eine Notwendigkeit. Nun präzisiert Marcel Mauss sein Forschungsproblem wie folgt: ’so untersuchen wir von all diesen Prinzipien im Grunde doch nur ein Einziges: Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, dass in den rückständigen oder archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk obligatorisch erwidert wird?‘ Das ist sein Puzzle. Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie erwidert?

Und dazu sage ich: In der Frage folgt Mauss bereits einer falschen Fährte: Die Erwiderung haftet nicht am Ort des Austauschs, sie haftet auch nicht am Zeitpunkt oder an der Sache, die Erwiderung hängt vielmehr an der Person. Eine Person, die eine Gabe, die sie empfangen hat, ohne jedwede Erwiderung ließe, sie also als ihr persönliches und definitives Eigentum behandelte, würde sich in einen unerträglichen Gegensatz zu ihrem kollektiven Gemeinwesen setzen und ihre Ächtung provozieren. Hier haftet auch die Person für ihre soziale Bewährung und Bestätigung an der Erwiderung. Kein Zweifel deshalb, innerhalb eines archaischen kollektiven Gemeinwesens ist die Erwiderung der empfangenen Gaben genugsam zuverlässig. Ist das aber in anderen, späteren Gesellschaften auch noch so? Das auf das Steinzeitalter folgende Bronzezeitalter bringt in den wesentlichen Punkten noch keine Umwälzung hervor, da Bronze zu kostbar ist und nur den Herrschenden für Waffen und Luxusgegenstände zur Verfügung steht, die Primärproduzenten hingegen in der Hauptsache bei ihren Steinwerkzeugen beläßt. Allerdings verschafft die Anlage von Bewässerungssystemen in den großen aluvialen Flußtälern vom Nil bis zum Hoang-Ho in China den Herrschern in der Bronzezeit eine erheblich gesteigerte Agrarausbeute. Der entscheidende Bruch in der Tradition der archaischen Gesellschaften tritt ein durch die Eisengewinnung und die sich entwickelnde Eisenbearbeitung. Das Eisenerz ist nahezu überall verfügbar, jedenfalls war dies in Griechenland der Fall, und Metallgeräte sowie Werkzeuge aus Eisen ungleich billiger und überdies härter als diejenigen aus Kupfer und seinen Legierungen. Die Verwendung von Eisengerät in der Bodenbearbeitung bringt eine wirtschaftliche Umwälzung in der Agrarproduktion hervor. Sie kann jetzt erfolgreicher als Einzelwirtschaft betrieben werden als in der umständlichen und aufwendigen Art der vorhergehenden kollektiven Aluvialwirtschaft. Mit dem Übergang zur Eisentechnik entsteht die Ökonomie der kleinen Bauernwirtschaften und der unabhängigen Handwerksbetriebe, die beide – nach Marx‘ berühmter Fußnote – ‚die ökonomische Grundlage der klassischen Gemeinwesen in ihrer besten Zeit bilden, nachdem sich das ursprünglich orientalische Gemeinwesen aufgelöst und bevor sich die Sklaverei der Produktion ernsthaft bemächtigt hat‘.

Im Eisenzeitalter tragen die Einzelwirtschaften die Verantwortung für ihre Selbsterhaltung. Vor diesem Hintergrund ist nun freilich auf die Bereitschaft zur Erwiderung beim Gabentausch kein Verlaß mehr, und der Austausch muß eine tiefgreifende Umformung erfahren, eben die Umformung zum Warentausch, d.h. die zuvor im zeitlichen Abstand zur Gabe lose erfolgende Erwiderung verkoppelt sich jetzt strikt mit ihr zur prompten Bezahlung der Gabe an Ort und Stelle, so daß die beiden Akte des Austauschs wechselseitige Bedingung füreinander werden und zur Einheit und Gleichzeitigkeit eines Tauschgeschäfts zusammengekettet sind. Die Partner dieses Verhältnisses stehen nun als Käufer und Verkäufer erst eigentlich in vollem Sinne der Tauschhandlung und Tauschverhandlung sich gegenüber.

Keiner der beiderseitigen Akte des Gebens und Nehmens ist für sich der Tauschakt. Der Tauschakt ist das komplexe Verhältnis, in dem die beiderseitigen Handlungen sich zur Einheit des Austausches aufwiegen. Das ist keine physische Einheit, sondern ein Rechtsverhältnis. Das Mengenverhältnis ihrer Warenposten, auf das die Tauschpartner sich einigen, hat Vertragscharakter, schriftlichen odermündlichen.

Im Warentausch ist der Akt gesellschaftlich, aber die beiden Mentalitäten sind privat; das sagt sich bündiger und klarer auf englisch: In commodity exchange the act is social, the minds are private. Das Gesellschaftliche am Warentausch ist also der bloße Akt der Besitzübertragung in absoluter Abstraktion von allem, was die Privatbesitzer im Kopf haben. Der gesellschaftliche Akt allein ist tauschwertig, quantitätsbestimmt, absolut abstrakt und generell, die privaten Mentalitäten sind gebrauchswertig, qualitätsbestimmt, konkret und individuell. Am reinen Abstraktionscharakter des Tauschaktes hängt die Funktion der Vergesellschaftung, die bei privater Warenproduktion an der Warenzirkulation hängt. Durch die Abstraktheit des Tauschaktes werden die Waren, die seinen Gegenstand bilden, in einen identisch übereinstimmenden Formkanon gesetzt, in dem sie alle als bloße Quantitäten vergleichbar miteinander sind und Objekte eines interdependenten Marktverkehrs werden können. Einzigm dadurch ist die Marktgesellschaft der Warenproduktion – das mirakulöse Phänomen einer Gesellschaft nach Prinzipien des Privateigentums – und somit auch die Warenproduktion selbst überhauptmöglich. Dieser hintergründige Funktionalismus ist den Individuen vollkommen verschlossen, er spielt sich ab im Blindpunkt des individuellen Bewußtseins. Kant hätte ihn als transzendental qualifiziert, Marx und Engels bezeichneten sein Ergebnis als Verdinglichung. Den Individuen der bürgerlichen Gesellschaft kann er sich schwerlich anders denn in der idealistischen Fetischgestalt des ‚Geistes‘ verbrämen, weil die Abstraktionsformen, die sie ihm verdanken, gänzlich unsinnlich und körperlos und doch persönlich zu eigen sind. Materialistisch verstehen sich diese Formen nicht als Geistesprodukte, sondern als die Vergesellschaftungsformen des Denkens.

Darin erweist sich dem geschichtlich zeitlosen Denken sein Geschichtsgrund in der Struktur des Warentausches. Die Allgemeingeltung des ‚rationalen‘ Denkens erstreckt sich über alle Formationen der Warenproduktion, vom Beginn des Eisenzeitalters in der griechischen Antike bis zum Anbruch des Atomzeitalters und der Elektronik von der Mitte unseres Jahrhunderts an. In seiner absoluten Abstraktheit enthält der gesellschaftssynthetische Tauschakt eine begrenzte Vielfalt von Elementen, deren hauptsächliche ich analytisch aufgewiesen habe; diese Elemente fügen sich zum strukturellen Schema der Mechanik zusammen. Auf die Entdeckung dieses Schemas und seiner Mathematisierbarkeit hat Galilei die mathematische und experimentelle Methode der exakten Naturwissenschaft gegründet bzw. zu ihrer Ausbildung durch Newton den Grund gelegt. Dabei verkennt er die Mechanik des Austauschaktes – d.i. der abstrakten Physikalität der Warenbewegung, und des Geldumlaufs zwischen je zwei Eigentümern – als die Grundgesetzlichkeit der Natur. Die Naturwissenschaftler glauben, die Ausschaltung des Anthropomorphismus und den Zugang zur objektiven Naturerkenntnis geschaffen zu haben, sie haben aber nur einen früheren durch ihren eigenen Anthropomorphismus ersetzt. Der allerdings hat die entscheidenden Vorteile der mathematischen Methode und des messenden Experiments für sich. Auch die exakte Naturerkenntnis erfährt aber ihr geschichtliches Ende durch die Ablösung des Maschinenzeitalters durch das Atomzeitalter. Atomare Vorgänge entziehen sich dem mechanistischen Zugriff.

– Ich möchte noch einmal auf den Akt des Tauschens zurückkommen: Was passiert dabei genau?

– Die Individuen stellen dabei Gesellschaft her, sie wissen es nicht, aber sie tun es, und zwar in einer Weise, an der die Natur keinen Anteil hat. Zuvor basierte der gesellschaftliche Nexus auf der gemeinsamen Produktion und Konsumption, also auf dem elementaren Naturverhältnis des Gemeinwesens, dem man sich mit den Mitteln der Magie zu vergewissern suchte. Innerhalb eines Warentauschs sind alle Handlungen für die beiden Akteure gemeinschaftliche, ihre Handlungen können nicht mehr aufgelöst werden in beiderseitige Einzelbeteiligungen; nur wenn sie den Vertrag unterschreiben, dann muß jeder seine eigene Unterschrift leisten. Es ist alles gemeinschaftliche Handlung, und das, obwohl sie in einem Verhältnis der wechselseitigen Fremdheit zueinander stehen, in einem praktischen Solipsismus, wie ich das nenne. Die Gemeinschaftlichkeit des Handelns tritt also hier ein – im Bereich der Zirkulation, in dem Maß der Auflösung der früheren gemeinschaftlichen Produktion und Konsumption. Also der gesellschaftlichen Gemeinschaft der Natur gegenüber. An die Stelle tritt jetzt Privatproduktion und da wird im Verhältnis zur Natur ganz was anderes gebraucht: der Einzelne muß der Natur gegenübertreten, gedanklich. Dabei kommt ein ganz anderes Verhältnis zur Natur auf. Ein überlegtes Verhältnis, ein beobachtendes Verhältnis, und das tritt in der Tat auf zu Beginn der griechischen Zivilisation, mit den ionischen Naturforschern. Die Naturforschung ist der eigentlich Inhalt der griechischen Philosophie, mit Ausnahme von Sokrates und der Sophistik. Die ganzen Vorsokratiker, das geht noch bis zu den Römern, bis zu Lukrez, das ist alles beschäftigt mit der Theorie der Natur, als Folge der Auflösung der gemeinwirtschaftlichen Produktion und Konsumption, und das dreht sich um auf die gemeinschaftliche Besorgung des Zirkulationsprozesses und eine ganz neuartige Gesellschaft. Da sieht man richtig, wie sich die Gesellschaften umwälzen. Ich sehe das jedenfall so. Und dadurch ergibt sich ein sehr klares Bild dessen, was da wirklich passiert ist. Denn diese ersten Praktiken des Warentauschs haben da das Privateigentum verbreitet und den Rechtscharakter des Tausches. Und diese beiden Dinge gehören zur Grundlage der Polis.

– Die Spartaner scheinen die gemeinschaftszerstörende Kraft dieser Dinge erkannt und gefürchtet zu haben, dort wurde immer wieder der Privatbesitz aufgehoben und das Land – zu gleichen Teilen – wieder verlost, um erneut gleiche Ausgangsbedingungen für alle Freien zu schaffen…

– Die Spartaner durften ja nicht tauschen, weil sie kein Geld haben durften. Und das Geld war dazu nötig. Bei mir entsteht ja kraft der Tauschabstraktion das was Marx auch die Warenform nennt, quantitativ und abstrakt und vollkommen identisch gleich, in jedem einzelnen Fall. Und der einzelne Fall ist jeweils dieses Tauschverhältnis, da entsteht die Warenform, hier und da und dort, überall. Und um die nun zur Gesellschaft zusammenzuschweißen, braucht man Geld, das Geld ist die universalisierte Warenform als separates Ding – Münze.

– Und wer garantierte den gleichbleibenden Wert des Geldes, die Stadt?

– Das ist nun die Frage. Es gibt etliche Anzeichen dafür, dass es die sogenannten Tyrannen gewesen sind, wenigstens die frühen aus dem 7. und 6. Jahrhundert vor der Zeitrechnung. Sie scheinen für die ausgegebenen Münzen die nötige Garantie getragen und die entgegenstehenden traditionellen Ordnungen und Fürsten beseitigt zu haben, um dadurch den Bestand der betreffenden Polis vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Wir wissen nicht, wann es zur Münzprägung gekommen ist, ob z.B. vor oder nach der schweren Agrarkrise in Attika, aus deren bestandsbedrohenden Ausmaßen Solon durch seine Reformen in den ersten Jahren des 6. Jahrhunderts den athenischen Staat rettete. Er hat selbst gesagt, daß er sich zum Tyrannen hätte aufschwingen können, wie Pisistratos zwanzig Jahre später das getan hat. Vergleichbare Krisenzustände scheinen in Korinth geherrscht zu haben und dort Grund zur Geldprägung gewesen zu sein. Die Krise erwuchs aus der abnehmenden Getreideerzeugung der heimischen Bauern bei wachsender Bevölkerung und geographischer Engigkeit des Staatsgebietes. Nach der solonischen Reform ging Athen zur Beschaffung des fehlenden Getreides von auswärts über, etwa von Naukratis oder vom Pontus, im Austausch gegen Olivenöl und Wein, von denen der nötige Überschuß auf den Gütern der Adligen sich gewinnbringend anbauen ließ. Aristoteles bezeichnet in der ‚Politik‘ für einen solchen Handel die Verwendung von Geld als eine Notwendigkeit. Aber das darf nicht zu der verkehrten Vorstellung führen, als ob nun der gesamte äußere und innere Güterverkehr Athens stoßartig zum Warentausch mit Geldwirtschaft übergegangen sei. Im Gegenteil, der Warentausch kann zu Anfang nur eine seltene, episodische Rolle gespielt haben, und es hat einer mehrhundertjährigen Zeit bedurft, um den Warentausch im Alten Griechenland zur vollen Entwicklung kommen zu lassen. Erst Ende des 4. Jahrhunderts und im anschließenden Hellenismus ist dieser kulturell beklagenswerte Umschwung erreicht; er bezeichnet auch das Ende der Polis. Wie aber war der vorangehende Zustand, also die eigentliche griechische Antike beschaffen? Das Konstitutionsgesetz der Antike lautet: Fortführung des Gabentauschs unter Bedingungen der Eisenzeit und der Münzprägung, also trotz eines seiner klassischen Grundlage im kollektiven Gemeinwesen entgegengesetzten Hintergrunds. Die Reziprokation der empfangenen Gaben, worauf der Gabentausch beruht, konnte nicht mehr als selbstverständliche Regel unterstellt werden; Er bedurfte der Sicherung durch Sakralisierung, d.h. der Pflege des mythologischen Götterkultes und des sakralen Opferdienstes, institutionalisiert und überwacht durch die Priesterschaft der zahlreichen Tempel, um die herum jede Polis erbaut war. Zwei Schriften insbesondere haben Pionierdienste für die Einsicht in diese Zusammenhänge geleistet: Bernhard Laum ‚Heiliges Geld‘, 1924 und Horst Kurnitzky ‚Triebstruktur des Geldes‘, 1974. Merkwürdig ist freilich, daß beide Autoren die geschichtliche Grundlage der Phänomene, die sie beschreiben, ignorieren und ihre Arbeiten als vernichtende Kritik an der Marxschen Geldtheorie verstehen! Darin haben sie auch acharnierte Anhänger gefunden.

Bei diesen historischen Geschichten will ich aber gar nicht so in die Einzelheiten gehen, das sollen andere machen. Ich kann ja kein Griechisch und kann mich nicht in die griechischen Details einmischen. Jedenfalls, das ist so die Grundlage dessen, was ich z.Zt. schreibe und das führt meinen Gedanken ziemlich weiter – erstens ins Genauere und dann überhaupt weiter, dadurch, daß ich zum ersten Mal einen Verbindungsfaden aufgespürt habe, wie die Realabstraktion die Denkabstraktion hervorbringt. Denn das ist ja doch allerhand, wenn man das verfolgen kann, und bis man es verfolgen kann. Nun findet man natürlich nicht überall und jedesmal einen solchen Ariadnefaden für einen Begriff – z.B. für den Begriff des Atoms oder für den der Bewegung auch, der dann ja weiter gegangen ist. Im Großen und Ganzen aber kann man sagen, dass in der gesamten griechischen Philosophie bis Aristoteles die Umsetzung der Realabstraktion in Denkabstraktion auf dem Plan stand. Das wußten sie natürlich nicht.

– Aber es gibt doch Hinweise, dass zumindest die Dichter es mitunter geahnt haben, einige Verse in Sophokles‘ ‚Antigone‘ z.B.: ‚Oh, nichts trug solch ein Unheil in die Welt/ als Gold! Die Städte stürzt es in den Staub/ Die Menschen treibt es weg von Haus und Herd/ Des Mannes Sinn betört’s mit arger Lehre/ Und bringt den Guten selbst zu böser Tat/ Zu Schurkerei treibt es den Menschen an/ Und lehrt ihn jede gottvergssne Tat…‘

– Ja, sehr richtig. Die griechische Philosophie hat jedoch wegen dieser Gesamtthematik diese einzigartige Bedeutung für uns. Und deswegen sind ihre Inhalte immer noch Diskussionsgegenstände – mit Kant, Hegel usw.. Es existiert immer noch eine Diskussionsgemeinschaft mit den ‚Alten‘.

– Während Deine mit den ‚Jungen‘ – der Frankfurter Schule – abgerissen ist…

– Vor einiger Zeit hat der Hamburger Philosophieprofessor Stefan Breuer eine Untersuchung angestellt über das Verhältnis von Adorno und Horkheimer; er hat diese Sache in der Zeitschrift ‚Leviathan‘ und veröffentlicht. Diese Arbeit war sehr gut, er wußte aber natürlich nichts von meinem Briefwechsel mif Adorno, er hat nur die Gegensätze zwischen den beiden herausgearbeitet und daß Horkheimer Kantianer geblieben ist, und erkenntnisteoretisch jedenfalls ein Idealist war. Ich habe Stefan Breuer angeschrieben und ihm gesagt, daß ich seine Einschätzung teile und daß ich dem noch etwas hinzufügen möchte, wobei ich ihm einen Brief von Adorno an mich aus dem Jahr 1936 geschickt habe. Das hat Stefan Breuer interessiert und es ist daraus ein Briefwechsel zwischen ihm, Bodo v. Greiff und mir entstanden, der dann in der Zeitschrift ‚Leviathan‘ abgedruckt wurde, zusammen mit Auszügen aus dem Brief von Adorno. Es konnten nur Auszüge sein, da der Herausgeber des Adornoschen Nachlasses, Dr. Rolf Tiedemann, Einwände geltend gemacht hatte. Dazu kommt aber nun noch folgendes: Dieser Brief von mir, auf den sich Adorno in seinem Antwortschreiben bezieht, und der so großen Eindruck auf ihn gemacht hat, den hat er gegenüber Benjamin und Horkheimer verheimlicht; ich habe ja später mit Benjamin in Paris zusammengearbeitet. Adorno war da noch in England und Horkheimer schon in Amerika, und da wurde Benjamin gebeten, den Gutachter zu machen für meine ‚Kritische Liquidierung des Apriorismus‘ und dabei haben wir uns natürlich weidlich gesehen und nie hat er da ein Wort geäußert, das auf diesen Brief sich bezogen haben könnte, ebensowenig Horkheimer in seinem Brief an mich. Und dadurch ist meine Teilhabe am Kreis des Instituts für Sozialforschung doch irgendwie unter den Tisch gefallen, vielleicht sollte man das jetzt nicht länger verschweigen…

– Aber in Adornos „Negativer Dialektik“ gibt es doch immerhin einen Hinweis…

– Ja, aber einen ungenauen, was da zitiert wird, das habe ich so nie gesagt, dass abstrakte Arbeit im Transzendentalsubjekt enthalten sei. Würde ich auch nie begründen können. Es gibt dazu eine Fußnote in meinem Buch ‚Geistige und körperliche Arbeit‘, auf Seite 90. Ich weiß also nicht, warum Adorno das geheimgehalten hat, das kann sich jeder selbst ausdenken, auf jeden Fall, Tiedemann hat nie was von mir gehalten, und diese Geschichte zwischen Adorno und mir ist ihm auch nie zu Ohren gekommen, er hat die Briefe von Adorno an mich noch nie gesehen. Schriftlich ließ er mir mitteilen, ‚daß eine Verwendung des Adornoschen Briefes an Sohn- Rethel vom 17. November 1936, sei es durch Abdruck oder Zitat, nicht in Betracht gezogen werden kann‘ – mit der Begründung, daß er ‚weder die sachliche Stellung Adornos zu dem Buch Sohn- Rethels‘ (gemeint ist die Veröffentlichung des ‚Luzerner Exposés‘ 1986) ’noch die persönliche Beziehung zur Person, wie sie etwa der gesamte Briefwechsel dokumentierte, in irgend angemessener Form repräsentiert.‘ Er weiß offenbar nicht, daß ich Adorno mit Kracauer zusammen schon 1924 auf Capri kennengelernt und dann 45 Jahre lang mit ihm bis zu seinem Tod 1969 in Beziehung gestanden habe.

– Was hat es mit dem jüngst erschienenen Buch auf sich, das von Jochen Hörisch herausgegeben worden ist: ‚Alfred Sohn-Rethel – Soziologische Theorie der Erkenntnis‘, in dem dein ‚Luzerner Expose‘ abgedruckt ist?

– Das ist der erste Darstellungs- und Begründungsversuch meines theoretischen Standpunktes, unmittelbar nach dem Verlassen Deutschlands im Februar 1936 in Angriff genommen.

– Ein starker Satz darin ist mir in Erinnerung geblieben: „‚Gesellschaft‘ ist, im Sinne dieser Untersuchung, ein Zusammenhang der Menschen in bezug auf ihr Dasein, und zwar in der Ebene, in der ein Stück Brot, das einer ißt, den anderen nicht satt macht.“

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Aus einem Brief von Theodor W. Adorno an Alfred Sohn-Rethel:

„17. November 1936, Merton College, Oxford

Lieber Alfred,

ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich Ihnen sage, daß Ihr Brief die größte geistige Erschütterung bedeutete, die ich in der Philosophie seit meiner ersten Begegnung mit Benjamins Arbeit… erfuhr. Diese Erschütterung registriert … die Tiefe einer Übereinstimmung, die unvergleichlich viel weiter geht, als Sie ahnen konnten, und auch als ich selber ahnte. (…)

Und nur das Bewußtsein dieser Übereinstimmung, … die aber im wesentlichen in der kritisch-immanenten Überführung (= dialektischen Identifikation) des Idealismus in dialektischen Materialismus; in der Erkenntnis, daß nicht Wahrheit in der Geschichte, sondern Geschichte in der Wahrheit enthalten ist; und im Versuch einer Urgeschichte der Logik besteht – nur diese ungeheure und bestätigende Übereinstimmung verhindert mich, Ihre Arbeit genial zu nennen. (…)

Wie ich danach unsere Begegnung herbeisehne, bedarf keines Wortes. So hätte es Leibniz zumute sein müssen, als er von der Newtonischen Entdeckung hörte, und vice versa. Halten Sie mich nicht für wahnsinnig. Ich glaube nun gewiß, was ich schon lange von meinem Versuch annehme: daß es uns konkret gelingt, den Idealismus zu sprengen: nicht durch die ‚abstrakte‘ Antithese von Praxis (wie nach Marx), sondern aus der eigenen Antinomik des Idealismus. (…)“

Vgl. dazu auch die Diskussion über diesen Brief – zwischen A. Sohn-Rethel, S. Breuer und B.v. Greiff in der Zeitschrift ‚Leviathan‘ (Juli 1986): .Differenzen im Paradigmakern der Kritischen Theorie“ (II).

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Aus einem Gespräch, das ich mit dem inzwischen verstorbenen Bielefelder Philosophen Jürgen Frese führte, in dem es eigentlich um Alfred Seidel ging, dessen Buch „Bewußtsein als Verhängnis“ wir im Bremer Impuls-Verlag wiederveröffentlicht hatten und über das Frese einen sehr guten Aufsatz veröffentlicht hatte:

„Mit dem Adorno-Nachlaßverwalter Rolf Tiedemann habe ich in den Fünfzigerjahren in Frankfurt studiert. Wir wohnten im selben Studentenwohnheim an der Bockenheimer Warte. Es gab nur eine Küche auf dem Flur, mit nur einem Kühlschrank, in dem jeder seine Lebensmittel aufbewahrte. Jeder schrieb seinen Namen auf die Wurst und den Käse. Eines Tages bekam Tiedemann eine Stelle als studentische Hilfskraft in der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung. Und schon am nächsten Tag hatte er seine ganzen Lebensmittel neu beschriftet – mit ‚Rolf Tiedemann, Institut für Sozialforschung‘.“

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Anfang 2000 wandte der von Freiburg über Bochum an die Berliner Humboldt-Universität gekommene Kulturwissenschaftler Friedrich A. Kittler sich zum Entsetzen seiner Studenten von den Neuen Medien ab und den Alten Griechen zu – und zwar gründlich. Er startete sogar eine Schiffsexpedition ins Mittelmeer, um dem Gesang der Sirenen auf die Tonspur zu kommen. Es gibt darüber inzwischen eine sehr schöne CD, auf der er davon erzählt. Im Internet fand ich einen Text von Kittler, in dem er im Zusammenhang seiner Griechenstudien auch Alfred Sohn-Rethel erwähnt:

(…) Die üblichen Mathematikgeschichten verzeichnen es wie eine Nebensache, daß die griechischen Buchstaben seit etwa 450 vor unserer Zeitrechnung eine zweite, nämlich arithmetische Bewandtnis annahmen: Alpha stand zugleich für Eins, Beta für Zwei, Gamma für Drei undsoweiter. Zum erstenmal in aller Mediengeschichte entsprangen die Zeichen für Kardinalzahlen der Reihung oder Ordinalität eines Alphabets. Ganz entsprechend kennt die Epigraphik, also unsere nur sogenannte Hilfswissenschaft von altgriechischen Inschriften, nur ein „ästhetisches Verlangen“ zumal der Athener, „größere Einfachheit, Symmetrie und Gleichförmigkeit“ zwischen den einzelnen Buchstabenformen zu stiften. In Wahrheit hat der sogenannte Stoichedon-Stil im archaischen Athen den Buchstabenformen war in Wahrheit eine der Möglichkeitsbedingungen von Wissenschaft überhaupt. Buchstabenformen, lehrt unsere Trägheit einen faulen Materialismus, den aber von Leukippos alles unterscheidet, seien immer nur der Trägheit menschlicher Hände nachgegangen: Kursivschriften auf glatten Flächen, Keile in Tonscherben, Lapidarlettern auf Steinen ewiger als Erz. Daß am Anfang unserer Kultur jedoch eine Ökonomie der Zeichen selber stand, die sich um ihre Träger kaum mehr scherte, widerlegt jeden Materialismus, der Zeichen überliest (vgl. Sohn-Rethel). Es gibt keinen Geldhandel ohne Münzen, aber auch keine Münze ohne Schrift Bild Zahl. Es gibt keine Tragödie ohne Buchstaben, aber – ins tragische Ohr Tübingens gesagt – auch keinen „vesten Buchstaben“, den dieses Feuer nicht geläutert hätte.

Zu seinem 60. Geburtstag 2003 wurde eine Festschrift für Friedrich Kittler veröffentlicht, darin schrieb Jochen Hörisch einen Beitrag mit dem Titel „Benjamin zwischen Bataille und Sohn-Rethel“.

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2008 veröffentlichte der ebenfalls an der Bremer Universität lehrende und seit Ende der Sechzigerjahre bereits über Probleme der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie forschende und publizierende Sozialwissenschaftler Helmut Reichelt ein ebenso wunderbares wie dickes Buch – „Neue Marx-Lektüre“ betitelt, in dem er noch einmal auf Adorno und Sohn-Rethel eingeht bzw. in dem er von ihnen und dem Begriff der „Realabstraktion“ ausgeht.

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Ich beendete dagegen 1978 vorübergehend meine Beschäftigung mit der Marxschen Warenanalyse und der davon ausgehenden Sohn-Rethelschen Erkenntnistheorie – und ging erst einmal in die Landwirtschaft (aus). 1979 bat mich die inzwischen mit Alfred Sohn-Rethel verheiratete Verlegerin Bettina Wassmann um einen Beitrag für eine Festschrift zu Ehren von Alfred, da ich zusammen mit Gustav von Campe zu seinen „treuesten Studenten“ gehört hatte. Helmut Reichelt wurde leider nicht angesprochen, dafür jedoch viele Bremer Uni-Dozenten und Radioredakteure, die sich, im Gegensatz zu einigen Professoren an der Ostberliner Humboldt-Universität Jahrzehnte zuvor, so gut wie gar nicht mit ihm und seinen Überlegungen auseinandergesetzt hatten. Einen Beitrag von einem Japaner, der meist stumm in seinen Seminaren gesessen und dann über die Wirkungsgeschichte Alfred Sohn-Rethels in Japan etwas geschrieben hatte, nahm Bettina unübersetzt mit ins Buch auf. Und meinen Beitrag, der nach hinten gehört hätte, verwendete sie als eine Art Vorwort.

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Kürzlich kam der Siegener Germanist Georg Stanitzek in einem Vortrag noch einmal auf meinen Text zu sprechen:

Im Jahr 1979 hat dieser Student dem akademischen Leben bereits mehr oder weniger den Rücken gekehrt. In diesem Jahr aber nimmt er nochmal an ihm teil, indem er den von ihm hoch geschätzten Universitätslehrer Sohn-Rethel verabschiedet, und nicht irgendwie, sondern in einer grund-akademischen Form, nämlich im Zusammenhang einer Festschrift, „L’invitation au voyage zu Alfred Sohn-Rethel“. Und nicht mit irgendeinem Beitrag, sondern mit einem, der die Festschrift eröffnet und betitelt ist: „Propemptikon für einen Professor“. Propemptikon, das ist ein Gelegenheitsgedicht, genauer: ein ‚Geleitgedicht für einen Abreisenden‘ – wobei Höge dies zugleich unter der Hand zu einem ‚Apopemptikon‘ gerät: Gedicht, das vom Abreisenden an die Zurückbleibenden gerichtet wird. Die Emeritierung des marxistischen Theoretikers ist nämlich nicht der einzige Abschied, um den es geht. Zugleich erklärt der Verfasser seinen eigenen Abschied von der Universität; er tut es mit einer desillusionierten Diagnose der Protest- und Reformbewegung nach 1968: Es ist vorbei? – [Zitat:] Es „geraten jetzt wieder die individuellen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten mehr und mehr ins Blickfeld: Qualifikationen, Karrieren, Perspektiven, Haus und Garten, etc.[etera]; oder wissenschaftlich ausgedrückt: Forschungsschwerpunkte, Spezialisierungen, Publikationsstrategien, etc.[etera] ‚Lebenslogik‘, nennt es Améry.“ – Was seine, Höges eigene Generation angeht: Die jungen Dozenten „konkurrieren über kurz oder lang mit den Studenten älteren Semesters um die wenigen offenen Stellen. Und die einen wie die anderen müssen sich in der ‚wissenschaftlichen Auseinandersetzung‘ profilieren, sie können nicht mehr in der Art eines ‚Zusammenspiels‘ ([Klaus] Heinrich) in einer sozialen Bewegung propulsieren. Im Gegenteil.“

Bremer Seminaren des Typs „Projekt: Organisationsformen der Arbeiterklasse nach 1945“ weiß Höge wenig abzugewinnen; er hält ein Beispiel aus Paris-Vincennes dagegen: „Séminaire sur les mots ‚too much‘ et ‚good vibration'“. Und er merkt an: „Wirklich phantasievolle Gedanken hält man an der Bremer Universität normalerweise für einen ’schlechten Witz‘, bestenfalls für einen ‚guten‘.“

Auch selbstkritisch heißt es rückblickend: Es „haftete unseren eigenen Versuchen auch immer so etwas wie eine gewisse ‚Unredlichkeit‘ an, eine wissenschaftliche Unredlichkeit, wie sie jetzt zu beobachten ist, […] die man auch als ‚Denkfaulheit‘ bezeichnen kann, gekoppelt an den Zwang, schnell ‚Ergebnisse‘ vorlegen zu wollen. Überall bei der neuen – in die wissenschaftlichen Institutionen vorrückenden – Intelligenz. (Sohn-Rethel hat für seine Arbeit vierzig Jahre gebraucht).“ Genug Gründe, dieser Universität den Rücken zu kehren. Doch dass dieses Verhältnis zur Universität mit ihren Traditionen und Formen ambivalent bleibt, wird deutlich, wenn dieser Anfang-30-Jährige nicht ansteht, nun ins Genre laus temporis acti und im Zuge dessen tatsächlich ins Lateinische zu verfallen: „Im 13.Jahrhundert schrieb der Franziskaner-Mönch Giacopone da Todi, der joculator Domini, ein schwermütiges Gedicht, darin er den Verlust der ‚großen Persönlichkeiten‘ beklagte: ‚Dic ubi Salomon, olim tam nobis / Vel Sampson ubi est, dux invincibilis[?‘]“… Es folgen acht weitere lateinische Verse, die ich aber erspare. Denn wir sind ja schon beim Thema: Wo ist Simson? Nimmt er hier nicht die Gestalt des „Gebildeten“ als ‚ewiger Student‘ an, den Clemens Brentano um 1800 als Gegenbild zum Philister aufgestellt hat?

So viel aus Stanitzeks Vortrag – den er im Rahmen einer Berliner Tagung über den „Philister“ hielt.

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Zehn Jahre nach „L’invitation au voyage“ kam erneut eine Festschrift für Sohn-Rethel heraus – zu seinem Neunzigsten Geburtstag. Die taz-bremen schrieb über dieses „Ereignis“ Anfang 1989:

Er ließ mich nicht aus dem blauen Blick, und er wollte, daß ich es verstand, was im Herbst als seine achte und letzte „Attacke, ich nenne es Expose“, bei Suhrkamp erscheinen wird: „Das wird von der Geschichtswissenschaft und Philosophie lange nicht verdaut werden – aber das steht. Und das wird ohne Schleier dargestellt.“ Achtundsechzig Jahre lang ist er der Erkenntnis auf der Spur geblieben, und heute wird er neunzig: Alfred Sohn-Rethel. Wie ein Zündfunke war in den Anfangsjahren der Bremer Universität sein Band „Geistige und körperliche Arbeit“ übergesprungen und hatte beileibe nicht nur Sozialwissenschaftler oder Philosophinnen, sondern die sonst kühlen Rechner, Informatiker, Ingenieurinnen und Elektrotechniker Philosophie und Erkenntnistheorie lesen und interdisziplinär debattieren lassen. Daß und wie Mathematik und Naturwissenschaften überhaupt nicht neutrale und „richtige“ Grundlagen anboten, sondern selbst in ihren Fragestellungen und Denkweisen durch Kapitalismus und Warentausch bestimmt sein sollten, forderte damals Lehrende und Studierende zu heftigen Debatten heraus. „Wir haben auf Fahrten im Bus gehockt und uns die Köpfe heiß geredet, da war Alfred gar nicht bei“, erinnert sich der Informatik -Professor Frieder Nake, „samstags vormittags kam er mal zu den Naturwissenschaftlern und trug vor; und das hatte heftigen Einfluß auf Studierende und Lehrende. Wir waren alle angesteckt und haben gesagt: Wir machen jetzt andere Wissenschaft. Die theoretische Begründung lieferte Sohn -Rethel, das Instrumentarium war das Projektstudium.“ Und an die „Sternstunde, als uns das Buch in die Hände fiel“, erinnnert sich Sozialwissenschaftler Helmut Reichel noch heute, der allerdings später andere Wege der Theoriebildung einschlug. So einfach ging das mit der anderen Bremer Wissenschaft, auch mit dem damals hoffnungsvollen Blick ins kulturrevolutionierende China, dann doch nicht. Aber daß „mit diesem verführerischen Ansatz diese Neutralitäts -Illusion gekippt wurde“, das gilt auch noch für Mathematik -Professor Ludwig Arnold: „Ich verehre ihn nach wie vor, den geistreichen Denker, aber ich bin nicht mehr so sein Jünger. Das war empirisch nicht zu fassen.“ Dem 90jährigen Alfred Sohn-Rethel kam es gestern überhaupt nicht darauf an, in Anerkennung zu baden: „Ich bilde mir nichts ein, dazu hat es zu lange gedauert.“ Ihm geht es um Gedanken, und zwar um die eigenen: „Ich verlasse mich nur auf mein Denken. Was ich schreibe, habe ich alles selbst gedacht, das macht mich auch so attackierbar.“ Einen Verwandten spricht er zwischendurch auf einen „Einwand“ an, der ihm keine Ruhe läßt, und die beiden verwickeln sich kurz in eine Debatte um die Rolle der Computertechniker beim Finanz- und Industriekapital. Das mit der fehlenden Empirie, dem Nachweis an der Wirklichkeit, ficht Sohn-Rethel nicht an: „Man kann nicht den Zeigestock drauf halten. Was passiert, findet hinter dem Rücken der Akteure, die sich vergesellschaften, statt. Die eigentümliche Verborgenheit der Wahrheit liegt gerade an dem Prinzip des Privateigentums, des Warentauschs, also gerade der Negation von Gesellschaft.“

In Bremen erfuhr der Intellektuelle Anfang der 70er, als er schon über das Pensionsalter hinaus war, akademische Anerkennung als Gastprofessor. „Er hat zur Politisierung der Naturwissenschaftler entscheidend beigetragen“, erinnerte sich die Gesellschaftswissenschaftlerin Prof. Heide Gerstenberger, „der Generationen-Unterschied hatte überhaupt keine Bedeutung!“ 68 Jahre passionierter Theoriearbeiter: „Da muß man ganz diszipliniert sein. Nachts hab‘ ich Gedanken, wenn ich sozusagen gar nicht dabei bin. Morgens muß ich aus dem Bett springen und sie aufschreiben, heute zum Beispiel war das ganz stark.“ Gibt es Wünsche zum Geburts tag? „Ja, Bücher vor allem. Und sonst? Da mußt Du Bettina fragen, die mein Leben kennt – ich bin ja so glücklich dran!“ Mir fiel ein, was mir die 49jährige Verlegerin und Ehefrau – Bettina Wassmann vor ein paar Wochen im Gespräch erzählte: „Die meisten Menschen denken, daß eine so viel jüngere Frau für Alfred Mut und Hoffnung bedeuten müßte. Es ist genau umgekehrt! Für mich ist es eine große Hoffnung, daß ein Mensch in so hohem Alter so klug und so produktiv sein kann!“

„Epistemologie der abendländischen Geschichte“, Frankfurt/Main 1989.

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Einige Monate später verlieh die Universität Bremen Alfred Sohn-Rethel die Ehrendoktorwürde. Die Laudatio hielt Oskar Negt, die taz veröffentlichte einige Auszüge daraus:

Lobende und ehrende Erklärungen habe ich schon häufig abgegeben. Der Mühe, dem offensichtlich hohen Sinn einer Laudatio einen Inhalt mit Augenmaß zu verleihen, unterziehe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben. Meine Unsicherheit beginnt am Anfang. Hier soll ein Denker geehrt werden, dessen Lebenswerk fast ein Jahrhundert erfaßt. Was für ein Jahrhundert! Kaum eine geschichtliche Tragödie, die sich Menschen in ihren perversesten Phantasien haben ausdenken können, hat diese Realtität ausgelassen. So stellt sich mir die beunruhigende Frage, mit welchem Recht ich Urteile über ein solches Leben fällen kann. Was mir den Atem verschlägt, ist das Problem, wie ein Mensch mit wachen Sinnen und einem lebendigen Verstand bei diesen Brüchen, Zerstörungen und Verdrehungen seine moralische und geistige Unversehrtheit bewahren kann – so lebendig vor uns sitzend, als hätte er die Zukunft für sich… Man sehe sich doch einmal die Gegenwartsdenker an, welche die Moderne, diesen äußerst widerspenstigen, mit Haken und Ösen versetzten Prozeß, längst hinter sich gelassen zu haben meinen, wie sie ihre theoretische Identität manchmal nach Jahresfristen wechseln; und einige gibt es unter ihnen, die lernen noch schneller. Wenn sie ihr fünfzigstes Lebensjahr erreichen, werden sie die gesamte Klaviatur möglicher thoretischer Positionen, die es in den vergangenen zwei Jahrhunderten gegeben hat, mit Überzeugung durchgespielt haben, ohne daß sie unter dem Gefühl litten, mit ihrer Identität sei vielleicht etwas nicht ganz in Ordnung. Wo aber der kollektive Gedächtnisverlust zu den bedeutendsten Signaturen der intellektuellen Vereldendung einer Protestkultur gehört, entsteht neues Vertrauen zu Menschen, die langsam lernen und buchstäb lich Trauer bei der Verabschie dung eines Gedankens, den sie einmal gefaßt haben, empfinden.

Sohn-Rethel ist einer von diesen langsam und schwerfällig Lernenden, übrigens ohne sich dessen zu schämen, sondern es freimütig zu bekennen und damit den Blick frei zu bekommen für das wirklich Neue, das im Alten heranwächst… Was hält eine Gesellschaft im Innersten zusammen; worin bestehen die Konstitutionsbedingungen einer Objektwelt, in der Zusammenhang entsteht, obwohl Klassenkämpfe, die Selbstzerrissenheit des menschlichen Daseins, Krieg und Völkermord doch eher auf zentrifugale Kräfte der Zerstörung und des Auseinanderlaufens hinweisen. Wie sich Drohung und ökonomisches Wachstum unter Bedingung anarchischer Warenproduktion im Kapitalismus … herstellen, war ja das entscheidende Problem von Marx im Zweiten Band seines Ka pital, als er die sogenannten Reproduktionsschemata ausformuliert. Es muß da Kräfte bei den Menschen geben, die durch Herrschaftsapparate und Aneignungskampf von ihren assoziativen Bindefähigkeiten nicht völlig zu trennen sind. Aber für die gesellschaftliche Radikalisierung des Synthesis -Problems bildet nicht Marx, sondern Kant die entscheidende philosophische Provokation. Sohn-Rethel ist kein treuer Gefolgsmann Kants, aber er hat seinem Denken die Treue gehalten… Wenn ich darüber nachdenke, wo und wann ich den Namen Sohn-Rethel zum ersten Mal gehört habe, so fällt mir eine dumpfe Eckkneipe nahe der Bockenheimer Warte in Frankfurt ein, wo Hans-Jürgen Krahl und seine politischen Freunde auf das Bündnis von Intellektuellen und Arbeitern regelmäßig anzustoßen pflegten. Auch ich besuchte diese Kneipe zuweilen; Krahl zog mich eines Nachts ins Vertrauen und stelle mir die Frage: „Weißt Du eigentlich, wer der originellste marxistische Kopf der Gegenwart ist?“ Ich rätselte, nannte alle, die ich kannte. Er machte dem Spiel ein Ende und sagte: Sohn-Rethel. Ich war verblüfft: Merkwürdig, ich kannte noch nicht einmal den Namen. „Dann lies seine Vorträge an der Humboldt-Universität über Warenform und Denkform.“ Da wir gerade beim Trinken waren, brachten wir auf Sohn-Rethel einen Toast aus – mit einem doppelten Doppelkorn, der typischen Krahlschen Maßeinheit. Es mag 1967 gewesen sein… Wer das Glück hat, 90 Jahre alt zu werden und das sprichwörtliche biblische Alter erreicht hat, kann den kleinen Ausgleich für die Jahrzehnte verweigerter Anerkennung und erlittenen Unrechts noch zur Kenntnis nehmen. Aber was ist das für eine Art und Weise, mit den vom Faschismus vertriebenen Intellektuellen umzugehen, wenn Anerkennung vom Gnadenstand des Weisheitsalters abhängt, also einem biologischen Tatbestand zu danken ist?

Irgendetwas am Neuaufbau der Universitäten nach 1945 im Teilstaat der Bundesrepublik muß so grundsätzlich falsch gelaufen sein, daß wohl die, die kräftig mitgemacht hatten, und auch die vielen anderen, die mit eingezogenem Kopf die Zeit überlebten, nach dem Ende des Schreckens sich selber einreden konnten, sie seien im Widerstand gewesen – und nicht die, die vertrieben wurden. Es waren nicht einzelne, sondern es war eine ganze Generation der produktivsten Köpfe, die Deutschland verlassen mußte: Adorno, Horkheimer, Bloch, Kracauer, Walter Benjamin, Lukacs und viele andere, die weniger bekannt sind. In diese Gesellschaft von produktivsten Köpfen des 20. Jahrhunderts gehört Alfred Sohn-Rethel.

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1991 erinnerte sich ein mir unbekannter Manfred Dworschak in der Bremer taz-ausgabe noch einmal an den im Jahr zuvor Verstorbenen:

Die kleinen Bücher müssen wir unbedingt loben. Sie sind statt beeindruckend lieber freundlich und machen, wie Snacks, dem Lesemagen keinerlei Beschwerden. Vor mir liegt eins von kaum fünfzig Seiten, das ist so gescheit und leicht, das schwimmt sogar in Milch: Alfred Sohn-Rethel: Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik. Nämlich war Sohn-Rethel, der 1990 verstorbene Multi-Gelehrte, auch einmal, als junger Mann und Hungerleider, im damals billigen Italien gewesen, von 1924 bis 1927 im Großdenkers-Kaff Positano nahe Capri. Dort hauste er und schweifte und hatte Besuch von Adorno, Bloch, Benjamin und Kracauer und andere gute Einfälle. Ganz nebenher schrieb er die drei im Buche vertretenen Erzählungen, aber was heißt Erzählungen bei einem Sohn-Rethel, es ist intellektuelle Kleinkunst. Vesuvbesteigung 1926. Geringere würgen am Naturerlebnis, der trainierte Denker aber verflüssigt es sogleich in springlebendige Rede. Wo er hintritt, tritt er nicht bloß an sich hin, sondern für uns, er ist von Berufs wegen überall der exemplarische Mensch. Also auch auf dem Vesuv, in schwefelgelber, phosphorgrüner, kupferroter oder schwarzer Lava-Nacht, einer Nacht von äußerster Unheimlichkeit, und ganz jenseits allen Lebens. Als wir uns dann aber den Leuten anschlossen und unsere Pferde und unseren Guida wiederfanden, bemerkte ich dort ein wenig Gras, auf das ich den Fuß setzte und das mir das Gefühl des organischen Wachstums wiedergab. Er liefert in allem gleich die Metapher, mit der sich der allgemeine Mensch in der Welt auffinden läßt. Dazu muß man schon mit hierhin bitte den Stadtplan den Augen denken können. Eine Verkehrsstockung in der Via Chiaia zu Neapel. Mitten auf der Kreuzung will ein Esel seinen Karren nimmer schleppen, es kommt zu Stau und Häufung aufgeregter Menschen und genüßlichem Eklat, und am meisten Freude hat Sohn-Rethel, weil er schon wieder das allgemeine Neapel sieht, das noch halb bäuerliche Improvisorium, wo Kühe in fünften Etagen und Hühner in Behördenpapierkörben hausen und alles nicht anders als irgendwie gerade noch mal eben klappt.

Womit wir beim dritten, dem Hauptstück sind, betreffend, daß technische Vorrichtungen in Neapel grundsätzlich kaputt sind. Dort, wo Vertrauen ausschließlich die Dinge verdienen, die man selber repariert hat, darf nur das unenträtselt Spirituelle von vorneherein funktionieren, zum Beispiel die Osrambirnen-Korona der Kirchenmadonna. Sonst herrscht Stromausfall und Bastelei in Permanenz, zum großen Vergnügen von Sohn-Rethel, dem überhaupt die Welt gut Freund ist und gern den Gefallen tut, am Ende die passende Pointe fahren zu lassen: Da kommt ein Gassenbub daher und tritt dem Esel in den Bauch, worauf es hinten lange Pffft macht, und das erlöste Tier trottet weiter.

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1998 veröffentlichte ein leitender Redakteur bei Radio Bremen zusammen mit Bettina Wassmanns Verlag zwei CDs mit Lebensgeschichten von Alfred Sohn-Rethel – gesprochen von ihm selbst. Die taz-bremen schrieb:

Im allerersten, jagdgrünen Vorlesungsverzeichnis der Bremer Uni von 1973/74 ist ein Kurs „Kapital 1“ für „Sozialwissenschaftler im engeren Sinn“ angekündigt. Abgehalten wurde er vom Gast-Prof Alfred Sohn-Rethel. „Die Thematik ist vorgegeben durch die Auffassung von Marx und Engels, daß im Schoße des Kapitals die materiellen Vorbedingungen des Sozialismus heranreifen.“ So orthodox dies auch klingen mag, Sohn-Rethel verscherzte sich die Sympathie gar mancher Verfechter der jungfräulich-reinen marxistischen Lehre durch seine Kritik am Objektivitäts-anspruch der Naturwissenschaften. Echte Marxisten bekreuzigten sich damals vor den Naturwissenschaften. Trotz Sohn-Rethels zarten Korrekturen an Marx: Oskar Negt rühmte ihn während des Ansteckens eines bordeauxroten Stofffetzens namens „Ehrendoktorwürde“ am 9.2.88 gerade für seine mangelhafte Begabung zum Wendehals: „Er ist einer von diesen langsam und schwerfällig Lernenden, übrigens ohne sich dessen zu schämen, sondern es freimütig zu bekennen und damit den Blick frei zu bekommen für das wirklich Neue, das im Alten heranwächst.“

Langsam und schwerfällig: Immerhin soll Sohn-Rethel sein einziges, großes Werk „Geistige und körperliche Arbeit“ achtmal überarbeitet haben. Ein Lebenswerk, das ihn über Jahrzehnte begleitete. Und noch 1988 konnte an der Bremer Uni vom „Neuen, das im Alten (Marxismus) heranwächst“ geredet werden. Auf einen Nachruf in der taz auf Sohn-Rethels Tod am 6.4.1990 hagelte es kontroverse Leserbriefe: Rührende Nachwehen einer Zeit, in der über (linkes) Politikverständnis noch gestritten wurde. Hochschulprofs erinnerten sich damals, daß Sohn-Rethel „zur Politisierung der Naturwissenschaften entscheidend beigetragen“ hat. Denn er reihte die Naturwissenschaften in den gesellschaftlichen Überbau ein: In „Warenform und Denkform“ wird gezeigt, daß es sich bei Kants „Kategorien“ von Wahrnehmung und Erkennen keineswegs um unveränderbare, göttliche, automatisch in jedes Hirn gepflanzte Konstanten handelt, sondern daß sie geprägt wurden von der Gesellschaft, genauer, von der Erfindung des Geldes. Erst jene „Realabstraktion“ vom Gebrauchswert durch das Geld, die zum Beispiel aus einer saftigen Wurstsemmel ein schnödes Objekt für 3 Mark 60 macht, erzwang und ermöglichte dem Denken die logische Abstraktion und abstrakte Begriffe wie „das Sein“, aber auch „der Gewinn“. Denkstrukturen spiegeln Kapitalstrukturen wieder. „Das Geld ist die bare Münze des Apriori.“ Oder: „Die Logik ist das Geld des Geistes.“

Zum 100. Geburtstag von Sohn-Rethel erinnert Radio Bremen und der Verlag von Sohn-Rethels Ehefrau, Bettina Wassmann, mit einer schönen Doppel-CD an eine Zeit vor Kreiter und vor der kollektiven Denunziation des Marxismus. Auf CD 1 erzählt Sohn-Rethel in unpretentiöser Weise sein Leben: Geboren ist er in der Nähe von Paris. Das wollten seine Eltern nicht verlassen. So wurde der neunjährige Junge in Pflege gegeben bei einem mit der Familie befreundeten Düsseldorfer Großindustriellen. Ein klügerer Freund weckte Skepsis gegenüber der Mär, der 1. Weltkrieg sei ein unausweichlicher Präventionskrieg. „Ein Schleier zerriss.“ Einmal im Mißtrauen geschult, wünschte er sich zu Weihnachten 1915 dann auch gleich Marxs Kapital. Fürderhin gab es für ihn lange keinen Zweifel, daß es im Leben um die „Beseitigung dieser verfluchten, korumpierten, unsagbaren Gesellschaft“ geht. Spannend sind Sohn-Rethels Einschätzung des Spartakusaufstands (er habe leider eine spätere, erfolgversprechendere Revolution verhindert) ebenso wie Plaudereien über merkwürdige Tierhaltung (nämlich in Papierkörben) in Neapel und über die kleine deutsche Intellektuellenkolonie, besetzt mit Adorno, Bloch, Kracauer und Benjamin, im preisgünstigen Capri. Ab 1931 arbeitete Sohn-Rethel auf Vermittlung seines Pflegevaters beim „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“. Ehe er, als Halbjude klassifiziert, 1936 in die Schweiz emigrierte, konnte er so die Widerstandsgruppe „Neu-Beginnen“ mit Informationen über die Verflechtung von Schwerindustrie und NSDAP versorgen. 1937 bewarb er sich um eine Lehrerstelle am in New York operierenden „Institut für Sozialforschung“ und scheiterte trotz Adornos Fürsprache an Horkheimers Veto. Von 1937-72 lebte Sohn-Rethel in England, seit 1951 als simpler Französischlehrer. 35 für die Wissenschaft verlorene Jahre. Auf Adornos Beerdigung fiel Sohn-Rethel Siegfrid Unseld in die Arme. So konnte 1970 endlich bei Suhrkamp sein Hauptwerk erscheinen. So ist der Tod jenes Mannes, der Sohn-Rethel 30 Jahre zuvor Zugang zu den Chefetagen akademischen Diskurses gewähren wollte, dafür verantwortlich, daß er doch noch wahrgenommen wurde und im Alter von 73 endlich die heißersehnte Unikarriere – in Bremen – starten konnte.

Trotzdem frotzelt Sohn-Rethel auf der CD über das weihevolle Getue Adornos und über seinen wirtschaftspolitischen Unverstand. CD 2 versammelt die altväterlich-romantisch-enthusiastische Beschreibung einer Vesuvbesteigung, eine Geschichte von zwei Ratten, die arbeitsteilige Kooperation besser hinkriegen als die meisten Menschen, und einen Vortrag, in dem Sohn-Rethel sein Lieblingsthema von der Aufteilung in Kopf- und Handarbeit exemplifiziert anhand italienischer Renaissancekünstler. So nüchtern Sohn-Rethels Stimme im biografischen Teil ist, so inbrünstig spricht er über die nächtliche Vesuvlandschaft. Die Fähigkeit zum Schwärmen ist eben unverzichtbar für einen zähen Marxisten.

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Im Oktober 2005 führte Gabriele Goettle ein Interview mit Bettina Wassmann, das in der taz unter dem Titel „Hand- und Kopfarbeit“ abgedruckt wurde.

In einer Vorbemerkung dazu heißt es: Bettina Wassmann, Buchhändlerin u. Verlegerin in Bremen. 1948 Einschulung i. d. Volksschule/Horn. 1958 Mittlere Reife. 1958-1961 Ausbildung z. Buchhändlerin, Buchhandelslehre bei Rodewald in Bremen. 1961-1969 Arbeit als Buchhändlerin in Wolffs Bücherei, Berlin, Bundesallee 133. Mai 1969 Rückkehr n. Bremen. Juli 1969 Eröffnung d. eigenen Buchhandlung in Bremen, Am Wall 164. Herausgabe von bibliophilen Büchern im Eigenverlag. Künstlerische Gestaltung d. einzelnen Buchstaben d. Alphabets (im Briefmarkenformat auf Bögen). Buchtitel d. Verlages u. a.: Djuna Barnes: „Der perfekte Mord“; Detlev Claussen: „Abschied von gestern. Kritische Theorie heute“; Jochen Hörisch: „Das Abendmahl, das Geld und die neuen Medien“; Hermann Melville: „Bartleby, der Schreiber. Eine Geschichte aus der Wall-Street“; Oskar Negt: „H. c. Alfred Sohn-Rethel“; Alfred Sohn-Rethel: „Das Ideal des Kaputten“. Bettina Wassmann wurde 1942 in Plauen im Vogtland geboren (wohin d. Familie sich v. d. Bombardierung Bremens in Sicherheit gebracht hatte). Ihr Vater war Baumwollhändler (Baumwoll-Börse Bremen), die Mutter Künstlerin. Bettina Wassmann war mit Alfred Sohn-Rethel verheiratet (der 1990 starb). Zum besseren Verständnis Alfred Sohn-Rethels will ich versuchen, ihn in einem Miniaturporträt hier kurz vorzustellen. Er war 1899 geboren, Gelehrter, ohne weltfremd zu sein, Erkenntnistheoretiker und exzellenter Marx-Kenner. Von allen Marxisten war er wohl der originellste. Seit den 20er-Jahren arbeitete er an den Hauptthesen seiner materialistischen Erkenntnistheorie und -kritik, kam aber erst in den 70er-Jahren zu Abdruck, Bekanntheit und Ehrungen. Er hat sich weder durch die vernichtende Kritik Horkheimers noch durch das hohe Lob Adornos von seinen Überlegungen abbringen lassen und arbeitete bis ins hohe Alter als unbeirrbarer Außenseiter an seiner ketzerischen Theorie vom Geld.

Mit wahrer Engelsgeduld bewies er seine These, dass sich die Denkform aus der Warenform entwickelt, dass das Transzendentalsubjekt sich der eigentümlichen Form der Ware, des Tauschs und des Geldes verdankt, dass der Ursprung des reinen Denkens in der Warenform liegt und nicht umgekehrt. Er ist mit hartnäckiger Ausdauer der Bildung des Begriffs nachgegangen, dem Geld als bare Münze des Apriori, der Tauschabstraktion. Es ist ihm gelungen, das Geheimnis der Transzendentalphilosophie zu entschleiern durch die Entdeckung des Transzendentalsubekts in der Warenform. Aus dem akribischen Lüften dieses Schleiers besteht sein Lebenswerk. Der Buchladen von Bettina Wassmann liegt in der Innenstadt Bremens, am Wall, einer sich lang und bogenförmig dahinziehenden Geschäftsstraße, in der neben Kunsthalle, Anwaltsverein und Oberverwaltungsgericht unter anderen auch Galerien, Mode- und Designgeschäfte, Restaurants, Cafés, Antiquitätenhändler, Bibliotheken und das Friedensbüro für Kriegsdienstverweigerer residieren. Gegenüber der Geschäftsmeile erstreckt sich ein Park, die Wallanlage, mit ihren im Zickzack der ehemaligen Zitadellenform verlaufenden Wassergräben. Diese unscheinbare Grünanlage war die erste öffentliche Parkanlage Deutschlands. Am Wall 164 liegt hinter einem Jugendstilfenster der winzige Buchladen mit seiner kunstvoll dekorierten Auslage. Die seitlich liegende Glastür ist schwer und schließt nicht von selbst. Innen ist es eng, aber nicht überfüllt. Es gibt keine Bücherstapel in der Ecke, die jeden Moment umzufallen drohen, es ist nicht kruschelig, jedes Ding scheint seinen Platz gefunden zu haben. In den schwarzen deckenhohen Regalen stehen, sorgfältig ausgewählt und präsentiert, laufende Titel und Neuerscheinungen. Daneben die Bücher aus der eigenen Produktion und selbstverständlich die Klassiker wie Adorno, Horkheimer, Benjamin, Marcuse, Lukács, Bloch, Sohn-Rethel. In einer robusten Fächermappe sind die Briefmarkenbögen des Alphabets einsortiert, hinter den Glasscheiben der beiden schwarzen Vitrinenschränke hängen Zeitungsausschnitte und Fotos, ich erkenne Meret Oppenheim und Alfred Sohn-Rethel. Es gibt eine große Papierrolle in einem zierlichen Metallgestell, das sowohl hält als auch schneidet. Wir werden freundlich aufgefordert, in den schmalen Lücken Platz zu nehmen. Bettina Wassmann füllt die Kaffeetassen aus einer Thermoskanne, stellt sie auf die Marmorplatte des Verkaufspults neben den Computer und erzählt, dass sie nun schon 36 Jahre lang diesen Buchladen führt.

„Er war mal größer, es gab eine Treppe nach oben. Das war die große Zeit des Ladens – der Buchläden überhaupt. Anfang der 70er-Jahre war das ja virulent, es gab einen unglaublichen Lesehunger durch die allgemeine Politisierung, durch die Studentenbewegung, und ich gehörte natürlich mit zu den Gründern der politischen Buchhandlungen, des linken Buchhandels, der sich rasch entwickelte. Diese Zeit war unglaublich lebhaft und optimistisch, aber natürlich macht so ein Laden alle Brüche mit, alle langen Wellen der Konjunktur, um es mit Keynes zu formulieren. Die Brüche und Wege der 68er-Linken kennen wir ja, es wurde entsprechend ruhiger, und es wurde natürlich unglaublich schwierig. Von heutigen Zeiten wollen wir gar nicht sprechen. Aber damals, 69 im Sommer, als ich hier gegründet habe, war das unvorstellbar, dass es je wieder so einen Rückfall, so eine Lethargie geben könnte. Damals bin ich zurückgekommen aus Berlin, wo ich über sechs Jahre gearbeitet habe in Wolffs Bücherei, das war eine sehr wichtige Zeit. Ich erzähle vielleicht am besten etwas chronologisch. Also ich komme ursprünglich aus einer, wie man sagt, guten Familie, gut situiert, mein Vater war Baumwollhändler, hat eine große Firma geleitet, und eines Tages waren dann die Kunststoffe absolut auf dem Vormarsch, und da brach der eben ein, der Baumwollbereich. Solche Zäsuren gibt’s eben immer. Und als das alles zusammenkrachte bei uns, da dachte ich, so, jetzt muss ich auf eigenen Beinen stehen, ich kann ja nicht rumheulen, dass das Haus nun auch noch verkauft ist und alles, das hilft ja nicht. Da war ich Anfang 20, hatte meine Buchhandelslehre fertig und beschloss, nach Berlin zu gehen.

Ich habe mich bei Marga Schöller beworben. Die war die beste Adresse. Für diejenigen, die es nicht wissen: Marga Schöller ist, glaube ich, 1905 geboren und hat mit 24 ihre kleine Bücherstube am Kurfürstendamm 30 eröffnet. Sie war so gut, dass bald alle zu ihr kamen, von George Grosz über Brecht, Musil, Canetti bis hin zu Kästner und Baldwin. Und sie führte während der NS-Zeit keine braune Literatur, die verfemte Literatur hat sie in ihrem Keller versteckt. Deshalb war sie auch eine der Ersten, die nach 45 wieder eine Lizenz als Buchhändlerin bekamen. Und sie hat es wieder geschafft, die Gruppe 47 tagte bei ihr, man ging einfach zu Marga Schöller. Als ich ankam, war’s Winter, ich hatte das Auto meines Bruders geliehen, von Halensee kommend lag der Laden auf der linken Seite, im Schaufenster hingen die ganzen Essays aus der Presse, Fotos, alles, was interessant war.Wenn man reinkam, hatte man bereits was gelesen. Die ganze Atmosphäre war zauberhaft, alle waren enorm gebildet. Leider wurde für mich nichts daraus. Marga Schöller war überaus freundlich und sagte, wir sind sehr dafür, aber erst in einem Jahr. Ich war sehr enttäuscht, sehr. Das merkte sie und sagte, also es gibt da eine Buchhandlung, die schätze ich sehr, aber der Mann ist ganz schwierig, es ist schwer, mit ihm zu arbeiten. Trotz allem, er ist hervorragend! Wolffs Bücherei, Bundesallee 153. Ich fuhr hin mit meinem VW, ging erst mal rein wie eine normale Kundin, und der beschriebene Herr Wolff trat auf mich zu mit einer Zigarette in der Hand. Das hatte erst mal viel Autonomie, in anderen Buchläden durfte man nicht rauchen, da durfte man gar nichts. Ich sagte dann, weshalb ich da war, und tatsächlich war’s so, dass er grade auf eine Mitarbeiterin hatte verzichten müssen. Er war ja ein bisschen cholerisch, er litt selber drunter, aber die wenigsten können das aushalten. Vier Wochen später habe ich angefangen. Es war eine wunderbare Zeit, wir haben uns sehr befreundet. Er hatte eine großartige Frau an seiner Seite, Nadeschda. Sie waren ja beide russischer Herkunft und man muss wissen, dass der Großvater von Andreas Wolff der berühmte Buchhändler und Verleger Maurice Wolff war, der in Moskau am Newski Prospekt seinen Laden hatte, in dem die ganze literarische und künstlerische Elite Russlands ein und aus ging. Er konvertierte übrigens irgendwann vom jüdischen zum protestantischen Glauben, was später seinen Kindern und Enkeln sehr zugute kam als staatenlose russische Emigranten in Nazideutschland. 1883 ist er gestorben, und sein Sohn Ludwig – der Vater von Andreas – übernahm den Laden. Als die Familie dann im Zuge der Revolution enteignet wurde und nach Deutschland emigrierte, war Andreas Wolff 15. Er hat ja dann eine Verlagslehre gemacht und später seine Buchhandlung in der Bundesallee eröffnet, 1931 bereits. Nach dem Krieg hat er in Frankfurt mit seinem Freund Peter Suhrkamp zusammen den Suhrkamp Verlag aufgebaut, da war er bis 1955 Geschäftsführer, dann ist er wieder in seinen Buchladen in der Bundesallee gegangen. Also, der Andreas Wolff hatte eine große Familientradition im Rücken und ich habe unendlich viel von ihm gelernt. Auch über Typografie, etwa anhand der Herstellung seiner Friedenauer Presse, er hat mir sogar die Frauen vorgestellt, die das noch nähten damals, die Fadenheftung. Also das war eine absolute Handfertigkeit, diese Knoten zu machen. Katja Wagenbach, seine Tochter, macht ja seit den 80er-Jahren ihren eigenen Verlag und hat die Friedenauer Presse sehr erfolgreich weiterentwickelt. Ich weiß noch, damals, 1963/64 war es, da kam Klaus Wagenbach rein in Wolffs Bücherei. Er kam gerade von Brod aus Israel, wegen Kafka, und hatte Krach mit dem Fischer Verlag. Bald darauf hat er irgendwie seine Briefmarkensammlung verkauft oder so was, und mit Katja – sie war ja damals seine Frau – den Wagenbach Verlag gegründet in der Jenaer Straße. Und zur Verlagseröffnung gab es ein großes Fest. Wir sind natürlich hingefahren. Ich hatte damals einen wunderbaren Opel Kapitän übrigens, mit dem bin ich immer mit Wolff OE wenn die Tür zufiel, klang das wie bei einem Geldschrank. Perfekt! Gut, also wir trafen dort auf Ingeborg Bachmann, fuhren mit ihr im Aufzug plaudernd hoch, und sie fand das so amüsant, dass sie einfach auf den Abwärtsknopf gedrückt und gesagt hat, reden wir doch noch ein bisschen. Berlin war ja damals wie ein Aquarium, wir sind zu allen Lesungen in die Akademie der Künste gegangen, an Mayröcker erinnere ich mich, an ihr ,Arbeitstirol‘, so hieß es, glaube ich, an Thomas Bernhard. Ach OE damals lebte Helen Wolff noch, die Frau von Kurt Wolff von Pantheon Press. Und der alte Bondy. Viele dieser wunderbaren Leute sind tot. Es gab natürlich die herrlichsten Lesungen auch in Wolffs Bücherei, da wurde Literaturgeschichte gemacht, kann man sagen. Sie kamen alle, Enzensberger, Uwe Johnson, Max Frisch, Günter Bruno Fuchs, Günter Grass, Nicolas Born und viele andere. Ich erinnere mich noch z. B. an Enzensberger, ich glaube, er stellte Gedichte vor, und an der Hand hatte er seine Tochter mit dem bezaubernden Namen Tanaquil, den hab ich nie vergessen. Viele der Autoren kamen natürlich auch als Kunden, einige wohnten sozusagen um die Ecke. Es ist sehr gut, wenn man von wirklichen Könnern lernt, wenn man so einen König an seiner Seite hat, den man aber eines Tages auch wieder verlässt. Das ist manchmal grausam, aber nötig.

Wir haben uns gestritten über linksbündig oder nicht bei Heinrich Manns Essay ,Mein Bruder‘. Soll das linksbündig sein oder zentriert, und ich sagte, bei der Familie muss es zentriert sein. Der Streit war ausufernd, und mir fehlten dann auch die Argumente. Jedenfalls dachte ich, ich möchte jetzt weg. Es war auch genug mit Berlin. Das war also 1969. Ich ging nach Bremen zu meinen tapferen Eltern. Heute geht man nach einer Insolvenz ja ins Gasthaus und bestellt Champagner, damals war das noch furchtbar. Es war ja alles verkauft. Aber Jakobs Kaffee, die hatten ein Grundstück, das haben sie meinem Vater, glaube ich, geschenkt, die waren ja alle in der SPD. Und mein Vater hatte dann mit Tonträgern sich was aufgebaut, deshalb habe ich ja auch diese dämliche Musiksammlung. Die auf dem Flohmarkt sagen immer, Mensch, was du da verkaufst, ist ja unglaublich. Ich könnte dafür natürlich viel mehr Geld verlangen, aber ich bin immer froh, wenn die Kiste leer ist. Gut, ich war wieder hier, und ich saß im Garten und wusste nur eins: nie wieder angestellt sein! Bin viel spazieren gegangen, mit dem Fahrrad herumgefahren in der Stadt. Dieses Haus hier war grade im Umbau, davor traf ich Olaf Dinné im Blaumann – er hat Anfang 1980 die Grünen mit gegründet. Er ist Architekt und ein scharfer Hund, hat auch wunderbar Aufstand gemacht gegen schreckliche Baupläne. Der stand also hier und sagte: Na, willst du einen Laden haben? Und ich bekam einen Laden, erst oben, praktisch auf dem Flur, der war noch viel kleiner als dieser hier. Und ich habe angefangen, meine Bestellungen loszulassen OE“

Eine Kundin betritt den Laden und fragt in die Runde: „Haben Sie die Einstein-Biografie von Gero von Boehm, ,Wer war Albert Einstein?‘ ist, glaube ich, der Titel?“ Bettina Wassmann fragt: „Ist die gut? Also, Thomas Levenson habe ich gelesen, sie wollen aber Gero von Boehm, soll ich’s bestellen?“

Die Kundin braucht es aber sofort und wird zum nächsten Buchladen geschickt, der ein paar Häuser entfernt ist. „Also ich habe ganz klein angefangen, war quasi die erste linke Buchhandlung und habe den gesamten Marx bestellt. Da war der Laden dann bereits so gut wie voll, insgesamt übervoll. Ich habe noch nie so einen vollen Laden erlebt. Mein erster Kunde war Günter Abramzik, er war ein guter Freund von Bloch. Später war er Pastor Primarius am Dom zu Bremen und auch zuständig für die Evangelische Studentengemeinde nach der Gründung der Bremer Universität 1971. Die waren sehr progressiv. Ich habe auch was von ihm herausgegeben ,Von wahrer Duldung‘. Na ja, dann gab’s die Ausschreibung für den Uni-Buchladen, wir haben uns beworben und ihn bekommen. Aber es war auf Dauer einfach zu viel Stress und Hektik. Inzwischen war der Laden hier umgezogen und ich hab den Uni-Buchladen dann wieder aufgegeben. Aber das war ja später. Ich wollte ja erzählen, wie alles losging mit Alfred. Wir – Barbara Herzbruch und ich – wir wohnten zusammen, waren befreundet. Sie wurde übrigens später die zweite Frau von Klaus Wagenbach. Also, wir gingen Anfang der 70er in eine Vorlesung von Alfred Sohn-Rethel, der Gastprofessor war. Das Thema war ,Geistige und körperliche Arbeit‘. Wir haben über den Titel sehr gelacht. Es war komplett voll. Es herrschte eine ungeheuer konzentrierte Atmosphäre. Ich habe überhaupt nichts verstanden, nichts! Machen wir uns klar, wenn man in der marxistischen Terminologie nicht zu Hause ist, auch nicht in der Ökonomie, dann ist es unmöglich. Ich habe Barbara immer angestoßen, aber sie hat auch nichts verstanden, obwohl sie Ökonomie studierte.

Was aber sehr faszinierend war, war die Komplexität dieses Menschen, der da saß. Er hatte auch in den Pausen eine geradezu fantastische Ausstrahlung, es war sehr still, aber er war überhaupt nicht autoritär, er war herzlich, sanft, warm. Er wurde verehrt und hat das ohne Eitelkeit hingenommen. Er war ein ganz besonderer Mensch, mich hat das sehr beeindruckt. Kennen gelernt habe ich ihn dann während eines Festes. Er wohnte zum ersten Mal hier in einer Wohngemeinschaft, mit 74 Jahren bei Thomas Kuby war das, und man hat ihn da unter die Fittiche genommen, es gefiel ihm gut. Und auf diesem Fest haben wir uns ein bisschen unterhalten und auch verabredet. Das war 1973. Und dann tauchte Alfred hier im Buchladen auf und er kaufte viel zu viele Bücher, vielleicht aus Absicht, er konnte sie gar nicht transportieren und fragte, ob ich sie ihm liefern könne. Also, es gibt Begegnungen im Leben, wo man plötzlich nicht sprechen kann. Ich dachte, na was ist das denn! Ich war richtiggehend schüchtern, das ist sonst gar nicht meine Art. Und ich habe also die Bücher hingebracht, wir haben uns unterhalten. Ich habe auch wieder gesprochen, viel über Benjamin. Es gab ja diese Werkausgabe, gebunden, später dann die Briefbände. Wir sind dann so zweimal in der Woche essen gegangen, und ich habe ihn immer gebeten, dass er mir aus der Zeit der Emigration erzählt, vor allem von Benjamin, der gemeinsamen Zeit in Paris, der Zusammenarbeit. Und von Adorno in Paris, und wie das damals war mit dem Institut usw. Ich habe das alles in mich aufgenommen, er hat sehr schön erzählt. Manchmal dachte ich, es ist vielleicht unhöflich, dass ich ihn immer sozusagen nach den Berühmtheiten frage, aber ich war plötzlich irgendwie blockiert, konnte nicht sprechen, die ganze Aura hat mich gefangen genommen. Dabei war er gütig und lieb und hatte überhaupt nichts von jemandem, der einen gleich zwirbelt, wie Adorno. Irgendwann ist Alfred dann zu uns in die Bismarckstraße, zu Barbara Herzbruch und mir, gezogen. Und da ging’s dann enorm los. Wir haben richtig ein Haus geführt, abends saßen bei uns die Freunde von der Uni und es wurde natürlich richtig gekocht, auch Alfred hat gekocht. Und auch mit meiner verlegerischen Arbeit ging es dann los, mit der Festschrift zu Sohn-Rethels 80. Geburtstag. Da habe ich mir eine Festschrift einfallen lassen ,L’invitation au voyage‘ ist der Titel, das ist eine Zeile aus einem Baudelaire-Gedicht. Und da ist dann eine wunderbare Mischung zusammengekommen, auch aus diesem Arbeitszusammenhang, ,Mechanisierung der Kopfarbeit‘, also da waren Leute aus der Kybernetik, aus den Naturwissenschaften, aus den Geisteswissenschaften, die da zusammengearbeitet haben mit viel Liebe. Solch interdisziplinäres Zusammenspiel hat die Uni Bremen ja durchaus mal ausgezeichnet. Und dann haben wir 18 Beiträge gehabt, sehr unterschiedliche, da sagte ich mir, jetzt bekommt jeder Beitrag ein Heftchen geschneidert. Wir hatten nachher dann 18 Heftchen in einer schönen Mappe.

Ich habe damals auch dem wunderbaren Roberto Calasso, dem Verleger des exquisiten Mailänder Adelphi Verlages, die Festschrift geschickt. Er ist ja nicht nur Verleger, er ist auch Autor. Auch seine Frau, die Fleur Jäggi, ist Autorin. Na ja“, sie seufzt, „sie haben diesen wunderbaren Verlag, und eben das Kleingeld von Fiat. Jedenfalls hat er gesagt: Das ist die schönste Festschrift, die ich je gesehen habe. Dieses Lob hat mich sehr gefreut. Also, die Sammlung trägt wilde Züge. Da ist ein Text dabei über Alfred Seidel, das war ein alter Freund von Alfred aus der Heidelberger Studienzeit, also aus den 20er-Jahren, dieser Alfred gehörte damals schon in die Prinzhorn-Therapie, weil er unter schweren Depressionsattacken litt. Sohn-Rethel sagte immer, er habe nie jemand Schlaueren kennen gelernt, und das ohne jede Sinnlichkeit. Und der schrieb mit 23 Jahren ein Werk, das hieß ,Bewusstsein als Verhängnis‘.“ Die Gäste lachen schallend, dann fährt die Gastgeberin fort: „Alfred liebte ihn sehr. Eines Tages hat sich Alfred Seidel das Leben genommen. Und wisst ihr, wo? Auf dem Bahnhofsklo! Also, das war auch so ein Grund, weshalb ich mich aus der Uni-Buchhandlung zurückgezogen habe, um mich ganz Alfred und meinen unmittelbaren Interessen hier zu widmen. Es hat gereicht. Man kann sich nämlich überfordern, ganz schrecklich. Viele von den Leuten, die ich kannte, sind krank geworden davon. Barbara Herzbruch ist so ein Beispiel. Sie ist mit 44 gestorben an Krebs. Ich bin am Wochenende immer nach Berlin gefahren, hab mir da eine kleine Wohnung genommen und habe sie besucht, in Rudow, in der Onkologie. Dort ist Barbara ganz jämmerlich eingegangen. Was mich betrifft, so habe ich es zum Glück immer geschafft, die Dinge dann zu ändern, wenn die Überforderung und die Unlust überhand genommen haben. Das liegt wahrscheinlich an den wunderbaren Erfahrungen meiner Kindheit. Ich komme ja aus einer Familie, die war unendlich musikalisch – Adorno hat mal an Benjamin geschrieben: ,Musik ist Abschaffung von Angst‘. Mein Vater hatte Musik studiert. Meine Mutter hatte eine große handwerkliche, taktile Begabung, sie hat Kunst studiert. Es gibt eine schöne Geschichte von ihr. Meine Eltern reisten mal in die USA, mein Vater hatte Bankgeschäfte zu erledigen, Vorfinanzierungen, da gab’s ein befreundetes jüdisches Bankhaus, und das Ganze dauerte seine Zeit. Meine Mutter sagte, mach du mal deine Geschäfte, ich gehe ins Metropolitan Museum. Dort traf sie zufällig auf einen der Leiter, einen Bremer aus der Kurfürstenallee. Sie konnte kaum Englisch und rief: ,Rettung! Haben Sie eigentlich auch Spitzen hier?‘ Meine Mutter hatte sich nämlich aus Interesse auch mit Spitzen beschäftigt und konnte sogar selbst klöppeln. Also sie hatten Spitzen, alles unsortiert und durcheinander. Sie erklärte sich bereit, das alles zu ordnen und zu sortieren, die Kustoren wurden geholt und sie bekam alles, was sie brauchte. Sie hat die Spitzen nach Alter und Herkunft sortiert und auf Pappen gezogen, Spitzen aus dem 15. Jahrhundert, aus Brügge, aus Brüssel usw. Das war meine Mutter. Wir sind fünf Kinder, und alle haben Begabungen. Mein Bruder Christoph hat eine Begabung für Gläser, mit verbundenen Augen ertastet er ein Glas und kann sagen, 16. Jahrhundert. Fantastisch. Und wir haben alle musiziert, ich spielte Klavier, die anderen Geige. Wir waren eine wohlhabende Familie. Die Nachbarskinder sind sozusagen bei uns aufgewachsen, denn bei uns ging es überhaupt nicht spießig zu, es gab nicht diese autoritäre Welt, die ja noch verbindlich war, die gab’s bei uns nicht. Im Zentrum stand immer das Künstlerische. Das Musikalische war sozusagen der Gegenentwurf, den man sich leisten konnte durch die prosperierenden Geschäfte. Also, wir sind nach Salzburg gefahren als Kinder, wir haben am Kobenzl gewohnt in diesem zauberhaften Hotel – wir waren ja befreundet mit allen, und ich saß mehr in der Küche als in unseren Zimmern. Ich habe mit George Szell Fußball gespielt, da war er Mitte 50 so was, er war mit seinem Cleveland Orchestra da. Wir haben den ,Don Giovanni‘ gesehen mit Furtwängler in der Felsenreitschule, ein herrliches Erlebnis, von dem ich heute noch OE“

Ein junger Mann betritt den Laden, grüßt knapp und reicht Bettina Wassmann, die nahe der Tür sitzt, einen Zettel. Im gleichen Moment ertönt Dudelsackmusik. „Haben Sie einen Kassettenrekorder in der Tasche?“, fragt Frau Wassmann erstaunt. „Nee, Telefon“, sagt der Kunde, klappt das winzige Gerät auf, tritt einen Schritt zur Seite und tauscht lautstark Banalitäten aus. Bettina Wassmann studiert den Zettel, nimmt einen Stift und korrigiert etwas, während der junge Mann das Gespräch beendet. Dann sagt sie in neutralem Tonfall: „Falsch geschrieben, Updike schreibt sich mit k, nicht mit c. Na, so geht’s schon mal.“ Sie empfiehlt die Thalia Buchhandlung. Der junge Mann sagt: „Gut, mach ich, tschüs“, und verlässt ohne zu danken den Laden.

„Damit komme ich immer sehr schlecht zurecht, mit unhöflichen Leuten. Auf dem Flohmarkt, das ist ja eine Massenveranstaltung, da kommen oft Leute an den Tisch… und wenn dir dann auch noch jemand die Ehre nimmt, deine Sachen schlecht macht, um den Preis runterzutreiben, und du sitzt seit vier Uhr früh da, dann ist das deprimierend. So einfach sind die Zeiten ja nicht! Das war auch mal anders, früher kamen hier andere Kunden rein, also jetzt nicht unbedingt nur so genannte Intellektuelle, es war einfach bunter. Anfang der 90er-Jahre etwa – Alfred war schon tot -, da kam Otto Rehhagel hier manchmal in den Laden, er war ja Vereinstrainer bei Werder Bremen, hat hier einen wunderbaren Fußball entwickelt, und er war ein großer Gedichteleser, ein begeisterter. Er traf hier Reinhild Hoffmann, die nach Kresnik das Bremer Tanztheater machte. Und er hat uns ins Café eingeladen, weil er von ihr etwas wissen wollte über ihre Trainingsmethoden. So muss das sein, ein ständiger Austausch von Wissen. Auch zwischen Leuten, die sich hier im Laden vielleicht zufällig treffen. Aber die Linken verachten ja den Fußball, die haben nie den Spaß mitentwickeln können, den andere daran haben. Es ist ja ein Spiel, bei dem es auch sehr um Körperintelligenz geht und um das blitzschnelle Zusammenwirken einer Gruppe. Aber man konnte einfach mit fast keinem über Fußball reden, außer mit Detlev Clausen, der diese schöne Adorno-Biografie gemacht hat. Oder auch mit Dietrich Sattler, dem Herausgeber der Hölderlin-Ausgabe, an der er 20 Jahre, glaube ich, gearbeitet hat. Der schrieb, als Werder Bremen, ich meine, zum zweiten oder dritten Mal nicht Meister wurde, einen genialen Traueraufsatz. Das war genial gestrickt nach dem Motiv der Kästchenwahl von Shakespeares ,Kaufmann von Venedig‘ – nur so für sich hat er das geschrieben, um über diese Niederlage hinwegzukommen, denn so eine Niederlage ist ja schwer für einen, der Fußball liebt. Und er hat mir diesen kleinen Essay hier gezeigt, und der war so zauberhaft geschrieben, dass ich sagte, hör mal, das muss unbedingt veröffentlicht werden. Mir fiel gleich Wagenbach ein, aber beim zweiten Nachdenken erinnerte ich mich, dass Wagenbach Sport hasst, so wie Churchill ,no sports!‘, und ich dachte, das wird er nicht machen wollen. Aber es war einfach so toll geschrieben, dass ich’s ihm trotzdem gegeben habe.

Und dann muss man ja auch noch wissen, dass es ein Riesenproblem war, mit Dietrich Sattler mal ins Stadion zu gehen. Der hatte richtig eine Phobie, der bekam Zustände, wenn er sich zwischen Massen begeben sollte, dann auch noch zwischen hoch erregte Massen! Ich habe ihn so reingeleitet, habe also auf ihn aufgepasst. Wir saßen unter 40.000 Fußballfans. Und hinter uns erschallte ein Chor von unglaublichen Männerstimmen. Das waren alles Werftarbeiter von der AG-Weser, wenn die da in so einem 200 Meter langen Schiffsbauch arbeiten und dauernd einander was zurufen, dann kann man sich vorstellen, was die für Stimmen bekommen. Na ja, jedenfalls hat Wagenbach diesen Essay gedruckt. Im Freibeuter. Heute, wie gesagt, ist das alles viel schwieriger geworden. Eben andere Kunden. Ich muss flexibel sein. Ich arbeite da beispielsweise mit einer Modehandlung zusammen, mit einer alten Freundin von früher. Sie hat das beste Modegeschäft in Bremen. Eine Modefirma mit Literatur. Wir machen das vier- bis fünfmal im Jahr, Modenschau, und ich mach das literarische Rahmenprogramm. Sensationell! Da erscheinen 80 bis 100 Damen, Kundinnen, und zwischen dem Defilee kommt dann z. B. Gertrude Steins ,Das Geld‘ oder von Schiller ,Das Glück‘. Viele der Damen sind leitende Geschäftsfrauen. Die eine oder andere kommt dann auch schon mal hier in den Laden und kauft Bücher, und zwar nicht zu knapp. So habe ich noch ein Standbein. Man muss ja. Aber ich mache meinen Weg nicht kaputt. Nur hier zu sitzen und zu warten, das kann so oder so ausgehen. Am Samstag war’s z. B. sehr gut. Es war sehr heiß, da saßen natürlich alle draußen, wir tranken ein Wasser, da rief jemand: Bettina, du hast Kunden! Die ganze Straße hat natürlich gelacht. Im Laden standen zwei Ehepaare und ich, sind fünf Personen. Da ist es hier ja schon überfüllt. Das waren Gäste der Stadt und sie haben so wundervoll eingekauft, dass ich am Samstag eine richtig gute Kasse hatte. Bücherberge haben die gekauft, zauberhafte Menschen! Für die Mieten war das wichtig. 600 Euro habe ich hier und noch mal 600 Euro zu Hause. Also machen wir uns nichts vor, die Zeiten sind ganz schwierig. Wir müssen wirklich immer sehen, wie wir es packen. Ganz viele Läden mussten hier raus. Mit dem Verlag – na ja, Verlag in dem Sinn ist es ja nicht, es ist eine Buchladenedition -, das habe ich einfach im Moment eingestellt. Meine Drucker haben auch Insolvenz gemacht. Niederschmetternd! Wir haben viel diese Bibliothek von der Süddeutschen verkauft. Obwohl der Rabatt kaum der Rede wert ist, habe ich’s gemacht. 1.000 Bände wurden verkauft!“ Sie schlägt ein Buch auf. „Hört mal, ich habe hier den schönen Satz von Alfred gefunden: ,Aber auch die freudsche Theorie gehört zur Priesterschaft des kapitalistischen Kults‘ OE das Verdrängte, die sündige Vorstellung IST das Kapital, ist die Hölle des Unbewussten, verzinst.‘ Ich muss jetzt Alfred wieder auflegen. So viel ist klar.“

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Und die Zeit ist auch gerade gut geeignet dafür. Die Weltläufte drängen den Leuten den Marxismus geradezu auf. (Ich werde mich bemühen, noch weitere Texte über Alfred Sohn-Rethels materialistische Erkenntnistheorie hier anzuhängen.)

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/12/04/geld_und_geistlicht/

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kommentare

  • Fortsetzung des obigen Vortrags über „Warenform und Denkform
    Eine Einführung in den Grundgedanken Alfred Sohn-Rethels“ von Manfred Dahlmann, der plötzlich abbrach, weil in einen Kommentar nicht mehr reingeht:

    … sondern im tatsächlichen Verhalten der Menschen.
    Marx vermag also auf diese Weise Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen und unmittelbar auszusprechen, daß es die Gesellschaftlichkeit des Menschen ist, die ihm auch die Geltungsgründe seiner Urteile liefert.

    Doch befriedigt ist Sohn-Rethel keineswegs. Er wird diese ersten Seiten immer wieder durchgehen, um seinem Unbehagen auf die Spur zu kommen. Sehr schnell weiß er, wo Marx anfängt, ungenau zu argumentieren – und zwar an der Stelle, an der Marx den Begriff der abstrakten Arbeit einführt: Gemeint kann ja nicht sein, was bis hin zu Robert Kurz die Marxisten unter abstrakter Arbeit verstehen: so etwas wie ein ungegenständliches, aber doch außerhalb des Denkens existierendes Ding, das von der konkreten Arbeit erzeugt würde. Marx kann in diesem Begriff nur die Abstraktion von der Arbeit gemeint haben, also eine rein gedankliche Tätigkeit – alles andere würde seine Ausführungen dazu unverständlich machen und wäre im übrigen reine Metaphysik. So gefaßt stellt sich natürlich sofort die Frage: Wer abstrahiert denn hier eigentlich? Auf diese Weise könnte man tatsächlich die Frage nach dem Transzendentalsubjekt nahtlos bei Marx einführen – aber bewegt sich dann im Kreis, d.h. Marx hätte dann auch wieder nichts anderes getan als die Philosophen nach Kant und hätte dem Transzendentalsubjekt nur einen anderen Namen gegeben. Also gilt es den gordischen Knoten zu sprengen.

    Dazu sollte man sich eines vor Augen führen: all den Namen, die einen Ort bezeichnen, aus dem sich die Existenzbedingungen des Menschen in letzter Instanz restlos erschließen lassen sollen: also Transzendentalsubjekt, Geist, Wille, Macht, Sprache usw. – aber auch dem, was Marx den Wert nennt –, ist eines gemeinsam: Es handelt sich um Reflexionsbegriffe, um Begriffe also, die in der Wirklichkeit nicht sinnlich wahrnehmbar sind. Was empirisch gegenständlich in der Wirklichkeit erscheint, muß erst noch durch viele Vermittlungen hindurch als ein durch dieses Dritte Konstituiertes ausgewiesen werden. Gerade die marxsche Lösung hilft hier gar nicht so viel weiter, wie es auf den ersten Blick scheint: der Wert ist zwar unmittelbar als gesellschaftlich erfaßt, aber die Gesellschaft ist schließlich auch nichts anderes als ein Reflexionsbegriff: es ist zwar einleuchtend, daß der Mensch nicht als einzelnes Wesen existieren kann, sondern ein gesellschaftliches ist – aber dies wurde weder von Kant noch von Hegel oder irgendeinem anderen Philosophen nach Kant je wirklich bestritten. Sie, diese vielen Philosophen – und das tun die jeweiligen Adepten dieser Philosophien bis heute –, stritten mit allen anderen allein darum, den Begriff gefunden zu haben, aus dem z.B. das Urteil, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, seine Geltungskraft und seine Bedeutung für den Menschen erlangt. In Frage steht nun – und die Antwort auf diese Frage stellt den Fortschritt dar, der seit Kant der einzig mögliche ist: in Frage steht, ob es ein Kriterium gibt, aus dem heraus entschieden werden kann, welcher Name für dieses Dritte der richtige ist?

    Meine Behauptung, jetzt nun endgültig formuliert, ist: Sohn-Rethel liefert das Kriterium, gemäß dem entschieden werden kann, daß letztlich Marx der Philosoph war, der den richtigen Begriff des synthetisierenden Dritten gefunden hat.

    Der Beweis, den Sohn-Rethel führt, besteht in einem ganz einfachen, aber in seiner Einfachheit genialen Verfahren. Er sagt: ersetzen wir doch einfach die Stelle, die bei Marx der Wert einnimmt, durch das Geld. Doch besser, wir müssen hier ganz genau sein: auch Geld ist ja eine Reflexionsbestimmung – mit höchst metaphysischen Mucken, wie Marx im Fetischkapitel ausgeführt hat. Wir müssen nicht Geld sagen: sondern Münze. Und zwar ganz banal die Münze, die ein jeder von uns als Pfennig, Groschen oder Markstück in seiner Tasche hat.

    Was haben wir gewonnen? Tatsächlich haben wir einen sinnlich wahnehmbaren, empirischen Gegenstand in der Hand – einen Gegenstand, den jeder kennt. Dieser Gegenstand ist für jeden der gleiche – und dies vollkommen ungeachtet der Tatsache, daß jeder einen anderen in der Hand hält. Dieser Gegenstand verdankt sich rein menschlicher Konstitution: kein Tier, auch die Götter nicht, benötigen Geld. Und, das ist der entscheidende Beweisschritt für Sohn-Rethel: tatsächlich mag die konkrete Münze physikalischen Veränderungen in der Zeit unterliegen: denken aber muß ich das Geld als sei es durch alle Zeit- und Räumlichkeit hindurch ein sich selbst gleiches Wesen. Darin unterscheidet es sich von allen anderen empirischen Dingen. Und weiter: für dieses Geld, resp. die Münze, kann man was kaufen: jeder was anderes – in der Entscheidung, was er kauft, ist jeder frei. Was man für das Geld haben will, ist also in die Beliebigkeit eines jeden Individuums gestellt. Descartes läßt grüßen. Und doch ist die Geltung des Geldes in seiner Objektivität unüberschreitbar. Und so weiter und so fort – man kann auf diese Weise die gesamte Wertformanalyse von Marx hereinholen, und nicht nur genau zeigen, wie durch diesen kleinen ‚Trick‘ nicht nur dessen Wertformanalyse geradezu empirische Beweiskraft erlangt, sondern, wie Sohn-Rethel auch vorführt: daß all die philosophischen Begriffe, vom Beginn der Entstehung der Philosophie an, nichts anderes darstellen als eine Reflexion auf die in einem jeden Geldstück verborgenen Geheimnisse.

    Mehr noch: Und jetzt komme ich auf das eingangs gemachte Versprechen zurück, erklären zu können, warum denn diese naturwissenschaftliche Denkform noch existiert, obwohl ihr doch Sohn-Rethel den Boden unter den Füßen weggezogen habe, warum also die Menschen, wie Hegel behauptet, denkfaul sind: dies deshalb, weil eine konsequente Selbstreflexion im Denken auf das Geld zeigen würde, daß das Geld gar nicht ist, was es zu sein scheint: es gar nicht die in sich selbst ruhende Identität darstellt, die einen von allen äußeren Umständen unabhängigen Wert an sich repräsentiert. Ganz im Gegenteil: nur die freie Entscheidung der Individuen, das Geld als Maßstab des Wertes zu akzeptieren macht das Geld zum Geld. Diese freie Entscheidung, das liegt in der Natur der Sache, könnte eigentlich widerrufen werden. Und die Möglichkeit eines solchen Widerrufs begründet den Horror, erklärt die Urangst jeden Bürgers, die er, wo es nur geht, zu bannen sucht. Die Identität, unter der der Mensch das Geld gezwungen ist zu betrachten, damit es bleibt, was es ist: nämlich allgemein anerkannter Repräsentant des Werts, dieser aus einer Urangst heraus bewirkte Zwang, erklärt, daß das rein analytische Denken der Wissenschaft – obwohl es von Kant in jeder Hinsicht als falsch erwiesen wurde – dennoch beibehalten wird: koste es an logischen Antinomien, was es wolle. Die Identität des Geldes im Verschiedenen, seine absolute Unüberschreitbarkeit – bei völliger Freiheit in der konkreten Anwendung – genau das ist nicht nur die Grundlage naturwissenschaftlichen Denkens, sondern die Grundlage des bürgerlichen Denkens und seiner Praxis insgesamt.

    Ich hoffe, keiner kommt auf die Idee zu sagen, ich hätte hier behauptet, Sohn-Rethel würde so etwas wie eine Philosophie des Geldes entfalten, nach dem Motto: Geld regiere die Welt oder so ähnlich, und als solche bestimme das Geld sogar das Bewußtsein der Physiker und Mathematiker. Das wäre schiere Metaphysik – wäre nichts weiter als nur ein anderer Ausdruck des rein analytischen Denkens, wie etwa ein Lenin es vorführt, wenn er sich als Erkenntnistheoretiker versucht. Sohn-Rethel behauptet noch nicht einmal, daß etwa Kant mit seinem Transzendentalsubjekt eigentlich vom Geld rede, Hegel, wenn er vom Geist ausgeht, Nietzsche, von der Macht usw. Nichts davon soll hier behauptet werden, nichts davon würde Sohn-Rethel gerecht. Es ging nur darum zu zeigen, daß, wenn man nur konsequent genug auf die Funktionsmechanismen des Geldes in der Gesellschaft reflektiert (wohlgemerkt: ich muß nur diese Reflexionsleistung tatsächlich erbringen, ich brauche in dieser weder zu wissen, noch zu sagen, auf was ich tatsächlich reflektiere), daß dann die Erkenntnis, daß all diesem Funktionieren ein Drittes zugrundegelegt werden muß, aus dem heraus alle Urteile ihre Geltung beanspruchen können, unausweichlich ist und daß es dann eben unausweichlich ist, etwas von einem Transzendentalsubjekt, einem Geist, einem Willen, einer Macht usw. zu schwafeln, das es wäre, das die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, das also des Pudels Kern wäre – womit ich wieder bei Goethe und Hörisch angelangt bin.

    Nichts ist hier von dem, was Kant über das Transzendentalsubjekt, nichts von dem, was Hegel über den Geist, nichts von dem, was Marx über den Wert gesagt hat, in irgendeiner Form in seiner Wahrheit zurückgenommen. Kein einziges wissenschaftliches Gesetz ist in seiner Geltung bestritten. Sohn-Rethels „Trick mit dem Geld“, wie ich das genannt habe, zerreißt aber den metaphysischen Schleier, der über all diesen philosophischen Reflexionsbestimmungen – und gerade die naturwissenschaftliche Erkenntnisform ist eine solche Reflexionsbestimmung par excellence – liegt. Nun, sollte man meinen, werden sie dem Verstand unmittelbar zugänglich und können sich vor dem Richterstuhl der Vernunft als sinnvoll in Geltung gesetzte beweisen. Denn das, von dem man den Schleier herunterzieht, wird sichtbar: sollte man meinen.

    Was aber wird sichtbar, wenn man Sohn-Rethel folgt? Es fällt schwer, für das, was nach ihm offen zutage liegt, die Worte zu finden. All das Gerede der letzten zweitausend Jahre Menschheitsgeschichte über Ideale, über das Schöne, Wahre, Gute, über Wissenschaft und Vernunft, über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, diente, und dient weiterhin, einem einzigen Zweck: nämlich dem, alles zu tun, damit der Grund, aus dem heraus das Geld seine allgemeine Geltung erlangt, nicht verloren geht. Denn ohne diesen Grund gäbe es weder ein gültiges Recht, weder einen Staat, weder eine naturwissenschaftliche Erkenntnis noch sonst ein allgemeines: es gäbe noch nicht einmal das Ich, mit dessen unüberschreitbarer Realität sich die Menschen der Neuzeit schließlich abgefunden haben, und mit dem sie sich zu identifizieren gelernt haben, damit sie in dieser Gesellschaft funktionieren können. Aus diesem Ich heraus kann sich das Individuum die Sicherheit verschaffen, doch nicht allein zu sein auf dieser Welt, doch nicht die fensterlose Monade zu sein, vor der es Leibniz so grauste. Aus der Angst davor, erkennen zu müssen, daß es selbst es ist, das all das in Geltung setzt, was es dann als unüberschreitbar geltendes wieder reidentifiziert, konstituiert das zum Philosophen mutierte Individuum die tollsten metaphysischen Systeme. Und wie diese Philosophen konstruiert ein jedes Individuum sich eine Realität, die es, obwohl es allein es ist, das sie konstruiert, sie dennoch nicht gestalten will, sondern deren Gestaltung es einem Wesen überläßt, von dessen Existenz es dann auf einmal doch nichts weiter wissen will. Es konstituiert das Kapital und mutiert damit zu einem Subjekt, das damit zufrieden ist, die Verantwortlichkeit, die dieses Individuum als Mensch für seine Konstruktion eigentlich hätte, auf dieses Kapital abwälzen zu können. „Man muß realistisch sein“: in diesem Satz drückt sich der abgrundtiefe Skandal, die Unverschämtheit aus, mit der der Mensch unter kapitalistischen Bedingungen mit sich selbst umgeht.

    Bevor ich zum Schluß komme, müssen unbedingt noch zwei Bemerkungen zu Sohn-Rethels Philosophie gemacht werden, die nicht seine Erkenntnis in Frage stellen können, sondern die seine Ausführungen, d.h. die Art und Weise, wie er seine Erkenntnis zur Darstellung bringt, betreffen. Hier gibt es Defizite, die unübersehbar sind, Defizite, die an die Defizite der Ausführungen Kants zum Transzendentalsubjekt erinnern. Denn Sohn-Rethel vermag z.B. nicht, zu erklären, wie denn das Geld sich in Kapital transformieren konnte. Bei ihm erscheint es so, als ob mit der gleichzeitigen Entstehung des Münzgeldes und der Philosophie auch das Transzendentalsubjekt schon voll entwickelt vorläge: zumindest kann Sohn-Rethel diesen, vom Linkshegelianismus völlig zu recht vorgebrachten Einwand nicht hinreichend entkräften. Dazu nur so viel: Er kann dies nicht, weil er nicht scharf genug zwischen einer sozialen Synthesis, wie sie in der Antike vorlag, und der heutigen, der kapitalistischen, unterscheidet. Ich habe in diesem Vortrag mit meinen Verweisen auf Aristoteles Sohn-Rethel stillschweigend in dieser Sache zu korrigieren versucht: das konnte hier natürlich nur implizit geschehen und wird so keinen Linkshegelianer von seinen Vorbehalten abbringen. Ich behaupte zudem, daß eine hinreichende Lösung dieses Problems philosophisch gar nicht zu leisten ist: sondern hier muß man historisch-empirisch argumentieren und sich dem Prozeß der ursprünglichen Akkumulation erneut widmen. Aber dies ist ein anderes Thema, und ich kann nur versichern, daß Sohn-Rethels Grundgedanke auch in einer solchen Hinwendung zur Geschichte nichts an Bedeutung verliert.

    Zweitens: auch in einen Vortrag über den Erkenntnistheoretiker gehört zumindest der Hinweis, daß Sohn-Rethel eine Faschismustheorie vorgelegt hat, die, im Kontext der vielen schiefen Faschismusanalysen gesehen, ihresgleichen sucht. Doch, und dieses Manko hat er selbst gesehen, ohne es lösen können: ihm gelingt es, seltsamerweise muß man sagen, nicht, eine konsistente Verbindung seiner Erkenntniskritik zu seiner Faschismustheorie zu ziehen. Auch dies ist alles andere als ein unlösbares Problem – was ich an dieser Stelle wiederum nur versichern, nicht aber wirklich belegen kann (hierzu kann ich allerdings auf den Vortrag von Joachim Bruhn heute abend verweisen.)

    Wenn ich hier immer von „lösbaren Problemen“ spreche, so soll dies natürlich nicht heißen, daß nicht doch auch unlösbare auftauchen könnten: doch dies kann erst der Fall sein, wenn man sich der Erkenntnis von Sohn-Rethel wirklich stellt und nicht in einer Abwehrhaltung verharrt, die beim normalen akademischen Philosophiebetrieb nicht weiter verwundert, die aber dem Linkshegelianismus – von den Krisis-Leuten um Robert Kurz ganz zu schweigen – schlecht zu Gesicht steht. Mit seinen Defiziten ist Sohn-Rethel durchaus mit Kant vergleichbar, dessen Defizite von Hegel ja auch sehr schnell überwunden werden konnten. In Bezug auf Sohn-Rethel braucht es heute einen ihn korrigierenden Hegel allerdings nicht mehr: denn mit Marx gibt es einen, der, wenn man ihm den Gedanken von Sohn-Rethel quasi unterzieht, die meiste Arbeit in dieser Hinsicht schon geleistet hat.

    Eine Kritik der durch das Kapital konstituierten Synthesis kann nach Sohn-Rethel jedenfalls nicht mehr so tun, als stelle der Kommunismus nichts weiter dar als die Lösung der vom Kapitalismus aufgeworfenen Probleme. Der Kommunismus, stellt er denn wirklich etwas anderes vor als einen sozial reformierten Kapitalismus, hat auf die zentrale Frage eine Antwort zu geben, wie denn in ihm die Synthesis beschaffen sein soll, aus der heraus sich der einzelne Mensch tatsächlich als das mit Vernunft begabte Gattungswesen konstituiert, als das ihn die Philosophen immer postuliert haben. Mit Sohn-Rethel sind alle bisherigen Antworten auf diese Frage als philosophische enttarnt worden, d. h.: sie erwiesen sich als ideologisch. Sie waren, wie die Mathematik, wie die Naturwissenschaft, wie der Empirismus, wie der common sense insgesamt, nicht mehr und nicht weniger als ein richtiges Denken im falschen Bewußtsein. Genau das ist es, was Sohn-Rethel als den Kern ideologischen Denkens denunziert: nämlich richtig, d.h. angepaßt an die herrschende Realität zu denken, dies aber in einer völligen Verkennung der nur als barbarisch zu kennzeichnenden Natur dieser Realität.

  • In der FAZ findet man 2005 folgende Bemerkung über Alfred Sohn-Rethel:

    Auf der größten Bücherschau der Welt werden in diesem Jahr erstmals auch antiquarische Bücher angeboten. Die erste Frankfurter Antiquariatsmesse wird von der Frankfurter Buchmesse gemeinsam mit der AG Antiquariat im Börsenverein des Deutschen Buchhandels veranstaltet. Vom 19. bis zum 23. Oktober präsentieren in Halle 4.0 des Messegeländes 75 Aussteller, von denen ein Drittel aus dem Ausland kommt, bibliophile Editionen, wissenschaftliche Werke, Handschriften, Autographen, Graphik und Zeichnungen.

    Im Unterschied zu den übrigen Ausstellungsbereichen der Buchmesse wird bei den Antiquaren vom ersten Tag an verkauft. Die Preisspanne reicht dabei von 30 bis zu 850 000 Euro.

    Maria Sibylla Merian begriff als erste „Der Raupen wunderbare Verwandlung“, und eine Südamerika-Reise fruchtete in ihrem Werk über die Metamorphose der surinamesischen Insekten, das 1705 in Amsterdam erschien. Eine erweiterte französische Ausgabe von 1771 führt Brumme aus Frankfurt (95 000).

    Die Arbeitsbibliothek des Volkswirtschaftlers und Philosophen Alfred Sohn-Rethel hat Co-Libri aus Bremen als einige hundert Bände umfassendes Konvolut im Angebot (18 000) – darunter etwa eine reich annotierte Erstausgabe von Heideggers „Sein und Zeit“ aus dem Jahr 1927.

  • Eva (Archiv):

    In der FAS vom 7.12. beschäftigt sich der Ethnologe Thomas Hauschild in einem langen Artkel mit dem Titel „Wie man Wirtschaft wilder denkt“ u.a. auch mit Alfred Sohn-Rethel, dessen an Marcel Mauss sich abarbeitendes Vorwort zur französischen Ausgabe seines Buches „Geistige und körperliche Arbeit“ Hauschild jedoch anscheinend nicht kennt. Es geht im in seinem Artikel jedoch um die „Ökonomie“ einiger sogenannter primitiver Gesellschaften.

    Eine Kopie davon liegt im 6.Stock.

  • Aus „Grundrisse – Zeitschrift für linke Theorie und Debatte“:

    Karl Reitter – Alfred Sohn-Rethels und die „erweiterte Warenanalyse“

    Wer erinnert sich noch an die Texte von Sohn-Rethel? Dieser Aufsatz ist ein Versuch, einige wesentliche Momente seiner Philosophie in Umrissen erneut zur Diskussion zu stellen. Den aufmerksamen LeserInnen wird nicht entgehen, dass so manches Element auch gegenwärtig, insbesondere innerhalb der so genannten Wertkritik, lebendig ist. Zugleich beinhaltet das Denken von Sohn-Rethel Elemente, die kaum mehr rezipiert werden. Hier eine kleine Ermutigung zum erneuten Nach-Denken.

    Alfred Sohn-Rethel versuchte ein ehrgeiziges und umfassendes Programm vorzulegen. Er verstand sich Zeit seines Lebens uneingeschränkt als Marxist. Obwohl er keinerlei Interesse an einer Kritik an Marx hatte, wurde ihm doch bewusst, dass seine Warenanalyse mit jener von Marx nicht wirklich harmonierte, zu einer vollständigen Klärung dieses Verhältnisses ist es jedoch nicht gekommen. Es sah in der Warenanalyse das Kernstück der Marxschen Gesellschaftsanalyse und der materialistischen Philosophie. Die wahre Bedeutung der Warenanalyse zeige sich allerdings erst dann, wenn sie um die Dimension der abstrakten Tauschhandlung erweitert wird. Dann ist in der Analyse der Ware „alles“ zu finden, die Formen des Denkens ebenso wie die Quelle und Form der gesellschaftlichen Ordnung. Unter Ableitung des Denkens aus dem gesellschaftlichen Sein verstand er weit mehr als den Nachweis, dass sich das Interesse der herrschenden Klasse im Denken der Zeit niederschlägt. Sohn-Rethel ging es um viel mehr, um die Ableitungen der abstrakten Denkformen und nicht bestimmter Denkinhalte aus der Warenanalyse. Er war vom Gedanken durchdrungen, ja vielmehr besessen, „dass im Innersten der Formstruktur der Ware – das Transzendentalsubjekt zu finden sei.“ (Sohn-Rethel 1972; 12) Das Rätsel der Beziehung zwischen Sein und Bewusstsein schien sich durch die Warenanalyse mit einem Schlag zu lösen. Die Kantsche Transzendentalphilosophie konnte scheinbar unmittelbar auf geschichtsmaterialistische Füße gestellt werden. Die abstrakten Formen des Denkens – Kategorien wie abstrakte Quantität, Substanz und Akzidenz, Atomizität usw. – schienen sich aus der Analyse der Ware, genauer aus der Analyse der Tauschhandlung ableiten zu lassen. Nun, wie selbst jene zugeben, die sich auf Sohn-Rethel ernsthaft bezogen, blieb dieses umfassende Programm weitgehend skizzenhaft.[1]

    Methodisch entwickelte Sohn-Rethel seine Thesen aus der strikten Unvereinbarkeit von Tauschhandlung und Gebrauchshandlung. Die Gebrauchshandlungen finden in der tatsächlichen empirisch erfahrbaren, raumzeitlichen Welt statt. Die Tauschhandlung hingegen ist durch die Abstraktion von allen empirischen Umständen gekennzeichnet. Die Abstraktionen, die notwendig sind, um die Tauschhandlung zu ermöglichen, gehen weit über jene Abstraktion vom Gebrauchswert hinaus, die Marx anführt. Der Tauschvorgang abstraktifiziert nicht nur die Ware, sondern er abstraktifiziert auch den „Raum“ in dem er stattfindet, die „Bewegung“ der Besitzübertragung, die „Zeit“ in der er stattfindet. Die Ware und die Handlung treten gewissermaßen aus der empirischen Welt insgesamt heraus; alles an Tausch und Ware nimmt abstrakten Charakter an. Diese Abstraktionen sind der Gleichsetzung der Waren noch vorgeordnet, Bedingung für die Gleichsetzung, nicht deren Folge. „Die abstrakte Natur der Tauschhandlung ist auch nicht Funktion der im Austausch stattfindenden Gleichsetzung der Waren. Sie ist vielmehr dieser Gleichsetzung vorgeordnet und liefert, wie sich zeigen wird, ihre Begründung.“ (Sohn-Rethel 1971; 117) Es ist also, als ob die Natur „um unsrer gesellschaftlichen Angelegenheit willen in den Warenkörpern den Atem anhält.“ (Sohn-Rethel 1971; 118) Obwohl der Warentausch real als raum-zeitlicher Prozess stattfindet, ist sein Inhalt notwendig abstrakt. Ebenso wie Marx beharrt Sohn-Rethel auf dem spezifischen Charakter der Abstraktion: Diese Abstraktionen haben ihren Sitz nicht im Denken, sondern in einer gesellschaftlichen Form des Handelns, des Tausches. Sie sind Realabstraktionen, nicht bloße Denkabstraktionen.

    Die scheinbare Autonomie des Intellekts

    Die abstrakten Kategorien sind also nicht denk- sondern handlungserzeugt. Sie beruhen auf der im Tausch vollzogenen Realabstraktion. Dieser Ansatz katapultiert Sohn-Rethel freilich aus dem eigentlichen Themenzusammenhang der Marxschen Warenanalyse, also der Oberfläche der kapitalistischen Zirkulationssphäre, hinaus. So, wie Sohn-Rethel die Realabstraktion ansetzt, muss sie dann gesellschaftliche Geltung annehmen, sobald der geldvermittelte Tausch eine bestimmte Bedeutung gewonnen hat. Tatsächlich zieht Sohn-Rethel Parallelen zwischen den ersten Münzprägungen in der Antike, die er sehr präzise um 680 vor Chr. Geb. ansetzt und dem Aufkommen der Philosophie in Griechenland. In der Münze nehme die Abstraktion sinnliche Gestalt an. Ob ausgesprochen oder nicht, muss die Abstraktion mitgedacht werden, sie drängt sich sozusagen durch den Gebrauch der Münze auf: „Denn er [der Kaufmannsverstand K.R.] behandelt diese Münzen faktisch, als ob sie aus einer unzerstörbaren und ungeschaffenen Substanz beständen, einer Substanz, über die die Zeit keine Macht hat. Nur wenn die Münzen eine solche Behandlung gestatten, sind sie von der Art, wie sie der Markt verlangt.“ Sohn-Rethel 1971; 123)

    Doch die „Werkzeuge“ des Denkens sind Abstraktionen. Kategorien wie Qualität, Quantität, Bewegung usw. entspringen keineswegs der Leistung des Intellekts, sondern den Realabstraktionen im Warentausch. Der Warentausch wiederum hat Handarbeit zur Voraussetzung. Somit, so kann Sohn-Rethels These zusammengefasst werden, ist die Unabhängigkeit des Intellekts und der Kopfarbeit von der Handarbeit nur scheinbar.

    Abgesehen vom Einwand, ob denn nicht Sprache selbst notwendig abstrakt ist – das Wort Baum z.B. bezeichnet ja nicht eine bestimmte konkrete Pflanze -, kann Sohn-Rethel keine inhaltliche Kritik an den Naturwissenschaften entwickeln, sondern beschränket sich darauf, die Abhängigkeit der Denkkategorien von den Handlungsvollzügen im Tauschakt nachzuweisen. Immerhin gelingt ihm – so sein Programm akzeptiert wird – eine präzisere Fassung des Zusammenhangs von gesellschaftlichem Seins und Denkformen. Seinen Ursprung im Warentausch verleugnend, setze sich der „abstrakte Verstand“ als unabhängiges, autonomes Moment. Vor allem ging es ihm darum, „die Naturwissenschaften und ihre Erkenntnisform“ in das „geschichtsmaterialistische Gesichtsfeld“ (Sohn-Rethel 1972; 15) einzubeziehen, eine Aufgabe, die sich Marx nie gestellt hätte.

    Zum Begriff „gesellschaftliche Synthesis“

    Tatsächlich zur „erweiterten Warenanalyse“ wird das Programm von Sohn-Rethel durch den Begriff der „gesellschaftlichen Synthesis“. „Unter diesem Begriff, der im Mittelpunkt all unserer weiteren Ausführungen stehen wird, verstehen wir die Funktionen, die in verschiedenen Gesellschaftsepochen den Daseinszusammenhang der Menschen zu einer lebensfähigen Gesellschaft vermitteln.“ (Sohn-Rethel 1972; 19) „Warentausch ist Vergesellschaftung rein als solche, durch eine Handlung, die nur diesen einen von allem übrigen abgesonderten Inhalt hat.“ (Sohn-Rethel 1972; 48) Auch wenn ich den Zusammenhang von Realabstraktion und Denkabstraktion zumindest als heuristisches Verfahren gerne gelten lassen möchte, gegen das Konzept der Vergesellschaftung primär durch den Tausch habe ich massive Einwände. Ausgehend von der „erweiterten Warenanalyse“ zerrinnen ihm die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus zwischen den Fingern. Denn die Vergesellschaftung durch Warentausch gilt im Prinzip für jede tauschvermittelte Gesellschaft, für die Antike ebenso wie für die Gegenwart. Sohn-Rethels Ansatz erleidet das Schicksal aller Denkbewegungen, die meinen, bereits in der Analyse der Zirkulationsform ein zureichendes Prinzip der kapitalistischen Gesellschaft erkennen zu können. Der Begriff des Kapitals kann und muss nicht mehr als gesellschaftliches Verhältnis dechiffriert werden, das Klassenverhältnis wird der eigentlichen Synthesisform bloß additiv hinzugefügt. Es kommt geradezu zu einer Zwei-Sphären Theorie, deren Teile nicht mehr vermittelt werden. Das wird auch klipp und klar ausgesprochen: „Die Trennung der Vergesellschaftung vom Produktionsprozess ist die Wurzel.“ (Sohn-Rethel 1971; 129) Vergesellschaftung findet also außerhalb des Produktionsprozesses statt. Die Tatsache der Ausbeutung wird vom Autor nun keineswegs in Frage gestellt, aber dieser Prozess findet jenseits der eigentlichen gesellschaftlichen Synthesis statt, das ist der Punkt. Sohn-Rethel stellt zwar der Vergesellschaftung durch den Tausch noch die Vergesellschaftung durch die Arbeit entgegen. Darauf komme ich gleich zu sprechen. Aber diese Vergesellschaftung durch Arbeit ist begrifflich weit weniger systematisch entwickelt, zudem konzentrierte sich die Rezeption auf den primären Modus, den der Tauschvergesellschaftung.

    Wie wenig bei Sohn-Rethel das eigentliche Klassenverhältnis in die Begriffsbildung eingeht, zeigt sein eigenartiges Verständnis seiner Kategorie „Aneignungsgesellschaft“. „Das gemeinsame Merkmal aller Aneignungsgesellschaften ist eine gesellschaftliche Synthesis durch Tätigkeiten, die der Art nach verschieden und in der Zeit getrennt sind von der die Aneignungsobjekte erzeugenden Arbeit.“ (Sohn-Rethel 1972; 124) Diese Art der Tätigkeit ist natürlich der Tausch. Nun wird aber im und durch den Tausch nicht angeeignet, da Gleiche und Freie Äquivalente austauschen. Das bezweifelt Sohn-Rethel auch nicht. Die Ausbeutung hat ihren Sitz wohl in der Arbeit, getauscht werden aber angeeignete, den ArbeiterInnen abgepresste Produkte. Allerdings, ohne Verkauf von Waren existiert weder Wert noch Mehrwert. Daher sind folgende Sätze keineswegs widersinnig: „Im Zuge dieses Äquivalententausches werden schon in fernen vorkapitalistischen Epochen die einen reich und die anderen arm. Er hat Ausbeutung zum Inhalt und Ausbeutung zur Grundlage.“ (Sohn-Rethel 1972; 143) Die Formulierung ist zweifellos unglücklich, was der Autor meint ist aber klar: die Arbeit findet privat, abgeschieden, scheinbar ungesellschaftlich statt. In gesellschaftlichen Kontakt treten die Menschen erst auf dem Markt. Dieses Modell entspricht dem Analysestand in den ersten Abschnitten des Kapitals, indem Marx die scheinbar privaten WarenbesitzerInnen ihre Arbeitsprodukte geldvermittelt tauschen lässt. Aber um diese Zirkulationssphäre verstehen zu können, ist die Wende zur Produktionssphäre nötig. Aus der Oberfläche der Zirkulation alleine ist weder ein zureichender Wert- denn ein Kapitalbegriff zu gewinnen, dieses Faktum ignoriert Sohn-Rethel und in Anschluss daran Breuer und alle jene, die auf Geld, Ware und Tausch starrend, das eigentliche soziale Verhältnis zwischen den Klassen außen vor lassen. „In dieser sich selbst regulierenden und marktbildenden Kapazität wird der Warentausch zu einer tragenden Form der Vergesellschaftung, in der sich ein Netz von bloßen Eigentumsverhältnissen die Produktion und Konsumation der Gesellschaft subsumieren kann, sei es als Produktion mit Sklavenarbeit, sei es später diejenige vermittels Lohnarbeit. Arbeit und Vergesellschaftung stehen hier von vornherein auf getrennten Polen.“ (Sohn-Rethel 1972; 143) Die Vergesellschaftung erfolgt über den Warentausch, ihr „negatives“ Prinzip subsumiert sich Arbeit und Konsum. Lassen wir nochmals Stefan Breuer zu Wort kommen, der die Logik dieses Ansatzes, mit explizitem Bezug zu Sohn-Rethel, sehr konsequent ausführt: „Tausch in diesem Sinne meint mehr als eine ökonomische Transaktion, meint mehr als den bloßen Besitzwechsel konkret-nützlicher Gegenstände. (…) Ihre Einheit gewinnt die fragmentierte und atomisierte Gesellschaft nur mehr auf dem Umweg über den Tausch, da aber nur Gleiches, vergleichbares, Äquivalentes getauscht werden kann, wechseln in der Zirkulation nicht Gebrauchswerte den Besitzer, sondern Tauschwerte. (…) Bürgerliche Vergesellschaftung heißt dementsprechend abstrakte, reine Vergesellschaftung, Integration durch eine Sphäre, die in der traditionellen Metaphysik als „Schein“, in der idealistischen Philosophie als „Geist“ bezeichnet wurde – eine Welt des Symbolischen, der Stellvertretung, der Substitution, die alle Erscheinungsformen des Sozialen, von der Zirkulation über Recht und Staat bis zu den subtileren Gestalten der Kunst, der Philosophie und der Wissenschaft, strukturiert.“ (Breuer 1995; 79f) Klassengegensatz und Klassenkonfrontation sind in dieser kritischen Variante verschwunden. Das soziale Verhältnis im Kapitalismus stellt sich nach dieser Auffassung vollständig im geldvermittelten Tausch her, der abstrakte Wert bestimmt das Geschehen. Die bürgerliche Gesellschaft anhand der Unterwerfung der lebendigen Arbeit durch das tote Kapital untersuchen zu wollen, kann in dieser Logik nur auf Abwege führen oder die Stereotype des Arbeiterbewegungsmarxismus reproduzieren. Diese Konsequenz freilich hat Sohn-Rethel keineswegs intendiert. Im Gegenteil, er erhoffte sich durch bestimmte Aspekte der Organisation der Arbeit emanzipatorische Potentiale.

    Aneignungsgesellschaft und Produktionsgesellschaft

    Sohn-Rethel stellt den durch den Tausch synthetisierten Aneignungsgesellschaften die Produktionsgesellschaft gegenüber. „Wenn eine Gesellschaft durch den Arbeitszusammenhang im Produktionsprozess die Form ihrer Synthesis erhält, also ihre bestimmende Ordnung direkt aus dem Arbeitsprozess menschlicher Naturtätigkeit herleitet, so ist sie, zum mindesten der Möglichkeit nach, klassenlos. Eine solche Gesellschaft kann ihrer Strukturbestimmtheit nach Produktionsgesellschaft genannt werden.“ (Sohn-Rethel 1972; 123) Einen Vorgriff auf eine Vergesellschaftung durch und in Arbeit meinte er in bestimmten Formen der fordistischen Arbeitsorganisation zu erkennen. Tatsächlich seien also zwei Synthesisformen wirksam, zur Vergesellschaftung durch den Tausch trete die Vergesellschaftung durch die Arbeit. Beide Formen stünden klarerweise im Widerspruch. Im „Spätkapitalismus“, so die in den 60er und 70ern sehr gebräuchliche Ausdrucksweise, zeige sich dieser Gegensatz in Form der Marktökonomie einerseits und der Betriebsökonomie andererseits. Unter Marktökonomie verstand Sohn-Rethel das Wertgesetz selbst. Wenn etwa zu viele Massenprodukte hergestellt werden, mehr als der „Marktmagen“ (Marx) verdauen kann, so wäre die logische Konsequenz eine Verringerung der Produktion. Dem stünde aber die Betriebsökonomie entgegen. „Wenn die Nachfrage fällt und die Preise sinken, sollten die Produktmengen eingeschränkt und die Kosten pro Einheit vermindert werden können. Wenn aber ein moderner Großbetrieb die Produktion einschränkt und unter Kapazität arbeitet, gehen die Stückkosten im Gegenteil in die Höhe, weil ein zunehmender Teil der Kostenfaktoren unelastisch geworden ist, selbst von den ständig wachsenden Generalunkosten abgesehen.“ (Sohn-Rethel 1972; 181) Es gäbe also einen Widerspruch zwischen den am Markt erzielbaren Preisen und der wissenschaftlichen, den Produktivkräften entsprechenden Organisation der Produktion.

    Sein Begriff der Betriebsökonomie bleibt aber eigentümlich unklar und verwaschen, da Sohn-Rethel zwei verschiedene Aspekte übereinander blendet und nicht klar unterscheidet. Einmal erblickt er den Ursprung der Betriebsökonomie in der wissenschaftlichen Organisation der Arbeit nach den Prinzipien Frederick Winslow Taylors, also die Zerlegung der Arbeitsvorgänge in einzelne Momente und ihre exakte Zeitmessung, um darauf aufbauend die Arbeitsvorgänge neu zu organisieren. Ein wichtiges Resultat dieser Methode war bekanntlich das Fließband. Ähnlich wie Lenin vermeinte Sohn-Rethel darin eine bürgerlich verkleidete Form einer wissenschaftlichen, rationalen Arbeitsorganisation zu erkennen, die bereits wesentliche Momente einer sozialistischen Gesellschaft vorwegnehmen würde. Wie Brandt und Breuer berichten, soll Sohn-Rethel diesen Standpunkt später insofern relativiert haben[2], als er im Taylorismus doch nur die kapitalistische Form der Zeitökonomie erblickte. Er hat aber stets betont, dass sich die neue klassenlose Gesellschaft über die gemeinschaftliche Organisation der Arbeit konstituieren muss. „Die Synthesis einer Produktionsgesellschaft dagegen gründet sich auf die Kommensuration der lebendigen Arbeit und verlangt Einheit von Kopf und Hand auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Hier ist der gesellschaftliche Nexus eins mit der Synthesis des Arbeitsprozesses.“ (Sohn-Rethel 1971a; 63) Sohn-Rethel vertrat zumindest zeitweilig die Ansicht, die Synthesis über die Arbeit würde in der Chinesischen Kulturrevolution praktisch verwirklicht.[3]

    Der zweite Aspekt der Betriebsökonomie entpuppt sich als Widerspruch zwischen dem fixen und dem flüssigen Kapital. Unter fixem Kapital sind langfristige Produktionsgüter, wie zum Beispiel Fabrikgebäude, langlebige Maschinen usw., zu verstehen. In der bürgerlichen Buchhaltung schlagen sie sich in der Regel als Fixkosen nieder. Sohn-Rethel bringt für die Problematik des fixen Kapitals ein Beispiel aus der „Stahlwerke AG – Vestag“ von 1926. Mit einer Großanlage wurden dort die Hochofengase abgefangen und in alle vor- und nachgeschalteten Werksabteilungen geleitet. Dieses sehr rationale System der Energieversorgung erforderte jedoch eine bestimmte Mindestauslastung der Anlage. In den Krisenjahren danach musste die gesamte Anlage periodisch stillgelegt werden, was bedeutende Anlaufs- und zusätzliche Wartungskosten bewirkte. Sohn-Rethel hatte durchaus eine Problematik erkannt. Allerdings war es nicht der Gegensatz zwischen der kapitalistischen Marktökonomie und Aspekten einer sozialistischen Zeitökonomie, wie er zumindest eine Zeit lang vermutete. „In der funktionellen Notwendigkeit einheitlicher Zeitordnung, welche den modernen kontinuierlichen Arbeitsprozess kennzeichnet, sind die Elemente einer neuartigen Synthesis der Vergesellschaftung enthalten. In Gestalt der kapitalistischen Marktwirtschaft auf der einen Seite und der modernen Betriebsökonomie auf der anderen Seite erkennen wir also äußerste Gegensätze des gesellschaftlichen Seins.“ (Sohn-Rethel 1972; 186f) Sondern er stieß auf einen Aspekt der fordistischen Phase, der tatsächlich aufgegeben werden musste. Der Postfordismus beinhaltet auch den Versuch des Kapitals, das fixe Kapital so gut es geht zu vermeiden. Die nötigen sachlichen Elemente der Produktion werden nach Möglichkeit bzw. nach Auftragslage zugekauft und können bei sich verändernder Marktlage einfach wieder abgestoßen werden. Das betrifft sowohl Sachaufwendungen wir Arbeitspersonal. Leiharbeit und Leasing sollen unter anderem die Flexibilisierung des Kapitals sicherstellen. Insofern hatte Sohn-Rethel recht: Umfassende, ja gigantische Produktionsanlagen erfordern in der Regel eine bestimmte Grundauslastung, die sich als Hindernis für die Profitmaximierung erweisen kann. „Der Leiter eines großen Werks, etwa einer elektronischen Firma oder einer Automobilfabrik, findet sich zwischen diese Normen eingekeilt, im Zweifel, welchen er folgen soll. Seine Produktionsmanager beweisen ihm unwiderleglich, dass sein Kapital zum großen Teil verschwendet ist, solange die in dem Gesamtprozess verbleibenden Engpässe der Produktion nicht ausgeweitet, dem potentiellen Zeitmaß nicht adaptiert werden. Der Verkaufsdirektor, der bei der Beratung dabeisitzt, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Er kann ja jetzt schon die anfallende Produktion zu den profitgemäßen Preisen kaum absetzen. Wenn es aber nach den betriebsökonomischen Normen zugehen soll, ist mit nahezu einer Verdopplung des Ausstoßes zu rechnen.“ (Sohn-Rethel 1972; 180f) Tendenziell ist der Postfordismus ein Versucht, diesem Dilemma zu entgehen, indem das Kapital durch logistische, rechtliche und organisatorische Methoden versucht, die Elemente der Produktion flexibel zu halten um sie möglichst ohne Reibungsverluste dem Marktgeschehen anpassen zu können. Sohn-Rethel hat wohl eine Problematik erkant, aber doch zu optimistisch interpretiert.

    Da diese These von Sohn-Rethel zunehmend relativiert und kaum positiv rezipiert wurde, trat der andere Aspekt umso stärker hervor: Die negative, abstrakte Vergesellschaftung über den Tausch und den abstrakten Wert. Im Begriff der „reellen Subsumption“ wurde die alles durchdringende Logik abstrakter Vergesellschaftung auf den Begriff gebracht. Wurde das Jenseits der „Marktökonomie“, die Vergesellschaftung über die Arbeit verabschiedet, blieb nur noch das Diesseits des abstrakten Wertes, der als negative Totalität alles zu durchdringen schien. Insbesondere Stefan Breuer nutzte den Ansatz von Sohn-Rethel, um von diesem aus auch die Entwicklung der Kritischen Theorie zu interpretieren. „Das, was sich Adorno zufolge hinter dem Schein der Zirkulation und den ihr korrespondierenden bürgerlichen Denkformen und Ideologien verbirgt, ist nicht die weltkonstituierende Subjektivität des Idealismus, sondern jene negative, auf der Negation des Besonderen, des Gebrauchswerts beruhenden Allgemeinheit, die Marx als abstrakte Arbeit, als Wert dechiffriert hat.“ (Breuer 1985; 367)

    Exkurs: Eigentum und Besitz

    Sohn-Rethel dehnt die Unterscheidung zwischen konkreter Gebrauchshandlung und abstrakter Tauschhandlung auch auf das Eigentum aus und unterscheidet, wie Kant, zwischen abstraktem Eigentum einerseits und konkretem Besitz andererseits. „Hiernach könnte es scheinen als ob der normative Begriff des Eigentums (im Gegensatz zu Besitz) ideelles Apriori der Tauschabstraktion wäre, im Widerspruch zu unserer materialistischen Auffassung von ihr. In Wirklichkeit ist aber das Folgeverhältnis gerade das umgekehrte. Der Eigentumsbegriff ist selbst erst ein Resultat der Tauschabstraktion.“ (Sohn-Rethel 1972; 64) Obwohl nur Randthema bei Sohn-Rethel, – Recht und Rechtsverhältnisse werden in seinem Werk nur en passant angesprochen – trifft er auch hier ein eigentümliches Charakteristikum der bürgerlichen Gesellschaft, den Gegensatz von formalem Eigentum und ausgeübtem Besitz. Auch bei diesem Thema ist Kant, und nicht Hegel Adressat der Theorie von Sohn-Rethel. Denn schon sein Begriff der „gesellschaftlichen Synthesis“ bezieht sich auf den Synthesisbegriff bei Kant. Der Dualismus zwischen der empirischen Mannigfaltigkeit und einem nichtempirischen, „transzendentalen“ (Kant), abstrakten (Sohn-Rethel) Prinzip der Vereinheitlichung wirkt nicht nur im Gesellschaftsverständnis von Sohn-Rethel, es lässt sich auch sehr präzise auf den Gegensatz von formalem Eigentum und tatsächlichem Besitz anwenden. Kant sah klar, dass der abstrakte Eigentumsbegriff, der zwischen der Person und der Sache nur das schmale Band des rechtlichen „Gehörens“ knüpft, ein abstrakter, in Kants Diktion „transzendentaler“ Begriff sein muss. „Der Begriff eines bloß rechtlichen Besitzes ist kein empirischer (von Raum und Zeitbedingungen abhängiger) Begriff, und gleichwohl hat er praktische Realität, d.h. er muss auf Gegenstände der Erfahrung, deren Erkenntnis von jenen Bedingungen abhängig ist, anwendbar sein.“ (Kant 1977; 362) Dieser rein rechtliche, abstrakte Eigentumsbegriff hat in letzter Konsequenz keinen anderen Inhalt als eben das rein rechtliche Besitzen. Über die praktische, raum-zeitliche Nutzung, über die Möglichkeiten des tatsächlichen Verfügens ist im Grunde noch nichts entschieden. Das mag auf den ersten Blick als eine etwas merkwürdige Schlussfolgerung erscheinen, ist aber leicht zu erläutern. Wenn wir etwas unser Eigentum nennen, so besagt das keineswegs, dass wir damit machen können, was wir wollen. Für Kant ist ja der formal rechtliche Besitz nur die Vorbedingung dafür, einen Gegenstand tatsächlich real der eigenen Willkür zu unterwerfen. Ebenso wie die Tauschhandlung nicht die Gebrauchshandlung ist und umgekehrt, ist Eigentum noch nicht der Gebrauch der Sache selbst.

    Denn der Gebrauch der Sache, die Ausübung der Willkür, muss „mit jedermanns äußeren Freiheit nach allgemeinen Gesetzen“ (Kant) zusammenstimmen. Beim tatsächlich ausgeübten Besitz kommen also noch eine ganze Reihe von Aspekten, Rechten, Bedingungen usw. ins Spiel, die mit dem rein formalen Eigentum nicht gesetzt sind. Allgemeine sittliche, ästhetische, rechtliche, ökologische und moralische Bedingungen und Auflagen grenzen nicht nur negativ die Willkür des Gebrauchs des Besitzes ein, sondern bestimmen praktisch oft bis ins Detail die Nutzung des Eigentums. Grund und Boden mögen dafür als Beispiel dienen, oder man denke an die zahllosen Auflagen, die der Besitz eines Automobils nach sich zieht. Daher unterscheidet Kant genau zwischen dem abstrakten, formal-rechtlichen Eigentumsbegriff, und dem konkreten, empirischen Gebrauch dieses Eigentums. Die Architektonik der Kantschen Philosophie, die sich durch strenge Scheidung von Empirischem und Transzendentalem auszeichnet, wendet Kant systematisch auf den Eigentumsbegriff an.

    Sohn-Rethels Versuch, auch bei dieser Frage Kant auf materialistische Füße zu stellen, leidet allerdings erneut unter der schwer zu handhabenden geschichtlich-gesellschaftlichen Zuordnung. Der scharfe Gegensatz zwischen dem formalen Eigentum, das über das schmale Band des „das gehört mir“ zwischen Gegenstand und Eigentümerin nicht hinausgeht, und dem praktischen Verfügen und Benutzen des Eigentums, das durch zahlreiche Faktoren näher geregelt ist, wird von vielen AutorInnen explizit der kapitalistischen Epoche zugeordnet. In dieser Schärfe und Klarheit wäre diese Entgegensetzung auf vorkapitalistische Epochen nicht anzuwenden. Etwas sein Eigen nennen, das bedeutete in vorkapitalistsichen Gesellschaften immer ein Bündel an Bedingungen und Verpflichtungen, vor allem ein Geflecht von sozialen Beziehungen mit verschiedensten Pflichten, Rechten, Ansprüchen usw. Das formale Eigentum war von konkreten Verhältnissen und Auflagen nicht zu trennen. „Eigentum” schrieb Hannah Arendt, „war ursprünglich an einen bestimmten Ort in der Welt gebunden und als solches nicht nur unbeweglich, sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm.“ (Arendt 1981; 60). Ethnologisch ist der Unterschied zwischen dem vormodernen Besitzen und dem modernen Eigentum – das allerdings seinen Vorläufer im Römischen Recht hat – verbürgt.[4] Indem Sohn-Rethel aber den Gegensatz zwischen Eigentum und Besitz mit dem Gegensatz Tauschhandlung – Gebrauchshandlung parallel setzt, ebnet er sozusagen 2600 Jahre Geschichte und Entwicklung ein. Wieder verschwindet die Spezifik der kapitalistischen Vergesellschaftung aus dem Blick. Erneut werden die Ergebnisse der Analyse, die doch an die Oberfläche der kapitalistischen Zirkulation gebunden sind, inflationär in die Geschichte ausgedehnt.

    Andererseits trifft Sohn-Rethel durchaus einen Punkt. Es gelingt ihm nicht nur den Kantschen Gegensatz von Eigentum und Besitz gesellschaftlich zu deuten – diesen Gedanken halte ich sogar für trefflicher als den Ableitungsversuch der abstrakten Denkkategorien aus der Tauschhandlung – er weist auch auf einen tatsächlichen Widerspruch im Eigentumsbegriff selbst hin. Der Gegensatz des ausschließlichen rechtlichen Besitzens und den Einschränkungen, es tatsächlich der Willkür vollständig unterwerfen zu können, äußert sich in mannigfacher Weise. Doch Sohn-Rethel verabsäumt es aufzuzeigen, wo dieser Widerspruch zentral aufbrechen muss, nämlich beim Kauf und Gebrauch der Ware Arbeitskraft. Die Arbeitskraft hat das Kapital rechtlich erworben, und doch kann es mit dieser Arbeitskraft nicht machen was es will, obwohl der Versuch der schrankenlosen Verfügung dem Kapitalverhältnis inhärent ist. „Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lange als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht.“ (MEW 23; 249) Während sich der Gegensatz von Eigentum und Gebrauch bei anderen Waren graduell darstellen mag, kann er im Falle der Arbeitskraft nur offene Konfliktform annehmen. Zugleich liegt das Eigentum als Eigentum an der Arbeitskraft in seiner am höchsten entfalteten Form vor. Denn nur dieses Eigentum sichert die Akkumulation des Kapitals, produziert also neues Eigentum. Wird Eigentum nicht bloß als etwas Gegebenes, sonder als etwas gesellschaftlich Produziertes gefasst, stoßen wir unabdingbar auf die Lohnarbeit, also den Gebrauch der rechtlich erworbenen Ware Arbeitskraft. Schade, dass Sohn-Rethel seine Überlegungen nicht in diese Richtung geführt hat, sein Ausgangspunkt, die Zirkulation hat dies wohl verhindert.

    Reelle Subsumption und Abstraktion

    Sohn-Rethel war sich durchaus bewusst, dass seine erweiterte Warenanalyse nicht ohne weiteres mit den Marxschen Ausführungen harmonierte. „Die Wahrheit ist, dass ich mir selbst über das Verhältnis meiner Waren- und Tauschanalyse zur Marxschen sehr viel weniger im klaren bin als über die Grundlagen und Schlüssigkeit meiner Theorie.“ (Sohn-Rethel 1972; 228) Allein diese Aussage war für den Staatsmarxismus, der über langweilige Paraphrasierungen Marxscher Texte zumeist nicht hinauskommt (es sei denn, Lenin gibt ein weiteres Themenfeld frei), Grund genug für Häme und Ablehnung. Die Kritik orientierte sich vor allem an den Aussagen Sohn-Rethels, die Waren würden erst im Tauschakt gleichgesetzt und dort abstraktifiziert. (Eine ähnliche These vertritt gegenwärtig Michael Heinrich.) Die diesbezüglichen Textpassagen von Sohn-Rethel sind allerdings nicht immer eindeutig. Klar ist stets die Unterscheidung zwischen der Wertgröße und der Wertform. Die Wertgröße, also die Quantität der gesellschaftlich durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit, liegt außerhalb des Tauschvorganges und wird von ihm nicht berührt. „Wert, Wertgröße und Wertform stammen aus verschiedenen Quellen. Den Wert gibt ihnen die Arbeit, aber nur, indem sie, in Auswirkung der Realabstraktion des Austausches, in ihrer wertschaffenden Eigenschaft ihrerseits die rein gesellschaftliche Qualität abstrakt menschlicher Arbeit annimmt. Die Wertform reduziert sich auf Realabstraktion des Austauschs, welche allein dem Warentausch seine gesellschaftlich-synthetische Wirksamkeit verleiht, also den Privattausch der individuellen Arbeitsprodukte überhaupt erst befähigt, den Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit geltend zu machen. Der Austausch bringt somit die Wertform der Waren hervor; die Arbeit hingegen bestimmt, nach Maßgabe der gesellschaftlich notwendigen durchschnittlich auf die Waren verwandten Arbeitszeit, ihre Wertgröße.“ (Sohn-Rethel 1990; 31) Die Wertgröße wird durch den Arbeitsprozess bestimmt, der durch den Tauschvorgang bloß vermittelt wird. Bezüglich des Orts und des Mechanismus der Abstraktifizierung der Arbeit selbst, finden wir jedoch durchaus unklare Aussagen. Aus obigem Zitat, wie auch aus anderen Passagen ist zu entnehmen, dass die konkrete Arbeit im Tausch abstraktifiziert wird. „Der Wert ist also nicht der Grund der Gleichung, sondern umgekehrt, das dem Tauschverhältnis inhärente und für die gesellschaftliche Synthesis notwendige Postulat der Tauschgleichung geht dem Wertbegriff voraus.“ (Sohn-Rethel 1972; 76) „Die Waren sind nicht gleich, der Tausch setzt sie gleich.“ (Sohn-Rethel 1972; 74) Auch in „Warenform und Denkform“ finden wir diese Auffassung: „Primär ist die Abstraktion vom Gebrauchswert. Jedoch erstreckt sich die Abstraktion auch auf den nützlichen, gebrauchswert schaffenden Charakter der in der Warenproduktion verausgabten Arbeit: ihr verleiht die Warenabstraktion den Charakter von abstrakt menschlicher Arbeit, menschlicher Arbeit als solcher, Arbeit überhaupt.“ (Sohn-Rethel 1971; Seite 113) Sohn-Rethel stellt uns aber noch einen weiteren Abstraktionszusammenhang vor, die Abstraktion der Arbeit im Produktionsprozess selbst. „Anders gesagt, die Warenabstraktion ist Tauschabstraktion, nicht Arbeitsabstraktion. Die Arbeitsabstraktion, welche in der kapitalistischen Warenproduktion in der Tat stattfindet, hat, wie wir später (im 3. Teil dieser Schrift) sehen werden, ihren Ort im Produktionsprozess, nicht im Austauschprozess.“ (Sohn-Rethel 1972; Seite 79) Wird also die Arbeit zweimal abstraktifiziert? Einmal in der Produktion und ein zweites mal im Tausch? In gewisser Weise ja. Die Abstraktifizierung der Arbeit in der Produktion wurde empirisch gelesen, als Reduktion der Arbeit auf einfache, simple Fließbandarbeit. Abstrakt, negativ, leer, so formt sich der Kapitalismus nach dieser Auffassung selbst. In diesem Sinne wurde auch der Begriff der reellen Subsumption interpretiert. Wenn Arbeit reell unter das Kapitalverhältnis subsumiert wird, wird sie? zur einfachen und stumpfsinnigen Fließbandarbeit, zur bloßen Bewegung von Hand und Fuß, zur mechanischen Ausführung. In jenen Debatten um den Begriff der reellen Subsumption, an denen sich unter anderem Stefan Breuer, Gerhard Brandt, Klaus Dieter Oetzel, Karin Benz-Overhage, Rudi Schmiede sowie Bodo von Greif beteiligen, wurde die reelle Subsumption als Resultat technisch-industrieller Produktionsform ausgewiesen mit dem Ergebnis, dass die Arbeit zunehmend zur abstrakten Arbeit mutieren würde. So schreibt etwa Benz-Overhage: „Die reelle Subsumption der Arbeit unter das Kapital impliziert nicht nur eine zeitliche und organisatorische Integration des Arbeitsprozesses; indem er in seinen stofflichen Bedingungen direkt den Erfordernissen des Verwertungsprozesses unterworfen wird, erfolgt gleichfalls eine zunehmende Abstraktifizierung von der Besonderheit und Subjektivität der Arbeit“ (Benz-Overhage 1982; 50). Noch deutlicher lesen wir es bei Schmiede: „Wenn es stimmt, dass die reelle Subsumption der Arbeit erst in der nachmarxschen Phase begann und auch in der Marxschen Theorie nicht zureichend begrifflich analysiert worden ist, müssen wir uns die Frage stellen, wie denn ein angemessener Begriff dieses Prozesses zu gewinnen ist.“ Begründet, so Schmiede weiter, habe Marx nur die formelle Subsumption. Den Mangel, die Auswirkungen der reellen Subsumption auf die Arbeit angemessen analysiert zu haben, gleicht er mit moralischen Begriffen aus. „Marx hat diesen Mangel wohl selbst verspürt, denn er bemüht sich darum, die Fabrikarbeit als einfach monoton, stumpfsinnig, blöde und das Verhältnis der Arbeiter zu ihr als völlig fremd und gleichgültig zu beschreiben.“ (Schmiede 1983; 57) Bei diesem Verständnis ist der Doppelcharakter der Arbeit, zugleich konkrete wie abstrakte zu sein, natürlich aufgehoben. Methodisch ist das nicht verwunderlich: Der Ausgangspunkt, die Zirkulationsoberfläche der kapitalistischen Gesellschaft ist ohne Weiterführung zum Kapitalverhältnis nicht durchzuhalten. Wenn der Übergang vom Geld zum Kapital, von der Zirkulationssphäre zur Produktionssphäre begrifflich nicht ausgeführt wird, sind die so gewonnenen Thesen an die Marxsche Theorie nicht mehr anschlussfähig. Die Einseitigkeit der Zirkulationsperspektive muss früher oder später mit den Marxschen Analysen in Konflikt treten. Das hat Sohn-Rethel in einer kleinen, 1971 publizierten Arbeit, durchaus anklingen lassen: „Ich halte den Begriff der abstrakten gesellschaftlichen Arbeit, soweit er in der Warenanalyse erkennbar ist, für einen dem Hegleschen Erbe geschuldeten Fetischbegriff.“ (Sohn-Rethel 1971a; 70)

    E-Mail: k.reitter @ gmx.net

    Literatur:

    Arendt, Hannah (1981): „Vita activa“, München

    Benz-Overhage, Karin (1982): „Auswirkungen des Computereinsatzes in der industriellen Produktion“ (Forschungsbericht des Institutes für Sozialforschung Frankfurt am Main), Frankfurt – New York

    Brandt, Gerhard (1990): „Ansichten kritischer Sozialforschung“ in: „Arbeit, Technik und gesellschaftliche Entwicklung“, Frankfurt am Main

    Breuer, Stefan (1985): „Horkheimer oder Adorno: Differenzen im Paradigmenkern der Kritischen Theorie“, in: Leviathan, Zeitschrift für Sozialforschung, Opladen, Jahrgang 1985, Heft 3

    Breuer, Stefan (1990): „Die Gesellschaft des Verschwindens“, Hamburg

    Kant, Immanuel (1977): „Die Metaphysik der Sitten“, (Hg.) W. Weischedel, Frankfurt am Main

    MEW 23 = Marx Engels Werke, Berlin 1965ff, „Das Kapital“ Band 1

    Polanyi, Karl (1979): „Aristoteles entdeckt die Volkswirtschaft“, in: „Ökonomie und Gesellschaft“, Frankfurt am Main 1979, Seiten 149 – 185

    Schmiede, Rudi (1983): „Abstrakte Arbeit und Automation“, in: Leviathan, Zeitschrift für Sozialforschung, Opladen, 1983, Heft 1

    Sohn-Rethel, Alfred (1971): „Warenform und Denkform. Aufsätze“, Frankfurt/Wien

    Sohn-Rethel, Alfred (1971a): „Materialistische Erkenntniskritik und Vergesellschaftung der Arbeit“, Berlin

    Sohn-Rethel, Alfred (1971b): „Notizen zur Kritik der Marxschen Warenanalyse“, in: „Materialistische Erkenntniskritik und Vergesellschaftung der Arbeit“, Berlin

    Sohn-Rethel, Alfred (1972): „Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Revidierte und ergänzte Ausgabe.“ Frankfurt am Main

    Sohn-Rethel, Alfred (1990): „Das Geld, die bare Münze des Apriori“, Berlin

    [1] „Tatsächlich glaubt Sohn-Rethel auf diese Weise die Hauptkategorien reiner Erkenntnis – Raum und Zeit als homogene Kontinua, Identität, Dinglichkeit, Dasein, Substanz, Kausalität – in streng deduktiver Weise aus der Tauschabstraktion herleiten zu können, wenn gleich seine Bemühungen sich durchwegs auf programmatischer Ebene halten und die wechselnden Auflistungen zentraler kategorialer Bestimmungen Zweifel am systematischen Charakter dieser Bemühungen aufkommen lassen.“ (Brandt 1990, 148)

    [2] Vergl. Brandt 1990, Seite 163 und Breuer 1995, Seite 217

    [3] „In China tritt das alles schön einfach und greifbar in Erscheinung, so sehr naiv, an unserer Gewohnheiten gemessen. Dort wird der ganze Mensch von der politischen Kulturrevolution erfasst, seine Umwandlung vom Privatmenschen einer bürgerlichen und kleinbürgerlichen zum Subjekt einer kommunistischen Gesellschaft betrieben.“ (Sohn-Rethel 1971a; 61)

    [4] Polanyi beschreibt ausführlich jene vormodernen sozialen Verhältnisse, die einen abstrakten, von der konkreten Bedeutung unabhängigen Eigentumsbegriff, gar nicht zulassen. Vergl. dazu: „Aristoteles entdeckt die Volkswirtschaft“, in: „Ökonomie und Gesellschaft“, Frankfurt am Main 1979, Seiten 149 – 185.

  • Vortrag auf einer Veranstaltung der Roten Ruhr Uni – von Manfred Dahlmann (1997):

    Warenform und Denkform

    Eine Einführung in den Grundgedanken Alfred Sohn-Rethels

    Jochen Hörisch, also der Referent, den ich hier vertreten soll, stellt an verschiedenen Stellen seiner Schriften eine Behauptung auf, für die ein gestandener Philosoph kaum mehr als ein müdes Lächeln übrig haben dürfte. Diese Behauptung betrifft einen Philosophen, dem sich das vergnügliche Feuerwerk, das Hörisch etwa in seinem Buch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes (erschienen bei Suhrkamp) inszeniert, verdankt. Sie betrifft das Thema dieser Veranstaltung, sie ist also gemünzt auf Alfred Sohn-Rethel. Wenn Hörisch etwa offen legt, daß das schlichte Wort: ’Entdeckung’ semantisch von dem Wort ’Deckung’ – und hier nicht nur, was die Paarung von Tieren betrifft, sondern vor allem in Bezug auf das, was das ’Gedeckt-Sein eines Schecks’ meint – ganz und gar nicht so weit entfernt ist, wie der erste Blick glauben machen will, kreist dieses Offenlegen der in diesen Worten gemeinsam angelegten Bedeutung um den Grundgedanken dieses Philosophen.

    Um jedes Mißverständnis von vornherein auszuschließen: Diese etymologischen Sprachspiele, die etwa auf einen gemeinsamen Nenner der Begriffe: Geld, Geltung und Welt, dazu aber auch auf: Vergeltung verweisen, die Tausch mit Rausch, zahlen (das Verb) mit Zahlen (das Substantiv) und zählen verbinden, und, ein besonders schönes Beispiel: die die christliche Offenbarung auf den Offenbarungseid beziehen, die also einen Zusammenhang herstellen, der in so anscheinend weit auseinanderliegenden Begriffen wie Glauben und Gläubiger, Schuld und Schuldner, usw. steckt – und ich kann versichern: Hörisch gehen solche Verbindungen nie aus – diese, von mir hier so genannten Sprachspiele, haben bei Hörisch eine andere Funktion als etwa die Scharlatanerien, die ein Heidegger mit solchen Spielereien betreibt. Hörisch läßt gar keinen Zweifel daran, daß er mit diesem Verfahren auf keinen Fall versuchen will, eine darin sich ausdrückende Wahrheit als solche ausweisen zu wollen.

    Denn natürlich läßt sich mit solchen Spielen nichts beweisen: so wenig wie die Feststellung, daß auf der deutschen Schreibmaschinentastatur oben links, beginnend mit der zweiten Taste, das Wort WERT zu lesen ist, so verstanden werden kann, als sei damit die Wahrheit der Zentralkategorie des marxschen Kapitals erwiesen. Diese Wortspiele stellen einen, allerdings vollkommen legitimen Versuch dar, eine grundsätzliche Schwierigkeit zu lösen, vor die auch ich mich hier gestellt sehe: nämlich einen Gedanken zur Darstellung bringen zu müssen, dessen Verständnis und Bedeutung sich einem direkten sprachlichen Ausdruck entzieht.

    Ich weiß nicht, wie Hörisch hier versucht hätte, den Grundgedanken von Sohn-Rethel vorzustellen. Ausgehen will ich von der eingangs angesprochenen Behauptung von ihm über Sohn-Rethel, die nicht nur bei gestandenen Philosophen, sondern auch bei euch zunächst wohl nicht mehr als ein müdes Lächeln hervorrufen dürfte. Die Behauptung lautet, in aller Vereinfachung, aber ohne jede Überspitzung formuliert: Alfred Sohn-Rethel ist der einzige Philosoph seit Kant, der der Philosophie einen Fortschritt gebracht hat.

    Sohn-Rethel, um die Ungeheuerlichkeit dieser Behauptung kurz auszuführen, straft also alle Lügen, die meinen, seit Kant, oder, so andere, eigentlich schon seit Aristoteles (oder, je nach Couleur: seit Platon) habe es keinen Fortschritt in der Philosophie gegeben. Aber nicht nur das – und das eigentlich ketzerische in dieser Behauptung liegt ja auch in etwas anderem: wenn Hörisch in seiner Behauptung auf Kant verweist, behauptet er ja nichts geringeres, als daß dieser Sohn-Rethel über die Philosophien solcher Geistesheroen wie Hegel, Nietzsche, Wittgenstein und Heidegger zu stellen sei – und auch über die Kerngedanken eines Mannes wie Goethe, den ich hier anführe, weil dieser zweifellos der Lieblingsautor von Hörisch ist, ein Autor im übrigen, anhand dessen Hörisch schlagend beweist, wie es einem Heer von Interpreten gelingen kann, den Grundgedanken eines Werkes totzuschweigen, indem man so viel hineininterpretiert, daß dieser Gedanke – und damit natürlich auch: dessen tiefe innere Wahrheit – ausgelöscht wird.

    Wenn man über Sohn-Rethel redet, hat man dieses Problem: also das, unter einer Unmasse von Sekundärliteratur den tatsächlichen Text wieder zum Vorschein bringen zu müssen (und das Problem hat man eigentlich bei allen Autoren, die eine Unmasse von Sekundärliteratur zur Folge hatten), allerdings nicht. Im Vergleich zu den oben genannten Heroen der Geistesgeschichte ist die Sekundärliteratur zu Sohn-Rethel quantitativ nicht der Rede wert, und qualitativ dennoch vor allem dadurch geprägt, dessen Grundgedanken erst gar nicht zur Sprache zu bringen. Nimmt man den Umfang seines Werkes zum Maßstab, dann scheint von daher schon der Vergleich mit Kant, Hegel, usw. reichlich vermessen. Was Sohn-Rethel zur Philosophie beigetragen hat, reduziert sich auf ein schmales Suhrkamp-Bändchen. Selbst hier sind noch Abhandlungen enthalten, die das Verständnis seines Gedankens nur erschweren können. (Ich denke hier – dies für die, die dieses Büchlein kennen – z.B. an die Kapitel über Aneignungs- und Produktionsgesellschaft.) Und, das kommt entscheidend hinzu: was er sonst noch zu diesem Thema veröffentlicht hat, wird von ihm selbst so charakterisiert, daß es nichts anderes sei als die beständige Reformulierung eines einzigen, und im Grunde sehr einfachen Gedankens.

    Wenn nun dieser Gedanke so einfach ist: warum dann, so stellt sich die Frage, dieses poetisierende Herumschleichen um ihn wie die Katze um den heißen Brei? Wer unfähig ist, seinen Gedanken sprachlich exakt auszudrücken, hat auch keinen – könnte man im Sinne der heutigen Schulphilosophie, also der sprachanalytischen, feststellen. Aber das geht, so berechtigt dieser Einwand oft genug auch sein mag, am Problem, das sich bei Sohn-Rethel stellt, vorbei: Denn dieser ist alles andere als unfähig, diesen Gedanken in einen kurzen und prägnanten Satz zu fassen: Wenn er z.B. einem seiner Versuche, diesen Gedanken auszuführen, den Titel gibt: Das Geld, die bare Münze des a priori, dann hat er eigentlich alles gesagt. Jeder philosophisch unbelastete Leser dieses Satzes wird aber nur verständnislos in die Gegend schauen – und der vorbelastete nicht an bare Münzen, sondern an baren Unsinn denken.

    Versuchen wir mal, uns dem Gedanken Sohn-Rethels zu nähern, indem wir den Gegenstand präzisieren, von dem dieser handelt. Es geht, soviel habe ich schon angedeutet, um das Geld, und es geht um die Philosophie Kants, und damit um einen Zusammenhang zwischen Geld und Wahrheit. Der Titel eines Buches, in dem Sohn-Rethel einen seiner Versuche der Darstellung seines Gedankens vorstellt, lautet: Warenform und Denkform. In einer kurzen Erläuterung der mit diesen Begriffen erfaßten Thematik sollte es doch möglich sein, so denkt man unwillkürlich, seinen Gedanken hervortreten zu lassen: und zwar derart, daß auch einem philosophischen Laien zumindest klar wird, worum es Sohn-Rethel geht.

    Versuchen wir’s. Klar ist: es geht um eine Beziehung von Ware (also dem Element, von dem Marx behauptet, es sei das Grundelement der bürgerlichen Gesellschaft) und Denken. Auch über die Beziehung, in der Sohn-Rethel dieses Verhältnis erfassen will, ist einiges gesagt: denn in Warenform und Denkform steckt ein gemeinsamer Begriff: der Begriff Form. Es steht damit zu vermuten, daß es Sohn-Rethel darum geht, zu beweisen, daß die Ware mit dem Denken der Form nach Gemeinsamkeiten ausweist. Daß Denken und Ware also der Form nach so etwas wie strukturelle Ähnlichkeiten ausweisen, Ähnlichkeiten, die darauf hindeuten, daß Ware und Denken, so verschieden sie auf den ersten Blick auch erscheinen, einen gemeinsamen Ursprung haben.

    Ich breche diesen Gedanken ab: wenn man so weiter vorgeht, hat man den besten Weg beschritten, den Grundgedanken Sohn-Rethels komplett zu verfehlen. Denn so würde sich Sohn-Rethel am Ende als ein Systemtheoretiker erweisen, oder, bestenfalls, als ein Strukturalist á la Althusser. Was jener dagegen von solchen Analysen hält, die das grundsätzlich voneinander Verschiedene: und das sind Ware und Denken (oder, um das Begriffspaar einzuführen, das den Titel seines Hauptwerkes abgibt: auch geistige und körperliche Arbeit sind als absolut verschiedene Tätigkeiten zu begreifen – und ich nehme gleich vorweg: auch der hier benutzte Begriff der Arbeit ist genau so wenig wie der der Form ein Ansatz, aus dem sich für Sohn-Rethel die Gemeinsamkeit in dieser Trennung von Geistigkeit und Körperlichkeit der Arbeit erschließen könnte) was Sohn-Rethel also davon hält, die den verschiedenen Gegenständen gemeinsamen Formen, Inhalte oder Strukturen herausarbeiten zu wollen, bringt er prägnant mit einem an Althusser gerichteten Aufruf zum Ausdruck, der dessen, besonders in den siebziger Jahren weit verbreiteten Schulungstext mit dem Titel: Das Kapital lesen, in die Aufforderung verwandelt: Lirez le capital, M. Althusser!

    Bestünde Sohn-Rethels Grundgedanke in nichts anderem als in einem, vielleicht originellen, aber ansonsten in nichts über die klassischen Analysen von Formen oder Inhalten hinausweisenden Inhalt, dann wäre er als Aristoteliker, als ein klassischer Metaphysiker also, enttarnt, und die Behauptung von Hörisch erwiese sich als unhaltbare Hypostasierung. Wie dreist Hörisch nun tatsächlich zu hypostasieren scheint, wird klar, wenn man den Philosophen erwähnt, den ich in der obigen Aufzählung bewußt ausgelassen habe: Karl Marx. Wenn man von Sohn-Rethel auch wenig weiß – so viel weiß man doch, sobald man ihn auch nur dem Namen nach kennenlernt: dieser begriff sich als Marxist. Wie kommt Hörisch nun zu dieser reichlich seltsamen und nachgerade ketzerischen Behauptung, nicht Marx, also die Autorität auf die sich auch der Marxist Sohn-Rethel beruft, habe die Philosophie einen entscheidenden, also qualitativen Schritt weitergebracht, sondern erst dieser Sohn-Rethel? Ein Philosoph zudem, dessen Einfluß in der akademischen Diskussion gegen Null tendiert und der in kaum einer der vielen Gruppierungen der Linken auch nur ansatzweise eine bestimmende Rolle gespielt hat?

    Über die eigenartige, um nicht zu sagen: einzigartige Stellung von Sohn-Rethel im Bezug auf diese marxistischen Diskussionen, und hier insbesondere über seine Stellung zum Institut für Sozialforschung zu Zeiten Adornos und Horkheimers, ist schon einiges geschrieben worden. Oder besser: nahezu alles, was über Sohn-Rethel geschrieben wurde, verweist auf dessen eigenartige Rolle, die er für die verschiedenen Marxismen spielt, eine Rolle, die ihn zweifellos zu einem isolierten Einzelgänger innerhalb des Marxismus macht. Auf diese Sekundärliteratur, wie auch auf die Biographie Sohn-Rethels werde ich im folgenden nur am Rande Bezug nehmen. Wer hierfür Interesse aufbringt, wird im Katalog wohl einer jeden Universitätsbücherei die entsprechende Literatur finden. (Denn damals, als diese Literatur zu ihrem überwiegenden Teil entstand, in den siebziger Jahren also, haben die Bibliotheken auch solche Bücher noch gekauft.) Was er allerdings hier nicht finden wird, ist ein Beleg für die Berechtigung der von Hörisch aufgestellten Behauptung: um diese geht es mir. II.

    Der Zugang, über den ich versuchen will, den Grundgedanken Sohn-Rethels auszudrücken, steckt in einem Zitat, das dessen einzigartige Stellung innerhalb des Marxismus zum Ausdruck bringt, darüber hinaus aber auch unmittelbar auf den Inhalt verweist, aufgrund dessen sich die Behauptung von Hörisch rechtfertigen muß. Das Zitat lautet: „Wenn es dem Marxismus nicht gelingt, der zeitlosen Wahrheitstheorie der herrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen, dann ist die Abdankung des Marxismus als Denkstandpunkt eine bloße Frage der Zeit.“

    Nur kurz verweisen will ich auf die historisch-empirische, also zeitanalytische Implikation: es wäre eine eigene Untersuchung wert, ob die Tatsache, daß heute der Marxismus von so gut wie keinem mehr als Denkstandpunkt vertreten wird, ihren tieferen Grund weniger in der Abdankung des Sowjetmarxismus hat, als vielmehr darin, daß es auch dem Marxismus, wie er etwa in der kritischen Theorie Adornos vorliegt, nicht gelungen ist, „den herrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen.“

    Es geht also um den Zusammenhang von Marxismus und Naturwissenschaft. Bezogen auf die Behauptung über den mit Sohn-Rethel vorliegenden Fortschritt in der Philosophie behauptet Hörisch also nicht weniger, als daß es Sohn-Rethel gelingt, was der kritischen Theorie eines Adorno nicht gelungen ist (zu verweisen wäre hier auf den berühmten Positivismusstreit in den frühen sechziger Jahren, als die Kritische Theorie sich mit dem Kritischen Rationalismus in Bezug auf diese Frage auseinandersetzte), wie auch all denen nicht, die sich nach Adorno ebenfalls ausgiebig mit diesem Verhältnis befaßt haben – ich nenne hier nur Peter Bulthaup, Günter Mensching, Christoph Türcke namentlich –, kurz, Sohn-Rethel gelingt es, dürfte Hörisch gemeint haben, als erstem tatsächlich, den naturwissenschaftlichen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen.

    Käme jetzt aus dem Publikum der Einwurf: „Ja, aber warum gibt’s die Naturwissenschaften denn dann noch?“, so würde ich dies keinesfalls als platte Polemik zurückweisen, sondern ohne Umstände zugestehen: da liegt tatsächlich das zentrale Problem. Ich bitte aber, diese Polemik noch zurückzustellen – ich komme auf diese Frage zurück.

    Auch auf die Gefahr hin, unverschämt zu wirken: ich muß auch darum bitten, noch eine Weile zu warten, bis ich auf Sohn-Rethel wieder zu sprechen kommen werde. Denn ich bin so vermessen und gehe schlichtweg davon aus, daß keiner unter meinen Zuhörern weiß, wovon ich spreche, wenn ich behaupte, daß alles, was man heutzutage unter Wissenschaftlichkeit versteht, vorkritisch ist – und dieses ’vorkritisch’ ist nur ein anderer Ausdruck für vorkantisch und dies ist wiederum nur ein anderer Ausdruck für das, was Kant dogmatisch genannt hat. Meine Behauptung also ist, daß Kant die heutzutage betriebene Wissenschaft als ’unwahr’ erwiesen hat, da sie den Schritt nicht mitgegangen ist, den dessen Erkenntnistheorie vollzogen hat. Darin ist eine weitere, vermessen wirkende Behauptung enthalten: nämlich die, daß alle Philosophien und Denkstandpunkte vor Kant von diesem unwiderleglich als falsch erwiesen worden sind. Zur Unterstützung für diese Vermessenheit kann ich mich zwar auf Kant selbst berufen: denn dieser läßt an keiner Stelle seines Werkes einen Zweifel daran, daß für ihn alle Philosophen und Denker vor ihm Dogmatiker waren, und er der erste, der diese Dogmatik überwunden hat. Aber wer nimmt schon eine solche Selbsteinschätzung eines Philosophen ernst; schließlich hat noch jeder Philosoph von sich behauptet, der größte zu sein – und, so behaupte ich: wer dies als Philosoph nicht von sich denkt, der hat seinen Beruf glatt verfehlt. Doch die Selbsteinschätzung Kants beruht, so ist nun zu zeigen, ausnahmsweise einmal nicht auf Selbstüberschätzung, sondern ist absolut berechtigt.

    Wenn ich behaupte, daß alle Wissenschaft, nicht nur so weit sie an den Hochschulen gelehrt wird, sondern auch in das Alltagsbewußtsein eingegangen ist, heute – mit einigen wenigen Ausnahmen – vorkritisch ist, dann behaupte ich also nichts geringeres, als daß die herrschende, wissenschaftliche Denkform, eine Denkform, die als ökonomische oder instrumentelle Rationalität den gesamten, so sagt man postmodern: gesellschaftlichen Diskurs dominiert, die Erkenntnisse mißachtet, die Kant gemacht hat, als er sich mit der Naturwissenschaft auseinandersetzte. Ich will nur kurz erläutern, woran man diesen Rückfall unmittelbar erkennt: wer auf der Basis der Kritik der reinen Vernunft Kants argumentiert, kann unmöglich behaupten, der Verweis auf empirische Daten könne irgendeinem Urteil auch nur den Anschein von Geltung geben. Oder umgekehrt: wer den Grundgedanken Kants begriffen hat, kann unmöglich behaupten, aus einer logisch korrekten Deduktion folge mit Notwendigkeit die Geltung eines Urteils. Diese Urteile haben seit Kant einen anderen Ort für ihre Geltung, für ihre Wahrheit also, als Logik oder Empirie. Und keinesfalls kann man seit Kant noch behaupten, verschiedene Urteile bezögen ihre Geltung halt aus verschiedenen Quellen: die Geltung moralischer Urteile etwa habe einen anderen Grund als die Geltung physikalischer Gesetze usw. Und erst recht nicht die mittlerweile ebenfalls ins Alltagsbewußtsein übergegangene Behauptung vertreten, es gebe so etwas wie eine allgemeingültige Wahrheit nicht: letzteres geht allein schon deshalb nicht, weil ein Urteil bestimmungsgemäß immer nur entweder wahr oder falsch sein kann. Wer dagegen behauptet, es gäbe keine allgemeingültige Wahrheit, der müßte, wäre er konsequent, deshalb auf die Abgabe eines jeden Urteils prinzipiell verzichten. Abgesehen davon, daß das Urteil: es gibt keine allgemeingültige Wahrheit, eklatant sich selbst widerspricht: einen solchen Menschen, einen Menschen also, der kein Urteil fällt, habe ich noch nie angetroffen, sondern nur solche, die über alles und jedes festgefügte Urteile zu fällen in der Lage waren. (Nebenbei: dazu noch müßte er bestreiten, daß das Fallgesetz ausnahmslos für alle Körper gilt, daß zwei und zwei unter allen Umständen, in allen denkmöglichen Welten, wie Leibniz dies ausdrückt, vier ergibt, usw.). Um die Bedeutung hervorzuheben, die das Urteilsvermögen für unser alltägliches Leben hat, sei nur zu bedenken gegeben, daß der Mensch einige Wochen überleben kann, ohne zu essen, einige Tage, ohne zu trinken. Nicht eine Sekunde aber kann der Mensch ohne Urteilskraft existieren: Ohne das Urteil z.B., ein Mensch zu sein, wäre der Mensch das Tier, auf das ihn nicht nur die behavoristisch genannte Wissenschaft am liebsten herunter analysieren würde.

    Um auch hier jedem Mißverständnis vorzubeugen: Wer auf der Basis von Kant, also erkenntniskritisch argumentiert, hat keinesfalls irgendeinen Stein der Weisen in der Hand: im Gegenteil. Kant gibt keine Wahrheit vor, aus der sich umstandslos die Wirklichkeit dem Denken erschließen könnte. Das leisten zu können, behauptet allein der vorkritische, d.h. der aristotelische Wahrheitsbegriff. Sondern Kant macht nichts anderes, als darzustellen, wie Urteile beschaffen sein müssen, damit sie den Anspruch, den ein jedes Urteil aus sich selbst heraus automatisch erhebt: nämlich geltendes Urteil zu sein, einlösen können. Kant will nicht mehr oder weniger, als den Ort benennen, aus dem diese Urteile ihre Geltungskraft gewinnen. Ist dieser Ort benannt, dann stellen sich alle Probleme erneut – allerdings vollkommen anders als vordem. Um nun Sohn-Rethel zu verstehen, kommt man um die Kenntnis dieses Ortes nicht herum. Deswegen also zunächst die Antwort auf die Frage, worin die originäre Erkenntnisleistung Kants besteht, eine Leistung, die ihn tatsächlich über alle Philosophen vor ihm – und, wie von Hörisch behauptet, bis zu Sohn-Rethel auch nach ihm –, erhebt.

    Diese Erkenntnis Kants besteht in einem einzigen Gedanken, einem Gedanken, der zu seiner Darstellung eigentlich so wenig Platz gebraucht hätte, wie den, den Sohn-Rethel zur Darstellung seines Gedankens gebraucht hat, und der von seinen Mitmenschen – wie sich zeigt: bis heute – ebenfalls wie der von Sohn-Rethel nur äußerst selten wirklich begriffen worden ist.

    Ich sage bewußt: begriffen – denn schwer verständlich ist der Grundgedanke Kants eigentlich nicht. Um sich dieses Verständnis zu erschließen, gibt es die verschiedensten Zugänge. Ich wähle hier den über Descartes. Dessen, wohl jedem, der sich auch nur am Rande mal mit Philosophie beschäftigt hat, bekannte Kernaussage: ich denke, also bin ich, hat wohl jeder schon mal gehört. Was Descartes damit meinte, ist jedem sofort verständlich: dieses Urteil könnte jeder fällen – ob er es als geltend akzeptiert oder nicht. Auch ein Römer hätte diesen Satz sofort verstanden – und ihn für einen originellen Scherz eines etwas abseitig veranlagten Philosophen aus der Akademie in der Nachfolge von Aristoteles gehalten, der ihn nichts weiter angehe. Unser heutiges Alltagsbewußtsein geht mit diesem Satz genauso um, wie der hier von mir konstruierte Römer: soviel hat jeder schon an Philosophie in sich, daß er weiß, daß mit diesem Satz nicht viel ’Staat zu machen ist’ – auch wenn er nicht so weit geht wie Sohn-Rethel, der diesen Satz kurz und knapp zu einem der größten Irrtümer der Menschheitsgeschichte erklärt.

    Wenn man aber berücksichtigt, was die Absicht von Descartes war, als er diesen Satz aussprach, läßt sich sehr schnell ein Zugang zum Grundgedanken Kants finden. Denn Descartes wollte zeigen, daß aus der Gewißheit, mit der er von sich behauptet hat: er denke, sich ohne weitere Voraussetzung die Geltung auch aller anderen Urteile über die Natur, oder über die Welt als ganzes, erschließen ließe. Genau dies aber: aus einem einzigen, für absolut gewiß anerkannten Punkt heraus die Geltungskraft aller Urteile insgesamt erschließen zu wollen, hätte der oben erwähnte Römer, ja hätte selbst eine solche Geistesgröße wie Aristoteles absolut nicht verstanden.

    Die Zeitgenossen von Descartes, und die Philosophen nach ihm, verstanden dieses Bestreben des Descartes dagegen sehr gut. Zwar haben diese Philosophen schnell gemerkt, daß man aus dieser Behauptung Descartes’ tatsächlich alles mögliche schließen kann; schnell gemerkt haben sie also, daß sich aus diesem Satz nichts anderes als die Beliebigkeit erschließt, mit der die Subjekte ihre Urteile über alles und jedes fällen, und daß also aus diesem Satz genau das nicht folgt, was Descartes intendierte: nämlich inwiefern die aus einem Ich heraus gefällten Urteile allgemeine Geltung beanspruchen können. Bemerkenswert für die Zeit seit Descartes bleibt jedoch, daß kein Aristoteles-Schüler – sagen wir mal: zweites Semester Philosophie –, erschien, der diesen Descartes auf die Regeln der Logik verwiesen hätte und so alt hätte aussehen lassen, wie dieser nie hätte werden können.

    Nein, es kam Kant, und der sagte: gut – dessen, daß ich existiere, bin ich mir gewiß. Das ist ein Urteil mit Anspruch auf Wahrheit. Daß zwei und zwei vier ist, ist auch gewiß – auch das also ein Urteil mit Anspruch auf Wahrheit. Daß ein Apfel zu Boden fällt und nicht nach oben, ein weiteres. Statt nun, wie es in der aristotelischen Metaphysik gemacht wird, diese Wahrheiten zu systematisieren und ihnen auf diesem Wege eine möglichst einheitliche Form zu geben, geht Kant anders vor: er akzeptiert der Form nach die Prämisse des Descartes: nämlich, daß die Wahrheit ihren Geltungsgrund nicht in verschiedenen Orten haben kann, sondern nur in einem einzigen Punkt. Wenn nun dieser Punkt nicht das Ich ist, nicht die Logik, nicht die Empirie, dann heißt es für Kant aber nun keineswegs, daß er nicht existiert, sondern zunächst einmal nur: daß er halt woanders liegen muß.

    Jetzt kommt der entscheidende Schritt: Wenn ich diesen Punkt nirgendwo finde, dann muß ich mir ihn halt denken. Und so konstruiert Kant einen Ort, der die Bedingung der Möglichkeit darstellt, zu wahren Urteilen gelangen zu können – und nennt diesen Ort das Transzendentalsubjekt. Es ist dies also ein Subjekt, daß in allen Urteilen als existierend vorausgesetzt werden muß, damit ein Urteil Anspruch auf Geltung überhaupt erheben kann.

    Meine Darstellung krankt an einem entscheidenden Punkt: es sieht so aus, als sei dieses Transzendentalsubjekt eine bloße Konstruktion von Kant. Aber das stimmt so nicht. Denn es ist absolut zwingend, seine Existenz vorauszusetzen. Warum dies so ist, erweist sich schlagend an der uneingeschränkten Allgemeingültigkeit der Naturgesetze: denn ein solches Gesetz kann nur gedacht werden, wenn man sich auf den Standpunkt eines Wesens begibt, das auch nicht ein Atom konkreter Gegenständlichkeit an sich hat. Es ist dies ein Wesen, daß nichts ist außer reiner Geltung. Ein Wesen, daß sich dennoch nicht zu völliger Abstraktion verflüchtigt, ein Wesen also, das nicht die passive Konstruktion eines Philosophen darstellt, sondern genau umgekehrt: das in all seiner Abstraktheit in sich doch das Vermögen hat, aus sich heraus die verschiedensten Tatbestände unter ein einziges Urteil zu subsumieren, ein Wesen also, das, mit anderen Worten, ein synthetisierendes, tätiges Subjekt ist.

    Damit, daß ich dieses Subjekt ein tätiges, eigentlich also ein nicht konstruiertes, sondern ein konstruierendes genannt habe, kann man schnell auf den Gedanken kommen, statt vom Transzendentalsubjekt, von Arbeit zu sprechen. Kann man, statt von so einem ’leeren Abstraktum’ wie dem Transzendentalsubjekt zu reden, nicht direkt und unmittelbar von Arbeit sprechen, und hat so nicht ein Subjekt vor sich, das in geradezu prototypischer Weise genau das tatsächlich leistet, was Kant dem Transzendentalsubjekt unterstellt? Das mag evident sein – ist es aber in gleicher Weise wie die Behauptung, auf die Descartes sich berufen hatte, und sie ist in gleicher Weise schlichtweg falsch. Um das zu zeigen, braucht man nur eine Bemerkung zu erwähnen, die der Mann, der als Kronzeuge für diese Sichtweise in Anspruch genommen wird, nur am Rande getan hat, der mit dieser Randbemerkung aber alles über diesen Fehlschluß gesagt hat, was dazu zu sagen ist. Dieser Mann heißt Karl Marx und der hat einmal gesagt, daß im Unterschied zur Biene der Mensch den Plan zum Bau seiner Wohnung zuvor im Kopf haben muß. Und damit kann die Arbeit schlichtweg nicht der Ort sein, aus dem heraus sich Arbeit und Denken zugleich konstituieren, nicht der Ort, aus dem sich letztlich die gesamte Mannigfaltigkeit aller Erscheinungen auf eine Synthesis bringt.

    Mit dem letzten Begriff, dem der Synthesis, bewegen wir uns direkt im Zentrum des kantschen Gedankens. Um nun dem unter Philosophen weit verbreiteten Mißverständnis entgegenzutreten, Kant habe den Ort der gesellschaftlichen Synthesis in ein bloß geistiges Reich verwiesen, füge ich jetzt noch hinzu, daß Sohn-Rethel sich berechtigt fühlt, die kantsche Philosophie als Soziologie zu bezeichnen. Ich halte dies absolut nicht für falsch, gebe aber zu bedenken, daß hier das Mißverständnis aufkommen könnte, als habe Kant etwas mit der Wissenschaft zu tun, die sich heute Soziologie nennt. Daß Kant jedoch tatsächlich das Transzendentalsubjekt als gesellschaftliches denkt, geht allein schon daraus hervor, daß er über Recht und Staat, und vor allem über Ethik und Moral ziemlich viel geschrieben hat, und, auch wenn er sich dabei oft genug selbst widersprochen hat, dabei immer bemüht war, die von ihm über diese Bereiche ausgesprochenen Urteile als solche auszuweisen, die ihren letzten Grund eben in diesem Transzendentalsubjekt haben. (Jeder Kant-Kenner weiß, daß bei Kant diese Versuche nahezu allesamt schief gegangen sind. Aber das hat seinen Grund nicht im Transzendentalsubjekt selbst – sondern woanders. Auch darüber wird später noch mehr zu sagen sein.)

    An dieser Stelle will ich der Hoffnung Ausdruck verleihen, daß bis hier vor allem eines klar geworden ist: über Staat, Recht und Ethik sollte man nach Kant nicht mehr so reden, als würden sich hier Orte auftun, aus denen heraus der Mensch zu einem gesellschaftlichen Wesen synthetisiert werden würde. Was Aristoteles über die Politik in der Antike sagt: daß es nämlich vor allem auf das tugendhafte Verhalten der Bürger ankomme, damit der Staat, also die Gemeinschaft der Bürger, überhaupt vernünftig existieren könne, mag zu seiner Zeit zugetroffen haben. Mit der Existenz der bürgerlichen Gesellschaft jedoch ist ein synthetisierender Ort gesetzt, der in den Tugenden oder auch im Staat gar nicht mehr zu finden ist, sondern der diese Bereiche transzendiert. Wer heute den Werteverfall beklagt, wer von einer abnehmenden Integrationskraft der Nationalstaaten unter den Bedingungen globaler Märkte oder sonstigem schwadroniert, beweist deshalb nur das eine: nämlich vom Ort, der die bürgerliche Gesellschaft tatsächlich synthetisiert, nichts wissen zu wollen. III.

    Der Grundgedanke Sohn-Rethels ist unmittelbar an den Grundgedanken Kants angeschlossen. Dieser Umstand allein schon ist es, der vor allem die Marxisten, die sich in mühevoller Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus klar gemacht haben, daß man Marx nicht verstehen kann, wenn man Hegel nicht verstanden hat, eine äußerst reservierte Haltung einnehmen läßt, wenn man ihnen gegenüber auf Sohn-Rethel verweist. Für diese ist Kant seit Hegel ein mausetoter Hund, weit mehr noch als Hegel seit Marx. Mit anderen Worten: dieser Linkshegelianismus, und ich beziehe hier – ungeachtet aller Differenzierungen – auch so einen Denker wie Adorno bewußt mit ein, versteht unter dem Fortschritt in der Philosophie (so der Titel eines nur jedem zu empfehlenden Bändchens von Karl Heinz Haag) etwas anderes als Sohn-Rethel, als Jochen Hörisch, und als ich es bis hier dargestellt habe. Das im hegelschen Sinne erfaßte Fortschreiten der Philosophie, das sich durch seine eigene Widersprüchlichkeit hindurch bis hin – wenigstens – zur Bedingung der Möglichkeit einer Selbstbewußtwerdung des Geistes im Menschen entfaltet, wird zwar auch von Sohn-Rethel nicht geleugnet. Doch wenn man die Geschichte der Philosophie komplett unter dieses Fortschreiten subsumiert: ich erinnere an das berühmte Wortspiel von Hegel mit dem Aufheben im dreifachen Sinne, dann geht, so meint Sohn-Rethel vollkommen zu recht, die zentrale Bedeutung des Gedankens Kants unter, eines Gedankens, der sich in seiner Qualität von allem Denken in der vorkantischen Philosophie unterscheidet.

    Es ist dies ein Gedanke, auf dem Hegel, Marx und all die anderen berühmten Philosophen nach ihnen ihre Philosophien erst haben aufbauen können. Anders, und noch banaler, aber nichtsdestotrotz richtig: ohne Kant gäbe es Hegel, und ohne diesen Marx nicht – das ist zwar auch das Credo des Linkshegelianismus, und dessen Wahrheit ist nicht zu bestreiten. Reduziert man aber die gesamte Philosophiegeschichte ohne weitere qualitative Differenzierung auf solch eine Kette, dann geht ein wichtiges Moment verloren. Verloren geht, was in dem Beispiel ausgedrückt werden kann, nach dem ohne die Erfindung des Motors es weder Autos, noch Flugzeuge, noch Elektromaschinen gebe. Die Erfindung des Motors hat demnach offenbar eine andere Qualität als die Erfindung des Autos. Weniger noch als in diesem technizistischen Beispiel sollte also übersehen werden, daß der Übergang vom vorkritischen Denken zu Kant einen qualitativ ganz besonderen – um nicht die Phrase zu bemühen: revolutionären Sprung im Vergleich zu allen vorkantischen Philosophien darstellt. Einen Sprung natürlich, der vorbereitet wurde: aber Kant war der erste, dem es gelang, diesen Sprung zur Darstellung zu bringen und ihm einen Namen zu geben.

    Sein Transzendentalsubjekt tritt an die Stelle Gottes: damit verrate ich natürlich nichts neues. Jeder hat schon mal von der kopernikanischen Wende gehört, also davon, daß in der Neuzeit nicht Gott, sondern der Mensch sich ins Zentrum der Welt gestellt sieht. Doch damit ist der Unterschied dieses Transzendentalsubjekts zum vorkantischen Gott nicht erfaßt – sondern im Gegenteil, dieser Unterschied ist verfehlt, weil die entscheidende Veränderung, auf die diese Ersetzung verweist, damit nicht angesprochen ist. Worin nun liegt dieser qualitativ-besondere, ’revolutionäre’ Sprung?

    Zunächst einmal: es gibt überhaupt kein Problem damit, sprachlich und logisch einwandfrei darzustellen, was man unter Gott zu verstehen hat. Aber nicht nur das: was unter einem naturwissenschaftlichen Gesetz, was unter Natur, unter Sprache, was unter einem x-beliebigen Begriff zu verstehen ist, kann man in einem, von mir aus: „herrschaftsfreien Diskurs“, zwanglos ermitteln und man kann sich so seinen Mitmenschen verständlich machen. Sobald man dagegen anfängt, über dieses Transzendentalsubjekt zu reden, versagt diese Form sprachlicher Verständigung – und ich gebe unumwunden zu, bis hier darüber in einer Form gesprochen zu haben, die Adorno z.B. so nicht hätte durchgehen lassen.

    Dies hat einen ganz einfachen, aber nur schwer wirklich akzeptierbaren Grund: denn in genau dem Augenblick, in dem man über dieses Transzendentalsubjekt redet, hat man gegen den zentralen Inhalt, der in ihm ausgedrückt wird, unmittelbar auch schon verstoßen. Denn dieses Transzendentalsubjekt ist als etwas bestimmt, das für nichts zum Gegenstand werden kann: es ist schließlich der ’Gegenstand’, aus dem heraus Gegenstände ihre Gegenständlichkeit erst erlangen.

    Ich will dazu nicht viele Worte verlieren – man kommt von hier aus allzu schnell vom hundertsten ins tausendste. Außerdem ist dieses Paradox: von der Existenz eines Gegenstandes reden zu müssen, der erst die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, von ihm überhaupt reden zu können, natürlich, wie nahezu alles andere, längst vor Kant entdeckt worden. Entscheidend ist dagegen: Kant behauptet, daß man, um etwa Naturgesetze überhaupt entdecken zu können, die Existenz eines (allen Menschen gemeinsamen, aber nirgendwo sinnlich wahrnehmbaren) Subjektes voraussetzen muß, das fähig ist (oder in der Ausdrucksweise Kants: das das Vermögen hat), voneinander verschiedene Dinge in eins setzen zu können, oder anders (und ich weiß, daß ich mich beständig wiederhole, aber das ist bei der Zentralität und grundsätzlichen Bedeutung unvermeidbar): Kant unterstellt ein Subjekt, das das Vermögen hat, an sich Verschiedenes auf eine Synthese zu bringen.

    Damit ist der zentrale Unterschied des kantischen zum vorkantischen Denken formuliert: Vorkritisches Denken ist analytisches Denken. Dieses analytische Denken findet einen Begriff, einen empirischen Sachverhalt, eine Wahrnehmung vor und zerlegt sie in ihre Einzelteile. Nach dieser Zerlegung macht es sich an ihre Resynthetisierung: es baut aus diesen Einzelteilen ein neues Ganzes. Das so konstruierte Neue erweist sich aber als ein gar nicht so Neues, als ein Neues also, das zum Ausgangsganzen hinzugetreten wäre: im Übergang von der Theorie (der Analyse) zur Praxis (der Resynthetisierung) wird nur das manifest, was latent in ihr immer schon, der Möglichkeit nach: Aristoteles spricht hier von Potenz, enthalten war.

    Hieran schließe ich eine verwirrende Bemerkung an, eine Bemerkung, die jedoch für die Klärung des Umstandes bedeutsam ist, daß auch heute noch, das heißt auch nach der Entdeckung des Transzendentalsubjekt, also nach der totalen Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital, nahezu ausschließlich analytisch gedacht wird: Es gibt tatsächlich nichts unter dieser Sonne, das sich der aristotelischen Metaphysik verweigern würde, d.h. sich nicht in analytischer Weise erfassen ließe. Ich füge hinzu: allein die aristotelische Metaphysik ist didaktisch vermittelbar – alles was auf unseren Schulen und Universitäten gelehrt wird, überall, wo mit dem Ziel unmittelbarer Verständigung diskutiert wird, taucht der Grundgedanke Kants nirgendwo auf. Kann es auch gar nicht: denn dieser verweigert sich jeder unmittelbar sprachlichen Darstellung und auch jeder pädagogisch didaktischen Veranstaltung, er ist nur indirekt, oder um mit Hörisch, aber auch mit so einem wie Umberto Eco zu sprechen: er ist nur poetologisch formulierbar – etwa in der dauernd gebrauchten Redewendung Kants von der Bedingung der Möglichkeit – oder aber, in Adornos Worten: nur negativ.

    Doch, ich will den Adorniten keineswegs zu nahe treten, aber an dieser Stelle schon kann unter dem Verweis auf Sohn-Rethel die Behauptung gewagt werden, daß die Negativität, in der das Transzendentalsubjekt einzig indirekt beschreibbar zu sein scheint, unter keinen Umständen mit einem – wiederum nur negativ zu erfassenden – „noch nicht“ verwechselt werden darf, also mit so etwas wie einer Vernunft, wie sie in einer negativen Dialektik der zentrale Gegenstand ist, ein Gegenstand, der in dieser Dialektik gerade dadurch zur Erscheinung gebracht werden soll, daß auf ihn positiv nie eingegangen wird. Das kantsche Transzendentalsubjekt jedenfalls, dessen Bezug zum Vernunftbegriff der Aufklärung hier nicht Gegenstand ist – ich verweise dazu nur darauf, daß, wenn es sich denn bei Sohn-Rethel tatsächlich um einen zentralen Gedanken handelt, alle Beziehungen und Begriffe in einen völlig neuartigen Bedeutungszusammenhang gestellt sind – das Transzendentalsubjekt ist also, für sich selbst gesehen, in all seiner Positivität und in all seiner Negativität gleichzeitig, also komplett und ohne jeden Rest, von Sohn-Rethel als Ort ausgewiesen, in dem sich das Kapital als Kapital konstituiert. Aber das nur am Rande.

    Kommen wir auf den Umstand zurück, daß man von diesem Transzendentalsubjekt – weder positiv noch negativ, weder im alltäglichen Leben noch im wissenschaftlichen Diskurs – auch nur die geringste Ahnung haben muß, um hier bestehen zu können. Kant zeigt zwar in aller nur wünschenswerten Klarheit, daß das analytische Denken sich in Antinomien, in heillose innere Widersprüche verwickelt, in Widersprüche, die nur dann, wenn man die synthetisierende Leistung des Transzendentalsubjekts unterstellt, zu lösen sind. Man könnte nun aber sagen: wen gehen diese Widersprüche etwas an? Weder die bürgerliche, noch sonst eine Gesellschaft haben sich je wirklich für die Lösung von logischen Antinomien interessiert – sondern allein für das Funktionieren ihrer gesellschaftlichen Beziehungen.

    Doch so einfach kann man es sich nicht machen: wenn dieser Einwand möglich ist, dann hätte sich die Philosophie blamiert und sollte die Koffer packen. Denn mit diesem Einwand wäre unterstellt, daß allein das – normative – Funktionieren-Sollen der Gesellschaft das entscheidende Moment für Gesellschaftlichkeit ist. Und damit hätte sich nicht die kantsche Transzendentalphilosophie als wahr erweisen, sondern die analytische Systemtheorie etwa eines Niklas Luhmann. Daraus folgt ein Problem, das einer Philosophie gestellt ist, die sich auf Kant beruft: Sie muß darstellen können, warum, mit hohem intellektuellen Aufwand, ein angeblicher Ort konstruiert werden muß, aus dem alle Geltung ihren Grund bezieht, um dann aber, wenn man sich so ’bewaffnet’ die Wirklichkeit besieht, feststellen zu müssen: es geht auch ohne. Anders gesagt: anscheinend konstruiert Kant die Existenz eines ominösen Wesens, das nirgendwo erscheint und von dessen Kenntnis ein Wissen überhaupt nicht notwendig ist, um sich die tatsächliche Wirklichkeit erklären zu können.

    Argumentativ kann eigentlich nur auf eines hingewiesen werden: keine Systemtheorie, keine Wissenschaft, und die Wissenschaftstheorie erst recht nicht, können erklären, welchem Umstand sie ihren allgemeinen Geltungsanspruch verdanken. Auch deswegen hat für Sohn-Rethel die Klärung des Verhältnisses von Marxismus und Wissenschaft einen dermaßen herausragenden Stellenwert. Doch dieses Argument zielt allein auf die Redlichkeit des Gegners – die aber ist kein wirkliches Argument. Es muß einer Philosophie, die Reproduktion von Wirklichkeit im Denken sein will, auch gelingen, in dieser Wirklichkeit das Moment zu benennen, aus dem heraus eine Gesellschaft, von der behauptet wird, sie benötige für ihre Existenz das Transzendentalsubjekt, dennoch in ihrem Denken und Handeln auf ein Wissen darum verzichten kann. Marx hat zwar, am deutlichsten im Fetischkapitel, das den meisten Marxisten als ’höchst mysteriös’ gilt, versucht darzustellen, wie es der bürgerlichen Gesellschaft gelingt, sich reproduzieren zu können, ohne daß sie ein tatsächliches Bewußtsein von den Grundbedingungen ihrer Existenz nötig hätte, sondern im Gegenteil: sich gerade dieses Bewußtwerden vom Leibe halten muß, um sich überhaupt reproduzieren zu können. In diesem Punkt also kann man auf Marx zurückgreifen – doch dessen Darstellung hat ein Manko, das ihn als Berufungsinstanz in dieser Diskussion anscheinend disqualifiziert. Denn weder direkt noch indirekt wird von ihm etwas zu den Geltungsgründen seiner Darstellung gesagt. Und gerade deshalb, so lautet die zentrale These der Kritik Sohn-Rethels an Marx, konnte der Positivismus in den Marxismus Eingang finden, konnte der vorkritische Geist, trotz Hegel, eine den Marxismus als Denkstandpunkt destruierende Kraft entfalten.

    Ich glaube, ich bin jetzt so weit, das Problem formulieren zu können, das Sohn-Rethel glaubt, lösen zu müssen: Entweder es gibt ein analytisches, wissenschaftlich korrektes Denken, das dem Kapital, es analysierend, gegenübertritt. Dann kann man den Marxismus als Denkstandpunkt von vornherein vergessen, denn dann ist mit dem Kapital nicht der Ort angesprochen, der die Gesellschaft als Ganzes, also im Denken und Handeln synthetisiert, sondern nur in einem Bereich, der außerhalb zumindest des korrekten Denkens steht. Man kann dann zwar durchaus noch von einer bürgerlichen Ideologie, die von der Wirkungsweise des Kapitals konstituiert werde, reden, also genau das tun, was die Marxisten seit Marx immer getan haben. Aber erkenntnistheoretisch hat man nur noch die Wahl Kantianer zu werden, also einen abstrakten Ort im Jenseits von Denken und Kapital zu konstruieren, aus dem sowohl das wissenschaftliche Denken als auch das Kapital seine Wahrheit bezieht, oder aber, und diese Wahl ist die sehr viel näher liegende: gleich zum Positivismus überzulaufen – so wie Lenin und in seiner Folge der wissenschaftliche Sozialismus es vorgeführt haben. Das ist das eine. Oder, und das ist das andere, und das ist das, was Sohn-Rethel will: man muß darstellen können, inwieweit das Kapital selbst es ist, das auch das wissenschaftliche Denken konstituiert. Das wiederum impliziert, darstellen zu können, inwieweit diese Wissenschaft, gegen all ihr analytisches Selbstverständnis, eine die Gesellschaft als kapitalistische synthetisierende Funktion besitzt.

    Um diesen zuletzt angesprochenen Punkt auf die Reihe zu bekommen, der ja alles infrage zu stellen scheint, was ich oben zum vorkritischen Denken moderner Wissenschaft ausgeführt habe (denn ich habe ja immer behauptet, diese sei bloß analytisch: wie soll diese dann eine synthetisierende Funktion im Kapitalverhältnis ausüben?), deshalb ist es nun unerläßlich, auch noch auf Hegel näher zu sprechen zu kommen.

    Wenn ich hier behauptet habe, daß Kant die Widersprüche der aristotelischen Metaphysik aufgelöst hat, will ich – wie schon erwähnt – natürlich nicht gesagt haben, daß Kant alle Probleme der Philosophie gelöst hätte: ganz im Gegenteil. Um es überspitzt zu formulieren: der größte Aristoteliker nach Kant trägt keinen anderen Namen als: Immanuel Kant. Das System Kants weist eine dermaßen große Fülle innerer Widersprüche auf, daß es, mit der Ausnahme der Philosophie Schopenhauers, kaum eine wirklich kritische, d.h. sich auf den Wortlaut der kantschen Argumente einlassende, ernsthafte Auseinandersetzungen unter Philosophen mit Kant gibt. (Es gibt eine Unzahl von Sekundärliteratur: aber zur deren Qualität ist dasselbe anzumerken, was oben in Bezug auf die Sekundärliteratur zu Goethe zu bemerken war.) Was es gibt, sind ins Schwarze treffende Bemerkungen wie die von Nietzsche. Dazu ein frei wiedergegebenes Zitat: Kant fragt, wie ist synthetische Erkenntnis a priori möglich? und antwortet: vermöge eines Vermögens. So weit Nietzsche – womit dieser ein weites Feld für Sprachspiele á la Hörisch eröffnet. Und daß schlußendlich der berühmte kategorische Imperativ: handele so, daß dein Handeln zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könnte, einen eklatanten Widerspruch zu dem in der Kritik der reinen Vernunft aufgestellten Postulat darstellt, alle Geltung aus der in dieser reinen Vernunft allein sich begründenden Wahrheit beziehen zu wollen, hat Kant vor sich selbst nur mit Mühe unter den Teppich kehren können.

    Hegel hält sich mit der Kritik der kantschen Kategorienlehre, dem Widerspruch zwischen praktischer und theoretischer Vernunft usw. deshalb gar nicht erst lange auf, sondern stellt dar, daß man nicht beides zugleich haben kann: ein Transzendentalsubjekt nämlich, das sich der analytischen Darstellung entzieht – und das tut es allein deshalb schon, weil es in sich selbst widersprüchlich konstruiert ist: denn es kann nur sein, was es zu sein beansprucht, wenn es als ein Wesen gedacht wird, daß in sich alle Widersprüche vereint – und ein angeblich von diesem Subjekt konstituiertes System, das rein analytisch ist, was letztlich heißt, daß es sich von vornherein dem Satz der Identität unterwirft, und damit einem Satz, der nun tatsächlich so alt ist wie die Philosophie selbst.

    Auf diesen Satz der Identität muß man zu sprechen kommen: er ist der Schlüssel für das Verständnis des Unterschiedes von analytischem und synthetischem Denken, für den Unterschied zwischen Dogmatik und Kritik. Und der Schlüssel dafür, zeigen zu können, daß die Wissenschaft – gegen ihren eigenen Anspruch – nicht analytisch, sondern synthetisch denkt, und damit als konstitutives Moment der im Kapital sich konstituierenden Synthesis ausgewiesen werden kann.

    Analytisches Denken ist ein Denken, das sich dem Satz der Identität bedingungslos unterwirft. Es unterwirft sich dem Zwang, einen jeden Gegenstand seines Denkens als sich selbst gleichbleibend zu denken. Ein Stuhl bleibt ein Stuhl, ein Gesetz ein Gesetz: ein Element ein Element, eine Menge eine Menge. Dieses Denken faßt Stuhl und Tisch zu einem sinnvoll definierten Oberbegriff: dem Möbel, zusammen, subsumiert das Gesetz zum Schutze der Jugend und das Tierschutzgesetz unter das Gesetz im allgemeinen, erfaßt die einzelnen Elemente als Menge. Über Möbel und Gesetze und Mengen gibt es eine Reihe weiterer Oberbegriffen, die dann, irgendwann, in einem gänzlich Allgemeinen aufgehen: nennen wir dies mal, schlecht heideggerianisch: das Sein.

    Meine Behauptung ist dagegen: analytisches Denken unter den Bedingungen entwickelter kapitalistischer Synthesis ist immer ein anderes Denken als ein analysierendes Denken, das, wie etwa das aristotelische, auf einer anderen als kapitalistischen Synthesis beruht. Letztlich läuft diese Behauptung darauf hinaus, daß wir alle, die wir hier sitzen, vollkommen anders denken, als ein Römer je gedacht haben könnte – selbst und gerade dort, wo in den Worten, in den Formen und Inhalten unserer Kommunikation, ein Unterschied empirisch gar nicht auszumachen ist. Verantwortlich dafür ist, daß wir, in unserem Alltagsbewußtsein, unter Identität etwas völlig anderes verstehen als etwa Aristoteles, und zwar genau das mit diesem Begriff verinnerlicht haben, was Hegel darunter versteht.

    Das bedarf zweifellos einer weiteren Erläuterung:

    Bei Aristoteles taucht dieser Satz, der das Denken dazu zwingt, diszipliniert und folgerichtig zu denken, an zentraler Stelle gar nicht auf: er ist ihm dermaßen selbstverständlich, daß er das mit diesem Satz gemeinte nur aufzählend erwähnt (so im ersten Band des Organon, der seiner analytischen Logik die kategoriale Basis verschafft). Auch wenn es – in der Metaphysik – um den Satz vom ausgeschlossenen Dritten geht, ist er nur als schiere Selbstverständlichkeit impliziert – dieser Satz selbst bezieht sich auf ein für Aristoteles schwerwiegenderes Problem als das Identitätsproblem (das ihm, wie gesagt, eigentlich gar keines ist, so wenig wie uns heutigen). Dort nämlich bezieht sich das Problem vom ausgeschlossenen Dritten, das heutzutage oft nur als anderer Ausdruck des Satzes der Identität gelesen wird, in Wirklichkeit auf das Problem der Existenz nur eines einzigen Gottes, auf das wir hier nicht auch noch einzugehen brauchen. Hier ist dagegen auf ein historisch unabweisbares empirisches Datum hinzuweisen: denn auf der Basis dieses Aristotelismus, und auch auf der Basis aller anderen Denk-Systeme, die es vor und neben der neuzeitlichen des westlichen Abendlandes gegeben hat, ist es nirgends zur Entdeckung auch nur eines einzigen Naturgesetzes gekommen. Denn, kurz und knapp: eine solche Entdeckung erfordert, den Satz der Identität zum – das ist entscheidend – zentralen Postulat aller Reflexion überhaupt zu erheben. D.h., in aller Deutlichkeit: man darf nicht mehr von der schieren Selbstverständlichkeit ausgehen, daß logisch folgerichtiges Denken nur möglich ist, wenn man den Satz der Identität akzeptiert. Sondern man muß vielmehr von den Dingen, von den Begriffen unmittelbar einklagen, daß sie gefälligst dem Satz der Identität zu gehorchen haben – damit ich sie als Subjekt überhaupt erkennen kann. Eine solche Forderung ist dem Aristotelismus – und einer jeden, außerhalb des westlichen Abendlandes stehenden Philosophie – absolut fremd.

    Alles andere als zufällig wird dieser Satz im abendländischen Mittelalter als eigentliche Ursache aller Geltung identifiziert – und zu Beginn der Neuzeit in den Rang eines axiomatischen Postulats erhoben. Denn seine Geltung wird in diesem Mittelalter aus einer Vielzahl von Gründen fragwürdig. Fragwürdig wird nicht, daß man die Geltung dieses Satzes von der Identität voraussetzen muß, um überhaupt von einem Ding sprechen zu können – dies kann keiner bestreiten und hat auch noch nie jemand ernsthaft bestritten. Fragwürdig wird aber das von mir schon angesprochene Verhältnis dieses Satzes zum menschlichen Denken überhaupt: in Frage steht, ob der Mensch, wenn er ein Ding als Ding wahrnimmt, nur in Gedanken nachvollzieht, was das Ding an sich immer schon ist: nämlich ein Stuhl, ein Gesetz oder was auch sonst, oder ob nicht vielmehr der Mensch selbst es ist, der dem Ding zu seiner Identität erst verhilft. Ob also erst durch das Hinzutreten einer tätigen (Kant würde sagen: einer konstituierenden), in jedem Fall aber: menschlichen und nicht etwa göttlichen Instanz, ein Ding zum Ding erst wird.

    Hegels Antwort auf Kant besteht im Grunde allein darin, daß er sagt: Damit man einen Gegenstand überhaupt in seiner Gegenständlichkeit (als ein Identisches also) wahrnehmen kann, bedarf es einer Instanz – und diese heißt bei ihm nicht mehr Transzendentalsubjekt, sondern: Geist, meint aber im Grunde genau dasselbe –, dazu bedarf es also einer Instanz, die diesen Gegenstand als einen Gegenstand für sich begreift, als einen Gegenstand, der Gegenstand für ihn – also den Geist ist. Dieser Geist konstruiert die Identität – in Abgrenzung vom Nicht-Identischen – in diese Gegenstände hinein, aber er selbst ist einem Zwang zur Identität in keinster Weise unterworfen: im Gegenteil, gemäß seiner auf Selbsterkenntnis zielenden Vernunft gestaltet er die Beziehungen von Identität und Nicht-Identität aus sich selbst und für sich selbst.

    Der entscheidende Schritt Hegels, der Schritt, in dem er in einem einzigen Satz alles sagt, was Kant umständlich versucht über viele lange Seiten hinweg in der Kritik der reinen Vernunft zu erläutern, besteht darin zu sagen, daß jede Identität nur Identität ist, insofern sie in sich selbst auf den Zusammenhang von Identität und Nichtidentität zu reflektieren vermag. Das hört sich philosophisch hochgeschraubt an, ist aber nur die präzise Bestimmung dessen, was unser aller Denken seit der Genesis des Kapitals auszeichnet. Daß das so ist, kann man an vielen Beispielen zeigen, kann man zeigen, wenn man diesen Satz konkreter, und das heißt: ungenauer, unpräziser als Hegel formuliert. Ich will es an dieser Stelle mit einem einzigen Beispiel bewenden lassen – wenn ich wieder auf die Erkenntnis Sohn-Rethels zu sprechen komme, wird die Bedeutung dieses Satzes von Hegel wohl in aller Deutlichkeit hervortreten. Mein Beispiel wähle ich aus der Mathematik: Kein Mathematiker wird bestreiten, daß die absolute Geltung einer jeden Gleichung nur als gegeben vorausgesetzt werden kann, wenn man das Gegenteil (hegelsch: das Nicht-Identische) dieser absoluten Geltung als geltend axiomatisch unterstellt – und das heißt hier: nur aus der Unterstellung, daß der Satz der Identität gelten soll, kann ich schließen, daß die Mathematik, insofern sie diesem Gelten-Sollen tatsächlich gehorcht, das Gegenteil dieses Sollens tatsächlich einlöst: nämlich in ihrer Geltung absolut ist.

    Bei Kant ist der Rahmen, in dem sich das Transzendentalsubjekt – oder besser: die Vernunft – entfalten kann, sehr eng gesteckt: über die mit dem Raum, der Zeit, der Kausalität und der Modalität gesetzten Kategorien a priori vermag diese Vernunft, will sie sie selbst, also: vernünftig sein, nicht hinauszugehen; und über den Zwang, eine Identität für sich selbst zu entwickeln, erst recht nicht: da ist Kant noch ein Gefangener des kartesischen Koordinatensystems. Hegel kennt all diese Begrenzungen nicht mehr: die einzige Begrenzung die er kennt, ist der Geist selbst, der aus sich heraus Identität und Nichtidentität in das ihm angemessene Verhältnis bringt. Und schließlich gelingt es Hegel vollkommen zwanglos, das Kantsche Transzendentalsubjekt als das zu erweisen, was es ist: nämlich alles andere als ein ewiges Konstitutenz allgemeiner Menschlichkeit, sondern ein historisches Resultat der Geschichte der Entwicklung und Entfaltung des menschlichen Geistes. Gerade diese, im Gegensatz zu Kant formulierte Historizität allein schon macht Hegel natürlich für den Materialismus sehr viel attraktiver als Kant.

    Dieser Geist ist von Hegel, dies noch ganz in der Tradition Kants, zweifellos als menschlicher Geist konzipiert. Aber nichts hindert nun daran, diesem Geist jede Menschlichkeit, und mit dieser dann auch jede Geschichtlichkeit wieder auszutreiben: was dann von Hegel noch übrigbleibt, ist von der allgemeinen Systemtheorie eines Niklas Luhmann nicht mehr zu unterscheiden. Der – menschliche – Geist bleibt zwar eine unabdingbare Voraussetzung des Denkens – aber diese erschließt sich nur noch dem reflektierenden Philosophen. Auf diese Reflexion, die Wissenschaft beweist es schlagend – und selbst dann, wenn ein Mann wie Searle neuerdings wieder auf diesen Geist zu sprechen zu kommen meint, ändert sich daran gar nichts – auf diese Selbstreflexion des Geistes kann man getrost verzichten: für die Resultate von Wissenschaft ist diese ohne jede Bedeutung. Und doch: ein solches System wie das von Luhmann ist allein auf der Basis eines sich durch Carl Schmitt hindurch vermittelnden hegelschen Systems formulierbar.

    Hegel wird so zum Aristoteles der bürgerlichen Gesellschaft: Sein System der Philosophie stellt nicht mehr einen einzigen Gedanke dar, wie dies bei Kant noch der Fall ist, sondern er entfaltet die innere Logik dieses Gedankens. Seine Philosophie ist die sich darstellende Einheit von Wirklichkeit und Denken in deren Unterscheidung. Damit ist gezeigt, was zu zeigen war: ein kleiner Schritt innerhalb der kantschen Abstraktion: nämlich der Schritt, das Transzendentalsubjekt in den Satz von der Identität von Identität und Nichtidentität aufgehen zu lassen, verbunden mit dem Schritt, die innere Historizität dieses Subjektes zu betonen, reicht aus, um die bürgerliche Gesellschaft als das darstellen zu können, als was sie auch erscheint: als sowohl im Denken als auch in der Praxis unüberwindbares Verhältnis der Menschen zueinander, das nach seiner endgültigen Konstitution allein noch systematisch, d.h. analytisch erfaßt werden kann. Mit der bürgerlichen Gesellschaft verhält es sich also genau so wie mit einem naturwissenschaftlichen Gesetz: einmal entdeckt, geht es nunmehr nur noch um seine Umsetzung in die Praxis – die Bedingungen seiner Entdeckung können außen vor bleiben.

    In der Nachfolge von Hegel spaltet sich das Denken in der bürgerlichen Gesellschaft auf in die Intellektuellen, die mit der Selbstreflexion des Geistes Schluß machen, und Praktiker werden: die Ingenieure, Wissenschaftler, Politiker usw. einerseits und die Philosophen andererseits, die auf sich selbst reflektieren. Das gemeinsame dieser nachhegelschen Philosophen ist, daß ihnen dieser Hegel viel zu abstrakt daherkommt. Als Prototyp sei wieder Nietzsche erwähnt, der Hegel umstandslos zum Schwätzer erklärt und den hegelschen Geist mit dem Begriff der Macht glaubt überwunden zu haben. Er führt hier aber in Bezug auf Hegel nur vor, was Schopenhauer schon mit der Veranschaulichung des Transzendentalsubjekt als Wille in Bezug auf Kant gezeigt hatte: Mit der Ersetzung des ominösen hegelschen Geistes durch eine ebenso ominöse Macht wird in Wirklichkeit gar nichts gewonnen, sondern die tatsächliche Abstraktheit des die bürgerliche Gesellschaft synthetisierenden Ortes gerät nur noch konsequenter aus dem Blick als bei Hegel schon. Was hier für Nietzsche und Schopenhauer gezeigt wurde, läßt sich umstandslos auf alle anderen Philosophen übertragen: wenn sie von Sprache, von System, von Arbeit, von Wahrheit, von Vernunft usw. reden, sprechen sie von ein- und demselben wie Hegel – nur in anderen Worten. Und die vielen, sich für einzigartig haltenden Philosophien werden so zu einem Warenkorb, aus dem sich ein jeder nach Gustos und Laune bedienen kann wie es ihm in den Kram paßt. IV

    Hinter die Hegel und Kant gemeinsame Erkenntnis: daß nämlich ein Subjekt existiert, das, wie immer es benannt sein möge, erst durch seine tätige, synthetisierende Leistung Erkenntnis ermöglicht, gibt es keinen Weg mehr zurück – so sehr die Wissenschaft sich auch den Anschein gibt, gerade diesen Weg zu beschreiten. Indem die moderne Wissenschaft, und mit ihr das heutige Alltagsbewußtsein, auf nichts anderes reflektiert, als auf die im Transzendentalsubjekt, oder im hegelschen Weltgeist angesprochene fundamentale Revolution im Denken selbst – sich darin aber so darstellen kann, als habe sich, seit Aristoteles, eigentlich gar nichts wesentliches ereignet – findet diese Wissenschaft, findet der moderne Mensch zu sich selbst. Sohn-Rethel, man verzeihe mir diesen Anthropomorphismus, ärgert das. Ihn ärgert vor allem die Tatsache, daß alle Philosophen seit Kant auf die Frage, warum es eigentlich unnötig ist, auf die Bedingungen seiner selbst zu reflektieren, keine befriedigende Antwort geben. Stellt man etwa Hegel diese Frage, dann erhält man zur Antwort die Feststellung des zum Preußen assimilierten Schwaben, dem dazu nichts weiter einfällt, als von Unvermögen, Dummheit oder der „Faulheit zu denken“ zu reden. Dagegen erinnere ich daran, wie wichtig eine philosophisch hinreichende Antwort auf diese Frage ist: Der Verweis auf so etwas wie Denkfaulheit, oder höflicher: auf intellektuelles Unvermögen, impliziert unmittelbar, daß in dieser Wirklichkeit Umstände vorzufinden sind, die sich nicht aus dem allgemeinen Ort erklären lassen, der von der Philosophie als Ort allgemeiner Geltung behauptet wird. Gibt es nur einen einzigen, tatsächlich existierenden Ort, in dem dies der Fall ist, so unscheinbar er auch sein möge, dann ist diese Philosophie nicht mehr zu halten, ist sie im Angesicht der Wirklichkeit blamiert. (Und darauf hingewiesen zu haben, bleibt der Verdienst von Georg Lukács.)

    Sohn-Rethel beweist nun, und auch dies sei wiederum als Randbemerkung formuliert, daß man, um über Hegel und Kant vollkommen zu recht, also der Sache nach angemessen, verärgert sein zu können, nicht zwanzig oder mehr Semester Philosophie studiert, oder eine Unmenge an Sekundärliteratur gelesen, ja wohl noch nicht einmal Kant und Hegel vollständig durchgearbeitet haben muß. Denn Sohn-Rethel war, als er sich Das Kapital von Marx in der Hoffnung vornahm, hier seinem Ärger Abhilfe verschaffen zu können, alles andere als ein akademisch ausgebildeter Philosoph, sondern stand kurz vor dem Abitur und las Das Kapital unter der Schulbank.

    Noch einmal: schon der achtzehnjährige Sohn-Rethel weiß, daß Erkenntnis ein produktiver Akt menschlicher Verstandestätigkeit ist. Er weiß: das heißt nicht, daß Erkenntnis in die Beliebigkeit eines einzelnen Menschen gestellt ist, sondern begrenzt ist von dem, was, kantisch gesprochen, Menschlichkeit im Allgemeinen, was, hegelsch, Logik des Geistes heißt. Er weiß, daß, in aller Schlichtheit ausgedrückt, Denken Wirklichkeit reproduzieren muß, um richtiges Denken zu sein. Und er weiß, daß der Schritt, vom Menschlichen im Allgemeinen zum Allgemeinen überhaupt: das heißt zu einem Allgemeinen ohne jede Menschlichkeit, und der Schritt von der tätigen Produktion der Wirklichkeit des Geistes hin zu einer bloßen Rezeption der Ergebnisse des von diesem Geist produzierten, ein sehr kleiner ist. Ihn ärgert: weder Kant noch Hegel geben eine befriedigende Auskunft darüber, was denn das Menschliche am Menschen, was denn das Menschliche am Geist ist (und die Anthropologen, die empiristisch-positivistischen Wissenschaften insgesamt, haben darauf erst recht keine Antwort.) Sohn-Rethel erkennt: sowohl das Transzendentalsubjekt als auch der Geist bleiben nicht nur unter einem undurchdringlichen Nebel verborgen, sondern garantieren vielmehr, daß sich diese Gesellschaft als spezifisch kapitalistische reproduziert.

    Sohn-Rethel kannte damals, als er sich Marx zuwandte, selbstverständlich auch Adorno noch nicht (der formulierte die negative Dialektik erst drei Jahrzehnte später) und wußte deshalb nicht, daß es gute Gründe gibt, daß dieser Nebel, statt ihn lichten zu wollen, vielleicht besser allein zu denunzieren sei. Der in dieser Weise vorbelastete Sohn-Rethel aber bekommt nun Marx in die Hände und sucht bei diesem eine Antwort auf seinen Ärger.

    Man wird lange suchen müssen, bevor man jemanden findet, der auf diese Weise seinen Zugang zu Marx gefunden hat. Wohl jeder lernt Marx auf ganz andere Weise kennen: als den Theoretiker des Klassenkampfes, der einem vielleicht nicht unbedingt sagt, wo es lang geht, der einem dennoch die Argumente für den Kampf gegen den Klassenfeind frei Haus liefert. Marx wird gelesen als derjenige, der die kapitalistische Gesellschaft in ihre Bestandteile zerlegt, der sie also analysiert, und der es einem infolgedessen erlaubt, sich durch eine Rekombination der so analysierten Elemente an den Aufbau des Sozialismus zu machen. Das ist es, was man in einer Folge von Schulungsabenden von Marx zu lernen gewillt ist: man will lernen, wie man die Wirklichkeit analytisch zu zerlegen hat, um dann am Ende einen Begriff von dem zu haben, was der zentrale Gegenstand von Marx: das Kapital also, eigentlich ist.

    Sohn-Rethel will von Marx aber nicht wissen, was das Kapital ist – den jungen Philosophen interessiert das vielleicht auch, aber nicht zu allererst. Er will von Marx vor allem anderen wissen: Was ist die Bedingung der Möglichkeit, das Kapital als Kapital zu erkennen? Woher bezieht Marx den Geltungsgrund seiner Urteile über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die er als Kapitalismus identifiziert? Er will somit wissen, ob Marx überhaupt auf der Höhe der Philosophie Kants ist – nur dann ist er für einen Philosophen ernst zu nehmen – oder ob auch Marx ein Metaphysiker ist, der den von Kant als falsch erwiesenen Antinomien unterliegt, indem er Denken und Sein strikt auseinanderhält, und es also nicht vermag, den Grund anzugeben, aus dem Denken und Sein gemeinsam ihre Geltung erlangen. Gelingt ihm letzteres nicht, dann kann dieser Marx vom Kapital behaupten, was immer er will: wer nicht über die Bedingungen der Geltungskraft seiner Urteile Auskunft zu geben vermag, kann Urteile fällen so viel er will: sie verfallen nach Kant dem Verdikt des Dogmatismus.

    Dieser Zugang zu Marx erklärt natürlich die Sonderrolle, die er in der marxistischen Diskussion einnimmt. Aber nicht nur das: in diesem Zugang ergeht es Sohn-Rethel, wie es wohl kaum einem, der tatsächlich mal Das Kapital von der ersten Seite an gelesen hat, ergangen sein dürfte: er ist schlichtweg fasziniert von der Wertformanalyse, fasziniert also gerade von dem Teil des marxschen Werkes, den die meisten Marxisten für ein bloßes Beiwerk halten.

    Fasziniert ist Sohn-Rethel, weil er sofort erkennt, daß man bei Marx mitnichten von einem Rückfall in vorkritisches Denken sprechen kann. Sohn-Rethel erkennt, daß es der Wert ist, der bei Marx die Rolle erfüllt, die bei Kant das Transzendentalsubjekt spielt: der Wert ist die Einheit, aus der sich die Vielheit unterschiedlichster Gebrauchswerte in den, diese Gebrauchswerte synthetisierenden Tauschwert übersetzt. Marx argumentiert hier also alles andere als analytisch. Sohn-Rethel erkennt unmittelbar, was für einen Vorteil sich aus dieser Ersetzung des Transzendentalsubjekts – und des hegelschen Weltgeistes – ergibt. Kann doch so unmittelbar deutlich gemacht werden, daß die kantsche ursprüngliche Einheit der Apperzeption, um mal philosophisch genau zu reden, seinen letzten Grund nicht im Denken hat, sondern im tatsächlichen Verhalten der Menschen. ///Fortsetzung im Kommentar weiter unten…

  • .. schön, wie
    das klappt:))

    !!!!!!!!!!!!!!!!!!!sakrtischMH_

    wie ein löw‘ habb‘
    ich aber gekämpft
    gestritten
    sinnlos

    aber: tagestatsachen

  • Das antifa-net meldet:

    Alfred Sohn-Rethel: Die „Geschichte in der Wahrheit“ / Der Begriff der
    Realabstraktion

    Angefügtes Material:

    1. Die „Geschichte in der Wahrheit“ – Zur materialistischen Kritik der

    Denkformen
    a) Sohn-Rethel, A., Geistige und körperliche Arbeit. Einleitung,
    Frankfurt/Main 1970, S. 11f

    „Es müssen an die zwei Jahre gewesen sein, wo ich im Hintergrund meines
    Universitätsstudiums Berge von Papier damit beschrieb, daß ich jeden
    einzelnen wesentlichen Ausdruck auf den ersten sechzig Seiten des Kapital
    vornahm, ihn auf seine Definitionsmerkmale und vor allem auf seine
    metaphorischen Bedeutungen hin untersuchte, auseinandernahm und wieder
    zusammensetzte. Und was sich aus dieser Übung ergab, war die
    unterschütterliche Gewißheit von der durchschlagenden Wahrheit des
    Marxschen Denkens zusammen mit einem unerschütterlichen Zweifel an der
    Stimmigkeit der Warenanalyse in dem Zustand, wie sie vorlag. Da steckte
    mehr und noch anderes drin, als es Marx gelungen war, mit seiner Analyse
    zu durchdringen. Und schließlich, mit einem irrsinnigen
    Konzentrationsaufwand, ging es mir auf, daß im Innersten der Formstruktur
    der Ware – das Transzendentalsubjekt zu finden sei.“

    b) Sohn-Rethel an Adorno (4.11.-12.11.1936), in: Gödde, C. (Hg.), Theodor
    W. Adorno und Alfred Sohn-Rethel. Briefwechsel 1936-1969, München
    1991, S. 13-30
    Siehe Anhang, S. 2-10
    c) Adorno an Sohn-Rethel (17.11.1936), in: Gödde, C. (Hg.), Theodor W.
    Adorno und Alfred Sohn-Rethel. Briefwechsel 1936-1969, München 1991,
    S. 32
    Siehe Anhang, S. 11
    d) Sohn-Rethel an Adorno (29.4.1937), in: Gödde, C. (Hg.), Theodor W.
    Adorno und Alfred Sohn-Rethel. Briefwechsel 1936-1969, München 1991,
    S. 47-54

    e) Adorno, Th. W., Negative Dialektik, in: GS Bd. 6, Darmstadt, S. 178
    „Ontisch vermittelt ist nicht bloß das reine ich durchs empirische, das als
    Modell der ersten Fassung der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe
    unverkennbar durchscheint, sondern das transzendentale Prinzip selber, an
    welchem die Philosophie ihr Erstes gegenüber dem Seienden zu besitzen
    glaubt. Alfred Sohn-Rethel hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, daß in
    ihm, der allgemeinen und notwendigen Tätigkeit des Geistes, unabdingbar
    gesellschaftliche Arbeit sicht birgt.“

    2. Der Begriff der Realabstraktion
    Sohn-Rethel, A., Geistige und körperliche Arbeit. Einleitung, Frankfurt/Main
    1970, S. 38-45

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