vonHelmut Höge 14.10.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

Mehr über diesen Blog

Der Mensch – Nichts gegen Poller, schreibt der Photograph Peter Grosse zu diesem Bild

Zude, der zuletzt Politologie in Berlin und Stuttgart studierte, schrieb mir aus der mongolischen Hauptstadt, wo er u.a. zusammen mit Batjargal an der Herausgabe der nächsten Ausgabe unserer deutsch-mongolischen Zeitschrift „Supernomad“ arbeitet (bei der ich aus vor allem finanziellen Gründen nicht mehr Redakteur, sondern nur noch Autor bin): „Gibt es was Neues zum Thema bei dir?“

Ich schrieb ihm „Nein“ zurück. Schickte ihm dafür aber einige aktuelle „Nachrichten“ dazu:

1. Die Nobelpreisträgerin Herta Müller wurde gerade auch noch als
„Botschafterin der Nomaden“ ausgezeichnet. Damit sind die
Flüchtlinge/Vertriebenen/Umsiedler/Hin- und Hergeschobenen des Zweiten
Weltkriegs gemeint, letztere gibt es ja noch heute – Palästinenser u.a..

Diese „Migranten“ bewegen sich quasi zwischen den alten und den neuen
Nomaden – die alten, das sind die wegen ihrer Viehzucht nomadisierenden
Völker, deren Territorien (Spielräume) immer kleiner werden. Hier die
drei letzten Meldungen dazu:

2. In Borneo werden die letzten Nomaden (10.000) Borneos zur Seßhaftigkeit
gezwungen – weil man ihre Wälder abholzt.

3. In Tibet hat die chinesische Regierung fast 50.000 Nomaden fest angesiedelt.

4. Und in der Inneren Mongolei hat die chinesische Regierung seit 2001
650.000 mongolische Nomaden in Städten und Dörfern seßhaft gemacht.

5. Die „Neuen Nomaden“ nun – haben kulturell eine derartige Konjunktur
bekommen, dass man das Wort bald nicht mehr hören mag. Dies Jahr im Sommer gehörte
ich selber zu dieser heterogenen „Klasse“ – in drei (Bus-)Karawanen
sogar – Journalistentouren in die Rhön (Literatur), nach Südnorwegen
(Kunst) und nach Westpolen (Wodka, Wein, Bier). Die neuen Nomaden, das
sind also die Seßhaften, mit teilweise mehreren Wohnorten, denen man die
neue nomadische Existenzweise quasi aufzwingt.

Während bei den alten Nomaden den Frauen meistens eine feste Rolle
zugeteilt wurde (und hierzulande überhaupt nur als Pilgerin unterwegs
sein durfte), reisen bei den neuen Nomaden beige Geschlechter
gleichberechtigt zusammen bzw. jeder für sich allein. Während die Männer der alten Nomaden auf ihren Erbfolger achteten (und die Frauen deswegen nicht mit anderen Männern sexuell verkehren durften), ist die Vaterschaft bei den neuen Nomaden so gut wie abgeschafft – dafür können Männer und Frauen ihr Wissen untereinander austauschen, sie leben nicht mehr in verschiedenen Welten, sondern reisen im selben Abteil.

Na klar: Wissens-Poller vor der Bibliothek der Universität von Cambridge. Photo: Peter Grosse

Aber diese Straßenmöblierung blieb dem Photographen „rätselhaft“, wie er schrieb.

Die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk hat sich in ihrem neuen
Buch „Unrast“ diesem Phänomen existentiell genähert:
Das Unterwegs-Sein ermöglicht ihr die “größtmögliche Annäherung an das,
was unsere moderne Welt zu sein scheint: Bewegung und Instabilität.”
Gleich zu Beginn ihres neuen Romans “Unrast” heißt es: “Meine erste
Reise unternahm ich zu Fuß, quer über die Felder. Meine Abwesenheit
wurde lange nicht bemerkt, und so kam ich ziemlich weit.” Inzwischen
zählt sich die Autorin jedoch – freiwillig oder nicht – zu den neuen Nomaden – und geht nun davon aus, “es
gibt viele, die so sind wie ich. Entschwundene, Abwesende. Sie tauchen
plötzlich im Ankunfts-Terminal eines Flughafens auf und fangen an zu
existieren.” Die Städte sind für sie bald nur noch “Anhängsel der
Flughäfen”. Und irgendwann kommt die “Ich-weiß-nicht-wo-ich-bin-Phase”,
schließlich die Erkenntnis: “Wohin wir auch reisen, wir reisen immer
darauf zu. ‘Es ist nicht wichtig, wo ich bin’. Ich bin.”

Trotz aller Globalisierung hat sich die Industrie noch nicht richtig auf
diese neue Lebensweise eingestellt, Olga Tokarczuk bemerkt beim Einkauf
von Reisekosmetika, die aus besonders kleinen Packungen bestehen:
“Offensichtlich hält die Kosmetikindustrie das Reisephänomen für eine
verkleinerte Kopie des sesshaften Lebens, für seine spielerische, leicht
infantile Miniatur.” In einer Flughafen-Apotheke kauft sie eine
Schachtel mit einzeln verpackten Binden. “Auf jeder Verpackung stand
eine lustige kurze Begriffsdefinition: ‘Arachibutyphobie ist die Angst,
dass Erdnussbutter am Gaumen kleben bleibt’. ‘Der stärkste Muskel im
Körper des Menschen ist die Zunge’.” Einmal passierte es ihr, dass ein
Flug überbucht war: Zwei Passagiere sollten sich bereit erklären, eine
Nacht auf Kosten der Fluglinie im Hotel zu übernachten, außerdem bekämen
sie noch 200 Euro Entschädigung. Die Schriftstellerin willigte zusammen
mit einer Schwedin ein – dazu bemerkt sie: “Hier tut sich jetzt eine
ganz neue Dimension von Arbeit auf, vielleicht ist das die
Einkunftsquelle der Zukunft, die Rettung vor Arbeitslosigkeit und
Überproduktion von Abfall. Vom Flug zurücktreten, mit der Übernachtung
im Hotel ein Tageseinkommen verdienen, morgens vom großen
Frühstücksbuffet essen und die reiche Auswahl an Joghurt genießen.”
Nachts an der Hotelbar erzählte Olga Tokarczuk der Schwedin von ihrem
unsteten “Wanderleben”, die Schwedin behauptete, “die Welt wirke nur auf
den ersten Blick so vielfältig.” Zudem würden sich gerade die am
weitesten voneinander entfernten Orte oft frappierend ähneln.

Hier photographierte Peter Grosse die kleine illegale Pollersammlung seines Forscherkollegen M. aus Poznan.

Früher hat die Schriftstellerin die Orte beschrieben, durch die sie kam,
aber nun weiß sie die “schreckliche Wahrheit: Beschreiben heißt
vernichten. Deshalb passe man besser auf. Am besten nennt man keine
Namen.” Ähnlich denkt sie inzwischen – als “Bürgerin eines Netz-Staates”
– auch über die “Wikipedia”-Enzyklopädie, das für sie “anständigste der
menschlichen Erkenntnis gewidmete Projekt, das es gibt,” aber es müsste
“des Gleichgewichts halber auch noch eine andere Wissenssammlung geben,
von dem, was wir nicht wissen – keiner Suchmaschine zugänglich.” Wo
Information gesammelt wird, braucht es auch “Antiinformation”. Sie macht
die seltsame Entdeckung: Für Flugängstliche gibt es in Mitteleuropa
spezielle Schlafwagen-Züge, die von den Hauptbahnhöfen auf Nebengleisen
abfahren und die sehr langsam sind. Man steigt diskret dort ein.
Unterwegs machen sich die Reisenden jedoch nachts an der Bordbar
ausgiebig miteinander bekannt. In Mailand nennt man diese Züge „Swinger-Expreß“.

Olga Tokarczuk unterscheidet verschiedene Typen von Reisenden: “Ich
kenne Menschen, die Reisen in das Marokko aus Bertoluccis Film, in James
Joyce Dublin, in das Tibet aus einem Film über den Dalai Lama.” Sie ist
darüber zu einer Reisepsychologin geworden, betreibt eine
“topographische Reise-Psychoanalyse” – ein Forschungszweig, der sich aus
der Flugpsychologie entwickelt hat: “Die Reisepsychologie befasst sich
mit dem reisenden Menschen, dem Menschen in Bewegung, und platziert sich
damit außerhalb der herkömmlichen Psychologie, die das Wesen des
Menschen immer im statischen Kontext, in stabiler Lage und Unbewegtheit
untersucht hat.” Das Leben des Menschen setzt sich jedoch “aus
Situationen zusammen”. Man kann nicht zwei Mal in die selbe Situation
steigen. Eine andere Reisetheorie besagt: “In Wirklichkeit gibt es keine
Bewegung. Wir bewegen uns nirgendwohin, wandern allenfalls zum Innern
eines Momentes.” Viele Menschen reisen planlos herum, um dadurch die
Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, einmal zur rechten Zeit am rechten Ort zu
sein. Manchmal reicht es ihnen aber auch schon, in einem bestimmten
Moment auf ein bestimmtes Buch zu stoßen: “Das ist ein den
Reisepsychologen unter dem Namen Synchronizität bekanntes Phänomen, ein
Beweis für den Sinn der Welt.” Zu anderen Zeiten stellt sich bei den
Reisenden wie aus dem Nichts ein Glücksgefühl ein, “das ganze Stunden,
ja Tage anhalten” kann. Einmal bekam die Autorin in einem “billigen
Hotel der Stadt X das Zimmer mit der Nummer neun” – und dazu einen
Schlüssel mit einem Nummernanhänger. “Bitte passen Sie gut auf den
Schlüssel auf. Der Neuner geht am häufigsten verloren,” schärfte ihr der
Portier ein. Und tatsächlich entdeckte sie, nachdem sie wegen einer
plötzlichen Fahrplanänderung die Stadt X in ziemlicher Hast verlassen
hatte, zu ihrem “Entsetzen den Schlüssel in ihrer Tasche”.

Dieses Erlebnis erweitert die vom Wissenssoziologen Bruno Latour zur Erklärung seiner “Akteur-Netzwerk-Theorie” aufgezeigte Funktionsweise der schweren metallenen Nummernanhänger an den Hotelzimmerschlüsseln – um wenigstens einen weiteren “Aktanten”, der zudem die von Latour angestrebte Indifferenz von Fakt und Fetisch begründen hilft – das aber nur am Rande.

Olga Tokarczuk rät den Hotelbesitzern: Statt der Bibel einige Bücher des
rumänischen Philosophen der Sinnlosigkeit Cioran in den Zimmern
auszulegen. Sie gesteht: “Es freute mich eigentlich nie, wenn ich an
einem fremden Ort auf Landsleute stieß. Ich tat so, als verstünde ich
die Laute meiner eigenen Sprache nicht, blieb lieber anonym.” Alle
Leute, die unterwegs sind, sprechen Englisch. “Man kann es sich schwer
vorstellen”, aber es gibt auch welche, deren “eigentliche Sprache
Englisch ist. Oft sogar die einzige. Sie haben nichts, worauf sie
zurückgreifen oder sich in Momenten des Zweifels stützen können. Wie
verloren müssen sie sich in der Welt vorkommen,” da alles in ihrer
privaten Sprache ist. “Es soll Pläne geben, sie unter Schutz zu stellen,
ihnen sogar eine von diesen kleinen ausgestorbenen Sprachen zuzuweisen,
die niemand mehr braucht, damit sie auch eine eigene haben, die nur
ihnen gehört.”

Plötzlich stößt der Journalist unterwegs an einem idyllischen See auf – Pollerkunst! Photo: Peter Grosse

Und an einer anderen Stelle – ebenfalls am Wasser – sogar auf einen zerborstenen Kunstpoller. Photo: Peter Grosse

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/10/14/neuer_und_alter_nomadismus/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • Statt von alten und neuen Nomaden könnte man auch von Steppe und Großstadtdschungel reden.

    Der Polonist Philipp Goll schrieb mir gerade in einer mail:

    Als ich soeben Deinen neuen Blogeintrag über die Nomaden las,
    erinnerte ich mich, dass ich Dir noch einen Link zu der Zeitschrift
    „Behemoth“ schicken wollte, die sich in der aktuellen Ausgabe mit der
    „Steppe“ und ihren Bewohnern beschäftigt. Falls Du es noch nicht
    kennst: http://www.behemoth-journal.de/current-issue/

    Dort heißt es:

    Behemoth – A Journal on Civilisation

    Die Steppe
    Matthias Hardt/Christian Lübke (Hg.)

    „Die Hunnen – Todesreiter aus der Steppe“ (Filmtitel) – „Aus den Tiefen der Steppe drangen geheimnisvolle Reiterkrieger nach Europa vor und trieben ganze Völker vor sich her“ (Begleittext zu einer Ausstellung über Attila und die Hunnen): Die Steppe lässt sich offenbar nicht nur mit Hilfe geographischer Kategorien erfassen, sondern wird vor dem Hintergrund der Völkerwanderungszeit und der mit ihr in Verbindung gebrachten Schreckensbilder auch als ein Raum konstruiert, wo Ordo und Chaos in einer letzten, entscheidenden Schlacht aufeinandertreffen. Die Artikel dieses Behemoth-Themenheftes spannen den Bogen von Szenarien der Bedrohung von Ordnung und Ohnmacht gegenüber den „Gefahren aus der Steppe“ hin zu Versuchen, diesen Herausforderungen zu begegnen – sei es durch historiographische und künstlerische oder verwaltungstechnische und wissenschaftliche Interpretationen/Interventionen. Dabei wird deutlich, dass sich das „Eigenleben“ der Steppe bzw. der „Eigensinn“ ihrer Bewohner nur widerspenstig in von außen herangetragene Ordnungsmuster überführen lassen.

    Ende Oktober veranstaltet Georgij vom Zentralinstitut für Literaturwissenschaft eine Tagung in Tiflis – über das Schwarze Meer. Dabei geht es u.a. auch um städtische Bevölkerungen versus Steppenreiter. Davon handelt u.a. ein Vortrag von Peter Berz über Ovid, den man seinerzeit in einen Ort an der Donaumündung verbannt hatte – und diese Stadtkolonie wurde immer mal wieder von Steppenvölkern bedroht.

    Umgekehrt drehte Wladimir Kaminer gerade einen Film über seine Schwiegermutter im Nordkaukasus. Sie ist eine Kosakin aus Grosny, die in die Steppe ausgesiedelt wurde. Die pensionierte Geologin, die lange Zeit auf Sachalin arbeitete, wohnt nun in der „Steppenstraße“. Aber das ist eigentlich die Regel weltweit: Dass die Städte sich über das Nomadenland ausbreiten. Besonders extrem gehen in dieser Hinsicht die religiös-zionistischen Siedler auf palästinensischem Land vor. Hier geht es jedoch eher um seßhafte Gärtner versus neonomadische Fanatiker, die zwar Kibbuzideale vor sich hertragen und das okkupierte öde Land angeblich fruchtbar machen wollen, in Wirklichkeit haben sie jedoch nur ein ganz abstraktes Verhältnis zum Land und zur Landarbeit, sie besetzen und vertreiben und töten notfalls lieber – und das um „Groß-Israel“ will – die Bibel als Grundbuch. Zu allen Übeln kommt dort noch hinzu, dass sie es im Gegensatz zu den ersten Kibbuzniks ohne Not tun, im Gegenteil: Es will eigentlich niemand mehr Land besetzen und erst recht nicht Landwirtschaft dort betreiben. (Siehe dazu, neben den hervorragenden Büchern des israelischen Historikers Tom Segev: „Die Herren des Landes. Israel und die Siedlerbewegung seit 1967“ von Idith Zertal und Akiva Eldar)

    Selbst in der Mongolei, die immerhin den Nomadismus als Staatsideologie wiederbelebt hat, sollen, wenn es nach dem Willen ihrer Politiker geht, die Viehzüchter seßhaft werden – so wie es die US-Entwicklungshilfe bereits durchexerziert. Dabei werden im Endeffekt nur die aufgelösten sowjetischen Kolchosen als „Farmen“ im Privatbesitz wieder rekonstruiert. Daneben werden mit der Ansiedlung von immer mehr Bergbaukonzernen, vornehmlich aus Kanada, Australien und USA, die im Tagebau großflächig Bodenschätze abbauen, den nomadischen Viehzüchtern immer mehr Sommer- und Winterweiden entzogen. In der Gobi sprechen die dortigen Viehzüchter bereits davon, dass immer mehr Vertriebene aus den Bergbaugebieten bei ihnen in der sogenannten Wüste Zuflucht und neue Existenzmöglichkeiten suchen. Die mongolische Regierung hat gerade wieder mehrere Verträge mit Bergbaukonzernen, u.a. mit Ivanhoe Mines, abgeschlossen. Die Opposition protestierte.

  • Ebenfalls in der heutigen taz – auf der „Wahrheits-Seite“ – berichtet Christian Y. Schmidt über eine Reise in die Innere Mongolei – an eines der vielen Gräber von Dschingis Khan:

    Am Schluss meiner Reise in die Innere Mongolei wollte ich das Grab von Dschingis Kahn besuchen, das südlich der Stadt Dongsheng liegt. Der berühmteste Mongole aller Zeiten liegt hier zwar nicht wirklich begraben, aber – wie es heißt – immerhin seine Seele. Weil wir das Grab an einem Tag nicht erreichen konnten, beschlossen wir in Dongsheng zu übernachten.

    Wir hätten es nicht schlechter treffen können. Aber erst einmal machten wir große Augen. Mitten in der Steppe hatte man Stadtviertel wie aus einem Science-Fiction-Roman hochgezogen, und der Busbahnhof sah aus wie ein Flughafenterminal. Hier erfuhren wir auch, dass es die Stadt Dongsheng eigentlich gar nicht mehr gibt. Im Jahr 2001 war aus ihr ein Stadtbezirk der Megacity Ordos geworden, die mit 86.752 Quadratkilometer größer ist als Österreich.

    Diese Zahl las ich allerdings erst später, auch, dass Ordos aufgrund seiner vielen Bodenschätze die Stadt mit dem zweithöchsten Pro-Kopf-Einkommen Chinas ist. Das war jedoch nicht zu übersehen. Die letzten Reste der alten Stadt wurden gerade abgerissen, und die neuen Viertel wirkten wie geleckt.

    Zunächst sahen wir das mit Wohlgefallen. Es gibt wahrlich genug hässliche chinesische Städte. Doch dann wurde uns immer mulmiger. Durch die Stadt patrouillierten so viele Polizeiwagen wie in keiner anderen chinesischen Stadt, auf jeder Straßenkreuzung stand ein Polizist, und eines der imposantesten Gebäude in der Stadt war das Polizeipräsidium. Auch die Leute auf der Straße machten einen seltsamen Eindruck. Niemand ging bei Rot über die Straße, und als es ein Mann doch wagen wollte, hörte die Dolmetscherin seine Gattin sagen: „Schatz, wir wollen uns doch an die Regeln halten.“ Ich konnte es nicht fassen. In China sind Regeln gewöhnlich dazu da, gebrochen zu werden, und Fußgängerampeln dienen der Volksbelustigung.

    Das Schlimmste aber stand uns noch bevor. Als wir wie üblich gemeinsam in einem Mittelklassehotel einchecken wollten, wurde uns das verwehrt. „Unser Hotel“, säuselte die Rezeptionistin, „ist für die Unterbringung von Ausländern nicht qualifiziert.“ Wir müssten eins der teuren Science-Fiction-Hotels nehmen. Als ich erwiderte, dass das Rassismus sei, dem ich mich nicht beugen würde, holte sie die Polizei. Der Polizist sagte mir, es gäbe in der Stadt Ordos eine Bestimmung, dass Ausländer in Hotels dieses schlechten Standards nicht wohnen dürften. Das geschähe nur zu meinem eigenen Schutz. Vor was oder wem man mich schützen wollte, konnte er nicht erklären. Aber weil er ja der Schutzmann war, gab ich das Wortgefecht mit ihm nach einer Stunde auf.

    Wir kamen dann doch noch in einem Hotel unter, wo sich der Guerilla-Hotelier nicht um die Bestimmungen kümmerte. Am nächsten Morgen besuchten wir Dschingis Kahn. Vor seinem Grab ertappte ich mich dabei, wie ich plötzlich redete: „Komm, großer Kahn, aus deiner Gruft, und wüte doch ein bisschen mit deiner wilden Horde in diesem oberaufgeräumten Ordos.“ Danach verließen wir die ungastliche Riesenstadt auf dem Fuße.

  • Die mongolischen Rennmäuse leben eigentlich nicht nomadisch. Weil sie jedoch so beliebt sind – als erste Haustiere für Kinder, haben sie es mittlerweile geschafft, sich über die ganze Welt zu verbreiten. In der taz berichtete heute Barbara Dribbusch:

    An jenem Abend sitze ich mit Freundin Britt und Thomas in der Küche, und nach dem dritten Rotwein kommt das Thema wieder auf: die Hausgemeinschaft für Ältere. Eine beliebte Idee für uns um die 50. Aber ich bin heute abwesend. Ich denke an Natascha.

    Ihre WG-Partnerin Justine hatte plötzlich auf dem Rücken gelegen und alle Viere von sich gestreckt. Sie war buchstäblich mausetot. Nach der Beerdigung stellte sich die Frage: Was tun mit ihrer Schwester und Terrariums-Mitbewohnerin Natascha? Rennmäuse darf man niemals alleine halten, das wäre Tierquälerei.

    „Ein Trenngitterkäfig“, klärte mich Dana aus dem „Rennmausforum“ auf, „mit einem Trenngitterkäfig muss man anfangen, wenn man zwei fremde Rennmäuse vergesellschaften will.“

    Man kann zu einer vereinsamten Rennmaus nämlich nicht einfach ein unbekanntes Tier dazusetzen. Die einander fremden ArtgenossInnen würden sich gegenseitig anfallen und vielleicht sogar zu Tode beißen. Fremde Tiere können sich buchstäblich erst mal „nicht riechen“. Weibchen gelten als besonders kriegerisch. Und dass Natascha mit zwei Jahren schon im höheren Rennmausalter war, machte die Sache auch nicht einfacher.

    „Eine VG braucht Fingerspitzengefühl“, erklärte Dana im Online-Forum, wo ich mich unter dem Decknamen „Natascha“ erkundigte. Eine „VG“, eine Vergesellschaftung, ist die allerhöchste Kunst in der Rennmaus-Szene.

    Die VG geht so: Man setzt die beiden Rennmäuse – in der Regel gleichgeschlechtlich – in einen geruchsneutralen Käfig oder ein Terrarium. Der Käfig muss durch ein Trenngitter in der Mitte geteilt sein, sodass sich die Mäuse sehen und riechen, aber nicht anfallen und beißen können.

    Jeden Abend müssen die Rennmäuse in die jeweils andere Käfighälfte umgesetzt werden, das heißt, sie müssen sich an die Einstreu und den Geruch des fremden Tiers gewöhnen. So geht es hin und her, bis zu 14 Tage lang, bis die Mäuse keinen Unterschied mehr machen zwischen ihrem Geruch und dem der fremden Maus. Wenn alles klappt, beschnuppern sich die Tiere freundlich oder schlafen sogar nahe beieinander, nur noch durch das Gitter getrennt. Dann kommt der Tag, an dem das Trenngitter hochgezogen wird.

    „Bei mir sind die beiden friedlich“, schwärmte Sabine im Rennmausforum. Online hatte sie zehn Stunden lang von ihrer VG berichtet. Das Trenngitter war seit dem Morgen oben. „Na ja, ein bisschen Rangelei gab es, aber nichts Blutiges“, erfuhr die Rennmausgemeinde. „Gaja scheint die Dominantere zu. Sie hat Maja gejagt und besprungen.“

    Auch Weibchen untereinander bespringen sich. Die Überlegene sprüht ein Geruchssekret aus ihren Bauchdrüsen auf die unten Befindliche, um ihren höheren Status zu definieren.

    „Wenn die Rangordnung erst mal geklärt ist“, so hatte Dana im Forum ausgeführt, „sind die Mädels relaxter miteinander. Der Stress entsteht immer dann, wenn die Hierarchie neu definiert wird.“

    Um es kurz zu machen: Natascha lebt jetzt in Neuruppin. Mit Miranda zusammen. „VG geglückt“, mailte Christine, Mirandas Besitzerin, nach einer Woche Trenngitter. Über meinem Schreibtisch hängt ein Foto von den beiden. Sie kuscheln. Natascha soll die Schüchterne, die Nachgebende sein. Was ihr Glück war. Hätten sie sich blutig gebissen, wäre Natascha wieder bei mir gelandet. Allein und einsam.

    Britt reißt mich aus meinen Gedanken. „Ohne die soziale Kompetenz der Frauen“, verkündet sie, „da kannst du jede Hausgemeinschaft voll vergessen. Ist so.“ Stimmt. Aber dass Britt immer das letzte Wort haben muss. Das stört mich manchmal schon.

  • In der SZ findet sich heute ein längerer Text über die Schriftstellerin und Juristin Seyran Ates, die in ihrem neuen Buch eine „sexuelle Revolution in der islamischen Welt“ fordert. So etwas kann man zwar über eine Forderung schlecht erreichen, aber sie wird seitdem mit Drohungen islamischer Männer überhäuft.

    Die in Deutschland lebende Ates hat sich von den Grünen zurückgezogen, weil man „dort den meisten Verteidigern von Kopftuchträgerinnen und Kulturrelativisten begegne“.

    „Das Kopftuch, ein Symbol der Freiheit?“ Das kann sie nicht akzeptieren: „Für mich ist es eindeutig ein Symbol der Unterordnung der Frau. Denn erst durch die Verhüllung wird die Frau zum Sexualobjekt degradiert.“

  • Der FAZ-Herausgeber Frank Schirmacher hielt vor einiger Zeit – mit seinem Buch „Minimum“ dagegen:

    Ein Rezensent schrieb:

    Schirrmacher glaubt: Blut ist dicker als Wasser und deswegen werden wir, die kinderarmen Deutschen, kaum lösbare Probleme bekommen. Denn aufgrund vieler Einzelkinder und Patchworkfamilien werde es zu wenige enge verwandtschaftliche Blutbindungen geben. Genau die seien aber notwendig, damit eine Gesellschaft funktioniert.

    „Schirrmacher illustriert seine These mit unzähligen Beispielen aus der neueren Geschichte, der Literaturgeschichte sowie Geschichten, die er in Filmen und im Fernsehen erlebt. Und immer und immer wieder wird die amerikanische Tragödie am „Donnerpass“ zitiert, die das Buch auch dramatisch einleitet. Schirrmacher erzählt die Geschichte von Siedlern, die 1846 in den USA gen Westen zogen, in einem Schneesturm stecken blieben und monatelang um ihr Leben kämpften.“

    Bei diesen vorübergehenden Nomaden, die loszogen, um wieder seßhafte Bauern zu werden, starben während des Schneesturms „fast alle Männer, viele davon alleinstehende Abenteurer – während die meisten Frauen überlebten, weil sie in Familien lebten und sozial eingestellt waren. Das unterstreicht die Bedeutung von Familien in plausibler Weise.“

    Schirmacher polemisiert damit vor allem gegen die „Patchworkfamilie“ der neuen Nomaden und ihrer „Netzwerke“. Dabei dürfte auch diese bloß ein Übergangsphänomen sein – zwischen den alten üblen „Familienbanden“ und den neuen „Alleinreisenden“, von denen Olga Tokarczuk erzählt.

  • Die obige Meldung von der Buchmesse stammt aus spiegel-online, hier ist noch eine aus der online-taz:

    Ein Architekturbüro lehnt eine Kopftuch tragende Bewerberin ab – wegen „islamistischer Einstellung“. Das ist kein Einzelfall.

    Was als Rassismus daherkommt – und dementsprechend kritisiert wird (hier von taz-redakteurin Heide Platen) – kann man auch als Ablehnung der traditionellen Attribute/Bräuche durch die neuen Nomaden begreifen: die Architektur-Bewerberin will zu ihnen gehören, hat sich jedoch nach Art der alten Nomaden identifiziert, d.h. gleichzeitig von einer alten patriachalischen Religion deckeln lassen. Kopftuch, Schleier und Burka stehen für Geschlechtsverkehr im Rahmen einer Ehe, der der Zeugung dient. Ein Existenzmodell, das wehrhafte aufgeplusterte Männchen auf der einen Seite und gebärende und säugende Weibchen auf der anderen voraussetzt – und das so gar nicht zu den Junggesellenmaschinen des neuen Nomadismus paßt. Es gibt zwar jede Menge Hybridformen inzwischen, aber das sind wahrscheinlich bloße Übergangsmodelle – so z.B. wie die Anstrengungen der Öl-Emirate am Persischen Golf, sich mit internationaler Kunst und ähnlich teurem Quatsch aufzumotzen. Oder umgekehrt die Statements des kirgisischen Außenministers: Aufgrund des Frauenüberschusses im Land (sie Männer sind alle als Gastarbeiter unterwegs) sollen die zurückgebliebenen Männer mehrere Frauen heiraten dürfen, damit diese endlich alle unter die Haube kommen – und Kinder kriegen.

    Die neuen Nomaden (Männer wie Frauen), in der Architektur-Branche besonders, wollen meist nur noch mit jungen modernen Frauen zusammenarbeiten, die sich selbstbewußt geben und sexy kleiden – und zur Not auch einen „Blow-Job“ nicht ablehnen – wenn er ihnen nicht gerade nach Feierabend abverlangt wird.

    Dies übrigens einer der Gründe, warum nicht wenige Feministen, u.a. Christina von Braun, quasi für den Schleier, das Kopftuch „kämpfen“. Es geht ihnen um dabei um die Selbstbestimmung der Frau, mindestens um tolerante Multikulturalität – und nicht um kampfstarke, der internationalen Konkurrenz gewachsene Architekturbüros, ausgerechnet in Hessen.

  • Einige politisch denkende Männer in Deutschland (wo sich – ebenso wie in China – die Staatsangehörigkeit noch nach dem „Blut“ bestimmt) raten jetzt – nicht wie Olga Takarcuk den Hotelbesitzern, sondern den deutschen Männern:

    Um so schnell wie möglich Millionen zu verdienen, sollte ein deutscher Mann sich am besten eine chinesische Ehefrau suchen. Das hat jedenfalls der Chef der Goethe-Institute in China, Michael Kahn-Ackermann, den Zuhörern am Mittwoch auf der Frankfurter Buchmesse geraten.

    „Chinesinnen sind zielstrebiger und härter“, sagte Kahn-Ackermann bei einer Diskussion über kulturelle Missverständnisse zwischen Europa und China.

    Europäer, die eine Beziehung mit einer Chinesin eingingen, würden davon häufig überrascht. So glaubten Deutsche auf Brautschau in Fernost zumeist, dass die Asiatinnen wegen ihrer zarten Haut äußerst sanftmütig seien, sagte der Goethe-Vertreter.

    Er ist wahrscheinlich selbst mal diesem Irrtum erlegen, hat dann aber aus der Not eine Tugend gemacht – als Goethe-Nomade.

    Diese Spezies gehört noch wie die Firmenvertreter, Botschafter etc. zur (privilegierten) Zwischenschicht – zwischen alten und neuen Nomaden.

  • Folgt man dem gemäßigt darwinistischen Anthropologen und Primatenforscher Frans de Waal, dann stehen die alten Nomaden den Schimpansen nahe, während die neuen Nomaden den Bonobos ähneln bzw. nacheifern.

    Seltsam an seinen diesbezüglichen Darstellungen (in „Der Affe in uns“ und „Primaten und Philosophen“) ist, dass er stets davon ausgeht, den männlichen Affen gehe es um eine Weitergabe ihrer Gene, also um eine Nachkommenschaft – deren Herkunft sie dahingehend genau kontrollieren, dass sie keine anderen Männchen an ihr(e) Weibchen lassen. Man kann zwar davon ausgehen, dass die Affen den Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Geburt eines Kindes nicht kennen, weil es noch heute einige Menschen-Völker gibt, die ihn nicht kennen, dennoch bleibt der Darwinist Frans de Waal dabei: Die Affen tun einfach so – als wüßten sie es! (Die Bonobo-Weibchen sind so klug, dass sie fast mit allen Geschlechtsverkehr haben, so dass alle Männchen in den Neugeborenen ihre „potentiellen“ Kinder/Gene erkennen – und schützen. )

    Ich würde stattdessen sagen, es geht bei männlichen Affen wie Menschen um den Besitz – im Sinne von Michel Serres, d.h. die oder das Weibchen gehört zum verteidigten Territorium, bzw. ist Teil des Oikos. Ich glaube mich erinnern zu können – an einen juristischen Text, der darlegte, dass für die Ehefrauen in Griechenland lange Zeit nicht das Personen-, sondern nur das Sachenrecht galt.

    Und die Kinder wurden einfach billigend in Kauf genommen bzw. zum Besitz dazugezählt – fortlaufend numeriert.

    Der gesicherte Besitz von einem oder mehreren Weibchen – das bedeutet: Nie mehr allein, immer jemand da, der einen „groomt“, berührt, beachtet, anspricht, lobt, tadelt und hilft…Wir sind laut Frans de Waal zutiefst soziale Wesen. Das Asoziale ist bloß aufgepfropfte kapitalistische Scheiße, jedenfalls wenn es sich verfestigt auf Dauer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert