Der Mensch – Nichts gegen Poller, schreibt der Photograph Peter Grosse zu diesem Bild
Zude, der zuletzt Politologie in Berlin und Stuttgart studierte, schrieb mir aus der mongolischen Hauptstadt, wo er u.a. zusammen mit Batjargal an der Herausgabe der nächsten Ausgabe unserer deutsch-mongolischen Zeitschrift „Supernomad“ arbeitet (bei der ich aus vor allem finanziellen Gründen nicht mehr Redakteur, sondern nur noch Autor bin): „Gibt es was Neues zum Thema bei dir?“
Ich schrieb ihm „Nein“ zurück. Schickte ihm dafür aber einige aktuelle „Nachrichten“ dazu:
1. Die Nobelpreisträgerin Herta Müller wurde gerade auch noch als
„Botschafterin der Nomaden“ ausgezeichnet. Damit sind die
Flüchtlinge/Vertriebenen/Umsiedler/Hin- und Hergeschobenen des Zweiten
Weltkriegs gemeint, letztere gibt es ja noch heute – Palästinenser u.a..
Diese „Migranten“ bewegen sich quasi zwischen den alten und den neuen
Nomaden – die alten, das sind die wegen ihrer Viehzucht nomadisierenden
Völker, deren Territorien (Spielräume) immer kleiner werden. Hier die
drei letzten Meldungen dazu:
2. In Borneo werden die letzten Nomaden (10.000) Borneos zur Seßhaftigkeit
gezwungen – weil man ihre Wälder abholzt.
3. In Tibet hat die chinesische Regierung fast 50.000 Nomaden fest angesiedelt.
4. Und in der Inneren Mongolei hat die chinesische Regierung seit 2001
650.000 mongolische Nomaden in Städten und Dörfern seßhaft gemacht.
5. Die „Neuen Nomaden“ nun – haben kulturell eine derartige Konjunktur
bekommen, dass man das Wort bald nicht mehr hören mag. Dies Jahr im Sommer gehörte
ich selber zu dieser heterogenen „Klasse“ – in drei (Bus-)Karawanen
sogar – Journalistentouren in die Rhön (Literatur), nach Südnorwegen
(Kunst) und nach Westpolen (Wodka, Wein, Bier). Die neuen Nomaden, das
sind also die Seßhaften, mit teilweise mehreren Wohnorten, denen man die
neue nomadische Existenzweise quasi aufzwingt.
Während bei den alten Nomaden den Frauen meistens eine feste Rolle
zugeteilt wurde (und hierzulande überhaupt nur als Pilgerin unterwegs
sein durfte), reisen bei den neuen Nomaden beige Geschlechter
gleichberechtigt zusammen bzw. jeder für sich allein. Während die Männer der alten Nomaden auf ihren Erbfolger achteten (und die Frauen deswegen nicht mit anderen Männern sexuell verkehren durften), ist die Vaterschaft bei den neuen Nomaden so gut wie abgeschafft – dafür können Männer und Frauen ihr Wissen untereinander austauschen, sie leben nicht mehr in verschiedenen Welten, sondern reisen im selben Abteil.
Na klar: Wissens-Poller vor der Bibliothek der Universität von Cambridge. Photo: Peter Grosse
Aber diese Straßenmöblierung blieb dem Photographen „rätselhaft“, wie er schrieb.
Die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk hat sich in ihrem neuen
Buch „Unrast“ diesem Phänomen existentiell genähert:
Das Unterwegs-Sein ermöglicht ihr die “größtmögliche Annäherung an das,
was unsere moderne Welt zu sein scheint: Bewegung und Instabilität.”
Gleich zu Beginn ihres neuen Romans “Unrast” heißt es: “Meine erste
Reise unternahm ich zu Fuß, quer über die Felder. Meine Abwesenheit
wurde lange nicht bemerkt, und so kam ich ziemlich weit.” Inzwischen
zählt sich die Autorin jedoch – freiwillig oder nicht – zu den neuen Nomaden – und geht nun davon aus, “es
gibt viele, die so sind wie ich. Entschwundene, Abwesende. Sie tauchen
plötzlich im Ankunfts-Terminal eines Flughafens auf und fangen an zu
existieren.” Die Städte sind für sie bald nur noch “Anhängsel der
Flughäfen”. Und irgendwann kommt die “Ich-weiß-nicht-wo-ich-bin-Phase”,
schließlich die Erkenntnis: “Wohin wir auch reisen, wir reisen immer
darauf zu. ‘Es ist nicht wichtig, wo ich bin’. Ich bin.”
Trotz aller Globalisierung hat sich die Industrie noch nicht richtig auf
diese neue Lebensweise eingestellt, Olga Tokarczuk bemerkt beim Einkauf
von Reisekosmetika, die aus besonders kleinen Packungen bestehen:
“Offensichtlich hält die Kosmetikindustrie das Reisephänomen für eine
verkleinerte Kopie des sesshaften Lebens, für seine spielerische, leicht
infantile Miniatur.” In einer Flughafen-Apotheke kauft sie eine
Schachtel mit einzeln verpackten Binden. “Auf jeder Verpackung stand
eine lustige kurze Begriffsdefinition: ‘Arachibutyphobie ist die Angst,
dass Erdnussbutter am Gaumen kleben bleibt’. ‘Der stärkste Muskel im
Körper des Menschen ist die Zunge’.” Einmal passierte es ihr, dass ein
Flug überbucht war: Zwei Passagiere sollten sich bereit erklären, eine
Nacht auf Kosten der Fluglinie im Hotel zu übernachten, außerdem bekämen
sie noch 200 Euro Entschädigung. Die Schriftstellerin willigte zusammen
mit einer Schwedin ein – dazu bemerkt sie: “Hier tut sich jetzt eine
ganz neue Dimension von Arbeit auf, vielleicht ist das die
Einkunftsquelle der Zukunft, die Rettung vor Arbeitslosigkeit und
Überproduktion von Abfall. Vom Flug zurücktreten, mit der Übernachtung
im Hotel ein Tageseinkommen verdienen, morgens vom großen
Frühstücksbuffet essen und die reiche Auswahl an Joghurt genießen.”
Nachts an der Hotelbar erzählte Olga Tokarczuk der Schwedin von ihrem
unsteten “Wanderleben”, die Schwedin behauptete, “die Welt wirke nur auf
den ersten Blick so vielfältig.” Zudem würden sich gerade die am
weitesten voneinander entfernten Orte oft frappierend ähneln.
Hier photographierte Peter Grosse die kleine illegale Pollersammlung seines Forscherkollegen M. aus Poznan.
Früher hat die Schriftstellerin die Orte beschrieben, durch die sie kam,
aber nun weiß sie die “schreckliche Wahrheit: Beschreiben heißt
vernichten. Deshalb passe man besser auf. Am besten nennt man keine
Namen.” Ähnlich denkt sie inzwischen – als “Bürgerin eines Netz-Staates”
– auch über die “Wikipedia”-Enzyklopädie, das für sie “anständigste der
menschlichen Erkenntnis gewidmete Projekt, das es gibt,” aber es müsste
“des Gleichgewichts halber auch noch eine andere Wissenssammlung geben,
von dem, was wir nicht wissen – keiner Suchmaschine zugänglich.” Wo
Information gesammelt wird, braucht es auch “Antiinformation”. Sie macht
die seltsame Entdeckung: Für Flugängstliche gibt es in Mitteleuropa
spezielle Schlafwagen-Züge, die von den Hauptbahnhöfen auf Nebengleisen
abfahren und die sehr langsam sind. Man steigt diskret dort ein.
Unterwegs machen sich die Reisenden jedoch nachts an der Bordbar
ausgiebig miteinander bekannt. In Mailand nennt man diese Züge „Swinger-Expreß“.
Olga Tokarczuk unterscheidet verschiedene Typen von Reisenden: “Ich
kenne Menschen, die Reisen in das Marokko aus Bertoluccis Film, in James
Joyce Dublin, in das Tibet aus einem Film über den Dalai Lama.” Sie ist
darüber zu einer Reisepsychologin geworden, betreibt eine
“topographische Reise-Psychoanalyse” – ein Forschungszweig, der sich aus
der Flugpsychologie entwickelt hat: “Die Reisepsychologie befasst sich
mit dem reisenden Menschen, dem Menschen in Bewegung, und platziert sich
damit außerhalb der herkömmlichen Psychologie, die das Wesen des
Menschen immer im statischen Kontext, in stabiler Lage und Unbewegtheit
untersucht hat.” Das Leben des Menschen setzt sich jedoch “aus
Situationen zusammen”. Man kann nicht zwei Mal in die selbe Situation
steigen. Eine andere Reisetheorie besagt: “In Wirklichkeit gibt es keine
Bewegung. Wir bewegen uns nirgendwohin, wandern allenfalls zum Innern
eines Momentes.” Viele Menschen reisen planlos herum, um dadurch die
Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, einmal zur rechten Zeit am rechten Ort zu
sein. Manchmal reicht es ihnen aber auch schon, in einem bestimmten
Moment auf ein bestimmtes Buch zu stoßen: “Das ist ein den
Reisepsychologen unter dem Namen Synchronizität bekanntes Phänomen, ein
Beweis für den Sinn der Welt.” Zu anderen Zeiten stellt sich bei den
Reisenden wie aus dem Nichts ein Glücksgefühl ein, “das ganze Stunden,
ja Tage anhalten” kann. Einmal bekam die Autorin in einem “billigen
Hotel der Stadt X das Zimmer mit der Nummer neun” – und dazu einen
Schlüssel mit einem Nummernanhänger. “Bitte passen Sie gut auf den
Schlüssel auf. Der Neuner geht am häufigsten verloren,” schärfte ihr der
Portier ein. Und tatsächlich entdeckte sie, nachdem sie wegen einer
plötzlichen Fahrplanänderung die Stadt X in ziemlicher Hast verlassen
hatte, zu ihrem “Entsetzen den Schlüssel in ihrer Tasche”.
Dieses Erlebnis erweitert die vom Wissenssoziologen Bruno Latour zur Erklärung seiner “Akteur-Netzwerk-Theorie” aufgezeigte Funktionsweise der schweren metallenen Nummernanhänger an den Hotelzimmerschlüsseln – um wenigstens einen weiteren “Aktanten”, der zudem die von Latour angestrebte Indifferenz von Fakt und Fetisch begründen hilft – das aber nur am Rande.
Olga Tokarczuk rät den Hotelbesitzern: Statt der Bibel einige Bücher des
rumänischen Philosophen der Sinnlosigkeit Cioran in den Zimmern
auszulegen. Sie gesteht: “Es freute mich eigentlich nie, wenn ich an
einem fremden Ort auf Landsleute stieß. Ich tat so, als verstünde ich
die Laute meiner eigenen Sprache nicht, blieb lieber anonym.” Alle
Leute, die unterwegs sind, sprechen Englisch. “Man kann es sich schwer
vorstellen”, aber es gibt auch welche, deren “eigentliche Sprache
Englisch ist. Oft sogar die einzige. Sie haben nichts, worauf sie
zurückgreifen oder sich in Momenten des Zweifels stützen können. Wie
verloren müssen sie sich in der Welt vorkommen,” da alles in ihrer
privaten Sprache ist. “Es soll Pläne geben, sie unter Schutz zu stellen,
ihnen sogar eine von diesen kleinen ausgestorbenen Sprachen zuzuweisen,
die niemand mehr braucht, damit sie auch eine eigene haben, die nur
ihnen gehört.”
Plötzlich stößt der Journalist unterwegs an einem idyllischen See auf – Pollerkunst! Photo: Peter Grosse
Und an einer anderen Stelle – ebenfalls am Wasser – sogar auf einen zerborstenen Kunstpoller. Photo: Peter Grosse
Statt von alten und neuen Nomaden könnte man auch von Steppe und Großstadtdschungel reden.
Der Polonist Philipp Goll schrieb mir gerade in einer mail:
Als ich soeben Deinen neuen Blogeintrag über die Nomaden las,
erinnerte ich mich, dass ich Dir noch einen Link zu der Zeitschrift
„Behemoth“ schicken wollte, die sich in der aktuellen Ausgabe mit der
„Steppe“ und ihren Bewohnern beschäftigt. Falls Du es noch nicht
kennst: http://www.behemoth-journal.de/current-issue/
Dort heißt es:
Behemoth – A Journal on Civilisation
Die Steppe
Matthias Hardt/Christian Lübke (Hg.)
„Die Hunnen – Todesreiter aus der Steppe“ (Filmtitel) – „Aus den Tiefen der Steppe drangen geheimnisvolle Reiterkrieger nach Europa vor und trieben ganze Völker vor sich her“ (Begleittext zu einer Ausstellung über Attila und die Hunnen): Die Steppe lässt sich offenbar nicht nur mit Hilfe geographischer Kategorien erfassen, sondern wird vor dem Hintergrund der Völkerwanderungszeit und der mit ihr in Verbindung gebrachten Schreckensbilder auch als ein Raum konstruiert, wo Ordo und Chaos in einer letzten, entscheidenden Schlacht aufeinandertreffen. Die Artikel dieses Behemoth-Themenheftes spannen den Bogen von Szenarien der Bedrohung von Ordnung und Ohnmacht gegenüber den „Gefahren aus der Steppe“ hin zu Versuchen, diesen Herausforderungen zu begegnen – sei es durch historiographische und künstlerische oder verwaltungstechnische und wissenschaftliche Interpretationen/Interventionen. Dabei wird deutlich, dass sich das „Eigenleben“ der Steppe bzw. der „Eigensinn“ ihrer Bewohner nur widerspenstig in von außen herangetragene Ordnungsmuster überführen lassen.
Ende Oktober veranstaltet Georgij vom Zentralinstitut für Literaturwissenschaft eine Tagung in Tiflis – über das Schwarze Meer. Dabei geht es u.a. auch um städtische Bevölkerungen versus Steppenreiter. Davon handelt u.a. ein Vortrag von Peter Berz über Ovid, den man seinerzeit in einen Ort an der Donaumündung verbannt hatte – und diese Stadtkolonie wurde immer mal wieder von Steppenvölkern bedroht.
Umgekehrt drehte Wladimir Kaminer gerade einen Film über seine Schwiegermutter im Nordkaukasus. Sie ist eine Kosakin aus Grosny, die in die Steppe ausgesiedelt wurde. Die pensionierte Geologin, die lange Zeit auf Sachalin arbeitete, wohnt nun in der „Steppenstraße“. Aber das ist eigentlich die Regel weltweit: Dass die Städte sich über das Nomadenland ausbreiten. Besonders extrem gehen in dieser Hinsicht die religiös-zionistischen Siedler auf palästinensischem Land vor. Hier geht es jedoch eher um seßhafte Gärtner versus neonomadische Fanatiker, die zwar Kibbuzideale vor sich hertragen und das okkupierte öde Land angeblich fruchtbar machen wollen, in Wirklichkeit haben sie jedoch nur ein ganz abstraktes Verhältnis zum Land und zur Landarbeit, sie besetzen und vertreiben und töten notfalls lieber – und das um „Groß-Israel“ will – die Bibel als Grundbuch. Zu allen Übeln kommt dort noch hinzu, dass sie es im Gegensatz zu den ersten Kibbuzniks ohne Not tun, im Gegenteil: Es will eigentlich niemand mehr Land besetzen und erst recht nicht Landwirtschaft dort betreiben. (Siehe dazu, neben den hervorragenden Büchern des israelischen Historikers Tom Segev: „Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967“ von Idith Zertal und Akiva Eldar)
Selbst in der Mongolei, die immerhin den Nomadismus als Staatsideologie wiederbelebt hat, sollen, wenn es nach dem Willen ihrer Politiker geht, die Viehzüchter seßhaft werden – so wie es die US-Entwicklungshilfe bereits durchexerziert. Dabei werden im Endeffekt nur die aufgelösten sowjetischen Kolchosen als „Farmen“ im Privatbesitz wieder rekonstruiert. Daneben werden mit der Ansiedlung von immer mehr Bergbaukonzernen, vornehmlich aus Kanada, Australien und USA, die im Tagebau großflächig Bodenschätze abbauen, den nomadischen Viehzüchtern immer mehr Sommer- und Winterweiden entzogen. In der Gobi sprechen die dortigen Viehzüchter bereits davon, dass immer mehr Vertriebene aus den Bergbaugebieten bei ihnen in der sogenannten Wüste Zuflucht und neue Existenzmöglichkeiten suchen. Die mongolische Regierung hat gerade wieder mehrere Verträge mit Bergbaukonzernen, u.a. mit Ivanhoe Mines, abgeschlossen. Die Opposition protestierte.