Von hinten angefangen: In der Rhön – auf der Jungviehweide Kalte Buche – fand kürzlich wieder (wie alle zwei Jahre) eine dreitägige Lesung von etwa 20 Autoren statt. Eingeladen hatte der im Nachbardorf lebende Verleger und Buchhändler Peter Engstler. Am Beeindruckensten war dort wieder die Lesung des Heidelberger Hausmeisters, Musikers und Dichters Jörg Burkhard. Ich wollte anschließend für die Buchmessenbeilage der JW-Redakteurin Conny Lösch eine Rezension der bisherigen Bücher von Burkhard schreiben, sie sind fast alle im Peter-Engstler-Verlag erschienen:
Live in Zombombie 1990
Volumes of friendly fire 1992
Euroica / Kevin Limbos größter Fall 1996
Der grosse Roman 2000
Frozen City Finalized 2004
Die Welt ist schön 2006
Rheinmetall 2008
Da fiel mir ein, dass mir ausgerechnet das letzte – „Rheinmetall“ – fehlte. Bis Peter Engstler es mir schickte, vergegenwärtigte ich mir noch einmal burghards „scene“ und die auf der Kalten Buche, auf der auch wieder Pola Reuth erschien. Sie zeigte ihren Film über das Frankfurter Freibad „Brentanobad“, wo sie Stammgast ist. Ihr Geld verdient die Filmerin als festangestellte Psychologin. Sie zählt zu dem Künstlerkreis um Walther E. Baumann, der erst den Pflasterstrand und dann die F.R layoutete. Er starb Anfang letzten Jahres. Außerdem gehörten dazu noch der frühere Westbam-Manager Indulis Bilzenz und der aquaphile Kurdirektor Micky Remann. Diese Frankfurter Scene zog sich einerseits hin bis Hamburg – in die Buch Handlung Welt von Hilke Nordhausen, die schon vor einigen Jahren starb – 1993, dann bis in den Heidelberger Buchladen von Jörg Burkhard, den dieser schon in den Achtzigerjahren dicht machte und schließlich über den Vogelsberg und Kleinsassen in den Ostheimer Buchladen von Peter Engstler, den dieser gerade nach Oberwaldberhungen verlegte – und quasi auch geschlossen hat, obwohl es ihn weiter gibt. Dieser Widerspruch ist wesentlich.
Die meisten taz-Artikel über diese sich dann mehr und mehr nach Berlin verlagernde Scene erschienen vor der elektronischen Archivierung der taz. So z.B. ein langes „Interview mit Hilka Nordhausen“ 1983, in dem die Umrisse und Ausfransungen dieser Kunstscene angetippt wurden, die bis ins Esoterische, Newagehafte, Endlosbeatnikinspirierte und Unbedingte lappte. In Heidelberg/Odenwald ging das bis zur Konzertveranstalterin Sharon Levinson, die jetzt auf Mallorca lebt, und Werner Pieper, der nach wie vor die „Grüne Kraft“ herausgibt. In Norddeutschland bis zu Helmut Salzingers „Head-Farm“ bei Odisheim. Dessen Freundin Mo zog dann nach Ostheim in die Rhön, wo jetzt – nach ihrem Tod – auch Peter Engstler das Salzinger-Archiv verwaltet. Nach Berlin bis zu Bert Papenfuß und Thone Avenströp sowie Andreas Hansen und Cornelia Köster – die Scene des Verlags „Basisdruck“ und der Zeitschriften „Gegner“ sowie „Floppy Myriapoda“, aus letzterem machte Alexander Krohn gerade einen Buchladen. Vier Buchläden, die weit mehr waren und sind als das, die gleichzeitig viel seltener als diese auf haben bzw. nur nach Voranmeldung – die aber Verdichtungen in einer bestimmten, sich jedoch langsam verflüchtigenden Sozialgeographie sind.
Nachdem Hilka Nordhausen ihre Hamburger Buch Handlung Welt nach 7 Jahren wieder geschlossen hatte, fragte ich sie 1983, wie es war:
„Es ging mir die ganze Zeit nicht gut,“ meinte sie, „so ein Einzelhandelsding ist mir sowieso ein Greuel.“ Das gilt für fast alle in dieser Kunstscene. In der Rhön gehören noch die überlebenden Künstler des 68er-Jahrgangs an der Bischofsheimer Schnitzschule dazu – u.a. Jan und Freddy. Zwei arbeiten heute gelegentlich noch mit dem Verleger Peter Engstler zusammen. Schon gleich am Anfang des Basisdrucks, als ihre Zeitschrift „Gegner“ noch „Sklaven“ hieß, meinte Thomas Kapielski, dass sie so „charmant unkäuflich“ sei, das er gerne darin publiziere. Papenfuß ist gerade als Geschäftsführer aus dem „Kaffee Burger“ ausgestiegen – vor allem, weil ihm dieses „Projekt“ im Gegensatz zu den e.e. vier Buchläden „zu erfolgreich“ und damit „zu schrecklich“ geworden war. Die meisten Vorleser auf der Kalten Buche alle zwei Jahre sind so wenig erfolgreich mit ihren Texten, dass sie noch einen Brotberuf nebenbei haben (Burkhard und ich z.B. den Hausmeister- bzw. Aushilfshausmeister-Job), Peter Engstler arbeitet in einem Heim für Behinderte in der Rhön. Deswegen ist ihm die Herausgabe von Texten des Antipsychiatrie-Pioniers Fernand Deligny („Ein Floß in Bergen“) auch am Wichtigsten. Und wie dieser verabschiedet er sich von immer mehr Worten – in seinen eigenen Büchern. Das gilt ähnlich für die anarchistischen Gedichte von Papenfuß und die Texte von Burkhard. „Es stinkt nach Implosion,“ meint letzterer in „Die Welt ist schön“. Das meint Burkhard natürlich ganz und gar nicht. Im Gegensatz zu dem von mir geradezu verehrten Bohumil Hrabal, der einmal sagte: „diese Welt ist schön, zum Verrücktwerden schön, nicht daß sie es wäre, aber ich sehe sie so.“
Ich darf den in Berlin lebenden Johannes Beck nicht vergessen, der mit Walter E. Baumann u.a. die Zeitschriften „Neger“ und „rogue“ herausgab und zuletzt eine bemerkenswerte Photozeitschrift: „Babel“, die es eigentlich immer noch gibt. Daran hängt wiederum Rudi Stoert, der sich zuletzt in einem Kloster in Burma aufhielt. Aber ebenso hing an Pieper, Salzinger und Engstler wieder Eugen Pletsch aus Gießen, Sänger vom Frankenschlag, mit dran. Einer der wenigen, der auf sein Verkaufsgenie setzte. Nebenbei schrieb er noch zwei erfolgreiche Golf-Bücher, zwischen dem ersten und dem zweiten Buch wurde er kurzzeitig irre an diesem Sport, es geht ihm aber wieder gut, in diesem Jahr war er leider nicht auf der Kalten Buche…
Der taz-Kulturredakteur Matthias Broeckers hat diese Scene 1988 anhand dreier Bücher über die „Alternativ-Scene“ beschrieben – wobei er mit Texten von Hadayatullah Hübsch anfing. Dieser las 2007 ebenfalls auf der Kalten Buche, im Hauptberuf ist er heute Imam Juma der Nuur Moschee in Frankfurt.
2008 interviewte ihn der jetzige taz-Kulturredakteur Andreas Fanizadeh – über seinen Spagat zwischen Hippietum/Punk/Hausbesetzungen und Glaube/Islam/Imam-Sein. Matthias Broeckers schrieb 1988:
Was stirbt, ist nicht die alternative Öffentlichkeit, sondern das Verrückte in ihr. Doch stellen wir erst einmal die drei Welten der sozialen Bewegungen, der Subkulturen und der Medienerneuerer genauer vor, in drei Büchern mit ganz ähnlichen Titeln: Alternative Öffentlichkeit heißen gleich zwei, von Hadayatullah Hübsch vor acht Jahren, aber höchst aktuell und dringend neuauflagebdürftig, und von Karl -Heinz Stamm, frisch erschienen; Die andere Medien-Theorie und Praxis alternative Kommunikation von Kurt Weichler kam 1987 heraus. Vielleicht läßt sich produktive Sprachverwirrung als geheimes Lernziel alternativer Kommunikation damit besser begreifen.
Für eine Sprache der sich Suchenden
Hadayatullah Hübschs sprachverliebte Einfühlung in Nickelbrillen und Hennahaare:
Diese Kulturglosse von gut hundert Seiten führt erst einmal durch die Teestuben und die Kneipen, läßt das Feeling der ersten alternativen Läden der siebziger Jahre, der Wohngemeinschaften und Landkommunen wiedererstehen, amüsiert sich mit der LeserIn über Gesten und Buttons, Projektemacherei und Kleinanzeigen, bis man schießlich leicht auch zu den Medien kommt. Ohne auch nur einen Augenblick die „primäre“ Kommunikation, wo mensch sich sieht und ansprechen oder anfassen kann, gegen die „sekundäre“, technisch vermittelte, auszuspielen, wie es die kulturpessimistischen Prediger in vielen unsäglichen „Neue Medien“-Debatten zu tun pflegen, macht Hübsch klar, wie dicht und differenziert der Unterbau von menschlicher Nah -Kommunikation sein muß, damit schließlich auch ein kleines, aber immerhin schon Massen-Medium wie die taz über ein derart hohes Maß an Vor-Verständigung verfügen kann, daß es nicht in die hohle Formelsprache der Anonymitäts-Medien der universalen „Mitte“ verfallen muß. Hübsch ist literarisch orientiert, darum kann er die technischen Medien nicht abqualifizieren, ein Büchernarr grübe sich selbst damit das Wasser ab. Er ist aber auch in dem Sinn literarisch orientiert, daß er die reine Protest-Politik (was später „soziale Bewegungen“ heißen sollte) als Spiegelbild der herrschenden Politik betrachtet: nur als „andere“ Öffentlichkeit, als Öffentlichkeit „abseits“ vom Etablierten, und eben nicht als „Anti“- als Gegenöffentlichkeit hätte die alternative Szene ihre intensive persönliche Experimentierfreudigkeit der Sinn -Suche entfalten können.
Und da muß wohl was dran sein, wenn Hübsch die ganze Galerie der Verrückten an uns vorüberziehen läßt: V.O. Stomps mit seiner „Eremiten-Presse“ der handgemachten Bücher, Josef Wintjes mit seinem ‚Ulcus Molle Info‘, was ja nichts Netteres als „Magengeschwür“ heißt, Raymond Martin mit seinen gelackten Edelporno-Comics, den Maro-Verlag mit Charles Bukowski, Suff-Wahrsager aus Kalifornien, den verkrachten Adorno-Schüler Hans Imhoff, den „Kompost“ -Verleger und nachmaligen Propagandisten von Computersoftware und „Scheiß-Büchern“ Werner Pieper – und wie sie alle heißen, bis zu Karl Napps Chaos-Theater geht die Reihe. Hübsch erwähnt weder die marxistisch -leninistischen Parteiaufbauer noch die Kommandosprache unserer „bewaffneten Kräfte“, aber die Botschaft ist deutlich: Entscheidend sind die „emotionalen Argumente“, wie er mit deutlichem Seitenhieb gegen den Totalitarismus nur verbaler Vernunft sagt.
Hübsch überzieht seine Demonstration aufs drolligste, und davon kann der Co-Autor dieser Kritik ein Lied singen, indirekt persönlich betroffen, sozusagen. Denn aus dem Frankfurter ‚Pflasterstrand‘ von 1979 zitiert Hübsch die Kleinanzeige:
„Dringend. Bin neu hier (seit Juli) u. blicke nicht richtig durch. Suche daher jemand, der mir mögl. schnell Sprachkenntnisse in Alternativisch beibringen kann. Katharina, Tel. 74 97 64“.
Und nimmt sie zum Eckstein seiner These von der „Auflösung des Ego als Voraussetzung der alternativen Szene“. Wohlfeiler Beleg, denn Katharina, Tochter des Co-Autors, war damals genau 38 Tage alt und in der Sinn-Suche von dem Wohngemeinschaftsscherz noch gänzlich unbehelligt.
Skeptisch gegenüber der Wurstelei
Für Weichler, der aus der nordrhein-westfälischen Alternativzeitungsszene kommt, ist alternative Öffentlichkeit zunächst einmal Demokratisierung nach außen und nach innen. Überraschend für die LeserIn, führt er die Geschichte der offenen Medien auf die russischen Agitprop -Filmemacher zurück, die nach der Revolution von 1917 durchs Land zogen und die Alltagsrealität vor allem der Bauern zum darstellungs- und diskussionswürdigen Medienthema nahmen. Demokratisierung nach innen wird abgehandelt als die harte Geschichte der Kollektive, die an unbegriffener Gruppendynamik und äußerem Realitätsdruck gleichermaßen leiden und schließlcih per Auflösung oder Anpassung zugrunde gehen. Weichler setzt sich mit all dem auseinander, was romantische oder politstrategische Abhandlungen gerne unter den Teppich kehren: die Mühen der Arbeitsteilung, die Fragen des Qualifikationserwerbs, die Tücken der Werbung, der Kampf ums Geld. Die Ehrlichkeit und Nüchternheit des Buches ist wohltuend westfälich, doch führt die Argumentation in eine ressentimentgeladene Stimmung mit nörglerischem Unterton, gerade als sei es erstaunlich und verwerflich, daß alternative Medien den Strukturen der kapitalistischen Warenökonomie unterliegen – und nicht umgekehrt erstaunlich und bedenkenswert, daß sie sich gründen und – mit welchen Abstrichen und Abgängen auch immer – für prägende Zeiträume bestehen können. Weichlers Pessimismus, daß selbstverwaltete Medienstrukturen dazu verurteilt seien, klein zu bleiben und in Reichweite der Reduktion zum Hobbybetrieb ein marginales Dasein zu führen, ist zu pragmatisch, um aufklärerisch zu sein: Weder wird ein relativ „großer“ Medienbetrieb wie die taz auf diese Weise erklärt (ja natürlich, in the long run geht auch die taz den Weg alles Irdischen, aber so ergeht’s auch Weichler, Bartscher und Herding), noch wird die informell wuselnde, stark fluktuierende Vernetzung der vielen kleinen Medien als ungeplante Expansion gewürdigt.
Weichler ist absolut modern insofern, als er alle Mediensparten einbezieht, also auch die Freien Radios und die Videogruppen; es ist ja schon fast peinlich, wie konservativ reduziert auf die gedruckten Medien sonst der Begriff der alternativen Öffentlichkeit gefaßt wird. Der letzte Teil seiner Arbeit ist ein umfassendes Adressenverzeichnis, die Chips haben gut geknistert – wenn nur die blitzschnelle Fluktuation in der alternativen Medienszene nicht wäre, die eine solche Übung bald veralten läßt.
Gegen den Raubbau an unserem schönsten Traum
Mit Karl-Heinz Stamms enthusiastischer Kritik und strenger Ermutigung der alternativen Öffentlichkeit liegt eine Geschichte der gedruckten Medien der westdeutschen Linken (nicht der Frauen – dieses Buch sollte schnellstens geschrieben werden) für die letzten zwanzig Jahre vor. Von den Flugblättern und Untergrundpostillen der Studentenbewegung über die vielen bunten Alternativblätter der „Szene“ seit den siebziger Jahren bis zum Großprojekt tageszeitung geht die Reise, mit lehrreichen Aufenthalten bei der Öffentlichkeitspraxis der marxistisch-leninistischen Kaderparteien, der bewaffneten Gruppen, der Bürgerinitiativen, der Friedensbewegung und der Grünen. Die Öffentlichkeit von Anwesenden (Wohngemeinschaftsküchen, Teach-ins etc.) wird mit einbezogen, allerdings fehlen die Freien Radios und die Videogruppen. Immerhin ist das Konzept, primäre und sekundäre Öffentlichkeit zusammen als Ausdruck sozialer Bewegungen zu verstehen, auch für eine Analyse über die gedruckten Medien hinaus tragfähig.
Das Buch hat eine klare These, an der mann/frau sich reiben kann: Für Stamm ist das Neue, das Sensationelle, das hoffentlich Bleibende oder jedenfalls Erhaltenswerte an alternativer Öffentlichkeit – und zwar gerade als Öffentlichkeit sozialer Bewegungen -, daß das Private politisch, also öffentlich wird. Das macht Öffentlichkeit „authentisch“, womit das Gelingen des Versuchs gemeint ist, die herrschaftsstabilisierende Spaltung zwischen denen, die Erfahrungen machen, und denen, die sie in mediale Darstellung umsetzen, zu überwinden. Die Rolle des Citoyens, charmant charakterisiert als „Ehemann, Vater, Mutter oder was auch immer“, wird in der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeklammert, in der „authentischen“ gehört sie entscheidend zur radikal-subjektiven Themensetzung dazu. Von sich selber reden lernen, darum geht es.
Drittens ringt das Buch zäh und vorsichtig, als wolle es die alten Meister nicht ersticken, mit den metaphorish -marxistischen Medientheorien von Oskar Negt und Alexander Kluge. Die beiden hatten 1974 die Vision einer Öffentlichkeit, in der das „Private“, nämlich Produktion und Sozialisation (oder Fabrikarbeit und Kinderverprügeln) nicht ausgeklammert wird, auf den Namen „proletarische Öffentlichkeit“ getauft. Der Theorieanstrengung und dem Zeitgeschmack der frühen siebziger Jahre, vor der Ökologiebewegung, entsprach das gerade noch, und Stamm erbte damit die unendliche Mühsal, mit einer Weltgeschichte ins reine zu kommen, die nicht der historischen Arbeiterklasse, sondern den neuen Mittelschichten eine zeitweise glückliche Annäherung an diese Öffentlichkeitsvision gegönnt hat (sicher nicht zuletzt deswegen, weil sie wenig Fabrikarbeit und Kinderverprügeln zu erdulden hatten). Die Negt-Klugesche Utopie, die für die Revolution ganz gewiß auch die Umwälzung der realen Arbeiter mit einschloß, hätte das im Grunde nicht angefochten. Aber Stamm nimmt die Last der Begriffe ernst, und er hilft sich zögernd, indem er die nichtproletarischen Milieus und Bewegungen all dieser WuslerInnen bei Software und Kultur, Ausbildung und Medien, Therapie und Werbung als „kommunikative Klasse“ – niemals ohne Gänsefüßchen benennt, wobei es offen bleibt, ob sie sich in der Jahrtausendperspektive zum Proletariat oder zum Kapital schlagen mögen. Immerhin: Der Anspruch auf Klassenanalyse, die Absicht einer Gesellschaftstheorie auch im „ökologischen Zeitalter“ ist markiert.
Stamm war beim ‚Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten‘, dem Ur-Basis-Blatt der siebziger Jahre, dann bei der taz Macher und kritischer Beobachter gleichzeitig, bevor er nach einer Lehr-Zeit am Institut für Publizistik der FU Berlin Vater und freischwebender Publizist wurde. Vielleicht gerieten die Analysen der Wochenzeitung ‚ID‘ und der taz deshalb in eine Atmosphäre des Gefühlsüberschusses, wie sie enttäuschten Liebhabern eigen ist.
Einen Fehler hat das Buch: Es fehlt ein nachdrücklicher Begriff vom freien, öffentlichen Medienzugang, vom public access, wie es in der kritischen Medienpraxis der USA heißt. Eine direkte, wirksame (nicht bloß scheinhafte) demokratische Beteiligung unterprivilegierter Personen, Gruppen, Interessen an der Medienkommunikation zu ermöglichen – dieses Ziel beschwört Stamm wohl, mit Brecht ist er einig: Aus jedem Empfänger müsse auch ein Sender werden können. Aber wenn es nur um den freien Zugang der bislang unterdrückten „privaten“ Erfahrungen der mediennahen neuen MittelschichtlerInnen geht, wie ist es mit den Knackis, Irren, Bauern, wilden StreikerInnen, auf die der Autor ja gerade beim ‚Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten‘ gestoßen war? Wenn verschiedene Milieus aufeinandertreffen, wie läßt sich da eine Zugang eröffnende, nicht ausgrenzende Redaktion vorstellen? Stamm spricht vom „fetischisierten Agenturanspruch“, gar von „Altruismus“, formuliert aber nicht den Anspruch auf direkten Medienzugang. Dabei würde sich dieser Begriff in sein Erfahrungskonzept ganz glücklich einfügen. Übers eigene Getto hinauszukommen scheint der „kommunikativen Klasse“ nicht leichtzufallen.
Die linke/grüne/alternative politische Kultur wird von Stamm heftig und mit Recht wegen der Apathie kritisiert, mit der sie den Erosionsprozessen der alternativen Öffentlichkeit zuschaut, anstatt die nötigen Infrastruktureinrichtungen (für Ausbildung, Recherchen, Medienkritik, Repressionsschutz usw.) als Gemeinschaftsaufgaben anzupacken. Auf Ökologisch würde man das Raubbau nennen.
Sibylle Bartscher und Richard Herding (‚ID‘, Frankfurt)
Hadayatullah Hübsch: Alternative Öffentlichkeit – Freiräume der Information und Kommunikation. Frankfurt, Fischer Taschenbuch 1980, 149 Seiten.
Kurt Weichler: Die anderen Medien – Theorie und Praxis alternativer Kommunikation. Berlin, VISTAS Verlag 1987, 601 Seiten, 74,- Mark.
Karl-Heinz Stamm: Alternative Öffentlichkeit – Die Erfahrungsproduktion neuer sozialer Bewegungen. Frankfurt/New York, Campus-Verlag 1988, 304 Seiten, 38, Mark.
Ich schrieb 1994 über Hadayatullah Hübsch: „ein ehemaliger FAZ-Journalist, dem man – vor 20 Jahren schon – mit der Begründung gekündigt hatte: Er stelle „im persönlichen Habitus und Umgang eine außergewöhnliche, jeglichen bürgerlichen Rahmen des Abendlandes sprengende Erscheinung“ dar. Der Frankfurter Dichter schloß sich daraufhin rahmenmäßig dem mohammedanischen Morgenland an. Seiner Poesie hat das jedoch nicht geschadet, allerdings auch nicht geholfen.“
Als in Kreuzberg am Heinrichplatz Inges Kneipe „Goldener Hahn“ in „finanziell Schwierigkeiten“ geriet, beantragten ihre Stammgäste Thomas Kapielski und Bernd Kramer bei der UNESCO, die Eckkneipe in die Liste des „Weltkulturerbes“ aufzunehmen. Kramer veröffentlichte dazu dann auch ein Buch über den „Goldenen Hahn“, dessen Veranstaltungsmanager Erik daraufhin einige Lesungen in der Kneipe organisierte. 2007 las dort u.a. auch Hadayatullah Hübsch. Ich schrieb anschließend – in einer Richtigstellung:
…Geirrt hatte ich mich außerdem mit der Behauptung: Die Kneipe „Goldener Hahn“ habe zugemacht, als Inge in Rente ging. Denn kein Geringerer als Klaus aus dem Vogelsberg führte sie weiter. Und nicht nur das: Inge und ihre Zapferin arbeiteten sogar wieder im Goldenen Hahn, und ihr für Live-Auftritte dort Verantwortlicher – Erik – war auch weiterhin tätig.
Das erfuhr ich aber erst vor wenigen Tagen, als dort der Schriftsteller und Slampoet Hadayatullah Hübsch auftrat – nachdem das taz-Café ihn abgewiesen hatte. Letzteres mit der Begründung, er habe sich in einer Essaysammlung „Die 68er“ allzu abfällig über die Linke geäußert und dazu noch in der rechten Zeitschrift Junge Freiheit einen Text über die taz geschrieben.
Ich sprach mit dem Dichter darüber nach seinem Auftritt im „Goldenen Hahn“, bei dem es hauptsächlich um Kreuzberger und Kieler Punks sowie Hausbesetzer ging – gereimt und ungereimt. Hübsch und sein Gitarrist meinten: Sie würden das gegenüber dem taz-Café schriftlich richtigstellen – und dann stünde ihrem Auftritt dort hoffentlich nichts mehr entgegen.
Ich bestellte mir daraufhin das Buch mit seinem Text über die „68er-Bewegung“ im Antiquariat. Schon wenig später kam eine Mail der Buchhandlung zurück – mit einer „Bitte zur Kenntnisnahme: Dieses Buch behandelt die 68er-Bewegung in Österreich.“ Nun wusste ich nicht, ob ich die Bestellung bestätigen sollte – hatte Hübsch sich vielleicht über die dortige Bewegung ausgelassen? Möglich wäre es. Oder „slamte“ er vor diesem und jenem Publikum mal so und mal so? Im „Goldenen Hahn“ war er der alte Kämpfer und Spätpunk, während er in der Rechtspostille als gläubiger Islamist auftrat.
In einem Endlosroman des Rotbuch Verlags mit dem Titel „Vogelsberg“, in dem schon von Klaus – dem nunmehrigen Wirt des „Goldenen Hahns“ – die Rede war, hatte ich mich 1986 bereits kurz über den Islamopunker Hadayatullah Hübsch ausgelassen. Damals im Zusammenhang seiner Fehde mit dem Hippiebuddhisten Rainer „Lotosblume“ Langhans. Islam und Punk erschienen mir da noch eine organische Einheit zu sein. Und so verwunderte es mich zehn Jahre später nicht, dass Hübsch seine Texte im Peter Engstler Verlag veröffentlichte – wie ich auch.
Das nordbayrische „scene-info“ bezeichnet Engstler im Internet als „Untergrund-Aktivist der Rhön“, zu seinen Hauptautoren zählen die Punkartisten Bernd Papenfuß und Jörg Burghard. Der Autor Hübsch wird darüber hinaus auf der Internetseite der Ahmadiyya-Gemeinde als ihr „Pressesprecher“ bezeichnet. Hier ist ferner zu erfahren, dass der Name Hadayatullah des 1946 in Chemnitz geborenen Autors „Der von Gott geleitete“ bedeutet. Und dass er neben einem Diplomaten zu den „bekanntesten deutschen Konvertiten“ gehört: „He was a Top-Hippie, now he is a Top-Ahmadi.“ Hippie – und dann noch Top: Das war mir neu.
Nachzutragen wäre hier und jetzt noch, dass das Haus, in dem sich Der Goldene Hahn am Heinrichplatz befindet, der Genossenschaft Luisenstadt gehört. Und die will die Kneipe nun raus haben. Mal sehen, was Kapielski und Kramer sich dazu einfallen lassen. Vielleicht dieses von Antonia Herrscher photographierte Objekt an Stelle eines Pollers, der dort am Heinrichplatz früher stand. Das Objekt hat einen roten Knopf zum Drücken. Wenn man ihn betätigt sprengt man vielleicht den ganzen Heinrichplatz in die Luft. Deswegen hat sich noch niemand getraut, ihn zu drücken. Stattdessen kleben dort laufend Leute ihre Werbezettel (für Partys und Demos) an. Sie werden regelmäßig wieder weggekratzt. Von wem – und warum?
Vielleicht sollte ich hier um der ganzen Sozialgeographie der Scene willen ins Anekdotische gehen, wie es – jedenfalls seit die taz ihr Archiv elektronisiert hat, das war im WS 1987/88 – jeweils aktuell an- oder abfiel:
Stimme aus der jüngsten Vergangenheit
„Ja das wars“ heißt eine CD mit Natur-Gedichten und Gelegenheitstexten von Helmut Salzinger aus Odisheim, die der Verlag Peter Engstler aus Ostheim gerade veröffentlicht hat. Der Autor und Vortragende Helmut Salzinger starb 1993. In den Sechzigerjahren gehörte er zu den wenigen undogmatischen Linken, die auch in bürgerlichen Zeitungen publizierten. Berühmt machten ihn dann seine Bücher über Walter Benjamin und über Rockmusik. Nachdem er sich aufs Land – zwischen Hamburg und Bremen – zurückgezogen hatte, schrieb er noch einige Jahre lang unter dem Pseudonym Jonas Überohr Kolumnen für die Musikzeitschrift „Sounds“. Danach widmete er sich nur noch der Natur, erkundete die Hochmoore in seiner Umgebung und gab darüber gelegentlich eine kleine hektographierte Zeitschrift namens „Falk“ heraus. Die in dieser Zeit entstandenen Texte und Gedichte verlegte erst sein Hamburger Freund Michael Kellner und dann Peter Engstler in der Rhön, der nun auch Helmut Salzingers Nachlaß verwaltet, nachdem dessen Freundin Mo ebenfalls starb. Ihr gemeinsames Projekt auf dem Land hieß „Head Farm Odisheim“. Das ist „Überohrs Factory, sein letzter verzweifelter Griff nach der Weltmacht,“ wie Helmut Salzinger selbst einmal erklärte. Dazu durchstöberte er die Zeitung nach Spuren des alltäglichen urbanen Wahnsinns, verfolgte den Vogelflug vom Garten aus, rauchte Haschisch, las Thoreau, Castaneda, Pirsig, und dachte sich das handelnde Subjekt weg – in drei Büchern, die „Ohne Menschen“, „Gärtner im Dschungel“ und „Moor“ hießen.
Diese ganzen Unternehmungen waren noch Teil einer ebenso kollektiven wie internationalen Anstrengung, die damals unter dem Namen „Landkommune-Bewegung“ firmierte und in den USA zum Beispiel Bücher mit Titeln wie „Was die Bäume sagen“ hervorbrachte. Helmut Salzinger blieb dabei – und versuchte, diese Bewegung praktisch und literarisch bis zu seinem Tod zu vertiefen. Aus dieser heute vor allem zeitlichen Tiefe kommen jetzt einige seiner damaligen Lesungen auf CD über uns. Es geht darin um „Die Allgegenwart des Holunders“, um Wolken, Wind, Mitte Februar, drei Raben, eine Lerche, Bruder Bussard, immer wieder Falken und eine neugierige Fledermaus. Die „Poesie des Landes“ äußert sich ihm in „grauen Regengüssen, Weiden, Birken, diesigen Wäldern, einer Herde Kühe“. Es ist eine Poesie oder „Kultur des Landes“, die ihre Kraft aus der Erde erhält: „Die neue Gesellschaft wird biologisch sein“, zitiert er dazu einen US-Ökologen – und keinen Blubo-Dichter, denn Helmut Salzinger versuchte sich gegen die Vernutzung der Landschaft und auf die Seite der letzten Biotope zu stellen und entdeckte dort sogar mitunter noch oder schon wieder einen Silberstreifen am Horizont. Heute, da die industrielle Landwirtschaft ebenso wie die Landflucht und die Konsumgesellschaft an ihre Grenzen stoßen und wieder Subsistenzwirtschaften sowie experimentelle Agronautiken in die Perspektive geraten, kann man seinen zwei ebenso avantgardistischen wie unverdrossenen Kleinverlegern danken, dass sie diesem „Anfänger“ treu blieben.
Die Experimentalfilmerin Pola Reuth
…veröffentlichte 1999 im Verlag Peter Engstler ein Buch mit dem Titel „Lybische Träume“. Als sie in den Achtzigerjahren mit einem Stipendium in Rom lebte, lernte sie dort einen Afrikaner kennen, der eine kolossale Irrfahrt hinter sich hatte: Er stammte aus Kosti im Sudan – und wollte unbedingt nach Nordeuropa. Immer wieder versuchte er es. Mal über Ägypten und den Libanon, dann über den Tschad und Lybien. Schließlich schaffte er es aber doch – immerhin bis nach Rom. Und dort endet auch seine letzte Geschichte. Jedes der fünfzehn Kapitel thematisiert einen Fluchtversuch. Seine Aufschreiberin, Pola Reuth, half ihm dann, von Rom nach Hamburg zu gelangen, wo er einen Exportgeschäft mit gebrauchten Motoren aufmachte. Auch dabei half sie ihm, im Gegenzug bekam sie irgendwann ein Kind von ihm. Dieses wuchs heran und ist inzwischen ein Frankfurter Teenager. Ihr Vater hielt es jedoch nicht lange in Hessen aus. Vor einigen Jahren hatte er das Gefühl, hier entweder verrückt oder gewalttätig zu werden. Und weil er beides nicht wollte, ging er zurück in den Sudan – obwohl dort Bürgerkrieg herrschte. Pola Reuth und ihre Tochter telefonieren manchmal mit ihm.
Heidelbergs Hauptdichter
Lange bevor ich den linken Heidelberger Buchladen von Jörg Burkhard das erste Mal aufsuchte, bekamen wir in Berlin das Buch „Als ich noch ein Ultrakurzwellenbub war“ von ihm in die Hand: Opa und Oma Rüstig, Onkel Hilde, Tante Willi – dumpfeste Konsumisten, dazwischen des Autors Kindheitsbilder. Mit „richtigen Geschichten“ kam er uns auch noch in „live in zombombie“, aber seine Texte wurden immer zer-splatterter, zerfaserter und zerbröselter und gingen bisweilen sogar ganz im Kakophonischen unter, zumal Jörg Burkhard angefangen hatte, „akustisch zu arbeiten“ – und sich dabei von einem Lyriker zu einem Elektronikbastler wandelte. Ein Beispiel: „Ich habe einen leeren Kugelschreiber, in dem vier Widerstände drin sind, da gehen also vier Kabel rein. Ich spucke auf den Tisch und schließe das mit einem Draht an das Mischpult an. Wenn ich mit einer der vier Spitzen dieses Kugelschreibers in die Spucke gehe, dann kann ich eine Tonspur schneiden oder mehrere mischen und kann mit einer kaum merklichen Handbewegung irrsinnigen Krach machen und meine eigenen Texte durcheinanderwirbeln. Wenn ich die Spucke auseinanderziehe wird es leiser, wenn ich sie verdichte, wird es lauter.“
Im übrigen holte und holt er sich das Ausgangsmaterial für seine Töne und Texte beim Zappen aus den offiziellen TV-Kanälen: Wie aus Kanalisationsröhren fischt er sich da die Scheiße raus – und macht dann mit seiner Technik „muzak“ daraus, die er anschließend in so genannten Performances präsentiert. Sein Buchladen wurde 1984 geschlossen, weil sich ab da etwa die Alternativ-Szene breit machte, mit der Jörg Burkhard nichts am Hut hatte, eher schon mit der Punkbewegung, für die er sich jedoch (1943 geboren) schon „zu alt“ fühlte. Charles Bukowski schrieb einmal – als man ihn auf seiner BRD-Lesetour 1978 das Heidelberger Schloß zeigen wollte: „Auf dem Weg dahin lotste man mich in eine Buchhandlung, wo fast alles Bücher von mir zu finden waren. Aber für mich war es mehr peinlich als angenehm, da vor meinen Büchern zu stehen und sie zu betrachten. Deswegen hatte ich sie nicht geschrieben!“
Damals war Jörg Burkhard noch schwer politisch – und das ist er heute noch. Bücher veröffentlicht er auch noch, aber sie sind wie gesagt immer weniger erzählerisch und immer mehr abgecuttet: „Schwarze Chroniken“ aus Aphorismen. Auf der letzten Frankfurter Buchmesse trug er einige Passagen aus seinem neuesten Band „Frozen City Finalized“ vor, in dem er mal wieder seine Heimatstadt Heidelberg sowie die dortigen Alt- und Neunazis thematisierte, und nicht zu vergessen den CDU-Bürgermeister, der vornehmlich mit Beton klotzte – und dessen eigener Sohn dann folgerichtig auch von einem Fertigbeton-Laster überrollt wurde.
Jörg Burkhard ist ein guter Mensch, in seinen Texten aber böse, und er war es schon, als er noch seine Kolumnen in der Heidelberger Wochenzeitung „Communale“ verfaßte: z.B. über den Polizisten, der den Philosophen Gadamer von einer Parkbank verscheuchte. Nebenbeibemerkt: Als Gadamer vor einiger Zeit starb, veranstalteten Stadt, Land und Hochschule eine pompöse Gedenkfeier. Der Rektor führte dort aus, dass sie an der Uni noch immer mit der Beseitigung der Folgen der unseligen 68er-Revolte beschäftigt seien. Der Ministerpräsident fügte dann, im Beisein des Hauptredners Jacques Derrida, hinzu: Auch die Postmoderne würde doch nur unsere Jugend verderben. Jörg Burkhard war bei dieser Feier nicht anwesend: Er befand sich gerade auf Lesetournee – und er hätte auch keine böse Kolumne darüber veröffentlichen können: die „Communale“ wurde 1988 eingestellt. Aber was da von den ganzen Prominenten und Politikern über Radio und Fernsehen täglich über uns und ihn ausgekübelt wird, „bis zur Reklame“ – macht ihn nach wie vor so wütend, dass er es sofort zermixt retourniert: „Was über die Medien kommt, geht über meinen eigenen Sender wieder zurück. Mein Sender operiert auf der Hörfrequenz von 40 Hertz bis 14 Kilohertz, während das, was über den Fernseher kommt, Hochfrequenz ist, HF, also Herrschaftsfrequenz.“
Auszüge aus seinem Niederfrequenz-Salat veröffentlicht als Buch und CD, man kann schon fast sagen: regelmäßig, der Dichter Peter Engstler in seinem gleichnamigen Verlag in der Rhön. Auf einer Jungviehweide nahebei veranstaltet er daneben auch immer wieder Lesungen für seine Kollegen und Autoren. Neben dem Berliner Anarchodichter Bert Papenfuß trug Jörg Burkhard dort zuletzt (2007) im Schein einer Taschenlampe u.a. Kapitel aus „Kevin Limbos größter Fall“, „Euroica“ und „Der grosse Roman“ vor. Letzterer beginnt autobiographisch:
„an diesem dienstagmorgen zeigte das fliesskristall im display der waage einhundertkommadrei, floss aber zu romans grosser erleichterung zurück auf neunundneunzigkommasieben – deutlich unter hundert! roman meggle war erleichtert.
soeben zurückgekehrt von tour durch tarnfarbene schweiz oberrheinische industrietiefebene von abgasen noch völlig benommen vom getrampel der nachbarn punkt sieben uhr nachdem roman meggle fünfuhrdreissig wie jeden morgen mit einem hammer auf den fußboden zu klopfen gezwungen das frühstücksfernsehen von frau zombie auf zimmerlautstärke zu trimmen versuchte roman mit zitternder hand aus der Kilopackung Red Label eine portion ‚frühstücksmischung‘ mit kochendem wasser zu überschütten, was irgendwie misslang und zu überlaufender nässe plus verbrennungen ersten grades führte.
in diesem augenblick setzte von nebenan das BUMMZAKK einer hifi-anlage ein…“
Vom Sein zum Design
Marx bezeichnete die Ausgaben für Werbung „achtlos“, wie Ludwig Pfeiffer meint, als „faux frais“: Nebenkosten. Da die kapitalistische Produktion von Anfang an eine Überproduktion war und ist, stiegen diese Nebenkosten aber kontinuierlich – und wurden immer raffinierter „investiert“. Bis dahin, dass der BRD-„Werbepapst“ Michael Schirner die Reklame und das Produkt-Design dann als die eigentliche Kunst unserer Tage bezeichnete. Das war den vielen „Art Directors“ in den Werbeagenturen aus der Seele gesprochen, denn dabei handelte es sich meist um verhinderte (allzu sicherheitsbedürftige bzw. konsumgeile) Künstler. Schirner war selbst ein solcher – in der Düsseldorfer Werbeagentur GGK, wo auch der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen eine Zeitlang kreativ wirkte. Vor ihm arbeitete der Marxist-Leninist Indulis Bilzens dort, d.h. er wurde dafür bezahlt, und zwar saugut, dass er die Werbefuzzis mit seinem „faux frais-Gerede verunsicherte“. Die GGK war sehr avantgardistisch! Gegründet hatten sie drei seriöse Unternehmer, z.T. aus der Schweiz, die auf ihre alten Tage noch einmal was ganz anderes – Lustiges – machen wollten. Der Schirnersche Werbe-Kunstbegriff wird inzwischen von den Zeitgeistapologeten, u.a. von Horx und Bolz, theoretisch fundiert. So lautet das „Zwischenfazit“ des letzteren z.B.: „Konsum tritt heute als Kultur, Shopping als Lebensform und Business als Kunst auf.“ Dem Warholschen Begriff der „Business Art“ attestiert Bolz deswegen „eine große Zukunft: ‚Good Business is the Finest Art'“. Dazu müssten die Unternehmen sich jedoch endgültig vom „Organisationsmodell der Armee“ verabschieden. Dann ginge es dabei, mit dem Philosophen Gernot Böhme gesprochen, „um die Inszenierung der Waren und um die Selbstinszenierung der Menschen – auch der Politik, der Firmen und ganzer Städte“. Das „Projekt der Postmoderne“ bestünde demnach laut Bolz aus einer fast flächendeckenden aber folgenlosen „Verfestlichung des Alltags“.
Ähnlich beurteilt auch der Marxist Robert Kurz die „Postmoderne“: „Ob der Konsum real ist oder bloß in der Phantasie stattfindet – die Objekte des Begehrens verwandeln sich in Gegenstände des Kults.“ Weil die „Gleichgültigkeit der kapitalistischen Form gegen jeden substantiellen Inhalt unerträglich wird, muß der verlorene Bezug zur sinnlichen Qualität der Gegenstände halluzinatorisch wiederhergestellt werden.“ Dies geschieht in einer Art „Spiel, aber keines intelligenten, sondern eines infantilen,“ wobei die verlorene sinnliche Qualität „auf der Ebene der ästhetischen Form simuliert“ wird. So weit würde ihm Norbert Bolz noch folgen, aber für Robert Kurz gilt: „Die Ware kann niemals inhaltlich Kunst sein. Deshalb ist das Design keine Frage der Kunst – es gehört in den Bereich des Marketing. Es will die völlige Nichtigkeit des Inhalts mit einer Aura sekundärer Bedeutung aufladen.“
Das war vielleicht schon immer so, aber etwas hat sich doch geändert: „Die Werbung verweist nicht mehr auf das Produkt, sondern das Produkt verkündet den Ruhm der Werbung“. Das geht bis hin zu den Konsumenten: „Waren auf zwei Beinen“ und „lebendes Design“: jeder wird dabei zum „Schauspieler seiner selbst“ und sogar reale Ereignisse werden ihnen zu einem „Film“. Kurz erwähnt in diesem Zusammenhang ebenfalls die Spektakel, Festivals und Events, in Sonderheit die „Loveparade“ – als „massenhafte Präsentation von erotischem Design“. Die daran Teilnehmenden seien jedoch „nicht sexueller als Schaufensterpuppen, je mehr sich das Design sexualisiert, desto prüder wird das Verhalten.“ Und desto unfreier die Selbste. Zwar gibt es eine „Schmerzgrenze“ (nach soundsoviel Schönheitsoperationen und Fitnessprogrammen z.B.), „aber wie werden sich dann die zum Design ihrer eigenen Warenförmigkeit degradierten Menschen verhalten?“ Auch die Gewalt läßt sich ja ästhetisieren: „Der Faschismus hat damit vielleicht schon das schreckliche Ende der Postmoderne vorweggenommen…“ Und sogar das Elend und die Armut kann man ästhetisieren: „Noch der mieseste ‚McJob‘ wird zum bedeutungsvollen ästhetischen Sujet, weil kein geringerer als der Selbstdarsteller einer inszenierten Biographie ihn ausübt.“ Der Marxist sieht darin „den gesellschaftlichen Grund“ für alles postmoderne Philosophieren à la Horx und Bolz. „Ihre Verwandlung von Erkenntnistheorie in Ästhetik ist immer schon Warenästhetik“. Indulis Bilzenz ging dann auch noch einmal diesen Weg nach, indem er in Riga an der Herausgabe einer neuen Frauenzeitschrift – zwischen Brigitte und Sybille – mitarbeitete.
Die Ex-Pflasterstrand-Reporterin
Eidechsen – so hießen früher die Hardcore-Lesben in S.O.36 – liebevoll. Es gab ein autonomes taz-Autorenkollektiv „muz“ (menschenverachtend und zynisch) – dem Vorspiel der KPD/RZ, das in seinen taz-Kolumnen diese Eidechsen würdigte, die sich ihrerseits auf den Häuserwänden im Kiez äußerten: „Bildet Banden“, „Kastriert alle Vergewaltiger!“ usw. Ihr Ruhm strahlte bis nach Frankfurt bzw. Hamburg, von wo eines Tages die Journalistin Edith Cohn anreiste, um über diese feministischen Terroristen eine das Blut in den Adern der Elbchausseer gefrieren lassende Insiderstory aus Original-Kreuzberg zu liefern. Leider konnte die taz-Berlinredaktion sie davon überzeugen, dass es sich bei den ganzen kastrationsbereiten Eidechsen bloß um einen weiteren Dreh am „Mythos Berlin“ (Der Spiegel) handelte.
Mit der Abwanderung der „Zeitgeist“-Schwaben und Rheinländer in die Ostbezirke geriet dann aber sowieso der „Problembezirk“ außer Konjunktur („Nur in S.O.36 lebt man kreativ!“ meinte z.B. Claudia Skoda 1985 und 1995: „Nie wieder Kreuzberg!“ ). Man hörte dann auch nichts mehr von den Eidechsen. Die letzten wurden mit der Zerstreuung der Wagenburgen an den Stadtrand gedrängt, einige zogen mit ihren Wohnwagen „in Richtung Süden“ ab. Jetzt kommt aber neue Kunde von ihnen – diesmal aus dem Berliner Schwabing Prenzlauer Berg. Wie die gewöhnlich gut unterrichteten Punker vor Kaiser’s und McDonald’s erklären, handelt es sich dabei um „Solarent-Frauen mit eidechsenfarbenen tattoos, deren dauergebräunte Haut inzwischen verlederte“.
Seltsamerweise gab es schon 1984 eine Zeitschrift für „Eidechsen“, herausgegeben vom „Bräunungsstudio Malaria“, zu dem der Eastbam-Manager Indulis Bilzens, der Westbam-Manager und -Vater William sowie das Gestaltungsduo Johannes Beck und Walter E. Baumann gehörten. 20 Jahre später lesen die Eidechsen, die auf die Bräunungsstudios des Prenzlauer Bergs abonniert sind, vor allem Körper-Zeichen. Ihre Solarium-Scene arbeitet an einer eigenen Kultur, deren Speerspitze jene neuen Eidechsen sind. Ihr typisches Erscheinungsbild ist die Twentysomething mit Pferdeschwanz und Sporttasche, Jogginghose, Top, Stöpsel im Ohr und Handy am Hals. In ihrer prominenten Form werden sie u.a. durch „TV-Star Jennifer Nitsch“ verkörpert, die neulich aus dem Fenster fiel und starb. Die BILD-Zeitung zitierte erst ihren Regisseur: „Der Fenstersprung war ein Hilfeschrei!“ und rekonstruierte diesen dann durch Jennifers letzten Stunden: „15 Uhr 30 – sie geht in ihr Schwabinger Fitness studio ‚lady sportiv‘; 17 Uhr 30 – sie ist zu Hause mit ihrer besten Freundin verabredet: ‚Wir haben auf dem Bett gelegen, fern gesehen, über Klamotten, Fingernägel, Haare und Partys gesprochen‘; 20 Uhr – die beiden machen sich für den Abend zurecht: ‚Wir haben ein paar Klamotten ausprobiert, ich habe für sie ein Kleid gebügelt‘; 21 Uhr 40 – die beiden gehen ins ‚Kytaro‘, dort ist Jennifer Nitsch mit einem Photographen verabredet, es herrscht Partystimmung, der Ehemann von Model Guilia Siegel kommt dazu, es sind schließlich 20 Personen, sie essen griechische Spezialitäten; 2 Uhr 45, fröhlich fährt die Runde zum Club ‚Max Suite‘, dort, so sagen Zeugen, trank sie viel Wodka, auch Champagner; 5 Uhr – sie tanzt barfuß, verletzt sich am Fuß, Türsteher Arturo hilft ihr ins Taxi; 5 Uhr 30 – sie schläft ein, um 12 Uhr 30 telefoniert sie mit ihrer Mutter, der sie erzählt: ‚Wir hatten eine tolle Party, jetzt muß ich mich aber ausruhen‘; 13 Uhr 7 – sie stürzt aus dem Fenster des vierten Stocks…“ Die BUNTE ergänzte dann: Sie litt unter „Beziehungslosigkeit“ und „Bulimie“. Und BILD ließ noch ihre Mutter zu Wort kommen: „Es war niemals Selbstmord“, meinte sie, mit anderen Worten: Die Fitness-Clubs sind wahrhaft mörderisch! War Edith Cohn etwa auf der richtigen Spur, als sie in der Frauensauna am Heinrichplatz mit ihrer Recherche begann?
Die Strichsammlung von Hilka Nordhausen
„Hilka Nordhausen (geb 1949) war eine der wichtigen Persönlichkeiten des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs der 70er- und 80er-Jahre,“ heißt es im Internet, wo nun gleichzeitig auch für den in Nordhausen hergestellten Doppelkorn geworben wird. Die letzten Jahre wohnte Hilka am Kottbusser Tor in Kreuzberg, wo sie 1993 starb. Acht Jahre später widmete die Hamburger Kunsthalle der Künstlerin, Galeristin, Schauspielerin und Buchautorin eine umfangreiche Retrospektive. „Montags Realität herstellen“ hieß sie – sehr passend. Im Katalogvorwort schrieb Uwe M. Schneede: „Das Experiment zwischen dem Wort und dem Bild, mit dem Bild und dem Wort, dem Buch und dem Zeichenpapier war ihre Welt. “ 1998 hatten bereits ihre Hamburger Freunde in einem dicken Bildband mit dem ebenfalls passenden Titel „dagegen-dabei“ Hilka Nordhausens riesiges Künstlernetz nachgezeichnet, das sie zwischen 1969 und 1989 knüpfte – vor allem mit ihrer „Buch Handlung Welt“ im Hamburger Karolinenviertel und seinem Förderverein „weltbekannt e.V.“
Es waren zumeist die von der Punkbewegung noch einmal flankierten Künstler – von der Tödlichen Doris und Heinz Emigholz über Dieter Roth und Allen Ginsberg bis zu Helmut Salzinger und Pola Reuth, die in ihrem Laden Filme und Performances zeigten, Vorträge hielten, Gedichte lallten oder eine Wand bemalten, die nach einigen Wochen vom nächsten übermalt wurde. Etliche solcher „Knoten“ waren damals untereinander vernetzt: In Berlin die Galerie von Wolfgang Müller und Ueli Etter sowie das Tonstudio von Frieder Butzmann und der Merve-Verlag, in Frankfurt die Zeitungen von Indulis Bilzenz und Walther Baumann, in Heidelberg die Turmgalerie von Sharon Levinson und die Buchhandlung von Jörg Burghardt… Dazwischen turnten sich die eher nomadischen Künstler frei. Anfang der Achtzigerjahre fing ich an, einen nach dem anderen für die taz zu interviewen. Hilka erzählte mir u.a., wie man ihr einmal zum Weiterverkauf einen Stapel Raubdrucke von Michael Endes Buch „Momo“ aufgeschwatzt hatte – und daraufhin laufend irgendwelche alternativen Lehrer in ihrem Laden antanzten. Die wollte sie aber gar nicht da haben und bedienen, deswegen gab sie diesen ersten und einzigen Bestseller der „Buch Handlung“ schnell wieder zurück.
Nun sind auch schon etliche der ihr lieb und wichtig gewesenen Kunden und Künstlerkollegen tot (Martin Kippenberger) oder liegen im Koma (wie Walther Baumann), noch mehr sind verschollen (was machen z.B. Mike Hentz und Minus Delta T oder Boris Nieslony?), andere sind in der Tat nicht mehr dagegen, sondern dabei, weltbekannt zu werden (wie der Bremer Maler Norbert Schwontkowski und der Neuköllner Kunstprofessor Thomas Kapielski). Während zugleich das Wiener „Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig“ frühe Arbeiten von Hilka und neun anderen Künstlern zeigte, „die nach kurzen bedeutenden Werkphasen aus dem System Kunst ausgeschieden sind“. Wieder andere sind bloß aus unserem kollektiven Gedächtnis geschieden, u.a. weil die Kunstgeschichte gerne die weiblichen Protagonisten ignoriert, wie das in dem o.e. Bildband bereits Dietrich Diederichsen vorgeworfen wurde. Daneben sind aber auch neue „Knoten“ entstanden: Hilkas einstiger Mitarbeiter Michael Kellner hat sich z.B. mit ihrem einstigen Verleger Peter Engstler (der ihr Buch „Melonen für Bagdad“ herausbrachte) zusammen getan, um bei ihm in der Rhön regelmäßig Lesungen auf einer nahen Jungviehweide mit zu organisieren, wo sich die Überlebenden und Mobilen treffen. An Buchläden und Verlagen sind „b-books“ und der Basisdruck-Verlag in Berlin dazu gekommen und an Galerien gleich mehrere – bis weit in den Osten. Dazu gehört jetzt auch die von Dörrie & Priess. Die beiden haben bereits eine Galerie in Hamburg, und sie vertreten den Nachlass von Hilka Nordhausen schon lange – zusammen mit ihrer Archivverwalterin Bettina Sefkow, die den Bildband “dagegen-dabei” mit herausgab. So kommen nach und nach nun alle Ansätze der schon früh als Netzwerkerin in Erscheinung getretenen Hilka Nordhausen noch einmal vors Publikum. Zur Zeit ist Bettina Sefkow gerade dabei, Material für ein neues Buch – über „Selbstorganisation“ – zusammen zu stellen.
Hilka Nordhausen ist darüber jedoch nicht vergessen worden: Ihre alten Freunde, die Hamburger Galeriebetreiber Ulrich Dörrie und Holger Priess, die den Nachlass von Hilka vertreten und bereits parallel zur Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle 2001 die frühen Arbeiten sowie 2004 späte „Malereien“ von ihr zeigten, eröffneten im September 2005 eine Berliner Niederlassung in einer gründerzeitlichen Etage in Kreuzberg, Yorkstraße 89a. Dort stellen sie jetzt Bleistiftstrich-Zeichnungen von Hilka Nordhausen aus, wobei sie mit Hilkas Archivverwalterin Bettina Sefkow zusammenarbeiten, die auch schon bei „dagegen-dabei“ mit dabei war. Die Strichübungen dienten der Aus- und Abschweifungen nicht abgeneigten Hilka zur künstlerischen Selbstdisziplinierung. Sie bilden somit eine Art Kontratsprogramm zu ihren sonstigen Lebensäußerungen – wie Perry Rhodanhefte studieren, Tageszeitungsseiten übermalen und Dias sammeln (in Berlin war sie in dieser Hinsicht meine einzige Konkurrentin bei den Trödlern, bis wir uns zusammentaten und die brauchbarsten Dias untereinander austauschten).
Bei den „Untersuchungen zum Zeichenvorgang“, so der Ausstellungstitel jetzt, ging es ihr u.a. darum: Wieviel kleine Striche kann man in zehn, zwanzig, dreißig usw. Minuten auf einem A3-Blatt schaffen? Oder umgekehrt – mit einem Metronom: Wie lange hält man das Strichemachen durch? Wie sehen die Strichfiguren aus, die man bei unveränderter Körperposition stehend mit der Hand auf einem riesigen Blatt ausführt? Und wie sieht z.B. ein ganzer Bogen aus, wenn man ihn mit verbundenen Augen zustrichelt? „Schließlich wurde aber ihr Körper zum eigentlichen künstlerischen Gerät, wenn sie sich an einer Gartenwand streckte oder auf einem Dach rotierte, stets mit dem Stift in der Hand, eine Spur ihrer Aktivität hinterlassend“, schreibt die Wiener Kulturzeitschrift „Springerin“. Die Ergebnisse wurden anschließend abphotographiert, ihre dabei zugrundeliegende Versuchsanordnung protokolliert – und das ganze dann abgeheftet. So pedantisch kannte ich Hilka noch gar nicht. Auf mich wirkte sie eher lebensfroh verwuselt, zuletzt war sie jedoch an Krebs erkrankt und hatte dafür eine Art Wunderheiler gefunden, über dessen Therapietheorie wir mehrmals diskutierten. Kurz vor ihrem Tod erschien noch im Verlag von Michael Kellner ihr Buch: „Glücklichsein für Doofe“ und vor zwei Jahren ein Beitrag über sie in dem vom Kölner Verlag Walther König herausgegebenen Band: „Kurze Karrieren“. Speziell zu ihren Bleistiftstrich-Experimenten gibt es außerdem noch einen Beitrag von Anette Südbeck in der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift „Kritische Berichte“ (3/2004) mit dem Titel „Tatort Wand – Zur Geste der Wandzeichnung“, er bezieht sich auf den Ausstellungsraum der Bremer „Gruppe Grün“, wo Hilka einmal eine ganze Wand mit Bleistiftstrichen füllte. Diese große „Geste“ wurde inzwischen ebenfalls übermalt.
Experimentelle Überschreitungen
Man kann die ganzen 68er-Abrechnungen bald nicht mehr lesen, vor allem nicht die selbstkritisch gemeinten der einstigen Rädelsführer, die, um mit ihren gefälligen Schuldbekenntnisse noch Aufmerksamkeit zu erregen, nicht einmal mehr davor zurückschrecken, die damalige „Antiautoritäre Bewegung“ als quasi-faschistisch zu charakterisieren. Ein Ex-Maoist sprach neulich rückblickend von einer wahren „Solidaritätshölle“. All diese 68er-Bücher erscheinen in bürgerlichen Verlagen und ihre Autoren gehörten zur sogenannten „Politfraktion“, die um Einfluß rang. Daneben gab es noch die eher in Ruhe gelassen werden wollenden Hippies – von den „Beatniks“ herkommend und dann von Drogen und Musik befeuert. Sie schufen sich einen eigenen „Underground“ – inklusive Verlage, Medien usw.. Diese sich bald über London und Amsterdam auch auf dem Kontinent ausbreitende Bewegung hat den Sartreschen „Existentialismus“ modernisiert – in der doppelten Bedeutung von weiterentwickelt und zur Mode gemacht.
Der Wiener Auschwitz-Häftling und Schriftsteller Jean Améry hörte 1946 einen Vortrag von Jean-Paul Sartre in Paris, bei dem einige Leute vor hysterischer Ergriffenheit in Ohnmacht fielen. Es waren erwachsene junge Leute, keine Teenager, „und noch ihre Hysterie hatte eine gewisse geistige Würde“. Deutete sich da bereits die Popkultur an? Einer der ersten Musikkritiker dieses immer wieder unter anderem „Label“ fortdauernden Nachkriegsjugend-Phänomens war Helmut Salzinger, dem jetzt eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Querfalk“ gewidmet ist. Er starb 1993 im niedersächsischen Odisheim und „Falk“ hieß seine dort von ihm am Kopierer vervielfältigte Zeitschrift, die vom ganzen Leben handelte.
Beides verkörperte einen Pol, zu dem sich die Hippiebewegung bis zur Wende entwickelte. Wobei sie von Anti-AKW-Protesten über schamanistische Praktiken bis zu „New Age“ und Punk alles integrierte und überhaupt eine große Experimentierfreude zeigte. Die Herausgeber des „Querfalk“ schreiben: „Falk war der Knotenpunkt jenes Netzwerkes, das Helmut Salzinger seit den Siebzigern zu weben versucht hatte, und – neben ein paar vereinzelten weiteren Projekten – der Kulminationspunkt der Headfarm-Idee.“ Headfarm – so hatte er nach seinem „Ausstieg“ aus den Kreisen der Hamburger Kulturschaffenden seine „Landkommune“ in Odisheim genannt.
Es gibt noch eine weitere „Headfarm“ – im Odenwald: die Alte Schmiede in Löhrbach von Werner Pieper, der dort seit Hippiegedenken die „Grüne Kraft“ (in Form von Büchern, Zeitschriften und Non-Books) herausgibt. Von ihm haben „Die Grünen“ ihren Namen. So hießen aber auch schon die bäuerlichen Partisanengruppen im russischen Bürgerkrieg, zu denen u.a. die anarchistische „Machno-Bewegung“ zählte. Pieper zahlt kein oder nur wenig Honorar, stattdessen lädt der gelernte Koch alle seine Autoren einmal monatlich zum Essen ein. Es ist daraus ein ähnliches „Netzwerk“ wie das von Helmut Salzinger in Odisheim entstanden, und ähnlich wie im „Querfalk“ klingen nun auch die Erinnerungen von 60 Althippies über ihre frühen Bewußtseinserweiterungs-Experimente und Kontakte zu Pieper – in seinem Buch: „Alles schien möglich“. Einer der Autoren, Eugen Pletsch, ist mit Beiträgen in beiden Bänden vertreten. Der ehemalige „Sänger vom Frankenschlag“, Handelsvertreter des Modemachers Gerriet Hellwig und Autor des Golfbuches „Der Fluch der weißen Kugel“ lernte einst Werner Pieper auf einem „Steppenwolf-Konzert“ in Frankfurt kennen. Zusammen besuchten sie dann Helmut Salzinger in Odisheim. Später wanderte der verplauderte Eugen Pletsch mit dem eher schweigsamen Helmut Salzinger durch die Rhön. Im „Querfalk“ schreibt er: „Einmal kamen wir auf einen hohen Berg. Darauf war ein Turm, und von dort aus, höher als die Falken fliegen, schauten wir über das weite Land. Selbst ich schwieg für einen Moment und Helmut lächelte dankbar.“
Es existiert eine ganze Sozialgeographie aus solchen in Europa verstreuten „Anlaufpunkten“ wie die „Headfarm“, die es nicht mehr gibt, dafür jedoch andere. Nach Helmut Salzinger Tod zog seine Freundin Mo 1999 von Odisheim nach Ostheim in die Rhön – und mit ihr das Archiv von Helmut Salzinger, das nun von dem dort lebenden Cut-Up-Texter und Verleger Peter Engstler verwaltet wird. Er veröffentlichte jetzt auch den „Querfalk“. Seit 1984 betreibt er in Ostheim einen Buchladen, in dem regelmäßig „Provinzlesungen“ stattfinden, außerdem lädt er seine Autoren alle zwei Jahre zu einer dreitägigen Lesung auf die Jungviehweide „Kalte Buche“ bei Ginolfs ein. Es ist daraus mit der Zeit ein eigenes „Netzwerk“ entstanden. Seit einigen Jahren gehören dazu auch einige Ostberliner, die dort auftreten: Sie kommen aus einem ostdeutschen „Netzwerk“, an dem der Anarchodichter Bert Papenfuß seit Jahren strickt, und geben u.a. die Zeitschrift „Gegner“ und „Floppy Myriapoda“ heraus. Aus vielen „Experimenten“ hüben wie drüben ist inzwischen „Kunst“ geworden. Darin endeten sie sozusagen. Dabei sollte es eigentlich, einem postsituationistischen Credo folgend, darum gehen, „neue Existenzweisen zu erfinden, die geeignet sind, der Macht zu widerstehen und sich ihrem Wissen zu entziehen“. Auch diese gibt es weiterhin.
Jean Améry faßte den „Existentialismus“ 1961 einmal wie folgt zusammen: “ 1. Der Mensch ist nur das, was er aus sich macht. 2. Der Mensch ist frei. 3. Der Mensch ist sozial engagiert.“ Er ist also nur das, was er tut. Im Grunde ist er überhaupt nichts, „sondern besteht nur im permanenten Prozeß der Selbst-Realisierung. Das ‚Sein‘ ist nicht dem Menschen eigen, sondern nur den Dingen, der Mensch besteht aus der Summe seiner getanen Handlungen und aus seinen künftigen Möglichkeiten, seinem ‚Projekt‘.“ Nahezu unter den Tisch gefallen ist inzwischen die dazugehörige Résistance-Erkenntnis, dass wir kein Projekt haben, sondern eins sind und es demnach darauf ankommt „über sich selbst hinauszugehen – das ist der wichtigste dialektische Vorgang der menschlichen Existenz.“ Für Sartre definiert sich vor allem der „Revolutionär“ durch das Überschreiten (dépassement) der Situation, in der er sich befindet. Seine Freiheit ist dabei jedoch nicht vage und unbeschränkt, „sondern stets auf eine gegebene Wirklichkeit bezogen“.
Der Rhön-Punsch
So nennen einige das dreitägige Postbeatnik-Dichtertreffen nahe Ostheim in der Rhön – auf der Jungviehweide „Kalte Buche“, das der dort in der Nähe lebende Verleger Peter Engstler alle zwei Jahre organisiert. Andere sprechen von einem „Rhön-Putsch“. Aber natürlich sind all die eingeladenen Gäste ebenso wie Mitwirkende viel zu höflich, aber auch zu alt inzwischen, um wirklich zu putschen. Gegen wen oder was auch – da oben auf der Alm? Zudem stehen sie dann doch alle dem Anarchismus immer noch zu nahe, so dass sie statt eines Putsches eher einen Volksaufstand wagen würden (rein theoretisch). Aber die Regierung und ihre Propaganda/Werbung verunglimpfen – das war auch diesmal wieder reichlich „Thema“. Besonders die Ostler – Bert Papenfuß und Kai Pohl z.B. – gingen wieder hart mit der „Marktwirtschaft“ (westlicher Couleur) ins Gericht. Aber auch der Heidelberger Jörg Burkhard („Als ich noch ein Ultrakurzwellenbub war“), schonte – wie gewohnt – das (Schweine-)“System“ nicht, während Hadayatulla Hübschs Beiträge diesmal eher ins Beziehungsdetail gingen – antikapitalistisch waren aber auch sie genaugenommen. Und selbst der Gastauftritt von Eugen Pletsch („Sänger vom Frankenschlag“), der jüngst mit seinem ganzheitlichen Golfbuch „Der Weg der weissen Kugel“ einen derartigen Erfolg hatte, dass man mit Fug und Recht an der darin angeblich enthaltenen Systemkritik zweifeln konnte, bewies nun mit seinem neuen zweiten Buch „Der Fluch der weissen Kugel“, dass auch auf den Golfrasen dieser Welt nicht alles paletti ist, d.h. auch dort drehen die Leute laufend durch, werden unglücklich, krank, ohnmächtig vor Wut, verwirrt und gaga gar, weil sie Geist und Körper im Moment ihres Schlages nicht richtig synchronisieren können – so dass „der Weg der weissen Kugel“ ins (soziale und unvorteilhafte) Abseits/Handicap führt, was natürlich wieder mal typisch „systembedingt“ ist.
Zur „Gastwirtschaft als das Leben selbst“ gehörte dann die Collage aus Texten des kürzlich verstorbenen Westberliner Galeristen und Satanisten Jes Petersen – vorgetragen von Cornelia Köster und Andreas Hansen – über den alten „Buchhändlerkeller“ am Bundesplatz. Über einige darin vorkommende, meistens schon tote „Gestalten“ führte danach Jürgen Theobaldy Näheres aus. Über allem und allen dort während des „Rhön-Punsches“ Anwesenden schwebte jedoch wie immer der Geist des 1993 in einer norddeutschen Moorsiedlung gestorbenen Musikkritikers Helmut Salzinger. Nicht zufällig verwaltet der Veranstalter Engstler sein Archiv und veröffentlicht auch immer wieder Bücher von verschiedenen Autoren, die Helmut Salzinger mehr oder weniger nahe standen. Die ebenfalls sehr nahe Rhön – dort auf der Jungviehweide – thematisierte dagegen niemand. Dabei tut sich dort gerade einiges: So wird die einst von griechischen Gastarbeitern gegründete orthodoxe Kirche unten im Tal in Bischofsheim gerade von Russlanddeutschen übernommen – und gehört bereits zu Moskau, weil erstere in der Rhön keine Arbeit mehr finden und abwandern und letztere keine mehr in Karaganda oder Sibirien – und deswegen zuwandern. Außerdem ist die Rhön inzwischen ein Biosphärenreservat. Es gibt eine diesbezügliche Verwaltung, die in einer typischen Biosphärenreservats-Managementresidenz untergebracht wurde, es gibt Angestellte, die u.a. die vom Aussterben bedrohte Rhön-Diestel von Unkraut befreien, es werden einheimische Produkte, darunter das „Rhönschaf“, vermarktungsmäßig betreut und Broschüren für den Rhöntouristen, der meist ein Wochenend-Wanderer ist, herausgegeben. Überall werden Schlösser und Fachwerkhäuser renoviert und neue Museen eingerichtet. Es gibt ein Goethemuseum, ein Tabakpfeifenmuseum, ein Museumsmoor, etliche Heimatmuseen usw.. Einige Alteinheimische befürchten bereits, demnächst ebenfalls musealisiert zu werden. An der „Kalten Buche“ entsteht auf diese schleichende Art vielleicht einmal ein deutsches Beatnik-Museum. Wir ritzen schon mal unsere Namen in die alten Bäume dort ein.
Am abgebauten Moor entlanggehen und sich Gedanken machen
Von Helmut Salzinger hatte ich in den Sechzigerjahren nur gelegentlich mal einen Text – in der Zeit und dann in der Sounds – gelesen. Aber dann gaben wir 1970 in Westberlin eine Zeitung namens „Hundert Blumen“ heraus, die sich u.a. auch mit der Rock-Szene in Berlin befaßte. In diesem Zusammenhang kam uns Helmut Salzingers Buch „Rock Power“ wie eine Generallinie vor. Ähnlich war es dann mit seinem Buch „Swinging Benjamin“, das der Verödung Benjamins durch universitäre Vereinnahmung und Zurichtung entgegenwirkte (wir entfernten uns damals immer mehr von der Uni). Als ich 1976 nach der portugiesischen Nelkenrevolution aufs Land zog, hörte ich irgendwann, dass Helmut Salzinger nicht weit von uns in Norddeutschland ebenfalls aufs Land gezogen sei – in die „Headfarm Odisheim“. Er hätte ein oder mehrere Häuser in Hamburg geerbt und lebe nun zusammen mit seiner Freundin Mo von den Mieteinahmen. Es gab bald mehrere Stadt-Land-Kreise, die sich gelegentlich berührten: Hilka Nordhausens Hamburger „Buch Laden Welt“, die Künstler, mit denen sie dort zu tun hatte, ihr Mitarbeiter Michael Kellner, der weiter Texte von Helmut Salzinger verlegte, die taz, Werner Pieper und seine „Grüne Kraft“ im Odenwald, das Frankfurter Bräunungsstudio „Malaria“…um nur einige zu nennen.
Einmal besuchte ich Mo und Helmut Salzinger in Odisheim. Wir saßen in der Küche und tranken Tee. Danach bekam ich fast regelmäßig sein selbstkopiertes Fanzine „Falk“ zugeschickt. Einige Male fungierte ich als Zwischenträger für einen taz-Artikel von ihm. Er kam auch einmal in die Redaktion, um den Kulturredakteur Mathias Broeckers näher kennen zu lernen. Irgendwann beschlossen wir, Salzinger und ich, ein und das selbe Buch zu rezensieren – von E.M. Cioran. Er negativ, ich positiv. Der in Paris lebende Philosoph des Pessimismus fragte mich anschließend über eine junge Freundin von ihm, ob ich nicht mit ihr zusammen seine Biographie schreiben wolle, über Salzingers wütenden Verriß kein Wort.
Dann fingen Broeckers und ich ausgehend von Thomas Pynchons Roman „Die Enden der Parabel“ an, uns mit der Glühbirne – als Metapher für Aufklärung, Fortschritt, Sozialismus etc. – zu beschäftigen. Das begann laut Broeckers 1982 im Nachtzug Berlin-Frankfurt, den wir dann in Fulda verließen. Nach einiger Zeit kam eine Anfrage von Helmut Salzinger, ob wir nicht Lust hätten, darüber eine Falk-Nummer zu machen. Schließlich kam es so, dass der damalige Heidelberger taz-Korrespondent Michael Braun die Falk-Ausgabe Nr. 33 zusammestellte – mit Glühbirnenmaterial, das wir ihm dafür schickten. Das Heft hieß dann „Neues aus dem Beleuchtungswesen“. Ich war unterdes im Vogelsberg gelandet, wo wir uns als „Agentur Standardtext“ vorwiegend mit einer „Kammlagenkritik“ (Micky Remann) befaßten, auch hierüber gab es einen Austausch mit Helmut Salzinger bzw. mit seiner Falk-Heftreihe. So gelangte da hinein über den Umweg der Agentur z.B. ein Zitat von Herbert Achternbusch: „Da wo früher Pasing und Weilheim waren, ist nun Welt. Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen!“
Umgekehrt verfaßte Mathias Broeckers eine enthusiastische Besprechung des Buches „Der Gärtner im Dschungel“ von Helmut Salzinger. Da ich mich zu der Zeit schon wieder aus der Landwirtschaft so gut wie ausgeklinkt hatte, obwohl ich noch im Vogelsberg lebte, hat mich dieses Buch erst sehr viel später interessiert – da lebten Helmut und Mo schon nicht mehr. Ihr gemeinsames Projekt auf dem Land hieß „Head Farm Odisheim“. Das ist „Überohrs Factory, sein letzter verzweifelter Griff nach der Weltmacht,“ wie Helmut Salzinger selbst einmal erklärte. Dazu durchstöberte er die Zeitung nach Spuren des alltäglichen urbanen Wahnsinns, verfolgte den Vogelflug vom Garten aus, rauchte Haschisch, las Thoreau, Castaneda, Pirsig, und dachte sich das handelnde Subjekt weg – in drei Büchern, die „Ohne Menschen“, „Gärtner im Dschungel“ und „Moor“ hießen. Diese ganzen Unternehmungen waren noch Teil einer ebenso kollektiven wie internationalen Anstrengung, die damals unter dem Namen „Landkommune-Bewegung“ firmierte und in den USA zum Beispiel Bücher mit Titeln wie „Was die Bäume sagen“ hervorbrachte. Helmut Salzinger blieb dabei – und versuchte, diese Bewegung praktisch und literarisch bis zu seinem Tod zu vertiefen. Aus dieser heute vor allem zeitlichen Tiefe kommen jetzt einige seiner damaligen Lesungen auf CD über uns (herausgegeben vom Verlag Peter Engstler). Es geht darin um „Die Allgegenwart des Holunders“, um Wolken, Wind, Mitte Februar, drei Raben, eine Lerche, Bruder Bussard, immer wieder Falken und eine neugierige Fledermaus. Die „Poesie des Landes“ äußert sich ihm in „grauen Regengüssen, Weiden, Birken, diesigen Wäldern, einer Herde Kühe“. Es ist eine Poesie oder „Kultur des Landes“, die ihre Kraft aus der Erde erhält: „Die neue Gesellschaft wird biologisch sein“, zitiert er dazu einen US-Ökologen – und keinen Blubo-Dichter, denn Helmut Salzinger versuchte sich gegen die Vernutzung der Landschaft und auf die Seite der letzten Biotope zu stellen und entdeckte dort sogar mitunter noch oder schon wieder einen Silberstreifen am Horizont. Heute, da die industrielle Landwirtschaft ebenso wie die Landflucht und die Konsumgesellschaft an ihre Grenzen stoßen und wieder Subsistenzwirtschaften in die Perspektive geraten, kann man seinen zwei ebenso avantgardistischen wie unverdrossenen Kleinverlegern (Kellner und Engstler) danken, dass sie diesem „Anfänger“ treu blieben. Ich zog dagegen irgendwann wieder nach Berlin. Aber dort arbeitete ich u.a. an einer Land-Kolumne, die ich „Agronauten“ nannte. In diesem Zusammenhang rief ich einmal Peter Engstler in der Rhön an und fragte ihn, da er doch das Gärnterbuch verlegt habe, ob er mir nicht ein Rezensionsexemplar schicken könne. „Klar,“ sagte er, „ich habe aber noch viel mehr Bücher von Helmut Salzinger verlegt,“ woraufhin ich etwas naßforsch erwiderte: Ja, ich weiß, aber mich würde erst mal nur dieses eine interessieren. Am Schluß meinte Peter: „Ach, ich schick dir alle Bücher von ihm, das ist doch besser, als wenn sie unter meinem Bett verschimmeln.“ Und so geschah es dann auch. Darüberhinaus geschah aber noch etwas: Peter Engstler bot mir wenig später an, in seinem Verlag ein Buch zu veröffentlichen (es hieß dann „Neurosibirsk“), außerdem lud er mich regelmäßig auf die Jungviehweide nahe seines Dorfes ein, wo er alle zwei Jahre Lesungen organisiert, zu der im wesentlichen Leute aus den o.e. Kreisen hinkommen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch gleich Peter Engstlers Buchladen und sein Helmut-Salzinger-Archiv kennen, das in dem Haus untergebracht ist, wo Mo zuletzt lebte. Statt des Gärtnerbuches nahm ich mir dann sein Moorbuch vor, das mir inzwischen fast das liebste von allen ist – und machte daraus einen Agronauten-Text, der eine Art Nachruf auf Helmut Salzinger sein sollte, insofern er das beinhaltete, was der Autor gerne tat (mit seinem Hund rumlaufen) und was er dabei dachte (Fortschrittskritik üben):
Helmut Salzinger geht im Frühherbst in der Nähe seines Dorfes Odisheim mit dem Hund spazieren, „auf einem Weg zum Raterbusch hinüber“. – ins „Lange Moor, das zu einem System von Hoch- und Niedermooren gehört, welches sich vom Ahlenmoor im Norden bis Ebersdorf im Süden erstreckt“.
Dabei kommt er an einem Schild vorbei: „Achtung! Floratorf Produkt. Aus dem vor Ihnen liegenden Hochmoor – werden die reinen Rohtorfe für die Herstellung der natürlichen Floratorf-Produkte gewonnen. Floratorf-Produkte helfen, alles besser wachsen und blühen zu lassen. Gärten werden schöner und Städte grüner. Helfen Sie mit, daß unsere Flächen und Gräben sauber bleiben und eine Zerstörung durch Feuer und Abfälle unterbleibt. Köhlener Torfwerk WK. Strenge GmbH“.
Helmut Salzinger bemerkt dazu: „Das Hochmoor als Betriebsgelände des Torfwerks. Und die Floratorf-Produkte, die mit der Vollkraft der Natur das Geschäft der Stadtbegrünung betreiben. Man stellt sich ein gutes Zeugnis aus und nutzt die Gelegenheit zur Werbung. Inzwischen wird das Hochmoor hier in Torf verwandelt und in den Städten auf Blumenbeete und -töpfe gekrümelt. Wenn man die Flächen, wo der Torf abgeräumt worden ist, sich selbst überläßt, ziehen sie das Wasser an und haben sich in wenigen Jahren neu begrünt. Das renaturierte Moor erstreckt sich bereits kilometerweit. Ob nun auch das Hochmoor anfangen wird zu wachsen, das wird sich erst noch zeigen. Vorerst erstreckt sich vom Firmenschild aus ein unabsehbares, weiß schäumendes Meer von nickendem Wollgras“.
Helmut Salzinger und sein Hund gehen einen verbotenen Grenzweg am Moorrand entlang, dabei entdecken sie: „Nach Nordosten erstrecken sich jetzt die Torfstiche mit ihrem ausgedehnten System von Gräben, Wällen, Wegen und zum Trocknen gestapelten Torfsoden, alles Braun in Braun. Inselartig haben sich bereits Gräser auf dem Torf angesiedelt. Es folgen Sauerampfer und Brombeere, Glockenheide…Dahinter ist der Abbau in vollem Gange. Vor meinem Auge walzt ein Gefährt, irgendetwas zwischen Raupe, Wanze oder Käfer mit Pflug, es schält im Vorbeifahren den Torf als ununterbrochenen Streifen vom Boden, der dann wohl in handliche Soden geteilt und geschichtet wird. Ob es das ist, was sie ‚ringeln‘ nennen? An einem halb verfallenenen aber noch benutzten Schuppen habe ich ein Papier angeheftet gefunden, mit dem die Firma bekannt gab: ‚Am 13.9. wird wieder geringelt‘.“
Helmut Salzinger kommt über diese Nachricht ins Grübeln: „Nun, heute ist erst der 9.9.. Für wen die Nachricht wohl ist? Der 13. ist doch erst nächste Woche, und es sieht nicht so aus, als würde bis dahin jemand hier vorbeikommen, um sie zu lesen. Doch wer weiß? Ich bin ja auch vorbeigekommen. Und damit konnte keiner rechnen“. Am Ende des Randweges stoßen Helmut Salzinger und sein Hund auf einen „knallrot aufgemotzten BWM, der dort abgestellt ist“. Ein paar hundert Meter weiter stehen Hütten und schweres Räumgerät.
Helmut Salzinger kommt dabei der Gedanke: „Für mich wäre die Vorstellung, dass das Moor abgetorft wird, leichter erträglich, wenn ich dabei Menschen sähe, die mit dem Torfspaten persönlich dem Moor zuleibe gehen…Aber was hier geschieht, ist mechanisierter, industrieller Abbau, professionelle Ausbeutung des Moors“.
Wieder zurück in seinem Haus wird Helmut Salzinger diese und andere Gedanken/Eindrücke als „Versuch, nichts zu erzählen“ niederschreiben. Die ersten Zugvögel haben die Gegend bereits verlassen, aus dem Norden kommend überfliegt eine Schar Wildgänse keilförmig das Moor. Auch die ersten Kraniche aus Schweden sind hier schon gesehen worden.“
Nachruf auf Uwe Nettelbeck
Auf der Autobahn Kassel-Frankfurt gibt es die Raststätte Pfefferhöhe. Dort absolvierte der Verleger Werner Pieper eine Kochlehre. Er erzählte, dass der einzige Gast, der die Küche betreten durfte, Uwe Nettelbeck gewesen sei – um dort für sich und seine Frau Porridge zuzubereiten. Ich fand das ziemlich elitär exzentrisch, so wie auch seine Zeitschrift – und wurde darin später vom März-Verleger Jörg Schröder bestätigt: Er hatte für „Die Republik“ Nr. 55-60 eine Erzählung über den Vogelsberg auf Band gesprochen: „Cosmic“, die Nettelbeck wochenlang redigierte, umstellte, überarbeitete – nur um sie am Schluß wieder so herzustellen, wie sie abgetippt worden war.
F.R.-Nachruf auf Walther E. Baumann:
Seine Augen waren immer hellwach, neugierig, strahlend. Die Hände voller Ringe, manchmal der kleine Fingernagel schwarz lackiert. Die Füße steckten in schwarzen Stiefeln. Schwarz mochte er ohnehin, obwohl er alles andere als ein Schwarzseher war. Und wenn er mal nicht ganz und gar in Schwarz erschien, liebte er es schrill: Seine Auftritte im Leopardenmuster-Hemd sind legendär.
Rauschte er in diesem Outfit morgens durch die Bürotür, konnte eigentlich nichts mehr schief gehen. Walter E. Baumann war ein Mensch, der alle um sich herum mitriss, voller Ideen und Lebenslust. Er war ein Wunder an Energie.
Vor allem aber war der Art-Director des vor acht Jahren neu gestalteten FR-Magazins ein Mann mit vielen Eigenschaften. Und es ist nicht ganz so leicht, all seine Facetten in “nur” 270 Zeilen zu beschreiben. “Ooookay”, hätte er uns jetzt herausfordernd zugerufen, “so viele Zeichen sind aber ein Haufen Text, wenn ihr mir noch mehr auf die Seite stellt, wird das ziemlich scheiße aussehen.”
Nein, das wollen wir natürlich nicht. Deswegen haben wir, seine Freunde und Kollegen aus der FR-Redaktion, unsere Erinnerungen an ihn in einer Text-Collage verdichtet – ein bisschen wie die Cut-up-Technik (ooookay, Cut-up für Arme) des von ihm so geschätzten Beat-Schriftstellers William Burroughs.
Wo anfangen? Am besten am Anfang. Walter wurde am 20. Januar 1950 in Bayreuth geboren, von 1977 bis 1982 studierte er an der Städelhochschule für Bildende Künste in Frankfurt, parallel dazu arbeitete er als Layouter, Grafiker und Kunstkritiker beim Szene-Magazin Pflasterstrand, später als leitender Grafiker bei der Frankfurter Ausgabe der taz.
1979 organisierte er an der Städelhochschule das legendäre “Shvantz-Festival” – mit Punk-Pionieren wie Der Plan, den Troggs und seiner eigenen Performance-Gruppe Minus Delta T. Der Rezensent der Musikzeitschrift Sounds war erschüttert: “Mit zerfetztem Gesang, mit dem Hammer, Bohrer und Kreissäge zwingen sie das Publikum zur Reaktion.
Einer von Minus Delta T setzt den Schlusspunkt: Mit bloßen Händen zertrümmert er mitten unter den wütenden Punks einen Tisch bis in die letzte Faser.” Ohne Walter, schwärmen Szenekenner noch heute, wäre der Punkrock, der 79 noch Avantgarde war, an Frankfurt vorbei gegangen.
Anfang der 80er ging er dann mit Minus Delta T auf eine Art Welttournee – sie fuhren einen 5,5 Tonnen schweren Stein auf einem LKW von Wales aus, am Himalaya-Gebirge vorbei bis nach Bangkok. Walter hat uns manchmal davon erzählt, beim Chill Out nach Redaktionsschluss mit einem Glas Gin (ohne Eis!) in der Hand.
1989 gründete er das Kulturmagazin “Rogue”, 1993 kam er als Redakteur im Grafischen Büro zur Frankfurter Rundschau. Aber er gestaltete nicht nur Seiten der Wochenendbeilage “Moderne Zeiten” oder der “Literatur-Rundschau”, er brachte sich auch auf die ihm eigene Weise als Autor ein. Als ein neuer Kollege der Feuilleton-Redaktion wissen wollte, wo in Frankfurt die Szene zu finden war, bat er Walter um ein paar Infos.
Der schrieb ihm gleich eine Seite voll: Das war so witzig, originell und kenntnisreich, dass der Text spontan auf der regionalen Kulturseite gedruckt wurde: “Walters Wochenende” war geboren und blieb lange eine beliebte Kolumne. “He was a cat that could play any instrument”, sagte Mick Jagger einmal über Brian Jones. So war Walter.
Capt. oder Captain Baumann, wie er sich oft in seiner Wochenend-Kolumne nannte, erschuf spontan seine ureigene Sprache. “Das, o my brothers and my sisters, war das heutige Wochenende.” So endete “Walters Wochenende” oft. Und wie er schrieb, so sprach er auch. Einmal kam eine Kollegin gesundheitlich angeschlagen in die Redaktion. Walter machte allerlei Scherze, weil er sie aufheitern wollte. Also sagte er: “Es gibt für alles Bubizin und Mädizin.” Am Ende hat die junge Frau gelacht.
Walter rauschte auch mit fast 50 durch das Leben wie ein Kind über einen Jahrmarkt. Immer neugierig, immer begeisterungsfähig, immer staunend. Auf einer Party wurde er mal gefragt, ob er sich all diesen Kunstkram, all diese Performances, Ausstellungen, all diese Event-Partys tatsächlich selbst anschaut, ob er das alles wirklich ernst nehmen würde? Da lachte er und sagte sinngemäß: Natürlich nehme er das alles nicht ernst, nur deshalb mache es ihm ja so viel Spaß.
Das neue Magazin der Frankfurter Rundschau, erstmals Ende April 2000 erschienen, wurde Walters ganz großer Wurf als Grafiker. Vorausgegangen waren monatelange Entwicklungsarbeit bis in die Nächte hinein. Dann war sie da: Die erste Ausgabe des von ihm neu gestalteten Supplements – mit Christus auf dem Cover: “Jesus!”, schrieb damals die Süddeutsche Zeitung, “welcher Blitz ist in die Frankfurter Rundschau gefahren?
Das ist hedonistisch, relevant und verblüffend.” Der Blitz hieß Walter E. Baumann. Das FR-Magazin war für ihn die größtmögliche Spielwiese. Anything goes. Als er den AC/DC-Gitarristen Angus Young auf dem Magazintitel vor eine Feuerwand montierte, war der Manager der Band so begeistert, dass er das Copyright erwerben wollte.
Walter hat das damals noch große Zeitungsformat für ein klares, plakatives Magazin-Layout genutzt, das durch Weißraum, klare Linien und Esprit bestach. Er liebte die kleinen Irritationen und setzte durch, dass die Überschriften konsequent klein geschrieben wurden. Für seine visionären und stilbildenden Magazin-Layouts ist er mehrfach mit dem “European Newspaper Award”, dem Oscar der Zeitungsbranche, ausgezeichnet worden.
Aber auch der Job im Magazin füllte einen wie ihn nicht völlig aus. Nach Produktionsschluss war er unter anderem als Kurator der Galerie Station im Mousonturm in Frankfurt aktiv. Und bei allen Kunstausstellungen, die Walter auf die Beine stellte, gab es immer einen Moment, der besonders verblüffte und anrührte. Das war seine Begrüßungsrede als Kurator an die Gäste – im Mousonturm oder anderswo.
Wochen- und monatelang hatte er für diesen Moment geschuftet. Hatte junge, spannende Künstler für sich entdeckt, ihn oder sie zum Kommen überredet, das Honorar ausgehandelt, einen Raum für die Schau besorgt, einen DJ mit kunstkompatiblem Musikgeschmack für die Vernissage gebucht, Einladungskarten gestaltet, viele Leute persönlich eingeladen. Und die Rede vorbereitet. Dann hob Walter zu reden an: leise, kurz, oft zaghaft, die eigene Schüchternheit vor dem Publikum mit selbstironisch-theatralischen Gesten überspielend. Ein großer Moment, der Künstler, Gäste und oft sogar den DJ zu einem sympathischen Lächeln brachte.
Wenn wir jetzt an ihn denken, hören wir ihn oft reden. “Okay”, sagte er oft, die Steigerungsform war dann “ziemlich okay”. Ablehnung konnte er uns ebenso charmant wie unmissverständlich mit dem Satz: “Das ist doch Scheiße!” vermitteln. Das trug er gerne auch mal eruptiv in Redaktionskonferenz vor, die nach solchen Ausbrüchen schon mal zum Abkühlen unterbrochen werden mussten.
Er war ein wilder Empfindsamer, ein Meister darin, aus solchen Clashs immer wieder neue Ideen zu entwickeln. Die meisten davon klebten, auf gelbe Post-It-Zettelchen notiert, an seinem türkisfarbenen Mac. In Stoßzeiten überlagerten sich dort schon mal an die 20 Zettel, die er in einem aberwitzigen Tempo abarbeitete und in kunstvolle Layouts übersetzte.
Wir haben uns mehr als einmal gefragt, woher er zu jeder Tages- und Nachtzeit die Energie für all seine Kreativitätsschübe nahm. Wie er das hinbekam, jeden Tag aufs Neue mit einer derartigen Begeisterung und Leidenschaft ans Werk zu gehen. Und bei alledem fand er noch in der schlimmsten aller Heftproduktionen Zeit, für jeden irgendein Geschenk zu besorgen.
Geschenke für alle, auch das war Walter – aus der Mitte seines großen Herzens schenken. Irgendetwas fiel ihm da immer ein. Er verschenkte kleine Sachen, Schokoküsse oder Kaugummi, den man in Pink oder Neon-Gelb meterweise aus einer Plastikhülle rollen konnte.
Vor fünf, sechs Jahren, in schweren Zeiten, als es um die Zukunft des Magazins nicht gut bestellt war, verschenkte er unter Kollegen Zigaretten-Päckchen der Marke “Hope” und wie so oft regelmäßig feste Umarmungen, bei denen einem die Luft wegblieb, nach deren Lockerung man sich aber fragte, ob man sich je in seinem Leben so gut aufgehoben gefühlt hatte wie in jenem Moment.
Vor fast genau fünf Jahren fasste sich Walter, vor seinem Mac sitzend, an die Brust. Wir brachten ihn zum Arzt. Ein Herzinfarkt. Seit er in der Tür zum Behandlungszimmer verschwand, war er auf tragische Weise dem richtigen Leben entrissen, lag fünf Jahre lang in einem Wachkoma. Vor wenigen Tagen ist unser Freund Walter E. Baumann gestorben. Wir werden ihn nicht vergessen.
Ein Porträt von Hilka Nordhausen – taz.v. 22.9.83:
Während eines Gewitters versuchte Hilka
mir die in ihrem Laden “Buch
Handlung Welt” gemachte 7jährige
Erfahrung so zu verklickern, daß daraus
was für die taz entstehen könnte. Mittler-
weile hatte sie allerdings diese ,,Geschich-
te” schon öfters erzählt — für ,,Brigitte”,
,,Stern”, ,,Medium”, Rowohlt”, ,,FAZ”
und ,,TIP” und jetzt eben ,,TAZ”. ,,Macht
nichts. Die kann man dann nehmen und
damit zur Kulturbehörde dackeln!” Man
kann also sagen, daß das Ding jetzt lang-
sam ,,eingeführt” ist. Und dies ist auch der
Grund, warum Hilka Nordhausen wieder
nach außen gegangen ist. Z. Zt. hält sie sich
gerade in Köln auf, will dort malen, sich ein
bißchen in der Scene in Köln und Düssel-
dorf umtun.
Taz: Wie war das eigentlich in den 7 Jahren
mit der BUCHHANDLUNG WELT?
Hilka: Es ging mir die ganze Zeit nicht gut.
So ein Einzelhandelsding ist mir sowieso
ein Greuel. Aber darum gings ja erst mal
gar nicht, es ging um einen öffentlichen
Raum für Spinner, risikobereite Dichter
und Künstler, die sich nicht in einer Mode-
richtung verheizen lassen wollten, sondern
was in der Birne hatten, was mit Marktge-
sichtspunkten nichts zu tun hatte. Aber
eben auch solche Witze müssen finanziert
weiden und die Einzelhandelsnummer ist
mir von Kind auf an geläufig gewesen und
ich habe mir zugetraut, das so zu verknüp-
fen, daß sich der ,,Platz” halten und ent-
wickeln läßt.
Dann aber jeden Morgen um 10 Uhr in der
Handlung stehen, immer am Programm
des Ladens rumdenken, und dabei immer
noch die Kohle im Kopf haben müssen…
Für mich ist es ein Hammer, daß das Ding
erst akzeptiert wird, wenn ich aus dem
letzten Loch pfeife, jetzt, wo ich grad noch
ne Runde durchgehalten habe. Mittlerwei-
le bin ich sehr skeptisch, so ein Projekt mit
Haut und Haaren durchzusetzen–ob das
ein guter Weg ist.
1970 bis 75 habe ich in Hamburg Kunst
studiert, mit großzügigen Unterbrechun-
gen — in den Kneipen, Schachspielen ge-
lernt (Duchamp/Halberstadt: ‘Opposi-
tion und Schwesterfelder sind versöhnt’–
ein Schachbuch) Derweil haben die
Macker Fußball gespielt — ‘Cosinus’ ge-
gen ‘Ganz’, ‘Ganz’ gegen ‘Külpi’ etc. Auf
solchen Feldern entstand dann die erste
Nummer der ‘Boa Vista’ 1973.
Zu dem Zeitpunkt wußte ich eigentlich
schon, daß ich keine Kunst machen wollte
— zu korrupt, so etwas halte ich nicht
durch auf die Dauer. Wir haben also die
erste ‘Boa Vista’ gemacht, 1000 Stück. Wie
verkauft man die? Dann der Laden, der
war dann Arbeitsraum der Zeitschriften-
gruppe, nebenbei liefen da alle vier Wo-
chen Multi-Media-Sessions. Jemand proji-
zierte seine Dias in einen offenen Kühl-
schrank der Marke ‘Bauknecht’, ein ande-
rer lief dabei auf Stelzen herum und dekla-
mierte irgendein Zeugs, während der Dia-
vorführer ein Telefongespräch zwischen
New York und Hamburg simulierte. Beim
nächsten Mal führte jemand seine Caset-
ten-Recorder-Stücke vor oder zeigte seine
neuesten noch ungeschnittenen Filme, Po-
la Reuth kam mit ihrem Film ,,Credit 00″
angereist, Kiev Stingl sang irgendwelche
Lieder über seinen Arbeitsamts-Vater, Det-
lev Heyer versuchte in einem Dia-Vortrag
zu beweisen, daß die Römische Kurie das
Attentat auf den polnischen Papst hatte
verüben lassen.
Ein anderes Mal sprach eine Negerin in
kreolisch-kölschen Dialekt über die prote-
stantischen Initiationsrituale im Rhein-
land. Ein Tübinger Germanistik-Student
kochte japanische Gerichte–beim Servie-
ren erläuterte er, daß die japanische Speise
kein Zentrum kennt, alles ist hier Verzie-
rung einer weiteren Verzierung; speisen
heißt nicht ein Menü, eine Speisefolge ein-
zuhalten.sondern mit einer leichten Berüh-
rung der Stäbchen bald hier bald dort eine
Farbe aufnehmen, ganz so, als folgte man
einer Eingebung, die in ihrer Langsamkeit
wie eine abgehobene, indirekte Begleitung
zur Konversation erscheint. Dann wieder
veranstalteten einige Jungs einen Abend
lang einen Höllenlärm, indem sie mit
Schlagstocken und Griffeln auf zwei Dut-
zend metallenen Industrieabfällen der ver-
schiedensten Art herumhämmerten. Wie-
derholt konnten wir den Wirt der ‘Mark-
thalle’ überreden, seine Fähigkeit, besser
‘Begabung’,, im Laden unter Beweis zu
stellen–nur mit einer Badehose aus Tiger-
fellimitat bekleidet. Wyborni plädiert da-
für, seine Begabung ‘Autochromatismus’
zu nennen. Er kann nämlich, d.h. wenn er
besoffen ist, durch reine Willenskraft eine
seiner Aminosäuren — das Tyrosin –
chemisch umwandeln in seinem Körper.
Dabei entsteht Melanin, das braunschwar-
ze Pigment, das für die Hautfarbe beim
Menschen verantwortlich ist. Er kann die-
se Metabolisierung aber auch unter-
drücken, indem er, so hat es den Anschein,
den, Pheny-lalinspiegel in seinem Blut ver-
ändert. Auf diese Weise verändert er seine’
Häuffarbe vom geisterhaften Albinoweiß
(Andy Warhol) über eine stufenlose Palet-
te von Zwischentönen bis hin zu einem
äußerst intensiven, purpurnen Schwarz (ä
la James Baldwin). Wenn er sich konzent-
riert, vermag er jede dieser Farben bis zur
vollständigen Ausnüchterung (meistens
am nächsten Morgen) aufrechtzuerhalten.
Für gewöhnlich aber laßt er sich ziemlich
schnell ablenken oder vergißt es einfach
und fällt dann stufenweise wieder in den
Normalzustand eines blassen sommer-
sprossigen älteren Seemanns aus Husum
mit schütteren roten Haaren zurück. Im
Anschluß an seine zweite ,,Vorführung?
debattierten Hans Eppendorfer und der
auf Dermatologie spezialisierte Gunter
Schmidt über das ,,Phänomen”. Gunter
Schmidt nimmt an, daß eine bislang unent-
deckte Verbindung besteht, eine Art über-
lebendes Zellgedächtnis, das noch als Ko-
lonie fühlt und auf die Botschaften des
Mutterlandes, des Gehirns, reagiert. Bot-
schaften, die dem Wirt der ,,Markthalle”
nicht einmal bewußt zu sein brauchen.
Aber das führt hier vielleicht alles zu weit,
oder?
Auf jeden Fall, wichtig bei diesen ganzen
Performances ist, daß die einzelnen Veran-
staltungen nicht für sich Realisierung eines
Programms bedeuteten, sondern wie Ab-
schnitte oder Akte eines einzigen endlosen
Stückes funktionierten und nur so funldo-
nieren sollten.
Thorwald Roussel und Raymond Proll
führten im Duett irgendwelche Text-Col-
lagen vor, ähnlich gaben Allen Ginsberg,
Helmut Salzinger oder Dennis Timm sich
gegenseitig das Stehpult mit dem Glas Mi-
neralwasser frei. Einmal veranstaltete Ed
Sanders eine Lyrik-Session. Obwohl hier-
bei mehr und mehr die ‘neue Eleganz’ bzw.
‘Kaputtheit’ gefragt .ist, haben doch die
echten Beatpoeten nach wie vor den mei-
sten Applaus –jemand, dem die Armut
ins Gesicht geschrieben steht, sein Zenfa-
natismus und die verheerenden Auswir-
kungen von jahrelangen Tramptouren,
von einem Sufi-Camp in Dalmatien zum
Theaterfestival bei Rimini, vom Guru-
Wettbewerb in Neu-Dehli zur Van-Gogh-
Retrospektive in Arles, von den Salzburger
Mozartfestspielen oder den Linzer Flug-
objekttagen zum Meditationsmarathon in
die Schweizer Alpen, von den Frankfurter
Experimentalfilm-Tagen (wo Warhols
Empire-State-Building-Film in voller Län-
ge gezeigt wurde) zum Feuerwerk in Barce-
lona oder zum Foucault in Paris. Und das
alles im Oberlin-Sweatshirt, mit Schmet-
terlings-Sonnenbrille, schwarzem Seiden-
schal, der im Nacken zusammengeknotet
wird und weißen Roots-Schuhen, und
über die Schulter locker die Weltkrieg-
Zwo-Meldertasche gehängt, die vollge-
stopft ist mit leeren Tagebüchern, Penxac-
ta-Stiften, Aquarellfarben, Tipp-Ex-Flüs-
sig, schmutziger Unterwäsche und Land-
karten. Nach einem bärtigen Keruoac-Pla-
giator unter Amphetamin-Schock kamen
mehrere, die unheimlich geil drauf waren,
ihre eigene Version von der babylonischen
Schöpfungsgeschichte in elegische Zwei-
zeiler zu übertragen. Ein anderer, eigent-
lich Mathematik-Lehrer in Harburg, trug
seinen ,,Gesang über das letzte Hochwas-
ser der Elbe” vor, den er auf eigene Kosten
in Reinbek hatte drucken lassen.und der in
gedrechselten Alexandrinern seine Vision
von der Sintflut mit einer Lobeshymne auf
Thea Bock verschmolz. Seine Dichtung
hatte kosmische Dimensionen, und seine
Verse waren technisch erstaunlich. Er
brachte das Kunststück fertig, das Sterben
einer Region unter Verwendung von Idio-
men und’geographischem Latein in ge-
reimte Distichen zu pressen.
In der nächsten Lesung trug eine Frau eine
Serie von Haikus vor, die von ihren Erleb- ·
nissen mit Mayonaise und dem 1973er
Telefonbuch von Düsseldorf handelten.
Nach ihr kam eine weitere Frau nach vorn.
Sie begann: ,,Das Material, das ich heute
abend vortragen möchte, ist ein Abschnitt
aus meinem Lebenswerk–’Die Reise der
Mondgöttin nach Cuxhaven’. Es ist ziem-
lich lang, deshalb beschränke ich mich auf
den Höhepunkt, also die letzton 600 Zei-
len. Sie enthalten zahlreiche, in gälischer
Sprache abgefaßte Sentenzen, die die 78
Gebote der Mondgöttin an die Frauen von
Cuxhaven repräsentieren. Diese 78 Gebo-
te werde ich dann am Ende des Vortrags
übersetzen.”
Schon ihre Einleitung bewirkte, daß etwa
zehn männliche Zuhörer die BUCH-
HANDLUNG WELT verließen. Als auch
noch einige Frauen sich zum Gehen an-
schickten, eilte Michael Kellner durch den
Hintereingang nach draußen und schloß
schnell die Ladentür von außen ab. Vieles
von dem Zeugs, was so vorgetragen wurde,
befand sich auf der Schwelle, im Bruch
zwischen alter Postbeatnik-Schwärmerei
und neuem Zynismus, fröhlichem Leiden
oder Runtermachen. Daneben gab es dann
natürlich mehr und mehr Vortragende, die
sich avantgardistisch, postavantgardi-
stisch gar,- auszudrücken versuchten – so
Zeugs, in dem periodisch immer wieder
Rasierklingen, Kokain, Neonreklame,
rimbaudsche Massaker, BMWs und Ka-
mener Kreuze auftauchten. Ich selber habe
einmal was über Perry Phodan vorzutra-
gen versucht. Dazu muß ich erwähnen,
daß es neben der BUCH HANDLUNG
WELT einen Second Hand Shop gibt, in
dem man Groschenhefte tauschen kann,
20 Pfennig das Stück oder drei alte gegen
ein neues. Ich begann Perry Rhodan zu
sammeln – von Nr. 1 bis 780. Das da ca. 10
Autoren in gleicher Sprache über das glei-
che Personennetz schreiben und jede Wo-
che ne neue Fortsetzung vorlag, faszinierte
mich irgendwann mehr als der ewige
Tratsch über verlagsinterne Geschichten,
Autorenhickhack oder das Gekakel über
wichtige Neuerscheinungen.
Das Hechten nach Trends und der
Wunsch, immer in der ‘aktuellen Diskus-
sion’ am Ball zu bleiben, es ist unglaublich
ermüdend, dem täglich etwas entgegenzu-
setzen, und irgendwann, nach tausendfa-
chen gutwilligen Erläuterungen des Buch-
programms, hieß es oft nur noch: ,,Sorry,,
hab’ ich nicht gelesen, ich lese gerade Perry
Rhodan”. Also dieser Vortrag – konkret
ging es darum, daß und wie auf einem
anderen Planeten die Bewohner statt Sau-
erstoff Methan bzw. Butan einatmen.
Wie das funktioniert und wie sich das auf
die Entwicklung ihrer Denksystemeausge-
wirkt hat, langfristig. Nach einer kurzen
Einleitung, in der es um den genauen Stand-
ort dieses Planeten ging, in welchem Son-
nensystem und so, kam ich zur Sache –
Methan, Butan und was für Alveolarepi-
thel und Kapilarendothel in der Lunge das
voraussetzt. Weiter kam ich aber nicht,
denn unter den Zuhörern befand sich auch
der Besitzer des Second Hand Shops von
nebenan, stinkbesoffen und der war 11
Jahre-bis 1955-in russischer Kriegsgefan-
genschaft gewesen, in einem Bergwerk in
Sibirien, der verstand nurdas Wort,,Gas”,
und zwar russisches Erdgas aus Sibirien
irgendwie, das hierher in die Bundesrepu-
blik geliefert werden sollte, und polterte
gleich los, ließ sich überhaupt nicht mehr
unterbrechen – Röhrenembargo, Bol-
schwikenschweine, nur über seine Leiche
würde man hier mit russischem Erdgas
kochen können, usw.
Naja. Das waren die Lesungen. Die finden
jetzt auch noch im LADEN statt, monat-
lich.
Daneben täglich der reguläre Buchladen,
d. h. so regulär war der natürlich nicht, ist
er immer noch nicht – mit den Schwerpunk-
ten ,,Surrealismus”, ,,Expressionismus”,
neuere US-Lyrik, die ganzen Minipressen,
fast alle Literatur-Zeitschriften, die sich
natürlich zum großen Teil überhaupt nicht
,,bewegen”, das ist wie ein Museum schon
bald, dann immer wieder die neuen Kon-
junkturen, die da so durchgezogen sind:
,,Frauen”, ,,Öko”, ,,Windenergie”, ,,Astro-
logie”, ,,Frieden”, ,,Anarchie”, der MER-
VE-Verlag meint, ihre Bücher verkaufen
sich in der BUCH HANDLUNG WELT
noch am Besten.
Dann waren wir Herausgeber verschiede-
ner Kataloge.
Und seit neuestem gibt es ein erweitertes
Taschenbuchprogramm, die Regale sind
vollgknallt mit Camus, Sartre, Dostojews-
ki – es ist unglaublich, wie da auf einmal der
Rubel rollt, mit dem ganzen abgesicherten
Scheiß. Vor einigen Jahren hatten wir,
ohne zu wissen was das war, mal ,,Momo”
von Michael Ende bestellt, und plötzlich
ging das los wie der Teufel, da kamen
plötzlich diese komischen Momo-Leser zu
Haufen angewackelt und wollten das Buch
kaufen, da haben wir es schnell wieder
remittiert. Es hat lange gedauert, bis wir
uns mit diesem Kunst-Konzept durchsetz-
ten, das sollte es nämlich sein, BUCH
HANDLUNG WELT, ein Zentrum der
Peripherie, die man auf französisch sehr
schön ,,terrain vague” nennt. Das sollte nie
meine Erfindung sein, das sollte ein Arbeit-
sprinzip werden, das funktioniert wie eine
Beatgruppe meinetwegen, in der jeder sei-
ne Arbeit macht. Aber zwei Kollektive hat
diese Idee überlebt, verheizt dabei.
Ich bin daran krank geworden, letztes Jahr
besonders.
Davon muß ich mich jetzt erst mal erholen.
Ich will endlich, daß es mir gut geht Sybille
Brüggemann und Ulrich Dörrie schmei-
ßen die HANDLUNG, ich habe mich in
den Außendienst versetzen lassen – unter
dem Deckmantel einer Kunstmalerin un-
terwegs. Und wieder lesen. Einfach für
mich, und nicht im Hinblick auf ein Sorti-
ment.
Bis Anfang 1981 hat Michael Keller noch
mitgearbeitet, der hatte mehr Geduld in
den ganzen Literatur-Konjunkturen als
ich. Oder jedenfalls hat er sich nicht die
Lust an Büchern verderben lassen, son-
dern Abstand vom ,,Einzelhandel” genom-
men und seinen Verlag energisch forciert.
Dann war da noch Eckhard Rhode, 81er-
Kollektiv. Er hat schnell gemerkt, daß ein
Projekt durchziehen nicht seine Sache sein
kann und ist seit diesen Bemühungen
Dichter und Denker. Ein anderer wurde
später Richter. Ein weiterer Henker. Das
stimmt! Aber sowas kennt man ja aus
jedem Kollektiv.
Für mich war die Neuentdeckung der Ma-
lerei eine zweischneidige Sache. Es ist un-
möglich, hauptverantwortlich ein Projekt
durchzuziehen und sich gleichzeitig mit
den schönen Künsten aktiv auseinander-
zusetzen, die Malerei ist für mich eher die
Krücke geworden, mit der Hilfe ich das
Konzept BUCH HANDLUNG WELT
weiterhin machen konnte, und insofern
abgelöst als mein privates Ding.
Das gefällt mir daran nicht. Bis jetzt habe
ich dafür keine Lösung gefunden und gehe
nun mal etwas anders an diese Geschichte
ran. Versuchsweise. Ich meine, die BUCH
HANDLUNG WELT hat ja als Konzept
seinen Anspruch erfüllt, hat als Platz funk-
tioniert. Die wirtschftliche Seite der Ange-
legenheit war und ist ein Fiasko/persönli-
cher Raubbau gewesen, und da ist bisher
kein Rauskommen und da wären die Gren-
zen jetzt erreicht.
Nun könnte man noch ein Postscheck-
Konto angeben – ,,Weltbekannt e. V.”,
Hamburg, 82782-202. Kennwort ‘Lein-
wand für Hilka’ und/oder ‘Förderverein’.
,,Sowas steht in der taz unter jedem Artikel.
Und dabei hat keiner, der das liest, Geld.
Außerdem, um wirklich an Kohle ranzukom
men, muß man immer so tun als schwimme
man schon im Geld”.
,,Aber das ist doch auch weltbekannt”.
Ausstellungsbesprechung taz v. 28.11.87:
Sie zählt zu den besten Perry-Rho-
dan-Kennern Norddeutschlands.
Sie malt meistens mit Buntstiften,
träumt aber in Öl. Hilka Nordhau-
sen, Begründerin der Buch Hand-
lung Welt und der Künstlerförde-
rung Weltbekannte. V., Hamburg,
lebt eigenen Aussagen zufolge nie
länger als drei Monate, höchstens
ein Jahr am selben Ort. Bei jedem
Umzug kommt der Ballast ins De-
pot — aufden Dachboden der Mut-
ter in Harburg. Hilka Nordhausen
stellt keine obszönen Bilder aus:
»Das kann ich meiner Mutter nicht
zumuten, die lebt noch.« Nur für
vier Tage bezieht sie jetzt drei
Zimmer in der weit über die Gren-
zen Wilmersdorfs hinaus bekann-
ten und von einschlägigen Ken-
nern geschätzten Kunstpension
»Nürnberger Eck«. In drei trau-
matischen Variationen wird das
existentielle Hinundhergewor-
fensein thematisiert: »Gehn wir zu
dir oder gehn wir zu mir?« (DAF)
Konkret — wird der Frühstücks-
raum flächendeckend, farbfroh
»vollgeballert: Mexiko, Tanger,
damit man nicht mehr weiß, wo
man ist«.
»Finnland, Friesland Ade«, wie
sie 1984 ein Fragment ihres Fort-
setzungsromans vertitelte. »Ich
wollte mich nicht vertüddeln«,
sagt sie heute. Ganz andere Töne
hingegen schlägt sie in folgender
Stelle–von 1983–an: »Wir sit-
zen auf einer Bank und kucken uns
die Bescherung an. Überall tote
rote zerquetschte Igel. »Das war
der aus Hamburg?« »Ja, denk ich
auch.«
In Hamburg müssen auch die
Ursprünge ihrer latenten Buddel-
schiff-Liebe liegen. Kontrastie-
rend zum self-fullfilling Femweh
des Frühstückssalons ist das Ein-
bett- und ein Doppelzimmer her-
gerichtet worden: vierfarbige, auf
Zetteln zergrübelte Zeichen eines
»düsteren Dichters« in Zimmer 4
und zierliche Zitate eines rhizo-
matischen Renaissanceforschers
– mit einer gewissen Neigung
zum periodischen Blau in Num-
mer 6. Wie heißt es so schön beim
frühen Perry Rhodan (Heft 47):
»Die Beschleunigungsformel des
Systems genialer Deliranz (gD)
verhält sich zur Echtzeit der Rei-
segeschwindigkeit quasi kon-
traproduktiv.«
Ein kurzer Mail-Wechsel:
Lieber Micky,
ich lebe noch, du hoffentlich auch, manchmal höre ich ja auch schon
wieder neuigkeiten über dich – von matthias broeckers, der seit einiger
zeit nebenan in einem taz-redaktions-glaskasten sitzt.’Und mit Indulis
habe ich letztens auch einige Male telefoniert.
Kürzlich traf ich Pola Reuth in der Rhön, wo sie ihren Film Brentanobad
noch einmal zeigte, ich hatte ihn bereits ende letzten jahres auf DVD
bekommen.
Nun wollen wir beide dich fragen, ob Du nicht Interesse hättest, einen
oder mehrere Bäderfilm-Abende in einem der dir zur Verfügung stehenden
Bäder zu veranstalten…
gruß
Lieber Helmut,
ob im oder außerhalb von Glaskästen, Aquarien, Frei- oder Unfreibädern – am Leben zu sein ist eine wichtige Voraussetzung für alles Weitere. Dafür erst einmal Gratulation! Hinzu kommt, dass ich in anderer Angelegenheit – Sommerloch – ebenfalls an dich und dein Wirken in alter Zeit denken musste. Unser Web-, Kultur- und Weimarsender Salve.tv hat einen Sommerloch-Award für kleine Filme ausgeschrieben, bei dem am kommenden Samstag in einer festlichen Gala mit Dagmar Berghoff die Preise vergeben werden.
Hätten Pola Reuth und andere Filmkünstler rechtzeitig davon erfahren, wäre ihnen möglicherweise ein Platz auf dem Siegertreppchen nicht verwehrt worden, so aber können wir auf nächstes Jahr und die Gelegenheiten des ziemlich sicher folgenden Sommerloch-Awards 2010 hoffen.
Über deinen Blog erst bin ich auf die schier überschwappende Vielzahl von Wasser- und Bäderfilmen aufmerksam geworden, deren Existenz mir trotz meines Amtes als Kulturbademeister nicht wirklich bekannt war.
Echte Spielorte für echte Filme, bei denen es auf Ton und Bild und gutes Sitzen ankommt, gibt es in unseren Klang- und Lichtspielbädern eher nicht. Wenn wir trotzdem einmal Filmvorführungen angeboten haben, zählten wir nicht mehr Kinobesucher als Pola Reuth Badende im Brentanobad gezählt hat.
Es wäre aber relativ einfach, den Brentanofilm auf Salve.tv zu zeigen und auf dem Portal zugänglich zu machen, falls das gewünscht und für Karriere und Renommee als förderlich eingeschätzt wird. Das lässt sich jedenfalls schneller und unkomplizierter machen als ein Badefilmabend im Kurort.
Vielleicht interessiert dich noch das „Lektarium“ als neuartige Sauna-Kategorie. Ulrich Holbein war dort Vortragender beim ersten literarischen Aufguss.
In Vogelsberger Nachbarschaft, in Bad Orb, ist morgen Richtfest für die nächste Toskana Therme, zugleich die erste im Westen. Vermutlich treffe ich dort Heide Platen, die dort familiäre Wurzeln hat.
So drehen sich die Kreise im Kreis.
Gruß,
Micky
Der Golffan Eugen Pletsch
Auch Sänger vom Frankenschlag genannt und hauptberuflich Handelsvertreter für diverse New-Age-Produkte. Er ist gleichzeitig ein begnadeter Redner und Gesprächsführer. Von daher hat er eine sozusagen natürliche Neigung zum Golfen, insofern man dabei – wie bei keiner anderen Freizeitbeschäftigung – Geschäftsanbahnung, Gespräch, Spaziergang und “sportlichen Wettkampf” miteinander verbinden kann. Im Internet heißt es über ihn:
“Der Golf Gonzo Autor (’Der Weg der weißen Kugel’) hat in den letzten Jahren unter der Domain www.cybergolf.de eines der größten, deutschsprachigen Golfsport-Portale realisiert. In der Golf-Szene ist er durch seine ungeschminkten Kommentare zur Welt des Golf bekannt.”
Einem seiner golf-blogs entnahm ich folgende Eintragung: “Ich habe gestern beim AXA-Cup, einer Benefit-Veranstaltung anlässlich der “Tour der Hoffnung”, definitiv kein gutes Golf gespielt, aber “Walking Tree” summend ist es mir immerhin gelungen, sechs Stunden in der brennenden Sonne auszuharren, ohne ausfällig zu werden. Ich spielte mit einer sehr netten Dame und zwei Herren aus unserem Club, die Herren beide Italiener. Meine Befürchtung, dass das im Desaster enden könnte, wurde gleich am 1. Abschlag zerstreut. Enzo sagte: “Wir spielen italienisch, OK? Sechs spielen, fünf sagen und vier schreiben – alles klar?!” Diese Art Humor ist meine Wellenlänge — ich war erleichtert. Die Dame und Enzo gewannen beide schöne Preise in ihrer Nettogruppe, (wobei dann doch deutsch gezählt wurde). Ich summte mein Baum-Lied, blieb nett und ruhig und war stolz darauf, dass ich niemanden wegen langsamen Spiels beschimpfte.
Na gut: Am Halfway-House entfuhr mir die Bemerkung (der vorhergehende Flight kaute noch am Würstchen), dass man einen solchen Platz in England in drei Stunden spielen würde, im Turnier meinetwegen in viereinhalb Stunden. Sofort wurde ich von einem weltgereisten Bronzegesicht belehrt, dass man in Portugal und Spanien heutzutage grundsätzlich mit sechs Stunden Spielzeit rechnen müsste, in der Türkei mittlerweile mit sieben Stunden. Ich weiß nicht, ob das am hiesigen Exportschlager, dem DGV-zertifizierten deutschen Krampfgolfer liegt, oder daran, dass man alle sieben Minuten Menschen auf die Runde schickt, die in den letzten vierzig Jahre auf dem Tennisplatz eine geile Zeit hatten und dieses hin-und-herspielen einfach nicht missen möchten. Wie dem auch sei: Meine NO GO — Zonen sind für die Saison geklärt.
Deshalb werde ich ein paar Tage im Sporthotel Ellmau in Österreich zu Gast sein und fahre dann weiter nach Italien, um im herrlichen Golfclub Toskana “Il Pelagone” ein paar (hoffentlich) schöne Geschichten zu schreiben — weshalb ich mich hiermit bis Anfang Juli verabschieden möchte. Ich werde offline sein, keine Mails beantworten, aber brummen und summen, den Baumtanz tanzen, vielleicht einen Ball durchs Abendlicht treiben und ein paar Bilder malen.”
Ich kenne Eugen Pletsch schon Jahrzehnte, dennoch ist es mir ein Rätsel, womit er jetzt eigentlich sein Geld verdient, um sich derart vergnügen zu können: “einen Ball durchs Abendlicht treiben und ein paar Bilder malen”. Aber ich gönne es ihm natürlich. Auch wenn mir an sich die Greenkeeper geistig näher stehen als die Golfballtreiber.
Über sein Buch “Der Weg der weißen Kugel schreibt der Managementtrainer und gelegentliche Buchhändler Frank Pyko: “Ich möchte Ihnen, liebe Leser, gerne erzählen, warum ich den ‘Weg der weißen Kugel’ – sozusagen als Zweitbuch — vertreibe: Eugen Pletsch, ein virtuoser Geschichtenerzähler, hat den Golfsport in einer ungewöhnlichen, ganz eigenen Betrachtungsweise darstellt. Sein Buch ‘Der Weg der weißen Kugel’, lebendig und rasant geschrieben, passt in kein herkömmliches Genre, denn es ist:
– Satire – also wirklich lustig, wobei es dem Leser durchaus neue Sichtweisen (nicht nur zum Golf) eröffnet,
– Ratgeber – insofern, als sich der Autor als unabhängiger Berater zeigt,
– Hintergrundinformation – über die Entwicklung im Golfsport der letzten Jahre und aktuelle Ereignisse,
– Roman – die lebendigen Figuren, die in den Geschichten auftauchen, lassen uns so manche Spielertypen besser verstehen,
– Kompendium – denn das Glossar mit seinen humorvollen Interpretationen, sowie hilfreiche Erläuterungen im Text geben dem Golfeinsteiger eine Vielzahl von brauchbaren Informationen an die Hand,
– Fantasy – verrückte, abstruse Geschichten, wie die des Alter Ego “Hol Lin Wan”, oder “Golf auf anderen Planeten” führen in tiefere Mysterien des Spiel.
Dieses Buch schafft es auf rund 250 Seiten, Ihnen einen so vielschichtigen und unterhaltsamen Einblick in das Golfspiel zu liefern, wie sonst mehrere Bücher zusammen. Das alles macht das Buch zu einem wirklichen Kauftipp.”
Ein Rezensent des Bayrischen Rundfunks, Carl-Ludwig Reichert, schrieb über “Der Weg der weißen Kugel”: “Spielt Gott Golf? Ist die Welt ein Golfball? Wir wissen es (noch) nicht sicher, aber dieses Buch steuert viele neue Verdachtsmomente bei!”
Korrektur-Mail von Eugen Pletsch:
Ich bin weder hauptberuflich Handelsvertreter für diverse New-Age-Produkte, noch spiele ich Golf zur Geschäftsanbahnung.
MfG
Eugen Pletsch
Die unkäufliche Zeitschrift „Babel“:
Grad lud der Künstler Johannes Beck, der die Fotoillustrierte „babel“ verantwortet, zu einem Gespräch – aber nicht, wie zuvor der „gegner“, über den Sinn dieses Projekts, sondern über seinen Vertrieb. Soeben erschien die sechste Ausgabe – diese, sowie zwei vorangegangene, waren über das Kulturprojekt „transmediale“ finanziert worden. Davor hatte man versucht, den „babel“-Vertrieb mit einigen Obdachlosenzeitungs-Verkäufern anzukurbeln, was angeblich an ihrer zu speziellen, d.h. engen „Kommunikation“ gescheitert war. Zwar wissen die „babel“-Mitarbeiter nicht, wie es weiter geht, aber eigentlich ist ihnen klar, dass ein herkömmlicher Vertrieb, bis hin zu regelgerechten Abos, keine Lösung des Problems wäre. Schon allein, weil es darauf hinausliefe, sich in den üblichen Printmedienmarkt zu integrieren: Bürostunden, Abokartei, akkurater Rechnungsführung, etc., zuletzt Anzeigenvertreter mit Gebietsschutz und Callcenter. Aber gibt es eine Alternative? Es ging an jenem Abend nicht darum, dass die Herausgeber davon leben können wollen, sondern dass das Periodikum weiter erscheint und unter die Leute kommt. Um die Herstellungskosten zu senken, böte sich die Form einer „Beilage“, z.B. in der Jungen Welt an, so wie es attac oder die antifa machen. Zwar bliebe „babel“ dabei unabhängig, aber nicht ganz unzensiert – und da die Hälfte jedes Heftes schockierend bzw. obszön ist, würde das nicht konfliktfrei abgehen.
In der neuesten Ausgabe gibt es z.B. eine elfseitige Fotostrecke über Product Placement in Pornos – u.a. mit den edlen Labeln von Alkoholflaschen, die in Ärschen oder Mösen stecken. Eine weitere Fotostrecke befaßt sich mit dem Outfit von Obdachlosen: „wellfare fashion“. Auch in den zukünftigen Ausgaben wird „babel“ sich dergestalt und primär visuell mit der Dekonstruktion von Public Images befassen – statt sie, wie die meisten anderen neuen Zeitschriften, in kritischer, ironischer oder affirmativer Hinsicht weiter zu mästen. „Babel“ ist ziemlich außergewöhnlich. Eine andere Möglichkeit wäre das Abschreibungsmodell – bis hin zu Sponsoren. Eine weitere, „babel“ zu einem Hausblatt für mehrere Clubs bzw. Betreiber zu machen. Möglich wäre auch – wie gerade gehabt – immer wieder ein Andocken an temporäre Kunstprojekte oder multimediale Events, die sowieso immer mehr werden – und angesichts des konsumistischen Overkills zunehmend schockierender ausfallen (müssen): So beschäftigten sich z.B. die „Kunstwerke“ gerade mythomanisch mit der hitlerhypehaftigen „RAF“ und nicht analytisch mit der eher antiprominenten „Vietnamprotestbewegung“, ohne den dieser „bewaffnete Kampf“ jedoch undenkbar ist).
Bei einer Kooperation mit bestimmten Veranstaltungen müßte man gegebenenfalls thematische Kompromisse eingehen, aber das wurde von den „babel“-Herausgebern sogar als positiv eingeschätzt. Schon jetzt strecken sie nach (!) jeder Ausgabe thematisch ihre Fühler aus, indem sie z.B. Psychologieseminaren oder ähnlichen Einrichtungen ihre Hefte als Arbeitsmaterial schicken. Sie durchforsten ja selbst ständig die Alltagsbebilderung, um sie seriell zu obstruieren: Wider die Okkulartyrannis! könnte das Motto dieser Fotoillustrierten sein. Wir haben es hierbei mit einem Widerstandspotential zu tun – dessen Vermarktung sich mithin von selbst verbietet. -Potential deswegen, weil wir ja an jenem Abend über eine Ausweitung seines Wirkungskreises redeten, wenn es auch erst mal „nur“ über die Gewährleistung des Drucks der nächsten Ausgaben ging. Man könnte dafür mehr Geld reinkriegen, wenn die Herausgeber es auf sich nähmen, die Hefte selbst an Kioske, Kneipen und Buchläden zu liefern, aber um das lohnend zu machen, dürfte man diesen Handvertrieb nicht weniger engagiert angehen als die Heftgestaltung. Deswegen greifen die meisten Macher auf professionelle Vertriebe zurück, was in diesem Falle jedoch erst mal auf ein Verlustgeschäft hinausliefe – bestenfalls schlösse sich dabei ebenfalls die Marktfalle. Vielleicht muß man das Projekt im Prinzip so belassen, wie es Kapielski einmal dem „gegner“ attestierte, dass der nämlich „so charmant unkäuflich“ sei wie kaum ein anderes Periodikum, d.h. der Leser muß sich sein Heft eigentlich selbst – in der Redaktion – abholen; siehe dazu „www.bab-el.de“.
Zwei neue Zeitschriften-Projekte lehnen sich gegen die konzeptionelle Strenge des Gegner auf:
Papenfuß und Knofo haben das Revolverblatt Tortour entwickelt – der Name spielt auf die Torstraße an, wo Papenfuß Mitbesitzer des Kaffee Burger ist und nebenan der Club der polnischen Versager permanent tagt. Und Krohn und Pohl schufen sich ein „Subkommando für die freie Assoziation“ mit dem Namen Floppy myriapoda.
Der Name hat eine recht einfache Entstehungsgeschichte: Kai Pohl, Lyriker und bildender Künstler, hat einmal einen Hightech-Tausendfüßler (myriapoda) gebastelt – der derzeit in der Kreuzberger Galerie K. ausgestellt ist. Alexander Krohn dagegen ist Musiker: 1987 spielte er als Schüler in der Punkband Background, bekam keinen Studienplatz und wurde Hilfslaborant im VEB Dienstleistungen. Ab 1992 war er sechs Jahre lang Sänger der Band Britannia Theater. Danach begleitete er seine Freundin Evi, die an der Humboldt-Universität Asienwissenschaften studierte, auf ihren Exkursionen. In Laos und Amman ließ er seine ersten selbst verlegten Bücher drucken: Ernst Fuhrmann, Jes Petersen, Hugo Velarde und andere, die auch im Gegner veröffentlicht werden.
Krohn schreibt selbst seit 2001 Gedichte, daneben bestückte er gerade zusammen mit Kai Pohl zwei Ausstellungen über „postrealen Brutalismus“ und forcierte außerdem seine Repolitisierung: Die Nachwendelinke hat ihn, so sagt er, „mit ihrem PC-Kram zunächst abgestoßen“, aber der „Gegner-Kreis“ verschaffte ihm dann einen neuen Zugang – zum Widerstand.
Mit Beginn des Irakkriegs 2003 flogen er und seine Freundin erneut nach Amman, wo sie eher unfreiwillig im Basislager der „Human Shields“ landeten. Im darauf folgenden Jahr tourte er mit vier Musikern unter dem Namen Aktion Kohlenberta durch den Nahen Osten, trat in Bethlehem, Ramallah, Damaskus, Beirut und Amman auf und schrieb mit „Blaue Jeans grün“ und „Die Rote Käthe“ seine ersten beiden Gedichtbände voll.
Es gibt immer mal wieder Zeiten, da erscheinen gleich mehrere nicht- oder antiprofessionelle Periodika auf einmal. In den Achtzigerjahren geschah dies zum Beispiel in Frankfurt/Main, wo einige Künstler Periodika mit Titeln wie D’Fanatik, Der Neger und Babel herausgaben. Letztere gibt es wunderbarerweise noch immer und dürfte die derzeit radikalste Fotozeitschrift sein.
Jetzt aber zu Tortour und Floppy myriapoda: Sie sind ganz klar Ostprodukte. Erstere diskutiert unter anderem „Fickprobleme“ und haut überhaupt gerne pornografisch über den Pudding. So wird zum Beispiel von den sexuellen Erfahrungen von „Phytophilen“ (Pflanzenliebhabern) erzählt – vor dem Hintergrund der seriellen Endosymbiontentheorie von US-Zellbiologen. Ansonsten wird dem Satan der Revolte, dem Teufel im Leib und sich selbst für die überflüssige Mühe und das rausgeschmissene Geld gedankt. In der Floppy wird eher poetisch über die Stränge geschlagen und die Differenz zwischen Ost- und Westtausendfüßlern diskutiert: Hier heißen sie Diplopoda, dort Myriapoda – höchstens 374 Beinpaare haben die wirbellosen Viecher aber hüben wie drüben.
Beide Zeitschriften geizen nicht mit kurzen Gedanken und kleinen Ideen, die wie zwischengestreut wirken. Ihre Herausgeber scheinen das beherzigen zu wollen, was schon die alten Situationisten zu bedenken gaben: „Um schreiben zu können, muss man gelesen haben, und um lesen zu können, muss man zu leben verstehen. Sonst kommt man nur dahin, die abstrakten Forderungen seiner abstrakten Existenz endlos zu wiederholen!“ Und so wird der abstrakt arbeitende Autor auf ein Neues liquidiert – sonst hätten die Leser auch bald nichts mehr zu lachen!
Das ist das Schöne am Osten:
Man ist erst baff, und dann wundert man sich. So ging es mir auch mit der ursprünglichen Akkumulation, die mir penetrant als Piraterie aufscheint. Bereits 1945 wagte um Usedom herum eine Krabbenfischer-Tochter die erste Existenzgründung als Freibeuterin – folgt man Thomas Pynchon. 1959 wurden auf Rügen die ersten „Inselfestspiele“ veranstaltet – mit dem Seeräuber Störtebeker als „Seher der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“, wie mir dies Defa- Cascadeur Hicks erklärte, der jetzt für die Ralswiker Störtebeker- Festspiele geradesteht: „Störtebeker war die Lichtgestalt, Goedeke der Haudegen Mielke, und der Kurt Hager hieß Magister Wigbold.“
Über seinen heutigen Störtebeker-Darsteller heißt es im Programmheft: „Norbert Braun fand im Tennisclub Bergen eine passende Unterkunft. Für die Fahrt zu den Vorstellungen steigt er in seinen 114 PS starken Sunny GTI“ – des Hauptsponsors Nissan. „Und sattelt dann auf 1 PS um: auf seinen geliebten Friesenhengst Eysbrand.“ Überall auf der Insel heißen die Loserkneipen „Zum Störti“ und ein nach den „Likedeelers“, den Gleichteilern, benannte Biersorte wirbt als „Bier der Gerechten“. An der Mecklenburgischen Seenplatte stieß ich 1997 das erste Mal auf Binnensee-Piraten: Die zwei Besitzer der Brunz-Yacht „Bounty“ hatten zu DDR-Zeiten bereits wegen „Arbeitsverweigerung“ im Knast gesessen, und der eine bekam „noch heute eine Gänsehaut“, wenn jemand von „ehrlicher Arbeit“ sprach. Sie lebten vom „Tschintschen“, bis hin zum Autohandel, und verdienten nicht selten an einem Tag, was eine ABM-Kraft dort im Monat einnahm.
Dann in der Lausitz: Wer Sorben hat, hat auch Likör, heißt es, wo jetzt – nach der Braunkohle – die „Lausitzer Seenplatte“ entsteht, d.h. kostbare Uferimmobilien an den gefluteten Tagebauen! In Hoyerswerda hatte der Baggerführer und Sänger Gundermann (mit Seilschaft) bereits 1995 „Arbeitsplatz“ auf „Piratenschatz“ gereimt. Nun waren dort sogenannte Schrottpiraten, als ökologische Sanierungsfirmen getarnt, auf dem ABM-Marsch durch die Institutionen – und ihre Frontschweine waren Russen – unterhalb des Billiglohngefüges.
Aber jetzt kommts: Plötzlich veranstaltet die geborene Veranstalterin Renate im Rahmen ihres „Siemeck“-Zyklus „Sklavenmarkt“ eine „Erweiterte Tanzveranstaltung“ namens „Amnestie für Mecklenburg“ – mit dem Ex- „Herbst-in-Peking“-Programmierer Rex Joswig und dem Postpunk- poeten Papenfuß als „De Likedeelers“. Gesampelte Shanties und gestammeltes Störtebeker-Röcheln im Rhythmus. Inspiriert hatte dies nicht zuletzt die Mittelmeer-Piraten-Serie eines englischen Autors im „Sklavenaufstand“ – behauptete jedenfalls noch am selben Abend „Sklavenaufstand“-Sponsor Wolfram Kempe. Die Ex-Osloerin Tone Avenstroup, sonst professionell mit Papenfuß auf Performance-Parcours, verwies dagegen auf die Vorbildfunktion des norwegischen Seemanns und nennenswerten Kapitalismuskritikers Hans Jaeger. Dessen „Bibel der Anarchie“ 1998 – seit ihrer Neu-Vorstellung in der Jung-Volksbühne – für feinsinnigste Furore sorgt. So auch bei ihr und Papenfuß, der seitdem ununterbrochen „Rumbalotte“ vor sich her summe. Das Wort hatte sich ein Kaliningrader auf den Schwanzkern tätowiert. Bei Erektion wurde daraus: „Ruhm und Ehre der baltischen Schwarzbannerflotte“. Was soll ich dazu sagen? Es war ein äußerst gelungener „Sklavenaufstand“ im „Siemeck“. Der neben mir stehende Prenzlauer-Berg-Bürgermeister Burghard Kleinert murmelte ununterbrochen: „Höchst förderungswürdig!“ Und nicht nur das: Jetzt castet Frank Castorf komischerweise eine schamlose Shakespeare-Serie – unter dem Agitprop-Aspekt „Ursprüngliche Akkumulation“!
Holzwege
In der Rhöner „Kunststation Kleinsassen“ hielt die Kassler Bildhauerin Christine Ermer im Herbst 2007 einen Vortrag über „Die Geschichte der Holzskulptur“ – von der Frühzeit bis heute. In den letzten Jahren hat das Interesse am Holz wieder zugenommen, meinte sie. Besonders gilt das für die Mittelgebirgsregion Rhön, wo die Künstlerin einst selbst als Schnitzerin ausgebildet wurde. Dort fanden Ende August 2008 zwei internationale Holzbildhauer-Symposien statt. Eins im bayrischen Teil des Mittelgebirges auf der Lichtenburg bei Ostheim nannte sich „7 Tage – 7 Stämme“. Das andere im thüringischen Empfertshausen hatte sich heuer den „Artenschutz“ als Thema vorgenommen. Es wurde – nun schon zum 7. mal – vom „Rhöner Holzbildhauerverein“ ausgerichtet, der mit der „Schnitzschule Empfertshausen“, zusammenarbeitet. Sie ist für dieses Kunsthandwerk die „einzige Ausbildungsstätte in den neuen Bundesländern“. Das andere Symposium – im Westen – organisierte der Bildhauer Jan Polacek, der in den Siebzigerjahren im bayrischen Bischofsheim an der „Berufsfachschule für Holzbildhauer“ ausgebildet wurde.
Die beiden Rhön-Schulen gehören zu den ersten ihrer Art, die seit der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gegründet wurden, um der Winterbeschäftigung der armen Landbevölkerung in den waldreichen deutschen Mittel- und Hochgebirgen eine Perspektive zu geben. Die Männer hatten bis dahin zumeist Gebrauchsgegenstände wie Löffel, Holzschuhe, Tabakpfeifen und Dreschflegel hergestellt, während die Frauen Hanf, Flachs und Wolle verarbeiteten sowie Stroh verflochten. Beide waren beimVerkauf ihrer Waren auf Hausierer bzw. Großhändler angewiesen – und konkurrierten dabei mit gleichartigen, u.a. in Gefängnissen hergestellten Billigprodukten.
Von der Qualifizierung wenigstens der talentiertesten Jugendlichen erhoffte man sich eine Verbesserung der Lage der Kleinbauern und Knechte in der Rhön. Hüben wie drüben wurden jedoch pro Schuljahr nicht mehr als sechs Schüler aufgenommen. Und auch heute hat z.B. die Bischofsheimer Holzbildhauerschule insgesamt nur 36 Schüler, in Empfertshausen werden derzeit 67. Während es mit jener langsam bergab geht, so befürchtet man jedenfalls in Bayern, befindet sich die in Thüringen derzeit im Aufwind – nicht zuletzt, weil sie von der Landesregierung stark gefördert wird, die allein in den letzten zehn Jahren mehrere Millionen investierte. In diesem Sommer bearbeiteten dort die Holzbildhauer ihre Stämme zunächst mit Motorsägen, ebenso die Künstler auf der Lichtenburg. In Empfertshausen verweigerte sich jedoch einer dieser neuen Grobtechnik: „Ich bin Schnitzer und kein Waldarbeiter,“ meinte er. Der CSU-Landrat von Rhön-Grabfeld bat dagegen die anwesenden Künstler in seiner Eröffnungsrede, wenn sie schon ihren dicken Pappelstämmen derart effizient zu Leibe rückten, dann doch bitte auch noch gleich die Bäume um die Burg herum zu kappen, damit man die inzwischen teilrekonstruierte Ruine wieder vom Tal aus sehen könne. Er schlug damit einen kühnen Bogen von den ehedem nützlichen Holzschnitzereien zum eher zweckfreien heutigen Holzkunstwerk. Ob seiner unökologischen Bemerkung wurde er jedoch vom umweltbewußten Teil der Besucher erst mal gescholten. Das Symposium in Empfertshausen lag dagegen bereits mit seinem Thema „Artenschutz“ voll im Öko-Trend. Den Künstlern fielen dazu vor allem Tierplastiken ein. Was die Ost- und die Westrhön eint, ist, dass sie heute ein einziges „Biosphärenreservat“ ist – mit einem eigenen „Management“ und einem anständigen Jahresetat, aus dem sie in den vergangenen Jahren z.B. den Empfertshausener Symposiums-Katalog finanzierte.
Die Tierplastiken haben dort Tradition : Schon zu DDR-Zeiten, da man die Schnitzschule in eine betriebliche Ausbildung überführte, schnitzte man hier eher „Lustiges“ als „Religiöses“, was einige im Ort ansässig gewordene Holzbildhauer aber nicht daran hinderte, z.B. Altarfiguren für den Export – bis in den Vatikan – anzufertigen oder auch Krippen en masse. Auch in der ortsansässigen Fabrik „VEB Rhönkunst“ wurde für den Export produziert: u.a. Möbelverzierungen für Neckermann und Quelle. Der Betrieb wurde 1990 abgewickelt und die Ausbildung wieder verselbständigt, wobei man die Schnitzschule dem Berufsbildungszentrum Bad Salzungen unterstellte. „Wir versuchen in der Tradition zu bleiben, aber gleichzeitig auch dem Zeitgeschmack gerecht zu werden,“ erklärt der jetzige Direktor Hartwig Jörges und fügt hinzu: „Wir legen bei unseren Schülern die handwerklichen Grundlagen, wobei wir uns jedoch von der Weimarer Bauhaus-Idee leiten lassen: Handwerkliches und Künstlerisches zusammen zu bringen,“ obwohl es heute in der Kunst darum gehe, „dass die Idee immer wichtiger werde, also dass man nicht nur ein Abbild haben will“. Manche Schüler besuchen anschließend noch eine Kunsthochschule oder machen ihre Meisterprüfung, andere gehen in die Heilpädagogik oder in die Restaurierung. Einige der Dozenten in Empfertshausen haben Holzdesign studiert. Einer, Steffen Kranz, dessen Symposiumsbeitrag 2004 aus einem Abbild seiner damals hochschwangeren Frau bestand, das heute noch im Dorf steht, meint – zum Problem von Tradition und Zeitgeschmack: „Man kann z.B. keinen barocken St.Florian an ein neues modernes Feuerwehrhaus mehr anbringen“. Um auf neue Ideen zu kommen, organisiert seine Schule u.a. Exkursionen zur documenta nach Kassel.
Die Bischofsheimer Schnitzschule scheint sich dennoch dem westlichen Individualitäts- und Kreativitäts-Begriff eher verpflichtet und auf die Kunst gesetzt zu haben: Spätestens seitdem ihre Schülerzahl in den Sechzigerjahren bis auf sechs gesunken war – und der Landkreis Rhön-Grabfeld den Münchner Bildhauer Philip Mendler zum neuen Direktor bestimmte. Dieser, ein Meisterschüler von Hans Wimmer aus Nürnberg, holte statt talentierte Bauernjungs die ersten „Hippies“ der Region an seine Schule. U.a. kamen sie vom berüchtigten Truppenübungsplatz Wildflecken, wo ihre Mütter z.B. in GI-Gaststätten bzw. -Discos arbeiteten. Das trifft auch auf den Symposiumsorganisator Jan Polacek zu, den der neue Direktor Mendler einst persönlich zu Hause zum Schulbesuch überredete, später setzte Polacek seine Ausbildung an der Nürnberger Kunstakademie fort, seit 1982 ist er freischaffend tätig, seinen Lebensunterhalt verdient er jedoch mit eher handwerklichen Aufträgen. In der Bischofsheimer Schulchronik heißt es heute – rückblickend über die wilde Zeit: „Wegen ihrer unkonventionellen Art zu leben, sich zu kleiden und sich in der Öffentlichkeit zu geben, hatten die Schüler es damals schwer, als ’normale‘ Mieter unterzukommen. Viele zogen es auch vor, außerhalb der Schule, in sog. Wohngemeinschaften zusammen zu sein, was den übrigen Schülerinnen und Schülern für den Kontakt zur Bevölkerung nicht sonderlich förderlich war.“ Die Folgen blieben nicht aus: „im Schuljahr 1976/77 mußten vier Schüler wegen ‚Disziplinlosigkeit‘ und ‚Desinteresse an den Allgemeinfächern‘ wie Fachrechnen, Fachzeichnen und Deutsch sogar die Schule verlassen.“
Nichtsdestotrotz fühlten sich die angehenden Holzbildhauer dort aufgrund ihres „soliden handwerklichen Könnens den Bildhauern aus städtischen Kunstschulen überlegen“, wie Jan Polacek sich erinnert. Kürzlich bewarb er sich als Lehrer an der Bischofsheimer Schule, wo er „was ganz Modernes“ machen wollte. Die Schulbehörde entschied sich jedoch für einen anderen Dozenten, der nun laut Polacek „klassisch – in Richtung Tilman Riemenschneider“ gehen will. Nicht zuletzt aus diesem Grund und Groll veranstaltete Polacek daraufhin das Symposium mit internationaler Künstlerbeteiligung auf der Lichtenburg. Die Schule trat dabei nicht in Erscheinung – und auch nicht der eine oder andere schon lange in oder bei Bischofsheim ansässige Holzschnitzer, von denen nicht wenige sakrale Objekte anfertigen. Ihre Engel- und Madonnen-Skulpturen haben jedoch dem Zeitgeschmack entsprechend heute eher rosige Schlagersänger- als verhärmte Riemenschneider-Gesichter. Der bayrischen Holzbildhauerschule gelang in den Siebzigerjahren zwar der Sprung aus dem regional Handwerklichen in die internationale Skulpturenkunst, aber diese schaffte damals weitgehend „aus dem Bauch heraus“, während die jungen Bildhauer heute eher „intellektuell“ bzw. „konzeptionell“ gestimmt sind – und z.B. „Land-Art-Projekte“ verfolgen oder mit „Statements“ in bestimmten Situationen/Gegebenheiten „intervenieren“.
Hinter diesem „Provinzproblem“, wie es der Rhöner Lyrikverleger und einstige Waldarbeiter Peter Engstler nennt, steckt jedoch auch noch ein sozialer Konflikt, der schon dem Nationalökonomen Karl Bücher 1887 – knapp drei Jahrzehnte nach Gründung der Rhöner Schnitzschulen – aufstieß : dass nämlich künstlerisch ambitionierte Schnitzschulen keine große Hilfe für eine Region sind. Es sei falsch, „eine Hausindustrie auf Artikel zu verweisen, deren jeder vielwöchentliche Arbeit und große Auslagen erfordert. Damit gäbe man die Leute erst recht den Verlegern preis und machte sie zu reinen Proletariern“. Bücher plädierte deswegen laut dem Rhön-Volkskundler Wolfgang Brückner für ein „sozialgesetzlich abgesichertes Fabriksystem“.
So weit trauten sich später nicht einmal die Nazis mit ihrem „Dr. Hellmuth-Plan“ – wie das vom dort zuständigen Gauleiter vorgelegte Rhön-Wirtschaftsentwicklungskonzept hieß, das dann vornehmlich aus der Trockenlegung von Mooren, dem Anlegen von Straßen und eines riesigen Truppenübungsplatzes in Wildflecken sowie aus dem Bau eines neuen Gebäudes für die Schnitzschule in Empfertshausen bestand. Erst die DDR beseitigte dann mit dem „Fabriksystem“ die periodische Erwerbslosigkeit, aber auch alle händlerische Spekulation – wenigstens im thüringischen Teil des Mittelgebirges. Büchers Fazit lautete seinerzeit: „Ich würde meinen Zweck für erreicht halten, wenn ich auch nur Weniges zur Verbreitung der Ansicht beigetragen hätte, daß kümmerliche agrarische Verhältnisse durch bloße Einführung von Hausindustrien beseitigen wollen, nichts anderes heißt, als Armut mit Elend vertauschen.“ Heute hat zwar die Bayerische Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL) für die wenigen noch übriggebliebenen Rhönbauern dies wieder als Programm aufgenommen, indem sie z.B. Bildungsveranstaltungen zum Thema „Mit mehreren Standbeinen die Existenz sichern“ anbietet, worunter man u.a. die Weiterverarbeitung und Direktvermarktung versteht, aber für die in der Rhön ausgebildeten und dort ansässigen Holzschnitzer stellt sich die Existenzfrage sowohl im Westen als auch mittlerweile im Osten gleich viel, ob sie nun Gebrauchsgegenstände, Kinderspielzeug, Schachfiguren, Engel, gediegene bzw. avantgardistische Weltkunst oder – wie im Ersten Weltkrieg – Prothesen produzieren: Sie müssen sich immer wieder an den schwankenden Markt und seine wechselnden Konjunkturen anpassen und hadern dabei mit den Verlegern, Groß- und Kleinhändlern, Galeristen etc..
So entwickelte sich die West-Rhön, die in den Fünfzigerjahren höchstens von reichen Jägern aus Frankfurt aufgesucht wurde, bis in die Achtzigerjahre zum Feriengebiet für vorwiegend einkommensschwache Familien. Dann zogen jedoch nicht nur die Amerikaner aus dem „Fulda Gap“ ab und die Zonenrandgebietsförderung wurde gestrichen, es blieben daneben auch immer mehr Touristen weg – viele Läden und Restaurants machten dicht. Erst jetzt – etwa zeitgleich mit der Anerkennung der Rhön als Biosphärenreservat – stellt sich langsam ein neuer Touristentypus dort ein: der betagte „Nordic Walker“, der Wellness-Kurse und Wohlfühl-Abende auf Bio-Bauernhöfen besucht, gleichzeitig Tütensuppen sowie Mikrowellengerichte verschmäht – ebenso „handmade“ Holzkitsch-Souvenirs. Dafür achtet er mehr und mehr auf das „Qualitätssiegel des Biosphärenreservats“, das unter dem Dach der nunmehrigen „Marke Rhön“ entwickelt wurde, womit der ganzen Region eine neue „Identität“ verpaßt werden soll – erst einmal jedoch jede Menge Farbprospekte und Veranstaltungsleporellos. In ihnen werden Zweiwochen-Holzschnitzkurse, Filzwerkstätten für Fortgeschrittene und Spinnstubenabende angeboten, daneben kann man lernen, mit Weiden zu flechten und Strohschuhe selber zu machen.
In diesem Sommer schienen die Touristen sich u.a. für die beiden Bildhauer-Symposien zu interessieren, die dann auch sehr gut besucht waren. Die Künstler auf dem Hof der Lichtenburg oberhalb von Ostheim präsentierten am Ende ihres Kettensägenmassakers ein Menschenpaar sowie eine florale, eine geometrische und eine in Holz und Blei gefaßte Form. Auch der Veranstalter Jan Polacek hatte sich dort für etwas „Unfigürliches“ entschieden. Die Skulpturen wurden danach im Kurpark von Ostheim aufgestellt und das Bildhauer-Symposium soll nun regelmäßig jeden Sommer stattfinden. In Empfertshausen wurden die meisten Ergebnisse der diesjährigen Veranstaltung von den Künstlern mit nach Hause genommen. Daneben gibt es dort aber noch ein Holzschnitzer-Museum, und viele ältere Arbeiten stehen – ebenso wie auch in Bischofsheim – im Ort herum, mitunter haben sie einen direkten Bezug zur Umgebung – z.B. ein „Wartender“ an einer Bushaltestelle, ein „Mantel“ vor einem Bekleidungsgeschäft, eine bemalte „Frau im Bikini“ auf einer bunten Wiese und „der Tod“ vorm Friedhof.
Die Holzkunst beschränkt sich in der Rhön nicht nur auf die zwei Schnitzschulen in Ost und West. Daneben gibt es noch – nicht weit vom Bischofsheim – das Dorf Langenleiten, wo der Bildhauer und Ortschronist Herbert Holzheimer seine Werkstatt nebst Galerie hat. Sein Verkaufsschlager sind Krippen in Winterlandschaften, aber auch lebensgroße Figuren von Rhönern, die inzwischen von vielen Gemeinden ringsum gekauft und an markanten Plätzen aufgestellt werden. Daneben gibt es in seinem Dorf noch vier weitere Holzbildhauer sowie Schreiner, Drechsler, ein Sägewerk, einen Holzhändler und eine Fräserei, in der an computergesteuerten Maschinen Rohlinge – von Alphörnern bis zu Madonnen – hergestellt werden, die die Bildhauer dann nur noch nachbearbeiten müssen. Im Nachbardorf Sandberg lebten einst sogar 60 Holzschnitzer – in beinahe jedem zweiten Haus gab es einen. Sie stellten vornehmlich – meist im Nebenerwerb – Tierplastiken her. Ihre Spezialität waren weiße Natura-Holzpferde, die sich sehr gut verkauften, was einen Fabrikanten bewog, dort ab 1900 eine Schnitzschule als Ausbildungsbetrieb zu eröffnen. Sie bestand bis 1912. Zuletzt vermarkteten die Sandberger ihre Tierplastiken als Massenware direkt – an die Amerikaner auf dem nahen Truppenübungsplatz Wildflecken. Spätestens als diese 1994 abzogen, mußten sie sich jedoch umorientieren: Heute leben im Ort weitaus mehr Musiker als Holzschnitzer. Auch die Bildhauer in anderen Rhön-Dörfern spezialisierten sich: So war z.B. das oben bereits erwähnte Ostheim bekannt für seine Nickfiguren, Kaltennordheim für seine Kasperpuppen sowie Rhönpärchen, Weisbach mit dem Nachbardorf Oberelsbach für ihre bunten Fastnachtsmasken. Auf dem Simonshof in Bastheim, wo erst die Kirche, dann die Obrigkeit und nun die Caritas ein Altersheim sowie ein Heim für Obdachlose betreibt, wird sehr schönes, aber auch teures Holzspielzeug hergestellt, das man u.a. in Nürnberg verkauft. Im Ostheimer Schloß ist heute ein Orgelmuseum untergebracht: „Die Kunst des Orgelbaus ist seit dem 17.Jahrhundert in Ostheim/Rhön beheimatet“, heißt es dazu im Katalog. Und in Oberelsbach, wie auch in Ruhla in der Ostrhön, gibt es ein Tabakpfeifenmuseum – denn „mit den Pfeifen fing alles an“, wie man im Heimatmuseum von Kaltennordheim meint, wobei unklar bleibt, ob damit die Schnitzkunst in der Region oder die Exponatsammlung des Museums gemeint ist.
Mail an Peter Engstler:
…würde es dir was ausmachen, mir auch noch RHEINMETALL zukommen zu lassen – wenn, dann bitte ebenfalls mit Erscheinungsdatum.
Gerade bekam ich einen Brief aus der thüringischen Rhön von einem älteren Mann, der ein Grenzmuseum „Point Alpha“ mit aufgebaut hat – und klagt, dass die Wessis ihnen nun auch noch laufend erzählen wollen, wie sie früher gelebt haben…
gruß
„Rhönpoller – statt Gipfelkreuz,“ schrieb Peter Grosse zu diesem Photo
So, das müßte eigentlich genug Material sein – für eine JW-Rezension des Buches „Rheinmetall“ von Jörg Burkhard…
Mehrere Kommentatoren verlangten nach dem Interview, das Andreas Fanizadeh mit Hadayatullah Hübsch 2008 führte – und das eigentlich ein Porträt ist:
Die S-Bahn rattert von Frankfurts Innenstadt nach Hoechst. Auf die grüne Sitzbank ist mit schwarzer Farbe „SA“ geschmiert, in die Fenster filigran „UÇK“ und „PKK“ eingeritzt. Industrie- und Gleisanlagen wechseln sich mit Arbeitersiedlungen, Reihenhäuschen und Schrebergärten ab. Bevor Hoechst nach Frankfurt am Main wuchs, wuchsen einige ältere hessische Dörfer nach Hoechst. Und in einem solchen – Fachwerk vor Fabrikschlot – in Zeilsheim wohnt Hadayatullah Hübsch. In einem Häuschen am Dorfrand, zusammen mit seiner aus Indien stammenden Ehefrau und ihrem fast erwachsenen jüngsten von sieben Kindern.
Hadayatullah Hübsch führt den Gast ohne Umstände die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer. Seine „Klause“, das ist ein kleiner Raum im ersten Stock unterm Dach, voll gestopft mit Bildern, Platten, Büchern, Teppichen, Orientalismen, Erinnerungsstücken aus den Sechzigern und Siebzigern, im Grunde ein akkurat eingerichtetes modernes Antiquariat.
Der schriftstellernde Imam, so viel ist auf den ersten Blick klar, kann sich nur schwer von alten Funden trennen. Ein kommunikativer Typ, dieser Gastgeber, er will zeigen, was er für Schätze hat. Während der Besucher noch die Umgebung sondiert, beginnt Hübsch längst seine aufgetürmten Stapel hin und her zu räumen. Das Collagieren sei ihm eine große Beruhigung, sagt er, und hält mir einen Packen seiner neuen Bilder unter die Nase; noch dieses Jahr sollen sie im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt ausgestellt werden.
Öffentlichkeit ist das Lebenselixier eines sich bis heute weithin verkannt fühlenden Beatnikschriftstellers. Ein Mann, dem Günter Grass in den Sechzigern eine große Karriere prophezeite, dem aber die Launen der Revolte einen fetten Strich durch die Rechnung machten. Aus dem Luchterhand-Literaten und Beatnikrebellen wurde ein militanter Dropout, ein radikaler Hippie und dichtender Pillenwerfer.
In den Siebzigerjahren, die wilde Zeit ebbte ab, wandelte sich der libertäre Wortführer des existenzialistischen Voluntarismus in einen spirituell geläuterten Anhänger des Ahmadiyya-Islam, einer Reformbewegung. Das war eine Sensation, die Szene hatte schon viel gesehen, aber das noch nicht: Islam? Manche der radikalisierten Freunde zog es in den Untergrund, aber der verrückte Paul-Gerhard Hübsch ging ins einzige islamische Gotteshaus Frankfurts zum Beten. Schließlich änderte er seinen Vornamen in Hadayatullah – der von Gott Geleitete. Veröffentlicht hat er in all den Jahren auch weiterhin Gedichte und journalistische Texte, wo man ihn ließ: in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, kleinen Anarchoverlagen oder islamischen Medien. Das Blatt der altbürgerlichen Szene jedenfalls kündigte Hübschs Engagement, als der wie Tausende anderer Bürger Ende der Siebziger vor dem Bau der Startbahn West am Frankfurter Flughafen warnte.
„Machen Sie sich bitte über die Gestaltung der Zeitung für Frankfurt keine weiteren Gedanken“, schrieb ihm 1979 der FAZ-Redakteur Erich Helmensdorfer. Bei Hübsch hörte für Helmensdorfer der Spaß auf: „Ihre Behauptungen über Berichte von der Jugend sind unzutreffend. Ich halte es nicht für möglich, dass die FAZ einen freiberuflichen Mitarbeiter im Namen der Zeitung beschäftigt und damit in der Öffentlichkeit auftreten lässt, der in persönlichem Habitus und Umgang eine außergewöhnliche, jeglichen bürgerlichen Rahmen des Abendlands sprengende Erscheinung ist.“ Eine schmerzliche Erfahrung, wie Hübsch noch heute meint, nach acht Jahren als Autor abserviert zu werden. Ausgleichende Kräfte waren im Frankfurt der Straßenschlachten wenig gefragt.
Und da steht sie also nun in seiner Kruschtelkammer, die „jeglichen bürgerlichen Rahmen des Abendlands sprengende Erscheinung“, ein freundlicher, bärtiger, inzwischen 62 Jahre alter Herr, der sich unschlüssig scheint, ob der Besucher aus Berlin auch den US-amerikanischen Komikeinfluss in seinen Bildcollagen richtig erkenne – etwa Hulk, Mickymaus, Buffalo Bill. Nichts scheint einem Hippie der ersten Stunde unangenehmer, als für kulturell antiamerikanisch gehalten zu werden. Er, 1946 geboren, der sich die frühe Bundesrepublik, Mief und wieder Mief, ohne Reedukation, Pop ’n‘ Roll lieber nicht vorstellen möchte.
Der prominente Achtundsechziger ist, oberflächlich betrachtet, jedoch nicht immer leicht einzuschätzen. Aufschäumende Kritik linker Provenienz hat dem unorthodoxen Konvertiten eingetragen, dass er sich in der Vergangenheit wiederholt auf rechtsextreme Publikationen eingelassen hat. Nein, er ist kein zweiter Horst Mahler, der von RAF über die APO („Außerparlamentarische Opposition“) zur NPD wechselte, nur sprach und spricht Hübsch halt auch immer wieder mit Rechten.
Durch das Haus zieht ein appetitanregender Geruch von indischen Gewürzen, anscheinend wird im Parterre pausenlos geköchelt. Hübsch, unterwegs in Strümpfen, trägt ein Tablett mit Kaffee, Keksen sowie kleinen Kebabs mit Minzjoghurtsauce herein und stellt es auf den Teppichboden. Der Imam ist immer noch ein Hippie, aber ein halbwegs zur Ruhe gekommener. Für seine Freunde ist er der wissende Humanist, der sich, wie etwa auf der christdemokratischen Seite der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, als ein Provokateur im Geiste der Aufklärung versteht. Für seine Kritiker bleibt er ein gefährlicher Scharlatan, dem man Haus- und Sprechverbote erteilen müsse.
Hübsch sagt, er sei vor einigen Jahren „blauäugig in die Geschichte“ mit der Jungen Freiheit gegangen. Das ist das führende Medium der deutschen Neuen Rechten, in der er sich als Imam immer wieder zu Wort meldete. Vor vier Jahren warb er dort um Verständnis für den Neubau von Moscheen und der Integration aus anderen Kulturen Zugewanderter. Er beteuert, immer sei sein Ziel gewesen, „den Hass vom Islam wegzunehmen“, eben auch im Gespräch mit rechtsextremistischen Medien.
Von Hass sehe sich die Ahmadiyya-Muslim-Gemeinde immer wieder bedroht. Nun werde er aber in Flugblättern wie kürzlich bei einer Lesung in Köln selbst als Rechtsaußen bezeichnet, und in Berlin durfte er nicht im taz-Café diskutieren. Auch Bert Papenfuß, Ostberliner Poetenkollege und Mitbetreiber des Kaffee Burger, habe ihn nach Pressalien von der sogenannten Basis („Wir sind ein linksradikales Kneipenkollektiv“) ebenfalls wieder ausgeladen. Und das scheint nun auch dem friedfertigen Herrn Hübsch alles etwas zu weit zu gehen.
Er ist um Kurskorrektur bemüht, obwohl er weiterhin für sich in Anspruch nimmt, mit den Rechten nur in aufklärerischer Absicht gesprochen zu haben. Als Imam Dschuma (Leiter der Freitagspredigt) in der Frankfurter Nuur-Moschee sieht er sich jenseits klassischer Zuordnungen von dem, was links ist und was rechts. Jahrelang habe er als Sprecher der Ahmadiyya-Gemeinde in Deutschland „den Islam gegen stereotype Anwürfe“ zu verteidigen gehabt.
Tatsächlich wurde noch jeder Moscheenbau der Ahmadiyya-Muslim-Gemeinde in Deutschland von Protesten begleitet. Und wie das so ist: Die meisten Vorurteile lösten sich durch Kennenlernen in aller Regel rasch wieder auf. Die plötzlich auftretenden Sorgen alteingesessener Bürger sind zumeist anders zu bewerten als die Angriffe organisierter Rechtsradikaler. Könnten sich Letztgenannte durch Gespräche wie mit Hübsch ernst genommen, ja bestärkt fühlen? Hübsch sagt, heute empfände er es als Fehler, sich publizistisch auf den Dialog mit Rechtsradikalen eingelassen zu haben.
Um von Hadayatullah Hübschs Haus in Zeilsheim zur Nuur-Moschee in den Frankfurter Süden zu gelangen, muss man quer durch die Stadt fahren. Hinter dem Lokalbahnhof nimmt man den Bus bis zur Endstation Heinerweg, vorbei am Großen und am Kleinen Hasenpfad bis zum Waldcafé. Als die Nuur-Moschee 1959 errichtet wurde, stand hier nur Wald. Heute ist sie umgeben von Einfamilienhäusern. Weit und breit war die Moschee die einzige, aus ganz Süddeutschland kamen Muslime zum Gebet angereist. Die Minarette dieser Moschee sind niedriger als die Bäume in der Umgebung, und en miniature scheinen sie niedlich. Ein etwas Englisch sprechender älterer Herr im braunen Kaftan, „der Hausmeister“, wie Hübsch bemerkt, öffnet den Seiteneingang.
Wir sind angemeldet. Ein kurzer Gang führt über einen Nebenraum in den Hauptsaal. Der Gebetsraum misst vielleicht fünfzig Quadratmeter, Neben- und Hauptraum sind mit blaugrünem Teppich ausgelegt. An einem Seitenrund steht eine kleine Holzkanzel. Von der spricht der Imam Hübsch auf Deutsch jeden Freitag gegen ein Uhr mittags, später wird dann das geistliche Oberhaupt, der Kalif aus London, über Ahmadi-TV zugeschaltet. Auf Urdu spricht er, in der pakistanischen Landessprache, deutsche Untertitel helfen, ihn zu verstehen. In London befindet sich seit 1984 der Exilsitz der aus Pakistan vertriebenen islamischen Reformbewegung.
Hübsch ist seit über zwanzig Jahren als Laienprediger zuständig für die Frankfurter Nuur-Moschee. Ein Ehrenamt, wie er sagt, getrennt von seinem Halbtagsjob als Berater und Pressezuständiger der Gemeinde. Natürlich habe der Kalif in London einen größeren Tiefgang als er, Hübsch sieht seine Zuständigkeit mehr bei den Alltagsproblemen der Leute, gibt Hilfestellungen bei Ehe- oder Integrationsfragen und Problemen mit den deutschen Behörden. Die Atmosphäre in der Moschee wirkt sehr entspannt. Das Ungewöhnlichste für deutsche Gäste ist schon, dass sie ihre Straßenschuhe am Eingang zurücklassen müssen. Wir sitzen also in Strümpfen bei Kaffee und Keksen auf weißen Plastikstühlen im zum Hauptraum offenen zweiten Andachtsraum.
Gläubige kommen und gehen und lassen sich durch unsere Anwesenheit nicht stören, auch wenn wir durch den Andachtsraum marschieren oder fotografieren. Die meisten der in Deutschland lebenden Ahmadis stammen aus Pakistan und dem angrenzenden Gebiet in Indien. Geflohen waren sie vor den Angriffen sunnitischer Extremisten. Orthoxen Islamvertretern gelten Ahmadis als Häretiker, als Abweichler und werden entsprechend brutal verfolgt. Die Religionsgemeinde propagiert einen toleranten Islam und lehnt mittelalterlichen Quatsch wie den Dschihad ab.
Auf Druck der sunnitischen Geistlichkeit wurde sie 1974 vom pakistanischen Parlament zur nichtmuslimischen Religionsgemeinschaft erklärt, was wie schon 1953 zu einer Welle der Gewalt gegen sie führte. Seit 1984 ist den Ahmadis jegliche Missionstätigkeit in Pakistan verboten, ihre Moscheen wurden geschändet und niedergebrannt.
Die Glaubensgemeinschaft lebt heute über die ganze Welt verstreut und hat in Deutschland ungefähr 33.000 Mitglieder, darunter auch einige Konvertiten wie Hübsch. Zurzeit ist die Ahmadiyya-Gemeinde dabei, die erste Moschee auf dem früheren Staatsgebiet der DDR zu errichten, am Stadtrand von Ostberlin – gegen anfänglich massive Anwohnerproteste.
Zurück in Zeilsheim/Hoechst. Hübsch hat die Jinnahkappe wieder abgenommen, die Kopfbedeckung, welche in Pakistan von gutsituierten Leute getragen wird. Und die steht Hübsch gar nicht übel. Sein Schreibtisch ziert eine alte Elektroschreibmaschine, mit der er seine Korrespondenz erledigt. Ihr Schriftbild hat etwas Romantisches. Vom grauen Plastikrahmen eines Computerbildschirms, das Modell könnte noch aus der alten BRD stammen, hebt sich der Aufkleber ab: „Liebe Für Alle, Hass Für Keinen! Ahmadiyya.de“.
Hübsch war als Hippie ein Romantiker und ist dies auch als Ahmadi geblieben. Ein Romantiker in den Emanzipationsgrenzen seiner Zeit, was seinen privaten Lebensalltag betrifft. So sagt der inzwischen mehrfache Großvater: „Toleranz bedeutet, gewisse Unterschiede in der Ehe auszuhalten.“ Seine Frau möge zum Beispiel keinen Fisch oder könne die Unordnung in seiner Klause nicht verstehen. Doch, meint er verschmitzt, auch der Prophet habe Hausarbeit gemacht, und er tue es ihm gleich. Nur bei Verrichtungen wie dem Wickeln von Kleinkindern passe er. Dafür sei er treu – und fügt hinzu: Glück sei nach Walter Benjamin, seiner selbst ohne Schrecken inne zu werden.
„Eines Tages veranstaltete Lippmann & Rau ein Konzert mit den Doors“, erinnert sich Hübsch in seinem autobiografischen Bericht „Keine Zeit für Trips“ an das Jahr 1968. „Ich stürmte die Bühne mit Händen voller Fünfpfennigstücke und schmiss sie Morrison ins Gesicht; keine Ahnung, ob er gemerkt hat, wie ich ihm da den Kapitalismus ins Gesicht geschleudert hatte, gimme some money, man, money is all I need.“ Hübsch war keine Randfigur der Achtundsechzigerbewegung, sondern, das betont er, einer ihrer Macher. „Ich versuchte in der Szene zu vermitteln zwischen Kunst und Politik“, sagt er in einem Hörspiel von 1971, das auch eine kleine Musikgeschichte des damaligen Undergrounds beinhaltet.
„Die Szene“, das war für ihn vor allem die von Frankfurt/Main 1968 und die einiger weniger Metropolen wie in Hamburg oder Westberlin. Hübsch war über die Ostermarschbewegung, Kriegsdienstverweigerung, die Beatniks und den französischen Existenzialismus inspiriert worden. War Programmleiter des Club Voltaires in Frankfurt, bis die dortige SDS-Linke mit den alkoholfeindlichen Hippies brach. Hübsch gründete daraufhin 1968 mit seinen Freunden den „Heidi loves you shop“ im Frankfurter Westend. Man sammelte Drogenerfahrungen und hörte psychedelische Westcoastbands. Das war noch vor dem Erscheinen des Weißen Albums der Beatles im November jenen Jahres. In einem Brief erklärte Hübsch dem Stern, wie die Bewegung durch Drogenexperimente gedachte, Bewusstsein und Existenz zu erweitern: ein Mittler auch in dieser Hinsicht.
Über die Düsseldorfer Kunstszene war das erste Stroboskop nach Frankfurt in den „Heidi loves you shop“ gelangt. Der damals 25-jährige Schüler Theodor W. Adornos und Anführer des Frankfurter SDS, Hans-Jürgen Krahl, pflegte hier zu den Klängen von Grateful Dead oder Jefferson Airplane sein Feierabendbier zu trinken. Hübsch selbst konsumierte „bewusstseinserweiternde“ Substanzen, aber strikt keinen Alkohol.
Der Veteran erzählt gerne von der früheren Zeit und bietet dabei eine Mohawkzigarette aus einer roten Packung an – Tabak ohne künstliche Aromen oder Zusatzstoffe. Gemütlich fläzt er sich in seinem schwarzen Bürostuhl. Fast vierzig Jahre nach seinem letzten Trip werde er immer noch von Halluzinationen heimgesucht, erlebe Bildwanderungen oder akustische Phänomene, die tatsächlich auf keine erklärbaren Quellen wie eine Radiosendung zurückzuführen seien. Gegen diese Flashbacks, Hübsch nennt sie Mondegreens, helfe ihm das Rauchen.
Die Drogen wären ihm 1968 fast zum Verhängnis geworden. Nach dem Attentat auf Dutschke zu Ostern kam es immer öfter zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei. Immer seltener hatten sie einen ironischen Unterton wie bei der „Kuchenschlacht“ ums Café Laumer, als die Frankfurter Hippieszene sich mit dem dortigen Hausverbot nicht abfinden wollte. Die Polizei schloss den „Heidi loves you shop“, und immer häufiger reiste ein von der Frankfurter Szene gelangweilter Hübsch nach Westberlin.
Dort, in der Kommune 1, war der Dichter und Musiker mit seinen immensen Drogenvorräten sehr willkommen. Retrospektiv zeigt er sich schwer genervt über „die Tyrannei von Dieter Kunzelmann“ oder „die Wehleidigkeit und das Gehabe“ eines Rainer Langhans. Hübsch gehört zu der ersten und letzten heroischen Generation, die dachte, alles unmittelbar an sich selbst versuchen zu müssen: Probier dich aus! Zum Jahreswechsel 1968/69 schluckte er eine Überdosis LSD, trieb durch die Stadt und fand sich schließlich in Bonnys Ranch, wie die geschlossene Abteilung der Berliner Psychiatrie genannt wurde, wieder.
Ein Anwalt des Luchterhand Verlages holte ihn zwei Wochen später raus. „Durch Überdosis und Klinikbehandlung war ich völlig desolat.“ Zurück in Frankfurt, sagte ihm die RAF-Militante Astrid Proll, dass „der Kunzelmann jetzt Ede heißt und untergetaucht“ sei. Statt zum Heroin zu greifen oder sich dem bewaffneten Untergrund anzuschließen, reiste Hübsch erschöpft nach Marokko und fand dort die religiöse Erweckung. „Völlig entblößt und einen Rosenkranz mit der Figur des gekreuzigten Jesus um seinen Hals rannte er in die Steppe. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn fest und aus seiner Brust kam das Gebet: O Allah, bitte reinige mich! Es war eine Art Offenbarung, und eine mächtige Kraft sprach durch ihn.“ So lässt er auf der Ahmadiyya-Webseite seine Errettung durch Allah den Allmächtigen schildern. Als guter Künstler hatte er immer schon Sinn für Pathos.
Vom Rande der Gesellschaft her sieht vieles anders aus. Hübsch, der in binationaler Verbindung lebende Schriftsteller und Imam aus der Frankfurter Vorstadt, hat diese Perspektive freiwillig gewählt. So freiwillig, wie die Biografien von Einzelnen es nun einmal zulassen. Der Paul-Gerhard aus dem Hessischen, der zum Hadayatullah wurde und bei dem sich heute viele oft fragen, wie er denn zu seinem deutschen Nachnamen kam. Ach, dieses Deutsche…
Das deutsche Thema war in mir exemplarisch angelegt“, sagt er. „Mein Vater ist mit dem Ende des Kriegs verstummt“, habe nicht über den Nationalsozialismus und seine Managertätigkeit bei der AEG in Chemnitz gesprochen. „Er war natürlich in der Partei. Ich hab ja die Fotos gesehen, da liefen die ja mit Hakenkreuzen herum.“ Der Vater sei „innerlich verkrüppelt“ gewesen, auch wenn dieser ihn geliebt habe.
Die Frankfurter Auschwitzprozesse konfrontierten den Jugendlichen Paul-Gerhard 1963 – und mit ihm eine erste vollständig mit der Demokratie aufwachsende Generation – in Deutschland mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. „Ich sah die Berge von Haaren auf den Fotos, die Goldkro- nen und die Brillenberge. Ich war fer- tig mit den Leuten, mit der älteren Generation konnte ich nichts mehr anfangen.“
Die unmittelbare Rebellion über Drogen und außerparlamentarische Opposition kostete ihn fast den Verstand, über den Islam und die Ahmadiyya-Flüchtlingsgemeinde konnte er die Distanz zur normalen Gesellschaft wahren, bei gleichzeitigem persönlichem Wohlbefinden.
Aber das würde er, Hadayatullah Hübsch, der Spiritualist, natürlich niemals so profan formulieren.