vonHelmut Höge 18.10.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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„Polen berühren!“ das sagten früher die Busunternehmer, die Butterfahrten z.B. von Friesland zu den Polenmärkten organisierten. So ähnlich wie die Kapitäne in Emden, die mit ihrem Schiff Butterfahrten über den Dollart unternahmen, dazu mußten sie kurz „Holland anticken“, wie das bei ihnen hieß.

Immer mal wieder hat man, in Berlin lebend, in einem der Orte an der nur etwa 80 Kilometer entfernten Oder-Neiße-Grenze zu tun – und kuckt dann auch immer mal kurz rüber nach Polen. Jetzt – nach einer Journalistentour durch drei Wojwodschaften Westpolens und ihre Hauptstädte, wobei es um alkoholhaltige Erfrischungsgetränke ging, konkret: in Stettin um Wodka, in Zielona Gora um Wein und in Poznan um Bier – muß ich erst mal meine bis dahin gesammelten polen-eindrücke hervorkramen, bevor ich mich pflichtgemäß an den Bericht über die Journalistentour, die „fließend Polnisch“ hieß, mache…

1. Zunächst besuchten wir alljährlich im Sommer das Filmfest in Lagow in der Wojwodschaft Libuskie (Lebuser Land) gleich hinter Frankfurt/Oder, 1997 schrieb ich darüber:

„Auf den weiten Gebieten der Lebuser Seenplatte um Lagow haben sich schon seit eh und je die verzwickten Schicksale der Deutschen und Polen verflochten“, heißt es im Faltblatt der örtlichen Touristenagentur. In den letzten 27 Jahren ging es dort jedoch vornehmlich zwischen den osteuropäischen Filmschaffenden und ihren Kritikern ab. Schon vorher hatte sich das romantisch zwischen zwei Seen gelegene Dorf am Rand der schlesischen Woiwodschaft Zielona Góra zu einem beliebten Sommertreffpunkt der polnischen Jugend entwickelt. Mit Gründung des Filmfestivals – das lange Zeit als „Lebuser Filmsommer“ firmierte (um dort auch Filme noch vor ihren offiziellen „Festival“- Premieren zeigen zu können) – bekam das Lagower Camping- und Badeleben einen pädagogisch wertvollen Inhalt.

Polen hat ein dem Kulturministerium unterstehendes Filmkomitee, das unter anderem auch Festivalförderung betreibt. In den siebziger Jahren wurde das Filmfestival in Gdansk gegründet, das später wegen der Streiks nach Gdynia auswich. Heute gibt es noch ein Kurzfilm-Festival in Krakau, ein Festival Neuer Medien in Lodz, ein katholisches Filmfestival in Nepokalanow sowie ein internationales Filmfestival in Warschau. Mit den knapper werdenden Subventionen haben die Festivals angefangen, untereinander zu konkurrieren. Der Lagower Festivalleiter Andrzej Kawala bekam das Budget in diesem Jahr erst Mitte Juni genehmigt, vorher mußte er auf eigenes Risiko die Vorbereitungen in Gang setzen. Er ist daneben auch noch seit zehn Jahren Pächter des Schlosses – ein ehemaliges Johanniter-Ordenskloster, in dem die Diskussionen, Partys und Preisverleihungen stattfinden. Auch das Betreiben dieses Hotels mit Restaurant wird immer schwieriger: Die Gemeinde hat kein Geld für Renovierungen, während des Festivals stürzte bereits ein Teil der Außenmauer ein.

Seit langer Zeit bekam in diesem Jahr wieder einmal ein polnischer Film einen Preis: Jerzy Stuhrs „Love Stories“ – die Liebesgeschichten von vier Männern (ein Dozent, ein Offizier, ein Priester und ein Gefängnisinsasse). Während der Preisverleihung zwangen die etwa 1.500 meist jugendlichen Besucher der Freiluftbühne den Bürgermeister von Zielona Góra, erst einmal Jerzy Stuhr reden zu lassen. „Ja, wir Polen sind anarchistisch“, erläuterte ein neben mir Stehender diese kleine Regiepanne.

Neben Jerzy Stuhr bekam auch noch der polnische Jungfilmer Michal Rosa einen Preis für seinen Film „Paint“ – über die Selbstfindungsprobleme heutiger Jugendlicher. Außerhalb des Wettbewerbs lief der alle begeisternde Kurzfilm von Marek Piwowski „A March“. Über Geheimdienstkanäle will der polnische Generalstab aus dem Brüsseler Nato-Hauptquartier erfahren haben, daß man dort die polnische Marschiertechnik derart ablehnt, daß es die Aufnahme Polens in die Nato gefährdet. Hohe polnische Militärs veranstalten deswegen einen Workshop, um einen neuen Marsch für die polnische Armee zu finden. Dazu haben sie Vertreter vieler gesellschaftlicher Kräfte eingeladen. Eine ähnliche Satire auf die Bundeswehr ist wahrscheinlich unmöglich. Von den ausländischen Filmen wurde Helke Misselwitz‘ deprimierendes „Engelchen“ ausgezeichnet sowie die tschechische Freiheitshymne „The Conspirators of Lust“ von Jan Svankmajer. Laut Festivalkatalog ein „erotischer Film, in dem kein Geschlechtsverkehr vorkommt“. Den ersten Preis erhielt der ungarische Spielfilm von Sara Sandor „The Prosecution“ – über eine Begegnung zwischen einer ungarischen Bauernfamilie und zwei Sowjetsoldaten Ende 1944, die für einige tödlich endet, für andere in Sibirien. Letztere wurden 1993 rehabilitiert.

Kornel Miglus, Leiter der Filmabteilung im polnischen Kulturinstitut Berlin und für die Vorauswahl der deutschen Filme zuständig, meint, daß es seit langem sehr gute Beziehungen zwischen Polen und Ungarn gibt und letztere es immer wieder schaffen, eigenwillige Filme zu machen. Auch zum tschechischen Kulturinstitut in Prag hat das Festival von Lagow gute Kontakte. Nach der Wende entstand in Cottbus ein Filmfestival mit einer ähnlichen osteuropäischen Orientierung wie das von Lagow. Seit einigen Jahren arbeiten beide eng zusammen. Anders als Cottbus muß Lagow jedoch seine Anträge auf Förderung des Festivals durch die EU erst in Warschau genehmigen lassen – und gerade von dort erwartet man jetzt das Schlimmste.

In diesem Jahr gab es erstmalig einen Sonderpreis für einen Dokumentarfilm – ihn bekam Pavel Kedzierski für „Jaka Polska“ (Was für ein Polen?): über den letzten Präsidentschaftswahlkampf. Auch der gemeine Dokumentarfilm von Jurij Chaszczewatski – über den weißrussischen Präsidenten Lukaschenko – wurde noch einmal in Lagow gezeigt. Erwähnt sei ferner der böse russische Kurzfilm „We build a house today“, in dem eine Gruppe Bauarbeiter mit einem Teleobjektiv beobachtet wird. Das Ende ist – laut Katalog – überraschend: „Das Haus steht fertig da!“

Nicht nur in die drei Kinos, auch zu den Filmdiskussionen kommen sehr viele junge Leute. Es gibt sogar einen Preis für die beste junge Filmkritik. Man sagt in der Branche, es gehe in Lagow inzwischen zu kritisch zu, auf eine Weise, die den Filmen eher schade. Auf mich wirkten die Diskussionen erst einmal viel weniger leichtfertig und nicht derart von Selbstdarstellung geprägt wie ähnliche Veranstaltungen in Deutschland. Als „geistiger Festivalleiter“ gilt seit Jahren der Filmkritiker und Historiker Andrzej Werner. Dazu werden auch immer wieder Philosophen nach Lagow eingeladen, zuletzt der Heidegger-Interpret Cesare Wodzinski.

Fast rund um die Uhr sitzt man in Lagow zusammen, und zwischendurch schaut man sich von einem Café aus die zu Hunderten auf der Hauptstraße hin- und herflanierenden Jugendlichen (in Hotpants) an – oder nimmt ein kühles Bad im See. Zwar gibt es dort nur wenige Urlauber, die mit Motorrädern oder schnellen Autos alkoholisierte Initiationsrituale durchführen, dennoch zeigt seit vier Jahren eine schwarze polizeiliche Spezialeinheit während des Filmfestivals – vor allem vor der Diskothek von Lagow – drohende Präsenz. Die Filmleute treffen sich nachts jedoch meist im „Abflußrohr“, der Kellerkneipe des ehemals staatlichen Hotels Lesnik, zu der noch eine überdachte Lagerfeuerstelle am See gehört.

Einmal verirrte sich ein Regisseur mit Familie bei einem Spaziergang auf ein Militärübungsgelände in der Nähe: Da er eine Videokamera dabei hatte, wurde er sogleich unter Spionageverdacht festgenommen. Am falschen Ort fühlte sich auch eine offizielle Film-Delegation aus Litauen, die in schwarzen Smokings angereist war. In Lagow tragen die meisten T-Shirts und Shorts. In fast jedem Haus kann man billig Zimmer mieten, ferner gibt es jede Menge Bootsverleihe und einen Reiterhof. Der Besitzer will die Pferde jedoch bald verkaufen, um sich einen Computer anzuschaffen.

Am letzten Tag des Festivals traf der Regisseur Marek Piwowski am See einen Bekannten, der inzwischen reich geworden und mit einem Motorboot angereist war. Piwowski konnte ihn dafür interessieren, das Schloß für etwa 10 Millionen Mark zu übernehmen und zu renovieren, unter anderem soll ein neues Kino dort eingebaut werden.

Dies wurde bereits alles mit der Gemeinde abgesprochen. Für das Festival wäre es vielleicht ein „Happy End“ – so lautet auch der Titel eines in Lagow gezeigten tschechischen Films von Petr Zelenka, in dem es jedoch eher umgekehrt um eine für den Markt zusammengestellte Musikgruppe geht, die erst von der Plattenfirma gelinkt wird und dann beschließt, unter dem neuen Namen „Happy End“ nur noch „strictly underground“ zu spielen.

Der Schloßbesitzer in spe hat schon jetzt verlauten lassen, das Filmfestival künftig besser vermarkten zu wollen. Einige Filmkritiker befürchten bereits, das dies den Charakter von Lagow ruinieren wird. Schon in diesem Jahr gab es eine erste Werbeveranstaltung auf dem Schloß: Die staatliche Schnapsbrennerei Polmos, das heißt ihre sehr erfolgreiche Gebietsvertretung von Zielona Góra, lud zu einem Empfang, auf dem zum einen der schon etablierte proletarische Wodka „Siwucha“ (Schwarzmarkt) und zum anderen der neue edle Tropfen „Polska wodka“ präsentiert wurden – bis zum Umfallen.

2. 1998 lernten wir dort den Filmemacher Marek Piwowski kennen:

„Marek war der Begabteste von

uns allen, aber auch der Faulste.“

Kazimierz Kutz

Der junge Piwowski mußte während seiner elf Schuljahre 13mal die Schule wechseln. Zum Film kam er während des Krieges: „Da sah ich einmal in einer deutschen Wochenschau in Warschau deutsche Panzer auftauchen – und wieder verschwinden. Hinter der Leinwand waren sie nicht: Ich verstand das nicht – und beschloß, mein Leben diesem Wunderwerk zu widmen.“ In dem Film hatten die Deutschen die Russen in die Flucht geschlagen. Später beschlagnahmten die Russen das Wochenschaumaterial, bearbeiteten es und zeigten die Filme erneut: Jetzt waren plötzlich die Deutschen auf der Flucht: „Noch ein Wunder!“

1955 versuchte er zusammen mit einem Freund von Stettin aus nach West- Berlin zu flüchten. Sie wurden an der Grenze verhaftet. „Wir versuchten ihnen einzureden, daß wir uns verlaufen hätten. Ich bekam zwei Jahre aufgebrummt und mußte in einer oberschlesischen Kohlenmine arbeiten.“ 1956 kam Piwowski bei einer Amnestie frei. Zuerst wollte er wieder in einer Kohlenmine zu arbeiten anfangen, dann beschloß er jedoch, Journalist zu werden. Er bestand die Aufnahmeprüfung an der Warschauer Universität und gewann später einen Reportage- Wettbewerb mit einer Humoreske über Seeleute bei der Zeitschrift Novocultura. Mit seinem Freund Frykowski zusammen schrieb er unter anderem einen Artikel über einen Schweden, der jedes Jahr in Zopot Urlaub machte. Der Schwede versuchte daraufhin die beiden Autoren zu verklagen. Diese hatten sich unterdessen an der Filmhochschule in Lodz eingeschrieben. Frykowski, Sohn reicher Eltern und eine Art sozialistischer Playboy, wurde später der erste private Filmproduzent Polens. Er ging dann in den Westen, wo er zuletzt für Roman Polanski „Wenn Katelbach kommt“ produzierte. 1968 wurde Frykowski von Charles Manson ermordet.

Piwowski beteiligte sich 1967 an einem internationalen Filmfestival in Bremen – zum Thema „Was machen junge Leute zwischen 16 und 18 Uhr?“. Für seinen Beitrag „Es brennt, es brennt, endlich passiert etwas“ filmte er ein Feuerwehrfest, auf dem eine Scheune in Flammen aufgeht, und das Treiben von Freeclimbern am Führerbunker „Wolfsschanze“. 1968 begann er mit den Dreharbeiten zu seinem ersten Spielfilm: „Rejs“ (was eine „Sauftour“ aber auch eine „kosmische Odyssee“ sein kann, in diesem Fall jedoch mit „Dampferfahrt“ zu übersetzen ist). „Ein Journalist sah sich die Dreharbeiten auf dem Schiff an. Anschließend sagte er: ,Das wird ein Film gegen die Regierung.‘ – Was nicht falsch war. Der Film kam dann 1970 nur mit einer Kopie – also halb zensiert – in die Kinos. Das war jedoch die beste Reklame: Nach einem Jahr kannte ihn jeder. 1971 sagte mir der Vizekultusminister auf dem Filmfestival in Lagow: ,Marek, hör auf, hier weiter Blödsinn zu erzählen, ich werde Rejs zum italienischen Filmfestival in Pessaro schicken.‘ Das tat er dann auch – jedoch mit einer Kopie ohne Untertitel.“ 1994 bekam der Film auf der Berlinale Standing ovations. Inzwischen ist er in Polen derart berühmt, daß in den Studentenclubs meist eine japanischen Synchronfassung gezeigt wird: Jeder kennt die Dialoge! Die polnische Kritik lobte den zur Hälfte mit Laiendarstellern gedrehten Film bereits 1970 als ein „philosophisches Traktat“. Auf einem Weichsel-Vergnügungsschiff sollen zwei blinde Passagiere mit den Ausflüglern ein anspruchsvolles Kulturprogramm einstudieren. Die Fahrgäste, ihrem Milieu enthoben, verknoten dabei Jargon und Offizialsprache: „These, Antithese, Synthese, Kultur, Mißachtung…“; ein gelehrter Humanist stammelt: „Hier ist es wunderschön, wunderschön…“; eine Dame: „In so schönen, naa Umständen, naa Natur…“; ein Viertelgebildeter, der als halbgebildet gelten will: „Und wer wird dafür zahlen? Wir, das heißt die Gesellschaft“; ein Halbgebildeter, der glaubt die Säule der Nation zu sein: „Also muß man ran an die Arbeit und: bauen!“

Nach „Rejs“ drehte Piwowski einige Aufklärungsfilme – über Alkoholismus („Der Korkenzieher“, 1971) und über Geschlechtskrankheiten (nur für Erwachsene). Der Chef des Warschauer Dokumentarfilmstudios Bossak gab ihm das Geld dafür. Als provokatorisches Element enthielt der Alkoholiker- Film u.a. Zitate von einer Plenarsitzung des Parlaments, auf der gerade die Erhöhung des Plansolls bei der Alkoholproduktion beschlossen wurde. Später kamen einige TV-Produktionen: Raymond Chandler, Georges Simenon und – während des Kriegsrechts – „Catch 22“. 1980 drehte Piwowski einen Dokumentarfilm über Chomeini. Im Jahr darauf bot man ihm eine Filmprofessur in Bagdad an. Statt seiner ging ein Freund von ihm hin: „Er braute sich dort seinen Alkohol selbst – und ist nun gesundheitlich ruiniert. Gut, daß ich die Stelle nicht angenommen habe!“ 1984 offerierte man ihm erneut eine Gastprofessur: am Film-Department der City University von New York. „Ich schrieb ihnen: Ich könne nur etwas über Gangster- und Westernfilme erzählen. Sie waren einverstanden. Auf die Schnelle mußte ich mir daraufhin Dutzende von US-Filme reinziehen. Damals lehrte dort schon die tschechische Mafia, unter anderem Milos Forman. Die Studenten hielten zu meinem Glück nicht viel von Theorie – sie fingen sofort an, Filme zu drehen. Normalerweise arbeiten sie dabei mit den berühmtesten Filmschauspielern zusammen, das ist dort so üblich. Ich zwang sie, selbst zu schauspielern – um sich später als Regisseur besser in ihre Darsteller reinversetzen zu können.“ 1989 flog Piwowski wieder nach Polen – anläßlich der ersten freien Wahlen dort. Danach kehrte er in die USA zurück. 1993 drehte er „Agathas Entführung“. Der Film handelte von der neuen Klasse in Polen, die dieselben alten – amoralischen – Methoden benutzt, um nach oben zu kommen: „Unsere Desillusion oder besser Illusion war, alles Böse mit dem (kommunistischen) System identifiziert zu haben. Inzwischen glaube ich, in Polen kann überhaupt kein System auf Dauer existieren.“ Piwowski drehte „Agathas Entführung“ erneut mit Schauspielern und Amateuren: „Ich bevorzuge Amateure, weil man dabei öfter überrascht wird, mit Profis zu arbeiten ist jedoch einfacher. Wenn man jedoch die Wahl hat – zwischen mehr Wahrheit und mehr Schönheit, dann sind die Amateure wahrer.“

1997 folgte wieder eine Fernsehproduktion: „Krok“ („Der Paradeschritt“) – ein in Deutschland undenkbares TV-Projekt: Der polnische Geheimdienst will herausbekommen haben, daß der Aufnahme Polens in die Nato nichts mehr im Wege steht – bis auf den unmöglichen Paradeschritt der polnischen Armee. Einige hochkarätige Militärs versammeln daraufhin heimlich diverse Vertreter des öffentlichen Lebens in einem Theater, um ihnen neue Paradeschritte vorzuführen und sie diskutieren zu lassen. „Krok“ war im letzten Jahr der meistbejubelte Film auf dem Festival von Lagow. In Piwowskis nächstem Fernsehfilm geht es um Fußballfans. Zur Erholung macht der heute 63jährige Dauerläufe um Fußballstadien. In Berlin, das er – nach seiner mißglückten Republikflucht 1955 – doch noch Anfang 1998 erreichte, joggte er um das Olympiastadion. Eingeladen hatte ihn das polnische Kulturinstitut – anläßlich des 50jährigen Bestehens der Filmhochschule von Lodz. Der Regisseur Kazimierz Kutz urteilte über diese wohl bekannteste Filmhochschule der Welt: „Bedingung für die Aufnahme war zwar die Mitgliedschaft im Kommunistischen Jugendverband, aber unsere Lehrer hatten ihre Überzeugungen, und sie hatten den Mut, sie nicht nur zu äußern, sondern auch für sie zu kämpfen… Ich denke, wenn man das Geheimnis der Entstehung dessen sucht, was man später die Polnische Schule nannte, dann liegt gerade hier die Ursache – in der ideologischen Spannung.“ Über ihren Lehrer Jerzy Toeplitz schrieb Andrzej Kostenko: „Er erzählte uns viel über Europa und die Welt. Er verfolgte eine geistreiche Politik, um uns das Bewußtsein eines Europas ohne Eisernen Vorhang, das Bewußtsein, daß Polen kein verlorener Planet ist, einzuimpfen.“

3. Alle zwei Jahre findet in der Doppelstadt an der Neiße Guben-Gubin  „Le Weekend“ statt und dann hocken auch wieder Wochen davor die Berliner Autoren an ihren Schreibtischen und raufen sich die Haare: „Oh Gott, was soll ich denn da diesmal bloß lesen?“ Es gibt hier nämlich eine große Unsicherheit in bezug auf „die Provinz“ – wie ebenso auch umgekehrt: „Was, da kommen wirklich welche aus Hamburg an?“ fragt  der Leiter eines der drei Gubener Jugendclubs den Veranstalter ungläubig.  Dass Guben auch noch geteilt ist in einen deutschen und einen polnischen Stadtteil, die beide im Rückbau begriffen sind, macht die Sache nicht einfacher. Auf deutscher Seite nennt man das Scheitern aller  Industriepläne und – projekte, das eine anhaltende Abwanderung der Gubener im erwerbstätigen Alter nach Westen zur Folge hat sowie den Abriß von immer mehr DDR-Neubaublöcken: „Stadtumbau Ost“. Dieser wird jedoch flankiert von kulturellen Maßnahmen. Eine davon ist „Le Weekend“.

Erneut organisierte der als Arbeitsmediziner in einem Gubener Textilfaserwerk tätige Berliner Schriftsteller Gregor Mirwa im Oktober ein Kulturfestival namens „Le Weekend“ in Guben/Gubin – diesmal unter dem Motto „Kommen Gehen Bleiben“. Es begann am 29.September zusammen mit der Wander-Veranstaltung „Nachbarn treffen – Europa gestalten“ des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, das in Guben/Gubin – auf beiden Seiten des Grenzflusses Neisse – Station machte. Zum „Le Weekend“ gehörte diesmal ein Workshop, in dem deutsche und polnische Jugendliche vierzehn Tage lang journalistisch arbeiten sollten. Die ersten Teilnehmer schwärmten sogleich auf dem Stadtfest aus, interviewten Politiker, Künstler und Passanten und machten Photos. Auf der Grenzbrücke formierte sich derweil zusammen mit einer Gubiner Musikkapelle der Demo-Zug der „Amazonki“: eine Gruppe meist älterer Frauen, die alle an Krebs erkrankt und deren Brust amputiert worden war. Weil das polnische Krankenversicherungssystem noch allzu mangelhaft ist, hatten sie sich selbst organisiert. Der größte Sponsor der Amazonki ist der amerikanische Kosmetikkonzern Avon. Später kam man mit den durchaus fröhlichen Frauen im Laden des „Verbandes der Polen – Nadodrze“ ins Gespräch. Auch diese Organisation, die Essen und Getränke am „Europa-Tag“ anbot, bestand hauptsächlich aus Frauen. Sie sind zum großen Teil mit deutschen Männern verheiratet. Unterstützt wurden sie an diesem Tag vom deutsch-polnischen Mädchentreff „Ewa“, deren Clubmitglieder später polnische Volkstänze und -gesänge auf der Hauptbühne vorführten.

Die polnischen Teilnehmer am „Europa-Fest“ erbosten sich in den Gesprächen immer wieder über den Willen ihrer Regierung, jeden Bürger bei einem Grenzübertritt 20 Zloty abzuknöpfen. In Gubin kleben bereits überall Protestplakate. Die Regierung braucht Geld, sie argumentiert jedoch, daß sie damit den „Ameisenhandel“ unterbinden, d.h. die Zigarettenhändler stoppen will, die bis zu 20 mal am Tag die Grenze jeweils mit der zulässigen Höchstmenge überqueren. In Gubin/Guben gibt es schon lange keinen derartigen Ameisenhandel mehr. Hier würden stattdessen jedoch z.B. die Gubiner Jugendlichen nicht mehr an einem Workshop teilnehmen können, wenn sie dafür täglich an der Grenze was zahlen müßten. Und dabei sind sie fast die einzigen, die überhaupt mitarbeiteten. Aus Guben kam nur die antifaschistische Aktivistin Franziska, die Journalistin werden will und ansonsten im Punkschuppen „Sani-Kasten“ hinter der Theke steht. Gelegentlich schaute auch noch Isabella in den Workshop rein. Sie spricht fließend Deutsch und Polnisch und wäre an sich eine große Hilfe, aber sie hatte gerade komplizierte Beziehungsprobleme. In Guben gibt es vier Jugendclubs, sie haben jeweils ihr Stammpublikum und sind bestens ausgerüstet – mit Computern, PKW, Playstation, Billard, Fernseher, Darts, Videobeamer, Mischpult etc. Der Workshop gastierte in den oberen leeren Räumen des Clubs „Fabrik e.V.“ – einer zentralen Lehrlingsausbildungsstätte zu DDR-Zeiten. Die „Fabrik“-Clique unten ließ sich jedoch bei dem „Kulturprojekt“ oben kaum blicken, da sie ihr eigenes Programm hatte: „Discoveranstaltungen, Rommé-Turniere, Video-Workshops und „italienische Nächte“ beispielsweise. Von den polnischen Jugendlichen wollten dagegen etwa 20 mitmachen, vorwiegend aus der „Europa-Schule“ (der früheren „Karl-Marx-Schule“ in Guben, die heute mit einem Internat in Gubin verbunden ist), aber schließlich kamen doch nur etwa zehn Schüler regelmäßig. Das Kulturprogramm von „Le Weekend 3“ wurde dafür von allen Jugendlichen sehr gut besucht. Z.B. eine Lesung in der Galerie des Gubiner „Dom Kultury“. Vier Schriftstellerinnen – E. M. Slaska, M. Wlazel, B. Krzeszewska-Zmyslony und Helke Schwan – lasen dort Gedichte, Essay-Auszüge, Prosa-Texte und Rechercheergebnisse vor, die alle mehr oder weniger der Völkerverständigung dienen sollten bzw. über die Nichtverständigung aufklären wollten. Ähnliches galt für einen Filmabend, an dem der Filmverantwortliche im polnischen Kulturinstitut Berlins Kornel Miglus eine Dokumentation über vier polnische Bauarbeiter zeigte, die in Berlin auf dem Potsdamer Platz – „dem größten Arbeitslager Europas“ – arbeiteten. Und auch für ein Konzert in der leerstehenden „Wolle“-Fabrik, das der Gubener Liedermacher Peitsche, die Berliner Sängerijn Annette Berr und das Gubiner Duo Magda Mikuta und Waldek Pawlikowski bestritten.

Ebenfalls grenzüberschreitend war dann auch ein Fußballturnier auf dem Gubener Chemie-Sportplatz, an dem sich fünf Mannschaften beteiligten: Das multinationale „Samariter“-Team mit zahlreichen Fans – aus dem Gubener Asylbewerberheim, die polnischen „Faceci“ (Kerle) aus Gubin, die „Rangers“ der Gubener „Oldie-Bar“, die „Sanitäter“ aus dem Punkerclub „Sani-Kasten“ und die „OK Girls“-Männer eines ehemaligen Westberliner Thai-Bordells, das jetzt jedoch eine Kunstgalerie ist… Apropos: Gubin wird immer wieder als die polnische Grenzstadt mit den meisten Bordellen erwähnt. Noch in dem jüngsten deutsch-polnischen Reader für Verständigungstexte „Transodra“ ist von 30 bzw. 33 „Partnerschaftsvermittlungs-Agenturen“ die Rede. Es sind jedoch inzwischen nur noch 13 und längst hat auch die letzte polnische Prostituierte einen festen „Partner“ gefunden oder den Dienst quittiert. Jetzt arbeiten dort nur noch Weißrussinnen und Ukrainerinnen. Die 13 Gubiner Bordelle haben rund um die Uhr geöffnet – und die Mädchen wohnen für die Dauer ihres Anschaffens auch dort. Seit vier Jahren gibt es außerdem zwischen den zwei „Polenmärkten eine McDonald’s-Filiale in Gubin. „Weil unser SPD-Bürgermeister deren Ansiedlung bei uns vermasselt hat,“ wie viele Gubener meinen, die unlängst bereits versuchten, ihn mit einem Bürgerbegehren abzuwählen.

Es sieht tatsächlich nicht gut aus mit der Geselligkeit auf deutscher Seite: die wenigen Lokale und Cafés machen bereits um 22 Uhr dicht. Trotz eines EU-finanzierten Touristen-Leitsystems kommen außer einigen Jägermeister-Vertretern kaum Besucher in die Stadt und die Einheimischen haben immer weniger Geld: Viele sind arbeitslos und hangeln sich höchstens von ABM zu ABM. Allein zum jetzigen Schuljahresbeginn gab es 600 Abmeldungen, weil immer mehr Gubener nach Westdeutschland – der Arbeit hinterher – ziehen, was neuerdings vom Cottbusser Arbeitsamt gefördert wird. Aber auch in Gubin grassiert die Arbeitslosigkeit – seitdem die große Schuhfabrik „Carina“ dicht machte. Jetzt gibt es dort nur noch drei kleine Schuhfabriken und eine kleine Textilfabrik (mit 200 Beschäftigten) sowie zwei mit Leder arbeitende Möbelwerkstätten außerhalb der Stadt. In Guben begann der Aufschwung zu DDR-Zeiten mit dem großen Chemiefaserwerk. Dort konnten dann sogar – ab 1972 – auch viele Gubiner arbeiten – wozu erstmalig der Grenzübergang auf der Neissebrücke geöffnet wurde. Die etwa 1000 polnischen Arbeiterinnen waren in der Brigade „Malgorzata Fornalska“ (eine WKZwo-Partisanin) zusammengefaßt, die identisch mit der dritten Schicht der Nachzwirnerinnen des Werkes war. 1980 wurde die Grenze jedoch – aus politischen Gründen, d.h. wegen des Aufstandes der Gewerkschaft „Solidarnosc“ – von der DDR wieder geschlossen. Heute arbeiten nur noch etwa 700 Leute (von denen 30-40% in Kurzarbeit sind) im CFG, das jetzt „Trevira GmbH“ heißt.

Der Betrieb entließ seit 1991 7000 Mitarbeiter. Vor zwei Jahren schloß darüberhinaus auch der zweite Gubener Großbetrieb – die Hutfabrik. Während im Stammwerk die Stadtverwaltung einzog, wurde aus dem letzten Betriebsteil in Grenzbrückennähe ein Hutmuseum. Dort soll jetzt außerdem das neue Gubener Stadtzentrum entstehen. „Aber das Projekt kommt nicht voran,“ wie viele Gubener meinen. Ähnliches gilt auch für einen Theater-Neubau auf der polnischen Neisse-Insel zwischen Gubin und Guben. Das alte Gebäude fiel 1946 der Brandstiftung eines Jugendlichen zum Opfer. Zuvor hatte die Schlacht an Oder und Neisse bereits Gubin zu über 80% zerstört. Weitere Gebäude wurden danach abgetragen, um damit Warschau wieder auf zu bauen. Dazu gehörte auch die zerstörte Villa des Hutfabrikanten Wolf, die 1925 von Mies van der Rohe erbaut worden war. Das leere Grundstück gehört heute zum so genannten „Wolf House Project“. Und dieses ist wiederum Teil der „Europainsel Guben/Gubin“, die im Auftrag der „Internationalen Bauausstellung ,Fürst-Pückler-Land‘ vom Lars Scharnholz betreut wird. Der Architekt hielt am 7.10. im Rahmen von „Le Weekend 3“ einen Vortrag über die Wolf-Villa vor Ort. Zuvor hatte dort bereits ein archäologisches Team, finanziell unterstützt vom Museum of Modern Art New York und der Universität Cottbus bei Ausgrabungen ein kleines Kellerfenster zu Tage gefördert – und anschließend darüber für noch einmal 20.000 DM einen Katalog „Traces/Spuren/Slady“ herausgegeben. Die FAZ schlug gerade vor, die Wolf-Villa wieder aufzubauen und ein „Beutekunst-Museum“ daraus zu machen.

Guben war im Krieg nur zu etwa 50% zerstört, dann jedoch von der DDR zügig wieder auf- und sogar ausgebaut worden. Ab 1990 zerstörte die hastig Ostdeutschland übergestülpte Marktwirtschaft jedoch Guben erneut – zu fast 30%: fast alle Fabrikgebäude und zentralen Einrichtungen sowie auch immer mehr Wohnhäuser stehen nun leer – und verfallen. Mehrere jüdische Villen kann man für je eine DM erwerben.

Vor allem mit dem Kulturleben ging es rapide bergab. Neu angesiedelt hat sich das kleine „Dibbuk“-Theater von Peter Krüger – direkt am Grenzübergang. Im Rahmen von „Le Weekend 3“ veranstaltete er am 11.10. eine Szenische Lesung „Die Treppe zum Paradies“ von Michail Bulgakow. Krüger kommt aus Berlin, über die Gubener meint er: „Die meisten kaufen auf dem Polenmarkt in Gubin ein und warten auf den deutschen Staat. Unser ,Dybuk‘ haben wir aus dem Nichts gegründet. Die Stadt Guben schläft immer mehr ein…Es ist gut, daß wenigstens die Geschäfte in Gubin länger geöffnet haben. Da ist auch in den Bordellen richtig was los“. Vor einigen Jahren meinte ein Taxifahrer zu ihm: „Wenn Polen in der EU ist, dann kaufen wir Gubin an einem Tag auf“. Neulich sagte ihm jedoch der selbe Taxifahrer: „Wenn die Grenze an der Neisse fällt, dann essen uns die Gubiner auf“. Ein Grenzschutzbeamter verriet dem „Stern“: „Allein in Gubin gibt es vier Banden, die mit allem schmuggeln – von Tomaten bis Menschen“.

Wahr ist: Die Polen haben eine über 200jährige Tradition der Selbstorganisation: Immer wenn Russland, Österreich oder Deutschland ihr Land überfielen, ging die polnische Gesellschaft nahezu komplett in den Untergrund: Verwaltung, Universitäten, Theater, Zeitungen, ja sogar die Polizei und die Armee. Und speziell für die aus Ostpolen nach dem Krieg in Gubin angesiedelten Menschen galt: „Alle, die damals hier her kamen, bemühten sich, in größeren Gruppen zu siedeln – sie fürchteten Überfälle und die Plünderer, auch wußten sie lange nicht, ob sie hier überhaupt bleiben durften“. So erzählt z.B. die 1959 nach Gubin gezogene Eugenia Mochnacz. Auch jetzt organisieren die Leute in den Gubiner Neubau-Blocks und Straßenvierteln noch andauernd Kulturfeste und Nachbarschaftshilfen. Die Deutschen haben dagegen eher eine jahrhundertelange Tradition der Untergrund- und Selbstorganisations-Vernichtung, die jetzt mit der Gebiets- und Kreisreform sowie mit der bundesweiten Rasterfahndung erneut greifen will.

An einem Tag besuchte ich das Gubiner Ehepaar Kucharscy, das am Workshop beteiligt war. Sie arbeitet als Photographin und Karikaturistin und betreibt eine kleine Galerie. Auch ein Buch mit alten und neuen Gubiner Stadtansichten hat sie herausgegeben. Ihr Mann betreibt ein Studio für Reklame. Seine Kunden kommen aus Deutschland und Polen. Früher hat er in der Schuhfabrik „Carina“ gearbeitet. Das Ehepaar Kucharscy wohnt in einer Plattenbau-Siedlung, baut sich aber gerade am Stadtrand ein eigenes Haus mit Garten.

In Guben, wo laut „Gazeta Wyborcza“ ein Drittel der Bewohner Vertriebene vom rechten Ufer sind, wird dagegen meist mit Staatsgeldern bzw. mit Finanzhilfen der EU oder irgendwelchen Fonds für strukturschwache bzw. grenznahe Regionen geplant. Und die Politik ist hier vor allem damit beschäftigt, immer neue „Fördertöpfe“ und „Kofinanzierungen“ aufzutun. So hat z.B. die „Euroregion „Spree-Neisse-Bober“ mehrere Büros in Guben und Gubin. Die Hilfsfonds der EU werden geteilt auf INTERREG und PHARE. Diese dürfen jedoch nicht auf der jeweils anderen Seite der Grenze eingesetzt werden. Wenn etwa einige Angler aus Gubin einen Angelwettbewerb mit den deutschen Kollegen auf der anderen Flußseite durchführen wollen, dann reichen sie im Gubiner Büro der Euroregion ein Projekt namens „Goldenes Fischlein“ ein, wobei sie in der Rubrik „voraussichtlicher grenzüberschreitender Effekt“ eintragen: „Erfahrungsaustausch und partnerschaftliche Zusammenarbeit“. Dazu kommt dann noch die Unterschrift des Vorsitzenden des Angelvereins auf der anderen Seite. In Guben funktioniert es umgekehrt genauso – und nur so. Und dann muß das Ganze genehmigt werden. „Es ist fast so, als ob jemand das Geld mal aus der rechten und mal aus der linken Tasche bezahlen würde, obwohl die Hose die selbe ist,“ schreibt die „Gazeta Wyborcza“ – und fügt hinzu: „Das goldene Fischlein schwimmt sehr, sehr langsam“.

Mag sein, daß sich dadurch die Mentalitäten und Gewohnheiten von hüben und drüben langsam aber sicher angleichen werden, noch gilt jedoch, daß die Bevölkerung in Gubin geistig reger, mobiler und engagierter ist – aber teilweise noch in sehr schlechten Häusern und sehr beengt wohnt, „sogar noch mit alten Beutegardinen vor den Fenstern“, wie ein deutscher LKW-Fahrer abschätzig meinte – während in Guben sogar komplett renovierte Top-Immobilien ungenutzt bleiben und die zunehmende Zahl von Neonazis und Pennern, die vor allem im sanierten Neubauviertel – dem ehemaligen „roten Sprucke“ – konzentriert sind, immer mal wieder alles kurz und klein schlägt. Selbst das neue antifaschistische Mahnmal für den 1999 von ihnen zu Tode gehetzten algerischen Asylbewerber Omar Ben Noui wurde mehrmals verwüstet. Es gibt bereits in Guben fünf große Therapiezentren „für Leute mit Drogen- und psychischen Problemen, Depressionen z.B. – und die alle sind randvoll,“ wie eine Apothekerin weiß.

Nach der Wende herrschte dagegen erst einmal Euphorie in der „Wilhelm-Pieck-Stadt Guben“. Die Stadt gab jede Menge Tourismus-Plakate in Auftrag: „Guben – The nice place on the Neisse“. Diese Poster verblassen jetzt im Treppenhaus der Fabrik e.V.. Zuvor hatte ein US-Politiker stets von der „Older-Nicer-Line“ geredet. Andersherum hat sich nun ein Gubener Taxifahrer einen Cadillac angeschafft. Mit diesem fuhr ich am 5.10. vor das Asylbewerberheim, das einen „Tag der offenen Tür“ veranstaltete. Der Taxifahrer meinte: „Die zählen da auch zu meinen gelegentlichen Gästen, Sie brauchen also kein schlechtes Gewissen zu haben“. Einer der Asylbewerber sagte später zu mir: „Guben is the nicest German place – to get out of!“ Seit dem Terroranschlag in New York werden die meisten Asylbewerber – vor allem, die aus islamischen Ländern, und das sind sehr viele – gleich abgeschoben: in der Lausitz von Forst aus. Sie kommen gar nicht erst in ein Asylbewerberheim. Das behauptet jedenfalls ein Sozialarbeiter aus Cottbus. Ich selber war Zeuge, wie die Polizei oder der Grenzschutz in Guben auf offener Straße ausländisch aussehende Leute anhielt und ihre Ausweise kontrollierte sowie ihre Taschen durchsuchte: „Das ist hier ganz normal,“ meinte eine in der städtischen Verwaltung beschäftigte Angestellte – wohl um mich zu beruhigen.

Der Workshop kam nur langsam in Gang – und sollte doch am Ende eine Xerox-Zeitung, eine Tageszeitungs-Beilage und jeweils eine Seite in der Lausitzer Rundschau und in der Gazeta Gubinski gestalten. Um die Textproduktion zu beschleunigen, initiierte die US-Kolumnistin Anjana Shrivastava einige Gesprächskreise mit den Jugendlichen – zum einen über die allgemeine „Amerikanisierung“ und zum anderen über ihre „Eltern“. Als der Workshop am 14. 10 mit einer Abschlußfeier im Jugendclub „no budget“ endete – wo dann auch wieder einige Politiker auftauchten – hatte er sein Arbeitspensum halbwegs erfüllt und die Teilnehmer waren sogar enttäuscht, daß er schon zu Ende war.

4. Ich streifte mit einigen polnischen Jugendlichen durch Guben – auf der Suche nach einer Spur der in den letzten Kriegstagen dort eingesetzten Brigade Dr. Dirlewanger:

Anfang dieses Jahres fand im Kreuzberger Antiquariat Kalligramm eine Diskussion mit Inge Viett über gestrige und heutige Partisanen statt.

Ausgehend von der These, dass die meisten postmodernen Guerillabewegungen nun eher antikommunistisch sind und am Aufbau einer eigenen Ökonomie arbeiten, meinte die Exterroristin, es könne so etwas wie rechtes Partisanentum überhaupt nicht geben, nur linkes, weil der Partisanenkampf stets in einen Volksaufstand gipfelt, den die Rechten gerade durch ihren Putschismus verhindern wollen.

Von den Veranstaltern war das Gespräch mit Inge Viett, das parallel zu einer Reihe ähnlicher Partisanen-Diskussionen im Kaffee Burger sowie in der Zeitschrift Gegner stattfand, als Auftakt zum Aufbau einer „Partisanen-Universität Berlin“ verstanden worden (die taz berichtete).

Inzwischen wurde daraus ein regelrechter „Initiativ-Ausschuss PUB“, der Ende September tagte. Wenig später verlagerte sich dieses Treffen nach Guben in der Niederlausitz, wo ein zweiwöchiger Workshop stattfand – vorwiegend mit jungen Leuten aus Gubin (der polnischen Stadthälfte auf der östlichen Neißeseite).

Der stadtgeschichtliche Rechercheteil konzentrierte sich dabei auf die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs, da Guben als einer der letzten Festungen an der Oder-Neiße-Front erst völlig zerstört und dann geteilt wurde. Damals kämpfte hier auf deutscher Seite das berüchtigte SS-Sonderkommmando Dirlewanger. Und diese wenig fronttaugliche Truppe, die überwiegend aus Kriminellen oder zwangsgepressten sowjetischen Kriegsgefangenen und deutschen Kommunisten sowie später auch aus antibolschewistischen „Ostmuselmanen“ bestand, war zuvor als erste deutsche Spezialeinheit gegen Partisanen (in Weißrussland und der Westukraine) sowie gegen Volksaufstände (in Warschau und in der Slowakei) eingesetzt worden – unter dem Kommando des wegen Päderastie vorbestraften rechten Spanienkämpfers Dr. Oskar Dirlewanger und unter der Schirmherrschaft von Himmler sowie des „Chefs aller deutschen Bandenkampfverbände“ Erich von dem Bach-Zelewski.

Für den Workshop gelang es uns, den letzten Einsatz dieser Mördertruppe in Guben, der zugleich Auftakt für neue Partisanen-Bekämpfungseinheiten war – diesmal aufseiten der Westalliierten – mit neuen Einzelheiten zu rekonstruieren. In einer Workshop-Zeitung aus Gubin, die heute auch der taz beigelegt ist, findet sich darüber Näheres. Diese letzte und erste Schlacht sollte dabei gleichsam aus Partisanensicht dargestellt werden.

Die polnische Seite dieser heute von Arbeitslosigkeit und Abwanderung heimgesuchten Doppelstadt kam dabei dem Thema in so weit als Genius Loci entgegen, als dass die Polen auf eine über 230-jährige Partisanenerfahrung zurückblicken können: Immer wenn Russland, Österreich oder Deutschland das Land überfielen, ging nahezu die komplette Gesellschaft in den Untergrund: bis hin zu Polizei, Zoll, Schulen, Universitäten und Zeitungen – während man in Deutschland auf eine fast ebenso große Erfahrung in der Partisanenvernichtung zurückblickt, die nach dem Krieg zum ersten Exportschlager in den Westen wurde.

Das heißt, die Westalliierten setzten die diesbezüglichen deutschen Ideen – wie Wehrdörfer und tote Zonen mit anschließender Vertreibung und Massenmord – sogleich nach dem Krieg in Griechenland und dann in Algerien sowie in Vietnam und Korea um.

Die 1945 gezogene Grenze auf der Neißebrücke zwischen Polen und Deutschland wurde erst 1972 geöffnet – und zwar primär für etwa tausend Frauen aus Gubin, die im neuen Gubener Chemiefaserwerk Arbeit bekamen. Dort bildeten sie die dritte Schicht der Nachzwirnerinnen. Ihre Brigade war nach der polnischen Top-Partisanin im Zweiten Weltkrieg „Malgorzata Fornalska“ benannt. Nach Ausbruch des Aufstands der Solidarnosc-Bewegung wurde der Grenzübergang nach Gubin von der DDR jedoch 1980 wieder geschlossen, wodurch alle polnischen Arbeiterinnen, die bis dahin keinen Deutschen geheiratet und auf die andere Seite des Flusses gezogen oder aus sonstwelchen Gründen nicht in Guben ansässig geworden waren, ihren Arbeitsplatz verloren.

Sie stammten zumeist aus Familien, die man zuvor aus Ostpolen und der Westukraine nach Gubin umgesiedelt hatte. Eine Zeitzeugin erinnert sich, dass sie dort anfänglich stets in Gruppen siedelten – aus Angst vor Plünderern und Überfällen. Auch waren sie unsicher, ob sie überhaupt bleiben konnten. Umgekehrt besteht heute noch ein Drittel der Bewohner Gubens aus „Vertriebenen“ vom östlichen rechten Ufer, wie die Gazeta Wyborcza gerade berichtete.

Erst in der Wende wurde die Brückengrenze wieder geöffnet. Zugleich machten jedoch nahezu sämtliche Textil- und Hutfabriken in Guben dicht, vor zwei Jahren folgten ihnen die Schuhfabriken in Gubin. Für die Töchter und Söhne der ehemaligen Arbeiter hüben wie drüben gibt es nun in Guben eine „Europa-Schule“, das frühere Karl-Marx-Gymnasium, zu dem jetzt noch ein Internat in Gubin gehört. Aus diesen Einrichtungen kamen die meisten Mitarbeiter des Workshops – die Verkehrssprache war polnisch. Dennoch sind die meisten Textbeiträge – für eine lokale Zeitung namens Portal ebenso wie für die taz-Beilage „Kommen-Gehen-Bleiben“ – auf Deutsch: Das Geld kam nämlich aus Guben bzw. von deutschen Kulturfonds für Völkerverständigung.

Man könnte dieses Versagen jedoch auch den Workshop-Leitern aus Westberlin vorwerfen, die sich zu sehr auf die Übersetzerfähigkeit von vier deutsch und polnisch sprechenden Schülerinnen verließen. Da das „Projekt“ aber den Teilnehmern trotzdem großen Spaß gemacht hat, kann man hierbei auch von einem typisch polnischen Partisanenakt – diesmal im deutschen Sprachraum – reden.

Auch die dortigen rechten Jugendlichen fühlen sich im Übrigen als Partisanen – so heißt ihre Stammkneipe im Gubener Neubaugebiet „Junge Welt“. Die Deutschen können ansonsten von der polnischen Fähigkeit zur Selbstorganisation, auch und gerade in puncto Geselligkeit, nur lernen: Während hier die Straßen ab 22 Uhr wie ausgestorben sind und höchstens noch kleine Gruppen von Pennern herumstrolchen, herrscht drüben die ganze Nacht reger Verkehr.

Gubin ist die Grenzstadt mit den meisten „Partnerschaftsvermittlungsagenturen“, wie die deutsch-polnische Verständigungszeitschrift Transodra gerade berichtete. Noch beeindruckender sind jedoch die vielen Nachbarschaftstreffen und Wohnblockfeste in Gubin. Das ist nämlich die Kehrseite der Partisanen-Vernichtungs-Tradition: Wenn die Zwangsgeselligkeit auseinander fällt, bleiben den Bürgern hier nur die eigenen vier Wände, aus deren Generalüberholung dann auch die einzige Wiedervereinigungsidee bestand: Gemeint ist die Abschreibungsmöglichkeit Ost, „Sonder-Afa“ genannt. Wobei der dadurch entstandene Immobilienwahn bloß die neudeutsche Umsetzung der alten Blut-und-Boden-Politik in Privatinitiative ist.

Während die Stadt immer noch jährlich Millionen an renovierungswillige Hausbesitzer als Zuschüsse verteilt, zahlt das Arbeitsamt Cottbus zur gleichen Zeit jedem, der trotzdem aus Guben wegzieht, also der Arbeit hinterher, eine Prämie. „Jeder Penner ein Schläfer?“ So hieß dann auch der Redaktionstext über diese Gubener Staatsdialektik.

Zwischen 1939 und 1945 stand Deutschland bereits vor dem Dilemma: Die Arbeitskräfte erhalten oder sie als Partisanen vernichten? Der Berliner Historiker Christian Gerlach ist dieser Frage in seiner 1999 erschienenen Studie über die Partisanenbekämpfung nachgegangen. Der Untertitel seines 1.200 Seiten umfassenden Werks bringt das bereits zum Ausdruck: „Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland“.

Das zuletzt bei Guben eingesetzte SS-Sonderkommando Dirlewanger spielte dabei eine nicht geringe Rolle. Ihr Anführer wurde 1945 ausgerechnet auf dem kleinen Soldatenfriedhof des jetzt erneut wieder, dieses Mal durch die Braunkohlebagger des schwedischen Konzerns Vattenfall umkämpften Dorfes Horno beerdigt.

Kurz danach wurde jedoch derselbe Dirlewanger im bayerischen Althausen auch von einem entlassenen jüdischen KZ-Häftling erkannt – und dort sogleich in französische Haft genommen, woraufhin ihn drei polnische Wachsoldaten in der Nacht erschlugen.

Die Leiche wurde später exhumiert und identifiziert. Sein Grab befindet sich jetzt in seiner Heimat Württemberg. Mithin gibt es heute in Ost- und in Westdeutschland je ein Dirlewanger-Grab! Außerdem hat sich eine schwedische Rockband nach ihm benannt. Überhaupt findet in der revisionistischen Geschichtsschreibung derzeit eine Umbewertung der einstigen Schlachten statt.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung warf neulich schon Teilen der SPD vor, immer noch den 8. Mai als Tag der Befreiung zu feiern, obwohl er doch in Wahrheit ein Tag der Vergewaltigung des deutschen Volkes war. In der deutschen Schwesterrepublik Kroatien will man jetzt sogar schon die ersten Tito-Partisanen-Veteranen vor Gericht stellen …

Dieser Herbst ist genau dem „deutschen Herbst“ entgegengesetzt. Damals gab es nicht nur ein riesiges sozialistisches Asyllager, zum Beispiel für die Terroristin Inge Viett, sondern auch ein ebenso großes zivilisiertes westliches Ausland, dessen Presse darauf achtete, dass bei der deutschen Schleyer-Fahndung auch alles mit rechten Dingen zuging. Die besten Artikel druckte der Spiegel nach, und die Jerusalem Post titelte später: „SS-Obersturmführer erschossen“.

5. Anfangs denkt man so: Die kleine Neiße als Grenze zwischen Guben und Gubin ist wirklich Scheiße – ein richtiger Grenzfluss, mit uniformierten und bewaffneten Kontrolleuren auf beiden Seiten der Brücke, die nur noch eine tote Pufferzone ist. Aber dann merkt man schnell, dass ein Spaziergang von einem Teil der an sich langweiligen und halbtoten Stadt in den anderen gerade dadurch interessant wird – und geht immer öfter hin und her, bis zu 10-mal am Tag: Jedes Mal wird kritisch das Passfoto mit dem momentanen Gesicht verglichen, der Fahndungscomputer angeschmissen, manchmal das Gepäck kontrolliert, und dabei tun alle Beamten so, als wären sie überhaupt nicht von der Harmlosigkeit desjenigen überzeugt, der sie da gerade verschämt anlächelt. Als könnten sie auch ganz anders!

Zumal die Grenzbewachung hier das einzig expandierende Gewerbe weit und breit ist! Die Lausitzer Region scheint ansonsten ihr Pulver verschossen zu haben: erst die Braunkohle – in den Himmel und dann die Fördermittel – in Stadt- und Landschaftsplanung. Jetzt – am Ende der Nahrungskette sozusagen – lässt man aus lauter Verzweiflung Naturschutzverbände dort tätig werden. Und was machen die? Sie siedeln Wölfe und Wildkatzen an! Ja, der Tag ist nicht mehr fern, wo das letzte Kulturfestival „Le Weekend“ in Guben/Gubin vor einem Publikum stattfindet, das mehrheitlich aus Schakalen und Krähen besteht, die ja bekanntlich besonders neugierig sind. Noch ist es aber nicht so weit: Es gibt zwar keine industriellen Arbeitsplätze mehr, und das einzig blühende Dorf – Horno – hintendran wird gerade zügig weggebaggert, aber die Doppelstadt an der Neiße behält listig ihre 30.000 Einwohner, indem sie nach jedem Wegzugsschub einfach drei weitere Dörfer eingemeindet.

Irgendwann verläuft die Stadtgrenze Gubens/Gubins an der Berliner. Denn hier verfolgt man dieselbe EU-Städteförderungspolitik – und die ist mit der EU-Agrarpolitik identisch: Je größer eine Wirtschaftseinheit, desto mehr Förderung gibt es. Auch „Le Weekend“ wird üppig von Staat und Stiftungen gesponsort: „Die Sozialbrache wird ja immer mit Kultur eingedeckt“, meint die Veranstalterin Saskia Draxler.

Der Initiator Gregor Mirwa sieht es positiv: „Ich mach das jetzt zum vierten Mal und es geht darum, dass die Leute zusammenkommen und miteinander reden – dass also doch etwas bleibt hier, trotz des Weggangs so vieler Leute.“ Dazu gehört er inzwischen selbst: Mirwa

war zuletzt Arbeitsmediziner im ausgegründeten Medizinischen Dienst des Gubener Chemiefaserwerks: Jetzt lebt er als arbeitsloser Schriftsteller in Berlin. Er bleibt jedoch der „Schrumpfstadt“ mit seinem „Le Weekend“ verbunden. Anders die nomadische Künstlerin Saskia Draxler, die es vor allem auf „Kontext-Arbeiten“ in Großstädten abgesehen hat.

Diesmal geht es bei „Le Weekend“ um Joseph Conrads Kolonialkoffer „Im Herzen der Finsternis“. Beim letzten Mal wollten wir eine Zeitung mit Gymnasiasten der Gubener Euro-Schule machen, die von deutschen und polnischen Schülern besucht wird. Es kamen aber fast nur polnische Schüler, so daß dies eigentlich eine polnische Arbeitsgruppe hätte sein müssen. Nicht einmal die Software war polnisch. Zum Glück ist man dort derartiges gewohnt – und jeder weiß damit umzugehen. Vor allem junge polnische Gymnasiasten. Allerdings haben auch sie es bis jetzt noch nicht geschafft, nach Berlin zu kommen. Aber das kennt man ja. Außerdem ist so eine Reise mit dem Regioexpreß über Cottbus und Frankfurt/Oder nicht gerade verlockend. Die ganze Gegend da hat ihr Pulver verschossen: erst die Braunkohle – in den Himmel und dann die Fördermittel – in Landschaftsplanung. Jetzt – am Ende der Nahrungskette sozusagen – läßt man aus lauter Verzweiflung Naturschutzverbände dort tätig werden. Und was machen die? Sie siedeln dort Wölfe und Luchse an! Ja, der Tag ist nicht mehr fern, wo das letzte „Le Weekend“ in Guben/Gubin vor einem Publikum stattfindet, das mehrheitlich aus Schakalen und Krähen besteht, die ja bekanntlich sehr neugierig sind.

Noch ist es aber nicht so weit: Es gibt zwar keine industriellen Arbeitsplätze mehr, und das einzig blühende Dorf – Horno – hintendran wird gerade zügig weggebaggert, aber die Doppelstadt an der Neiße behält listig ihre 20.000 Einwohnerzahl, indem sie nach jedem Wegzugsschub einfach drei weitere Dörfer eingemeindet. Irgendwann grenzt die Stadtgrenze Guben/Gubins an Berlin. Denn hier verfolgt man die selbe EU-Städteförderungspolitik – und die ist mit der EU-Agrarpolitik identisch: Je größer eine Wirtschaftseinheit, desto mehr Förderung gibt es und umgekehrt. Die Berliner Schriftsteller, die in Guben lesen und die Berliner Künstler, die in Gubin etwas, wie man heute sagt, installieren, sagen sich selbst ständig zur Beruhigung: „Provinz gibt es nicht mehr, ist alles zu einem globalen Dorf geworden, über Radio, CDs, Internet und Fernsehen sind alle gleich informiert“. Aber schon im nächsten Moment sind sie wieder beunruhigt: Denn immer mehr Berliner Schriftsteller und Künstler haben gar kein Radio, CD-Player oder Internetanschluß mehr – und Fernsehen kucken sie schon lange nicht mehr, außer in der U-Bahn, und auch da nur mit schlechtem Gewissen: nicht weil es so mies ist, sondern weil es dieses Aufmerksamkeitsabsaugegerät das Massentransportmittel noch asozialer macht. Aber man kann die Berliner Schriftsteller und Künstler beruhigen: Auch die Guben/Gubiner kucken kein Fernsehen mehr, nur im „Stadtcafé“ ist permanent der Sportsender zu sehen und in der Nachtbar „Chopinsky“ läuft ein polnischer Pornokanal – beides ohne Ton.

Anfangs denkt man, die kleine Neiße ist wirklich Scheiße: ein richtiger Grenzfluß – mit uniformierten und bewaffneten Kontrollen auf beiden Seiten der Brücke, die nur noch als tote Pufferzone dient. Aber dann merkt man, dass  ein Spaziergang von einem Teil der an sich langweiligen Stadt in den anderen dadurch gerade interessant wird – und geht immer öfter hin und her, bis zu 10 mal am Tag: Jedesmal wird kritisch das Paßfoto mit dem momentanen Gesicht verglichen, manchmal auch das Gepäck kontrolliert und dabei tun alle Beamten so, als wären sie überhaupt nicht von der Harmlosigkeit desjenigen überzeugt, der sie da gerade verschämt anlächelt…Als könnten sie auch ganz anders! Wenn man nur paranoisch genug ist, und welcher Berliner Schriftsteller oder Künstler ist das nicht? dann wird jeder Brückengang zu einem echten Abenteuer, dazu trägt auch das kleine tosende Turbinenkraftwerk unter der Brücke bei, in dessen Stauwerk sich schon so mancher verzweifelte Grenzgänger (Schriftsteller?) gestürzt hat.

Seitdem es ein McDonald’s in Gubin gibt, stehen sich auch manchmal Gubener Skinheads und Gubiner Punks auf der Brücke Aug in Aug gegenüber. Seit der Ansiedlung dieses Fastfood-Restaurants auf der polnischen Seite ist Amerika bei den Gubener Rechtsradikalen nämlich so gut wie untendurch – und  bei den Gubiner Punks aus dem selben Grund ebenfalls.  Was könnte man sonst noch sagen, um Berlin und Guben/Gubin noch näher zu bringen?

6. Neue Hoffnungsträger für Guben:

In Guben kam es zu den letzten Häuserkämpfen des Zweiten Weltkriegs, seitdem passiert dort jedoch eher das Gegenteil. Nach Kriegsende teilte man die zerstörte Stadt: Das Zentrum wurde polnisch, das Industrieviertel blieb deutsch. Erst ab den 70er-Jahren gab es wieder kleine Gemeinsamkeiten: So arbeiteten zum Beispiel polnische Frauen aus Gubin im neuen Chemiefaserwerk von Guben; nach 1989 baute man gemeinsam ein Klärwerk und gründete ein deutsch-polnisches Gymnasium.

In Guben, wo eine Fabrik nach der anderen dichtmachte, hoffte man dann vor allem auf Polens EU-Beitritt. Seitdem stellten jedoch erst einmal auch noch die letzten Fabriken in Gubin ihre Produktion ein. Und nun tauchen nur noch völlig verrohte Abenteuerunternehmer dort auf, die von solchen wüst werdenden Verzweiflungsorten angezogen werden. Schließlich kosten Gubener Herrschaftsvillen inzwischen gerade mal einen Euro das Stück, und zu den riesigen leer stehenden Fabriken bekommt man noch Subventionen in Millionenhöhe dazu.

Zuletzt sorgte einer dieser zwischen Heuschrecke und scheuem Reh changierenden „Investoren“ für Aufregung: der postsowjetische Arbeiter- und Bauernleichen didaktisch aufpräparierende „Plastinator“ Gunther von Hagens. Er möchte in einer der einstigen Wollfabriken seine Werkstätten einrichten. Die relativ kirchlich regierte Stadt protestierte sofort, ebenso der evangelische Bischof Wolfgang Huber. Zuvor hatte man den erfolgreichen Plastinator bereits aus dem katholischen Polen vertrieben. Aber in Guben kam er dann doch zum Zug.

Jetzt droht Guben neues Ungemach: Diesmal ist es die CKS, ein quasireligiöses Dienstleistungsunternehmen, das dort seine „Cargo-Kultstätte“ platzieren will. Dabei geht es den Projektmachern nicht um die dortigen Immobilien. Es zieht sie wegen der vielen Hartz-IV- und ABM-Empfänger mit ihrem Cargo-Kult-Service an die Neiße. Dahinter steht die richtige Erkenntnis: Wenn die binnenökonomische Kaufkraft zurückgeht, geschieht dies in den nationalökonomischen Zentren relativ, an der Peripherie jedoch absolut. Die davon betroffenen Bevölkerungsteile sehen ihre Überlebensökonomie dann nur noch durch einen wie immer gearteten Cargo-Kult gesichert. Kurz gesagt handelt es sich dabei um eine idealistische Frustrationsverarbeitung von Menschen, die lange Zeit „von oben“ mit Hilfsgütern versorgt wurden, sich darauf ökonomisch einstellten – und dann hilflos mit ansehen mussten, wie diese Flüge plötzlich eingestellt wurden.

Die Cargo-Kulte haben im Zentrum fast immer Flugzeuge und Fallschirme. In der tribalistischen Südsee geht der Kult einher mit einer langsamen Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft. Im einst überfürsorgestaatlichen Ostdeutschland mündete er stattdessen in das von der Landesregierung üppig geförderte Großprojekt „Cargo-Lifter“, das jedoch Pleite ging, wodurch 70.000 Kleinaktionäre ihr Geld verloren. Im Potsdamer Kunstverein wird dies gerade künstlerisch bewältigt.

Aus der verlassenen Produktionsstätte machte derweil ein asiatischer Investor das Freizeitparadies „Tropical Islands“, womit er auf die Herkunft des Cargo-Kults anspielt – nämlich auf die armen Entwicklungsländer mit den schönen Sandstränden, wo man, wie es ein Theologe von dort ausdrückte, nicht seine Zeit verschwendet, wenn man unter einem Baobabbaum sitzt, sondern sie vielmehr produziert.

Die neue Cargo-Kultstätte an der Neiße nun reflektiert ebenfalls auf eine Insel: auf die zwischen Guben und Gubin gelegene „Amphitheaterinsel“. Hier, wo schon wiederholt spirituell engagierte Künstler im Rahmen von EU- und Borderline-Events auftraten, will der Cargo-Kult-Service i. G. die Transsubstantiationsriten zur Verwandlung von Wunsch in Wirklichkeit, das heißt von abstrakten Förderanträgen in reale Zahlungsmittel praktizieren.

„Das muss aber dann ruck, zuck gehen, ich bin schließlich nicht mehr der Jüngste“, lautete dazu der erste Kommentar eines Gubener Frührentners. Eine Gruppe Jugendlicher, darauf angesprochen, reagierte skeptischer: „Das wird wieder so ausgehen wie die McDonald’s-Ansiedlung hier – auf der polnischen Seite nämlich; die Theaterinsel kann man doch auch nur von Polen aus betreten, da dürfen wir uns gar nicht blicken lassen, das gibt bloß Zoff!“ Wird also Guben wieder mal nur belogen und betrogen?

7. Die Oder rauf und runter:

Im September kreuzte zum drittenmal ein „D.P.- Poetendampfer“ auf der Oder: mit etwa 40 Dichtern, Journalisten und Politikern beiderlei Geschlechts und Nationalität an Bord. „D.-P.“ steht für „deutsch-polnisch“, nach dem letzten Krieg stand es für „displaced person“. Dieser Status gilt für viele Dichter noch immer – insbesondere für die polnischen.

Nunmehr beginnt sich jedoch die erste Generation – vom Ausland aus – zu artikulieren, die nicht mehr aus dem politischen Untergrund ins Exil entwich, sondern wegen der sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Der Jungdichter Krzysztof Zaluski zum Beispiel lebt bereits seit etlichen Jahren am Bodensee, nach dem er auch sein erstes Erzähl-„Tryptichon“ benannte, das ihn in Polen auf Anhieb berühmt machte. Er hat nicht genug Geld, um sich einen Sprachkursus in der nächsten (schwäbischen) Volkshochschule leisten zu können, dennoch schafft er es, eine polnische Literaturzeitschrift – namens Bundesstraße 1 (B1) – herauszugeben.

Auf dem „Poetendampfer„, der diesmal wegen der Flutkatastrophe nur Kurzstrecken, und das auch nur mit einem kleinen Patrouillenboot des Stettiner Wasserwirtschaftsamtes, abfuhr, wurde eine Fusion der Zeitschrift B1 mit der deutsch-polnischen Jahresanthologie „WIR“ verabredet. Die „WIR“ wird von einigen in Berlin lebenden polnischen Schriftstellerinnen herausgegeben.

In Warschau erzählten mir neulich zwei Englisch sprechende Gymnasiasten, daß sie nach dem Abitur sofort auswandern wollen. Sie begründeten das mit der zunehmenden Zahl von „Men in Sportswear“. Männer in Sportbekleidung gibt es jedoch überall auf der Welt – im Zusammenhang der postkommunistischen Globalisierung und dem Verschwinden echter Männerarbeitsplätze wachsen sie sich langsam, aber sicher zu wahren Heerscharen aus. Wenn irgendwo in Amerika, Europa oder Asien heute ein Handarbeiter-Delikt begangen wird, kann man sicher sein, daß die Täter mindestens Turnschuhe trugen. Wenn die Billigkopien mit einem bereits existierenden Logo auf dem Markt kommen, machen sich die Newcomer strafbar. In den deutschen Zoll- containern an der Oder warnen derzeit Plakate vor dem Kauf von Sportjacken der Marke „Chiemsee“: „Sie brauchen zwei Wochen, der Zoll erkennt die Fälschung sofort.“ Daneben hängt noch ein weiterer aufschlußreicher Hinweis: „Dieser Betrieb bildet Jugendliche aus. Bitte haben Sie dafür Verständnis, daß sie noch nicht alle Amtshandlungen alleine ausführen dürfen!“

So hatte sich die deutsch-polnische Verständigungsintelligenz die „Bekämpfung“ von Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel eigentlich nicht vorgestellt, denn nichts behindert die postmodern-geforderte Quivive-Mobilität so sehr wie diese extrem antimodernen Personenkontrollen an den absurden Oder-Grenzübergängen, die man inzwischen auch noch stolz als „die sichersten der Welt“ bezeichnet. Oben in Swinemünde kämpfen die Bürgermeister der deutschen Nachbargemeinden Heringsdorf und Ahlbeck sogar politisch gegen den Abbau der Grenzschikanen. Und unten in Guben scheiterte unlängst eine deutsch-polnische Kulturveranstaltung auf der Gubiner Neiße-Insel, zu der man als Eintritt ebenso viele Sloty wie Mark verlangen wollte: Die Gubener Stadtverwaltung fand keine einzige deutsche Bank, die ihr hernach das polnische Geld ordentlich verbuchen wollte. Auf polnischer Seite kann man dagegen nahezu rund um die Uhr fremde Währungen eintauschen und mit Mark sogar fast überall zahlen.

Die wahren Abgründe deutscher Eigenart, mit der man sich hier vor dem Anderen schützt, erkennt man jedoch erst im Rückblick – „von drüben nach hüben“ quasi: die beiden Busfahrer, die für den Landtransport der Mannschaft des Poetendampfers sorgten, das Personal und die Besitzerin der Segler-Pension „Cypel Pod Lipa“ in Moryn, die Stadtbilderklärerin von Chojna, eine dichtende Sportlehrerin, die Chefin des Stettiner Wasserwirtschaftsamtes, der Verwalter des Strandbades am Moryner See, Herr Dudek… Sie alle gehören nach ihrem Einsatz wie selbstverständlich mit zur Poetentruppe, erwerben deren Veröffentlichungen und bleiben zum Essen, übernachten gar im Hauptquartier der deutsch-polnischen Verständigung, wo einfach noch ein Bett mehr für sie aufgestellt wird. Seine schönsten Blüten treibt dieser fast völlig fehlende Hang zur Distinktion bei den Lesungen in polnischen Kultureinrichtungen. Sie beginnen stets mit einigen hochoffiziellen Reden von Politikern und Kulturvermittlern, die dem Ort und den Dichtern schmeicheln. Darauf folgt eine kleine musikalische Einlage und gegebenenfalls, wie etwa in Moryn, der Auftritt eines siebenköpfigen Frauenchors. Hier stimmen bereits die ersten polnischen Schriftstellerinnen ein – so sie gesangeskundig genug sind.

Bei späteren Auftritten des Frauenchors machen auch einige mutige Männer (wie „Country- Dudek“) mit, und immer mehr Leute tanzen dazu. Währenddessen geht langsam das Bier zur Neige. Ein Jungdichter, der sich in Hamburg auf dem Bau seinen Rücken kaputtgemacht hat, dessen Frau jedoch gerade einen gutbezahlten Job an einer ostdeutschen Universität bekam, macht sich auf und besorgt alkoholischen Nachschub. Der Chor singt längst erschöpft nur noch im Sitzen, die Stimmung wird aber immer ausgelassener. Eine Sängerin wagt den Übergang von alten ukrainischen Volksliedern zu Adaptionen neuerer Madonna-Songs. Ein Mitarbeiter der Neuen Gesellschaft für Literatur erkundigt sich bei der Pensionschefin, was es kostet, wenn er noch einmal, diesmal mit Familie, wiederkomme (40 Mark pro Doppelzimmer).

In den kontemporär-existentialistischen Kellerbars der Kulturhäuser kommen auch die exzessiv- expressiven Gedichte der polnischen Jungdichterinnen, die jedes Wort prononciert ausprägen, gut zur Geltung. Namentlich erwähnt seien die Philologin Anna Janka, geboren 1957, sowie die Philosophin und Pianistin Ewa Sonnenberg, geboren 1967: „Eine neue Hoffnung Polens“, wie mir einer ihrer männlichen Kollegen versicherte. Die Kulturhausparty wird nach Mitternacht im Billardsaal der Segler-Pension forgesetzt – mit Bandoneon-Liedern von Stefan Krawczyk. Auch danach kann man tanzen, auf dem Tisch sogar. Am nächsten Morgen wirkt einzig der derzeit in Berlin exilierte serbokroatische Dichter Stevan Tontic etwas angeschlagen: „Ich bin eigentlich Weintrinker!“ entschuldigt er sich.

Die Dampferorganisatorinnen bzw. -betreuerinnen – Monika, Anna, Ewa und Maria: vier in Berlin lebende Deutschdolmetscherinnen – haben für diesen Tag eine Lesung nebst Diskussion in Stettin organisiert. Zwischendurch soll dort auch noch ein „Künstlerbuch“ auf amerikanisch versteigert werden, für das bereits Tage zuvor nahezu jeder Teilnehmer eine Seite zusammenstellte. Der Erlös ist für eine bei der Flutkatastrophe zerstörte Bibliothek gedacht. Für etwa 700 Mark wird das DIN A3 große Unikat schließlich von der Stettiner Bibliothek erworben, wobei der Auktionator etwas nachhilft. Der dabei ausgebootete polnische Dichter „Kuba“ macht jedoch gute Miene zum bösen Spiel.

Auf der von Klaus Schlesinger gestalteten Seite des „Künstlerbuches“ geht es um die Bearbeitung der „Flutkatastrophe“ durch die Massenmedien. Sie beeinflussen die Öffentlichkeit in Deutschland weit mehr als in Polen, wo diese Aufgabe noch immer eher von einsamen Dichtern und Schriftstellern wahrgenommen wird. Der im Oderbruch lebende Schlesinger notierte sich von einem TV-Kommentator, „live“ auf dem überfluteten Deich, unter anderem die neue Variante einer alten Kaiser- Wilhelm-Sentenz: „Jetzt gibt es keine Ossis und Wessis mehr, sondern nur noch Mitmenschen!“ Und ferner, daß man aufgrund der danach einsetzenden Spendenflut der „inneren Einheit“ ein gewaltiges Stück nähergekommen sei.

Dieser Begriff geht Schlesinger zufolge auf Heinrich Heine zurück. Im „Wintermärchen“ berichtete der Dichter, daß die deutschen Grenzorgane ihn – aus dem Westen kommend – tüchtig gefilzt hatten (das taten sie übrigens mit uns am Schluß – aus dem Osten wieder nach Deutschland einreisend – ebenfalls), worauf ein Mitreisender ihm erklärte: Während die äußere Einheit durch den preußischen Zollverein garantiert werde, würde die innere – geistige – durch die Zensur gebildet: sie erst stifte eine „Einheit im Denken und Sinnen“.

So oder so ähnlich „bearbeitete“ das 1994 unter anderem von Erich Loest mitangeschobene jährliche Subventionsereignis „deutsch-polnischer Poetenpott“ (auch wenn es kein Narrenschiff sein kann, weil Dichter stets dem Sinn verpflichtet bleiben; und auch kein Proletendampfer, weil es eher den Stromtourismus kultiviert als Fabriken, Agrarbetriebe oder Grenzmärkte anzusteuern) dann doch immer wieder die Geschichte bis in ihre tagesaktuellsten Ausprägungen hinein. Das ist übrigens auch der jungen polnischen Literatur, sofern sie sich von Deutschland aus artikuliert, eigen, die – wie zum Beispiel Zaluski – den alten (Groß-)Schriftstellern vorwirft, ihre Leser mit dem „deutschen Überfall“ sowie mit „Auschwitz und dem Gulag“ inzwischen nur noch medial erfolgreich zu traktieren.

Neben den derzeitigen deutschen Überheblichkeiten thematisieren die Jungen dagegen auch die neuesten Amerikanismen – bis in die Gesten hinein. Volksbühnen- Intendant Frank Castorf sagte es neulich so: „Der Osten ist ein Stück Asien – in allem. Das ist auch ein Vorteil, weil man nicht alles an sich rankommen läßt, vielleicht auch kräftiger ist, wenn das Ungewohnte auf einen zukommt.“ Von allen Einwanderern haben die polnischen die wenigsten Probleme, sich in Deutschland zurechtzufinden, berichten übereinstimmend kommunale Sozialbehörden. Zwar ist inzwischen auch umgekehrt Polen für die Deutschen zum drittbeliebtesten Auswanderungsland (nach Frankreich und den USA) aufgerückt: 1995 zogen 6.290 Bundesbürger dorthin; dennoch gehen immer noch die meisten diesbezüglichen Initiativen von Polen aus, und sprechen immer noch unvergleichlich viel mehr Polen Deutsch, als Deutsche das Polnische auch nur verstehen.

Dies gilt auch noch für die nun schon im dritten Jahr zwischen Breslau, Görlitz, Schwedt und Stettin aufkreuzenden Poeten, bei denen es immerhin zur Höflichkeit gehört, daß die Deutschen unter ihnen die polnischen Ortsnamen verwenden, die Polen dagegen die ehemaligen deutschen Ortsnamen. Vielleicht wird man es einmal sogar als einen wahren Glücksfall ansehen, daß die Sowjets einst Polens Grenzen von Osten nach Westen verschoben – und so gewissermaßen eine Durcheinanderzone zur neutralisierenden Vermischung schufen. Schon jetzt zählen einige Gemeinden mit Grenzmärkten zu den reichsten in Polen.

8. Der Ferienort Moryn:

Der Anfahrtsweg könnte einem Militärtouristen Freude machen: die Frankfurter Allee runter, an den Seelower Höhen vorbei, über die Oderinsel und die Warthe – an diversen Kriegsdenkmälern vorbei -, durch das 1945 völlig zerstörte Küstrin immer geradeaus. Auf dem Weg nach Szczecin geht es dann links ab nach Moryn: Eine Halbinsel im Morzycko-See, die vor rund tausend Jahren zu einer Wehrburg ausgebaut wurde. 1433 zerstörten vorbeiziehende Hussiten die damalige Bastion des Deutschritterordens. 1945 beendete dort die Rote Armee die deutsche Herrschaft – hoffentlich für immer! Denn im Gegensatz zur touristisch-gastronomischen Region Brandenburg, hat zum Beispiel das Tagesspiegel-Leckermäulchen Elisabeth Binder hier, in diesem südlichen Teil der Wojewodschaft Szczecin, noch so gut wie keine Deutungsmacht und kann also auch nicht – wie neulich im SFB – den Bewohnern dummdreiste Zensuren geben für den Grad ihrer Kapitulation vor westdeutschen Dienstleistungsstandards und Kotzen-Nutzen-Rechnungen.

Im Ferienort Moryn gibt es nur ein Restaurant, in der Ortsmitte, das mit einem riesigen Neonkrebs auf dem Dach wirbt – aber schon lange geschlossen ist. Ersatz bietet eine Bierpinte, ein kleines Café und – vor allem – die Minibar, die fast rund um die Uhr knackevoll ist. Schon morgens kommen die nostalgisch gestimmten jungen DDR-Pärchen in Parka und Minirock hierher und stellen sich ihren Frühstücksersatz in Plastebechern zusammen. Schlechte Laune gehört dabei zum Genuß: Das ganze Dorfambiente atmet noch die an Gastverachtung grenzende Schlichtordnung eines realen Sozialismus. Dazu zählen auch die Trabis und Wartburgs auf dem Holperpflaster und die vielen schönen Blumen in den Gärten vor den kleinen alten Tagelöhnerhäusern und auf den öffentlichen Plätzen. Wobei insbesondere die Cosmea, Stockrosen, Dahlien, Tagetes und Cannae auch insofern sozialistisch blühen, als es sich dabei um Züchtungen handelt, die gärtnerisch noch nicht der derzeitigen Westmode unterworfen wurden.

Außer kurz in Hinterpommerns tiefsten und saubersten, aber auch kältesten See zu baden und lange spazierenzugehen gibt es in Moryn zum Glück kaum Freizeitangebote. Dies ist jedoch verwunderlich, denn rings um den See wimmelt es von Datschen- und Feriensiedlungen und stattlichen Villen, inklusive zweier sozialistischer Urlaubssilos im Zustand von Investitionsruinen. Aber die Touristen wollen hier anscheinend nur ihre Ruhe haben. Die meisten Mercedes-, Audi- und BMW-Limousinen mit Berliner oder Ruhrgebiets-Kennzeichen gehören Polen. Deutsche kommen mit dem Zug oder dem Bus. Obwohl alles sehr billig ist – wir zahlten für ein Bett (im Partyraum einer Pension) umgerechnet 22 Mark -, verpflegt sich fast jeder selbst. Das macht gepflegte Gastronomie nicht nur entbehrlich, sondern fast gefährlich. Wir sahen mehrere alleinerziehende DDR-Mütter, die seufzend ihrem Kind in der Minibar ein Eis spendierten. Der Imbiß ist in gewisser Weise das Zentrum des Ortes. Wer dort nicht früher oder später aufkreuzt, will entweder zur Polizeiwache rechts davon oder in das kleine Wohnhaus links davon: eines der vielen Rätsel von Moryn. Zwei ganz normale Familien wohnen dort, aber ununterbrochen kommen Grüppchen junger Leute raus oder gehen hinein: Wir zählten an einem Abend 42 Personen.

Nicht nur die Architektur der wenigen Nachkriegsgebäude sieht mediterran aus, die Polen sind auch mindestens so gesellig und benutzen ihre öffentlichen Räume dementsprechend gerne und oft. Welch ein Kontrast zu den mittlerweile alle à la Tauberbischofsheim renovierten Marktplätzen märkischer Kleinstädte, die außer von einigen besoffenen Jungprolos und verängstigten Vorruheständlern so gut wie niemand außerhalb der Marktzeiten freiwillig frequentiert! Die unglückliche Kolonialisierung der DDR und ihre fatal-sozialen Folgen springen einem geradezu ins Gesicht, wenn man die etwa 110 Kilometer von Berlin durch Brandenburg ins Pommernland fährt, das wirklich noch „frei“ ist von Multi- und Gewerbecentern und sonstiger Westinvestorenbeglückung.

Moryn wurde im Krieg kaum zerstört, und die polnische Regierung fing erst in den siebziger Jahren an, ihre Westgebiete zu entwickeln. Jetzt wäre die schöpferische Zerstörung Aufgabe von Privatleuten, die während der Woche zwischen Oder und Rhein ihr Geld verdienen, aber sie halten sich klugerweise zurück. So besteht fast die gesamte touristische Infrastruktur der Halbinsel aus einem einzigen Mikrowellenherd – in der Minibar. Das ist schon einen Ausflug wert!

9. Besuch in Osno:

Hanns-Peter Hartmann mistet gerade den Stall aus, eine seiner Ziegen hat gelammt. Sie stehen auf einem Bauernhof in Osno, einem polnischen Dorf unweit von Küstrin. Das kleine Anwesen hat der inzwischen 60jährige  zusammen mit seiner Freundin Ewa vor drei Jahren gekauft. Nahezu jedes Wochenende fahren die beiden nun von Oberschöneweide ins Lubusker Land. Früher arbeiteten sie im Batteriewerk BAE zusammen, jetzt ist er arbeitslos und sie in einem Import-Export-Geschäft angestellt.  Irgendwann wollen die beiden ganz nach Osno ziehen. Damit würde sich Hanns-Peter Hartmanns Schicksal ründen, denn er wurde auch in Polen geboren – in Radom 1943. Seine Eltern zogen wenig später nach Berlin.

Hier beschloß er irgendwann, Tierarzt zu werden. Stattdessen machte er aber 1960 erst einmal in Falkenberg seinen Facharbeiter für Schweine- und für Rinderzucht. Ab 1963 besuchte er in Oranienburg die Fachschule für Landwirtschaft – zusammen mit seinem Freund Siegfried Mattner, der heute Geschäftsführer des großen Bauernmarkts Schmachtenhagen ist. Nach seiner NVA-Zeit fing Hartmann als Melker in Langenlipsdorf an. 1971 besuchte er die Hochschule für LPG in Meißen, die er zwei Jahre später als Diplom-Agraringenieur verließ. Seine Abschlußarbeit bestand aus „Vorschlägen zur Erweiterung und rationelleren Nutzung moderner Milchproduktionsanlagen“. Für die Note 1 oder 2 mußte man eine noch nicht ins Deutsche übersetzte sowjetische Arbeit als Quelle benutzen. Hartmann fand eine von Admin und Savzan aus dem  Versuchsbetrieb Kutusowska, in der es u.a. darum ging, den Färsen zwei mal täglich die Euter zu massieren: das würde die Milchleistung später um ca. einen Liter täglich erhöhen. Als Praktiker nahm Hartmann diese Empfehlung jedoch selbst nicht ernst, ähnlich waren zuvor bereits die Landwirtschafts-Neuerungen von Lyssenko in vielen Kolchosen aufgenommen worden. „Wer hätte dafür Zeit gehabt, allen Färsen die Euter zu massieren und wieviel das gekostet hätte – dieses zwei mal tägliche Als-Ob-Melken?! Außerdem standen die meisten Färsen in den Chrustschowschen Rinder-Offenställen, in denen sie frei herumliefen: Da wär man gar nicht so einfach an die rangekommen“.

Nach dem Studium heiratete Hartmann eine Bauerstochter und gelernte Diplomökonomin aus der Mark. Sein Freund Mattner holte die beiden wenig später in die LPG Schmachtenhagen, die er damals gerade übernommen hatte. Hartmanns Frau arbeitete in Schmachtenhagen als Hauptbuchhalterin  er selbst wurde Leiter der Tierproduktion.

„Meine Frau hat es dort aber nicht gepackt, sie wollte wieder weg. Wir sind dann nach Kloster Zinna. Ich als stellvertretender Betriebsleiter in einer 2000er-Rinderanlage und sie als Hauptbuchhalterin in einer Landmaschinenfabrik. 1979 haben wir uns scheiden lassen und ich bin zurück nach Berlin – nach Oberschöneweide, wo mein Vater und meine Mutter lebten – und im Werk für Fernsehelektronik arbeiteten.  Ich habe dann dort in der Batteriefabrik BAE angefangen. In einer neuen Abteilung an einer Fließpresse. Da wollte zunächst niemand hin. Meine Brigade bestand zu 60% aus Vorbestraften, dazu gab es noch etliche ‚braune Socken‘, so haben die sich selbst bezeichnet. Zusammen mit einem Kumpel habe ich es dann geschafft, dass unsere Brigade durch Neuerungsvorschläge etc. schließlich die bestverdienendste des ganzen Betriebs wurde. Ende 89 hieß es ‚Wir brauchen Betriebsräte!‘ Einige Kollegen haben mich vorgeschlagen. Ich wußte gar nicht richtig, was das ist, war nicht mal in der Gewerkschaft: die hatte mich 87 unter einem faulen Vorwand rausgeschmissen“.

Ein Jahr später wurde der Betrieb geteilt und Hartmann ging als Betriebsratsvorsitzender in das Gerätebatteriewerk Belfa in Niederschöneweide, wo er dann vorwiegend gegen die Abwicklung des Werkes durch die Treuhand kämpfte. Mit zwei Hungerstreiks, etlichen Demonstrationen und einer „Protestproduktionen“ rettete er zwar den Betrieb und etwa 100 Arbeitsplätze, aber die neuen Münchner Käufer teilten ihm als erstes mit: „Herr Hartmann, Sie haben uns sehr geholfen, jetzt ist jedoch der Klassenkampf beendet, wir brauchen Sie nicht mehr – Sie sind entlassen!“ Kurioserweise blieb er trotz Hausverbots weiterhin Betriebsratsvorsitzender. Und in einem Vergleich vor dem Arbeitsgericht mußte ihm die Treuhand schließlich 150.000 DM für den ungesetzlichen Rausschmiß zahlen. Hartmann kaufte sich davon eine Eigentumswohnung in der Nähe, die leider schwer zu vermieten war und immer noch ist. Er selbst blieb in einem Block wohnen, das dem BAE gehörte. Dort gelang es ihm, für den Hinterhof 100.000 DM Begrünungsgeld vom Senat loszueisen. Mit dem Geld wurden Büsche und Bäume gepflanzt sowie ein Koi-Teich angelegt: „Ich war da  fast wieder landwirtschaftlich tätig – wenn es auch mehr in Richtung Fischzucht ging“. 1994 wurde er als Betriebsratsvorsitzender wiedergewählt, daneben war er noch in der ostdeutschen Betriebsratsinitiative tätig, deren Aktivitäten zuletzt in der Unterstützung der Bischofferöder Kalikumpel gipfelten. Anschließend bat ihn die PDS, auf ihrer „Bunten Liste“ für den Bundestag zu kandidieren – im Wahlbezirk Treptow-Köpenick. Er unterlag dann knapp dem SPD-Kandidaten. Im Jahr darauf kandidierte er (als Arbeitsloser unter der Parole „Ich kämpfe für Arbeit“)  erneut – für das Abgeordnetenhaus: und kam auch rein, ging dann jedoch als Nachrücker für Stefan Heym in den Bundestag, wo er fortan in der Personal- und Sozialkommission saß (eine Art Betriebsrat des Bundestages) sowie im Europa-Ausschuß, wo er über Kakaopreise, Klitorisbeschneidungen und eine neue EU-Rebstockverordnung diskutierte. „Wie soll ich das bloß meinen Kumpeln in Oberschöneweide vermitteln?“ stöhnte er laut. In Berlin stöhnte bald – noch lauter, d.h. im N.D. – die PDS über ihn, weil er sich als eingeschworener Betriebsrat allzu vehement für die großzügigen Berlin-Umzugshilfen des Bundestagsbediensteten einsetzte. „Peter, vergiß nicht, wer dich gewählt hatten!“ mahnten die Genossen. Bei der nächsten Wahl 1998 kandidierte er nicht mehr – und war somit wieder arbeitslos – diesmal jedoch, ohne Leistungsempfänger zu sein.

Dafür bekam er zwischen 1999 und 2003 drei mal eine ABM-Stelle als Projektleiter einer Handwerksbrigade. In dieser arbeitete er gelegentlich auch wieder mit ehemaligen Kollegen zusammen, die inzwischen ebenfalls alle arbeitslos geworden waren: Das Batteriewerk Belfa wurde 2001 liquidiert. Gleichzeitig erwarb Hanns-Peter Hartmann zusammen mit seiner Freundin Ewa den Bauernhof in Grosno, der erst einmal ausgebaut werden mußte – und immer noch wird. Außerdem schaffte er sich dort einige Tiere an, und Ewa einen Garten, so daß die beiden fortan quasi gezwungen waren, ständig zwischen Berlin und Polen zu pendeln. Zwar weiß Hartmann  noch nicht, wie er das ganze auf Dauer finanziell hinkriegen soll, zumal er nach zwei Knieoperationen immer invalider wurde,  aber er ist sich schon mal sicher, daß er dort auf seinem polnischen Hof dereinst auch sterben wird. An sich hat ihn die frische Lubusker Landluft aber erst mal aufleben lassen.

Ähnlich wie ihm war es zuvor auch einem der Bischofferöder Kalikumpel ergangen, wie mir die dortige evangelische Pastorin erzählte: Nach dem Hungerstreik und der Niederlage war er krank geworden, dann hatte er aber sein Land wiederbekommen und sich eine Kuh angeschafft. Als die kalbte, gewann auch er langsam seinen Lebensmut wieder.

10. Ferien auf dem Bauernhof:

Als Konsument möchte man eine Ware, die man erwirbt, genießen, als ihr Produzent tritt sie einem jedoch feindlich gegenüber. Diesen Doppelcharakter der Arbeitsprodukte gilt es noch immer zu überwinden. Früher habe ich – um mich dieser Notwendigkeit wenigstens zu vergewissern – oft und gerne in der Landwirtschaft gearbeitet (siehe dazu meine Beiträge in der Zeitschrift „Mit sozialistischem Schwung in die Frühjahrsbestellung“). Heute ist mir jedoch eher nach „Ferien auf dem Bauernhof“ zumute. So wie ich als landwirtschaftlicher Betriebshelfer immer Glück mit den Bauern als Arbeitgeber hatte, bis hin zu einem LPG-Brigadier, ist es bisher auch mit den Bauern als Pensionswirte gewesen.

Der erste war ein arbeitsloser toscanischer Soziologe namens Lippo Lippi, der zusammen mit einem ebenfalls arbeitslosen Freund, Silvio, einen Teil des Hofes seiner Frau Maria, die in Siena bei einem Radiosender arbeitete, zu einer Ferienpension umgebaut hatte. Die Gäste mußten sich selbst verpflegen, was aber nicht schwierig war, weil es mehrere gute Restaurants in der Nähe gab. Außerdem verkaufte Lippo ihnen billig Eier, Milch, Käse, Tomaten, Weintrauben und Rotwein – und das zu jeder Tages- und Nachtzeit, denn er saß die meiste Zeit zusammen mit seinem Freund Silvio und einem weiteren Genossen in seiner großen Küche, trank Kaffee und diskutierte die Weltläufte. Meine Freundin  und ich wir waren 1988 zum Schreiben dort hin gekommen. Jeden Morgen schleppten wir den Tisch und die Stühle aus unserem Zimmer hinter das Haus auf eine Hangwiese und lasen, blätterten oder tippten, während es um uns herum tschilpte und piepste und zirpte. Was uns aber nicht weiter störte – im Gegenteil: Wir kamen gut voran. Gelegentlich fuhren wir zu einem zerfallenen Kloster – in dem Tarkowsky seinerzeit den Film „Melancholia“ gedreht hatte. Gleich hinter dem Kloster floß ein Bach durch den Wald, der an einer Stelle das weiche Kalkgestein zu einer riesigen türkisfarbenen Wanne ausgespült hatte. Dort nahmen wir ein kühles Bad. Am Ende unserer Ferien auf dem Bauernhof von Lippo Lippi waren wir deswegen nicht nur erholt und stolz auf unsere Arbeitsleistung, sondern auch sehr sauber.

Ein Jahr später wiederholten wir das Ganze bei Enno und Gisela Kempe in Groothusen, wo wir einen Text für den Rundfunk schreiben wollten. Der ostfriesische Hof des Ehepaars Kempe war noch umwerfender als der toscanische – er hieß die Osterburg und war ein ostfriesisches Häuptlingsschloß, von einem Wassergraben umgeben, in denen ein Schwanenpärchen schwamm. Die Osterburg hatte Hero Mauritz von Closter, Häuptling zu Dornum und Petkum, Ende des Sechzehnten Jahrhunderts errichten lassen und viele seiner Nachkommen waren berühmte ostfriesische Persönlichkeiten gewesen. Das möchte ich auch von ihrem letzten Sproß, den jetzigen Osterburg-Bewohnern Kempe, behaupten.

Enno Kempe hatte seine Landwirtschaft in den Sechzigerjahren verpachtet und sich vornehmlich dem Studium seiner Familie und ihres Hauses gewidmet, dazu gehörten u.a. die darin über die Jahrhunderte angesammelten Kunstwerke, z.B. eine nahezu lückenlose Porträtgalerie seiner Ahnen, sowie Briefwechsel eines seiner Vorfahren mit Alexander von Humboldt. Aber auch die kenntnisreiche Restauration des Hofes selbst – bis hin zur goldledernen Tapete und dem Kamin im Rokkokozimmer sowie der Parkanlage aus dem späten 18.Jahrhundert. Wozu er erst einmal überall wegen Fördergelder anfragen mußte. Daneben ersteigerte er einige von seinen Vorfahren einst verschleuderte Möbel wieder zurück, aber auch eine ganze Bibliothek über die Geschichte Frieslands – mit allem was dazu gehört. Seine Frau, Gisela Kempe, hatte drei Kinder großgezogen und nun versorgte sie ihre Gäste sehr liebevoll – u.a. mit selbstgemachter Marmelade und Butter.  Für 28 DM pro Person und Tag bezogen wir in der Osterburg drei Zimmer, wovon eines eine kleine Küche war, in der wir uns stündlich frischen Ostfriesentee zubereiten konnten. Wegen des wechselnden Wetters arbeiteten wir meist auf dem Zimmer, gelegentlich machten wir einen Spaziergang auf dem Deich oder fuhren nach Emden, wo Henri Nannen ein Museum für moderne Kunst nebst einer  Kunstschule errichten ließ. Oder wir aßen im Burgrestaurant von Pewsum Kohl und Pinkel, was mich zu einem Artikel mit dem Titel „Cogito Pewsum“ inspirierte.

Heuer nun stand ein ähnlicher Arbeitsurlaub auf dem Reiterhof in Nowina bei Henrykow, etwa 50 Kilometer südwestlich von Wrozlaw, auf dem Plan. Die Tochter meiner Freundin wollte unbedingt galoppieren lernen. Unter den Töchtermüttern hatte es sich inzwischen herumgesprochen, daß viele Reiterhof-Betreiber, insbesondere in der Mark Brandenburg, nur die Pferdeleidenschaft der Mittelschicht-Töchter gnadenlos ausbeuten wollen: Das Spektrum ihrer Geschäftstüchtigkeit reicht von Morgens-Mittags-Abends-Haferflocken zum Essen bis zu völlig heruntergekommenen Kleppern und pädagogisch verbrämten Arbeitseinsätzen auf den Feldern und in den Ställen. Von daher erwecken die „Reiterhöfe“ bereits Mißtrauen . An den Hof Nowina von Katarzyna und Jurek Trawinscy war meine Freundin übers Internet geraten. Er wird von der holländischen Firma „Ecotourist Farm“ vermarktet, die sich auf niederländische, deutsche, polnische und tschechische Reiterhöfe spezialisiert hat – und dafür 10% der Einnahmen kassiert. Jurek verlangte von uns bei Vollpension für ein Zimmer 35 Sloty pro Person, und 25 Sloty für eine Reitstunde – was umgerechnet dann gut 130 DM am Tag für uns alle ausmachte. Dafür war das Zimmer dann etwa 100 Quadratmeter groß, zweistöckig und hatte einen Kamin, an dem ich fortan fast  täglich saß und Bücher las, während Mutter und Tochter draußen im Regen herumritten – und sich dabei schwer erkälteten. Daß ich als einziger trocken blieb, nützte mir jedoch nichts, denn schon am dritten Tag hatte ich mich angesteckt.  Die Hofbesitzer Katarzyna und Jurek waren früher öfter nach Afrika gereist, davon zeugte noch ein Teil der Kunst, die an den Gebäuden und in den Gärten drumherum hing. Diese Gärten waren ganz außergewöhnlich üppig und professionell angelegt worden:

Jurek hat Gartenbau studiert und Katarzyna Landwirtschaft, zudem waren beider Eltern Lehrer für Gartenbau gewesen, nun bewirtschaftet Jureks Vater zusammen mit Jureks Bruder einen großen Gartenbaubetrieb mit Baumschule im nahen Henrykow. Von dort bezogen die Katarzynas dann auch ihre Pflanzen, nachdem sie den Hof in Nowina vor zehn Jahren erworben hatten. Pferde besitzen sie erst seit fünf Jahren, eine Idee, die von ihrer Tochter stammte.

Das ganze Unternehmen ist noch im Aufbau, d.h. man empfindet sich noch eher als Privatgast bei einer Familie denn als Kunde eines dauerhaften Dienstleistungsbetriebes. Anders gesagt: Es ist dort alles eher gebrauchswert- als tauschwertorientiert – und das hat nur wenig mit der jüngsten sozialistischen Vergangenheit Polens zu tun. Dafür sprachen nicht nur die wunderbaren Mahlzeiten, die uns Katarzyna täglich vorsetzte, und die wir in der Laube auf dem Hof einnahmen, umgeben von Pflanzenranken mit hunderten von Vögeln darin, sondern auch die allabendlichen Grillpartys von Jurek, zu denen u.a. die Intelligentia aus Wrozlaw anreiste, wobei man nicht zwischen seinen guten Freunden und den zahlenden Gästen unterscheiden konnte. Zu letzteren zählten neben uns noch ein deutsch-österreichisches Banker-Ehepaar aus Warschau, zu ersteren zwei ehemalige Studienkollegen – der eine arbeitete jetzt als Gärtner in Kalifornien und der andere in Zentralafrika. Man könnte sie alle zur neuen polnischen Mittelschicht zählen, sie kamen als junge Ehepaare mit Mittelklassewagen an und hatten ihre Mountainbikes und kleinen Kinder dabei. Eine Frau erzählte uns am Lagerfeuer, daß sie bei IBM in Wrozlaw als Übersetzerin arbeite, ein ehemaliger Fremdenlegionär meinte, daß seine beiden Töchter schier verrückt nach Pferden seien. Erwähnt sei ferner, daß man als Gast über die aus dem Keller entnommenen Säfte und Biere selber Buch zu führen hatte.

Da wir mit dem Zug gekommen waren, nahm sich Jurek die Zeit, uns zwei oder drei mal mit seinem Geländewagen irgendwohin zu fahren – einmal zum Zisterzienser-Kloster nach Henrykow, in dem früher die Gartenbau-Schule untergebracht war, jetzt läßt die Kirche den riesigen Gebäudekomplex gerade vollständig renovieren. Ansonsten gab es statt Kneipen und Restaurants in weitem Umkreis nur Wälder und Seen – und natürlich Felder.

Dieser Teil Niederschlesiens hat gute Böden und ist Polens wärmster Landesteil. Bei seiner Landwirtschaft bekommt Jurek mitunter Hilfe von jungen Leuten aus der Nachbarschaft. Ansonsten sind er und seine Frau Katarzyna und sogar seine Tochter gut damit beschäftigt, den Betrieb in Gang zu halten und zu verbessern. Dazu gehören inzwischen zwei Höfe, deren Gebäude z.T. noch ausgebaut werden müssen, sowie 13 Pferde, zwei Ziegen, neun Gänse, sieben Hühner, drei Hunde und zwei Katzen, von denen eine auch noch gerade schwanger war – und nicht zu vergessen: ein Gewächshaus, etliche Gemüsebeete, ein künstlicher und ein natürlicher See, die Koppeln und alle Gartenanlagen.

Das ganze „Projekt“ beeindruckte uns derart, daß der normale Berliner Alltag uns bei der Rückkehr diesmal besonders verblödet vorkam. Früher war es umgekehrt, aber so langsam dreht sich sowieso das Stadt-Land-Verhältnis um.

11. Die Kosmopolen im postsowjetischen Upstream-Bereich:

Die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk, aber auch die neue Leiterin des polnischen Kulturinstituts, Joanna Kiliszek, gehen oft und gerne in den Club der polnischen Versager. Olga Tokarczuk meinte aber dennoch bemerken zu müssen: Die auf der dortigen Tor-Straße sich ständig steigernde Russenbegeisterung resultiere aus der Schwäche der Deutschen für „Siegermächte“. Ich wandte dagegen ein, zumindestens meine Begeisterung hub erst mit der Niederlage der Sowjetunion an – und historisch sei sie auch eher wölfisch als hündisch zu nennen.

Vorgestern Nacht traf ich mich im Club mit den zwei Punkdichtern Zaluskie (aus Konstanz) und Kuba (aus Leipzig). Die zwei Kosmopolen aus der Provinz waren völlig begeistert von dem dortigen Wodka-Parcours: Russen-Garage, Versagerclub, Waffen-Galerie, Dom Kultury (B), Russendisko und -diskoclub. Und überall wimmelte es von Polen und Russen. Zaluskie übersetzte hin und her, aber Kuba weigerte sich: „Die Polen meinen immer, sie können Russisch, aber wenn sie dann versuchen, es zu sprechen, werden sie ganz klein!“

Der Tip veröffentlichte gerade einen hündischen Artikel über diese „Russenscene“, in dem die Polengeschichten ignorant einfach subsummiert wurden. Danach akzeptierte ich die Torkaczuksche Deutschenschelte. Dessen ungeachtet scheinen zum einen die „Russen“ sich zu diversifizieren (so schimpften die Leningrader in der Garage zum Beispiel über die Moskauer Russendisko, weil dort nur noch Deutsche – Touris und Prominente ausgerechnet – hingehen) und zum anderen die Polen und Russen in einem Wettbewerb zu stehen: In der Linienstraße nebenan fand gerade wieder ein allrussisches Kakerlakenrennen statt, und das polnische Kulturinstitut, das sich sowieso deimmobilisieren will, veranstaltet im Babylon am Rosa-Luxemburgplatz eine neue Filmreihe: „Pol Plot“. Sie beginnt am 18. April um 19 Uhr 30 mit Robert Glinskis Spielfilm „Hi Tereska“. Die Polen in der Russendisko und die Polenforscherin der FAZ, Stefanie Peter, kannten den Streifen bereits.

Während sie jedoch mit dem Regisseur meinten, es handele sich dabei erneut um einen Film über die „blockers generation“, also um die Armutsverwahrlosung von Jugendlichen in den Sozialblocks aus der Kommunistenzeit, war ich der Meinung, dass es dabei um den quasinormalen juvenilen Entwicklungswahnsinn im Kapitalismus geht – was man im heutigen Polen fälschlicherweise geografisch – auf die postproletarischen Neubaugebiete – eingrenze.

Jedenfalls habe ich dasselbe Elend wie die jetzigen Warschauer Vorstadtkids in den Sechzigerjahren in der Bremer Altstadt und auf dem Land erlebt. Das polnisch Besondere an Glinskis Film, in dem es um zwei frühreife Mädchen und vier Jungs sowie einige Erwachsene drumherum geht, ist der existenzialistische Realismus – demgegenüber jeder deutsche Spiel- oder Dokufilm irgendwie kitschig wirkt. „Wir lieben das Illegale!“, erklärte mir Zaluskie.

Ich verstand Zaluskie so: Weil das Land Polen immer mal wieder wie auf Rädern hin- und hergeschoben oder sogar ganz aufgelöst wurde – und dann nur noch in der Illegalität existierte, wo es ganz genaue Anweisungen gab, wer, wann, wie mit dem Feindsystem kollaborieren durfte – deswegen ist der Sartre’sche Existenzialismus nur die Pariser Haute Couturisation des polnischen Realismus (à bas)!

Die Illegalität wird dabei fast zu einem Synonym. Und schon beim kleinsten Anziehen der Erziehungsschraube werden die Eltern – wie in „Hi, Tereska“ – mit der „Gestapo“ identifiziert. Auch wir haben damals schnell mit „Nazischwein“ gekontert. Übrigens sind selbst die Laiendarsteller in „Hi, Tereska“ allesamt hervorragende Schauspieler – ist das auch eine polnische Besonderheit?

12. Polenmärkte abklappern…

Die Polenmärkte an der 454 Kilometer langen Oder-Neiße-Grenze werden in Polen auch „Deutschenmärkte“ genannt. Zur Zeit gibt es 17 Übergänge mit je einem „Bazar“ für die „Grenzkäufer“ – vornehmlich aus Deutschland, die teilweise mit Bussen von weither anreisen. Der deutsche Verband der Lebensmittelkontrolleure zählte dort allein 460 Zigarettenhändler, die 2004 zusammen 4,2 Milliarden Zigaretten verkauften. Rund um die Polenmärkte haben sich Tankstellen, Restaurants, Autowaschanlagen und Bordelle angesiedelt. Weil die Preise sich in Deutschland und Polen angleichen, werden statt Waren immer mehr Dienstleistungen angeboten: Haarschnitte, Zahnbehandlungen, Tätowierungen, Wellness.  Die Prostituierten kommen mehrheitlich aus Russland, der Ukraine und dem Baltikum. Als Verkäuferinnen auf den Bazaren und Tankstellen werden zunehmend Frauen aus Deutschland eingestellt. Die Polenmärkte entwickelten sich seit ihrer Entstehung unterschiedlich: Während in Krajnak Dolny (gegenüber von Schwedt) die neu  errichtete „Markthalle“ samt Restaurants schon so gut wie pleite ist, hat sich der Bazar von Osinow Dolny (gegenüber von Hohenwutzen) inzwischen über den ganzen Ort ausgedehnt. Hierher strömten im ersten Jahr der Grenzöffnung bereits 3,6 Millionen Deutsche. Der Bürgermeister sprach von über 700 Händlern. Den Anfang machte Adam Sablotzki, der noch vor der Eröffnung des Grenzübergangs (!) in den Hallen einer 1945 zerstörten deutschen Zellstoffabrik nahe am Fluß einen „Oder Center Berlin“ genannten Bazar einrichtete, der seitdem ständig erweitert wird – und bereits auf das zwei Kilometer entfernte Dorf überschwappte, das er dadurch gänzlich umgestaltete. Die „Schnäppchenjäger“ kommen hier zumeist aus dem 60 Kilometer entfernten Berlin: Osinow Dolny ist zu einem „Vergnügungsort der Armen“ geworden, schrieb die Berliner Zeitung. Immer wieder berichten deutsche Zeitungen über die Polenmärkte, auch für Künstler und Wissenschaftler sind sie interessant. Die „Basarphase“ sei dort schon fast wieder überwunden, schrieb z.B. der Slawist Karl Schlögel. Er ist Professor an der „Viadrina“ in Frankfurt/Oder, deren neuerrichtetes „Collegium Pollonicum“ im gegenüberliegenden Slubice nebenbeibemerkt den dortigen Bazar aus der Stadtmitte vor der „Friedensbrücke“  an den Rand  gedrängt hat. In seinem Essay „Die Geburt des Basars aus dem Zerfall“ sah Schlögel über alle wirtschaftlichen „Phasen“ hinweg – mit geradezu dichterischen Augen – das große Ganze des Neoliberalismus:  Ein riesiges „Netzwerk der Warenströme, das die östlichen Städte mit der Welt draußen und das die Städte ihrerseits mit der Provinz tief im Landesinneren verbindet“. Die Menschen, die daran beteiligt sind, bezeichnete er mit dem russischen Wort „Tschelnok“ – als Weberschiffchen: „Es rast hin und her und erzeugt mit dem Faden, den es abspult, jenes Gewebe, aus dem dann der feste Stoff entsteht“. In einer russischen Untersuchung, die Schlögel zitiert, wird dieser „neue Beruf“ als „kleiner Händler – in der Regel mit Hochschulbildung“ definiert, „der die Funktionen des Staatsmonopols zur Gewährleistung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und alltäglichen Bedarfsartikeln auf sich genommen hat“. Und Hunderttausende lernen dabei im Westen, daß man „’normal‘ leben und die Früchte seiner Arbeit genießen kann“. Auf diese Weise werden die Marktbesuche ihnen zu „Schulen des Lebens“, d.h. wenn man ein Leben „im Sog und im Schatten des Basars“ führt, werden „nicht Institutionen ausgewechselt, sondern eine ganze Lebensform“. Diese ist zwar nicht mehr geplant – wie im Kommunismus, sie hat dennoch eine, wenn auch schwer erkennbare „Ratio“: Sie wird nämlich (wieder) gelenkt von einer „unsichtbaren Hand“ (der Marktwirtschaft selbst), die „nicht nur stärker als die Faust jedes noch so mächtigen Diktators ist, sondern auch effizienter“, denn sie setzt sich aus der „kollektiven Intelligenz Tausender von Menschen“ zusammen – aus der Summe ihrer Handelstätigkeiten quasi.

Man merkt dem Marktbeobachter bzw. Basarbesucher Schlögel an, daß er sein Geld nicht im Kleinhandel oder gar mit Prostitution verdienen muß, ja nicht einmal als Konsument dort auftritt. Denn eine ständige und stabile Konzentration auf das, was sich lohnt, also auf die mögliche Gewinnspanne beim An- und Verkauf einer Ware, die einem an sich völlig gleichgültig ist, verblödet einen Menschen nicht nur, sondern macht ihn – besonders all jene osteuropäischen Kleinhändler „mit Hochschulbildung“, die gezwungen sind, sich für den Rest ihres Lebens am Rande der Illegalität und der Grenze  durchzuschlagen – schier verrückt, d.h. mindestens depressiv. Vom Westen aus ist es unverschämt, diese massenhafte Deklassierung einfach als Zugewinn abzubuchen, während es dort eher als Weltverlust empfunden wird, in der neuen Ordnung alle Dinge in Zahlen umrechen zu müssen.

Eher neugierig ging dagegen die Politologin Agata Wisniewska vor, als sie für den Kirchentag in Schwerin 2005 eine ganze  Ausstellung über „Polenmärkte“ organisierte – mit deutschen und polnischen Künstlern. Einer, Andrzej Kotula, beobachtet schon seit 16 Jahren das Treiben auf den Polenmärkten. Er begann damit auf dem ersten Markt – der noch vor der Wende in Westberlin entstand. Dieser wurde im Juni 1989 von der Polizei geschlossen – „aus zollrechtlichen Gründen“. Der Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt/Main, Daniel Cohn-Bendit, kritisierte das Verbot des Berliner Polenmarktes als „Kurzschlußhandlung“ der Politik:  „Was mich sauer macht, sind diese ordnungspolitischen Sauberkeitsargumente.“ Der Berliner Senat habe die große Ausstrahlung dieses Marktes offenbar noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Dieser Markt sei die erste realexistierende Überwindung der Mauer gewesen. Auch im Ausland habe er große Aufmerksamkeit gefunden und sei als „ein Stück neuer Ostpolitik“ angesehen worden. „Wir können doch nicht gegen die autoritäre Bürokratie des Realsozialismus wettern und dann genauso vorgehen.“ Bereits im September 1989 kehrte der Polenmarkt wieder an seine alte Stelle auf dem Potsdamer Platz zurück – mit so vielen „Handelswilligen“, dass die deutsche Presseagentur einen Monat später meldete: “ Mehrere tausend Polen haben am Samstag den Transitverkehr von und nach Berlin erheblich behindert. Die meisten von ihnen kamen nach West-Berlin, um in der Stadt mit Schwarzmarktgeschäften ihr Einkommen durch westliche Devisen aufzubessern. Auf dem sogenannten Polenmarkt wurden bereits 10 000 Polen gezählt. Am Grenzübergang registrierte die Polizei bis zum Morgen 3 900 Personenwagen und 53 Reisebusse aus Polen.“ Die Justiz reagierte darauf mit „Schnellgerichtsverfahren“. Kurz vor der Währungsunion drehte sich jedoch die Situation um – wie der polnische Sozialrat in Berlin mitteilte: „Während hier der Polenmarkt fast leer ist, kaufen seit der Währungsunion massenhaft DDR-Bürger im billigen Polen ein.“  Das hat sich seitdem nicht groß geändert, nur dass nun mit der Angleichung der Lebensverhältnisse gleichzeitig auch immer mehr Polen in Deutschland einkaufen: in Frankfurt/Oder sorgen sie bereits für 1/3 des Umsatzes bei den Einzelhändlern, die darauf jedoch noch in keiner Weise eingestellt sind. Ihre ersten Schilder auf polnisch lauteten: „Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht“. Außerdem nehmen sie ungerne Zloty an.

13. Polnische Sonderwirtschaftszonen ergoogeln…

In den Sonderwirtschaftszonen (SWZ)  kann ein Unternehmen mehr als 50% seiner Investitionssumme von der Steuer absetzen; dazu kommt noch die in ganz Polen niedrige Körperschaftssteuer von 19% (in der BRD knapp 40%). Auch die niedrigen Löhne sind ein Investitionsanreiz. So bringt ein Bandarbeiter bei Opel in der Subzone Gliwice der SWZ Katowice rund 450 Euro im Monat nach Hause. „Natürlich verdienen die Deutschen mehr als wir, aber wir verdienen dafür mehr als die Ukrainer und die Russen,“ erklärte dazu der Opel-„Teamleiter“ Karol Rybinski, der deutschen Journalistin Gabriele Lesser, die seit der Einrichtung der SWZ 1996 fast regelmäßig über die Arbeitsbedingungen in Gliwice berichtet. Dort übernahm der polnische Staat die ersten zwei Jahre auch noch die Arbeitskosten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schwärmt für den Werkserbauer, den Investor – d.h. für dessen  vielgelobte innere Organisation, die sie als ein „ästhetisches Gesamtkunstwerk“ begriff, in dem die „Menschen am Band einer Ballettgruppe gleichen“. Noch distanzierter fiel der Blick des „Spiegel“ über die Grenze – in die Sonderwirtschaftszone Slubice – aus: Hier entdeckte er  vor allem „buntes Treiben“ – im Gegensatz zu Frankfurt – auf der deutschen Oderseite, wo gewissermaßen tote Hose herrsche.

Mindestens am Anfang war man bei Opel in Gliwice noch hochmotiviert. Einer aus der dortigen  Logistik-Abteilung, Rafal, erzählte: „Vor einiger Zeit   erwähnte der Chef ganz beiläufig, daß wir früher anfangen könnten. Am nächsten Tag war die ganze Abteilung eine halbe Stunde vor Dienstbeginn da – so groß ist hier der Enthusiasmus“.

Heute ist die „Stimmung“ in den Sonderwirtschaftszonen eher „durchwachsen“. Die EU will sie nur noch bis 1917 genehmigen und etliche Produktionen wurden bereits weiter nach Osten, in die Ukraine und nach Rumänien,  verlegt, weil dort die Löhne noch niedriger sind. „Irgendwann, eines Tages trifft es auch uns. Dann werden wir entlassen,“ meint Karol Rybinski. Seine Frau  Agnieszka ist optimistischer: 1. werde alles getan, um neue Firmen nach Gliwice zu holen, so dass „wir nicht nicht wie jetzt die Opelaner in Bochum auf der Straße stehen werden,“ und 2. würden sie alles, „was sie irgendwie sparen können“ in die Ausbildung der Kinder und in ihre eigene investieren.

Offiziell spricht man von 14 Sonderzonen, davon drei allein in Niederschlesien, wovon eine – der „Invest-Park“ Wal brzych – wiederum aus 12 „Subzonen“ besteht. Dieses SWZ-Gelände wurde   Ende 2005 schon oder noch zu 78% „bewirtschaftet“. Erster Investor war hier der US-Konzern „Whirlpool“ – mit einem Werk für Haushaltsgeräte. In der SWZ Lodz errichtete die Firma „Bosch-Siemens-Haushaltsgeräte“ (BSH) ein Werk für Geschirrspüler und außerdem noch eine Produktionsstätte für Wäschetrockner an anderer Stelle. Wegen der  „Standortvorteile“ für solche Fabriken soll u.a. das  BSH-Werk für Haushaltsgeräte in Berlin dicht gemacht werden. Im Herbst 2006 traten hier die 616 Arbeiter in einen Streik, einmal trafen sie sich in ihrem „Streikzelt“ mit Kollegen aus dem türkischen und den polnischen  BSH-Werken. Tadeusz Feliksinski von der Gewerkschaft Solidarnosc konnte ihnen jedoch nur wenig Hoffnung auf solidarische Unterstützung machen: „Im BSH-Werk Lodz herrschen unzumutbare Bedingungen. Die Gewerkschaft hat an  dem seit 2003 bestehenden Standort keinerlei Einfluß. Die Mehrheit der dort Arbeitenden hat nur befristete Verträge. Wenn Kollegen versuchen, sich zu wehren, werden sie sofort gefeuert.“

Trotz des äußerst unternehmerfreundlichen Klimas in den SWZ gibt es angeblich keinen Grund für ostdeutsche Kommunen, über die polnischen SWZ  beunruhigt zu sein, denn ihnen kommen dafür flächendeckend Sondervergünstigungen zugute: „Für Ostdeutschland stehen diesselben Förderinstrumente zur Verfügung wie in Polen, es ist ein Höchstfördergebiet,“ so sagte es  der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen, der deswegen der Forderung, in Ostdeutschland ebenfalls SWZ einzurichten, nichts abgewinnen kann. Hinzu kommt, wenn man dem Wirtschaftsgeographen Stefan Krätke der Universität in Frankfurt/Slubice „Viadrina“ folgt, dass die Ansiedlung westlicher Firmen in den grenznahen polnischen SWZ „nur wegen des niedrigen Lohnniveaus“ dort bereits gescheitert ist. Sie seien bloß noch interessant, „wenn es auch um qualifizierte Investitionen mit viel Know-How geht.“ In anderen Worten: die Wettbewerbsbedingungen sind hüben wie drüben schon fast gleich. Der Wirtschaftsgeograph wirft höchstens den deutschen und speziell den Berliner Unternehmen vor, dass sie nicht so „flexibel“ wie die polnischen sind und kaum Kontakte nach Polen haben. Im Gegensatz etwa zur Mailänder Region, „die mit Poznan einen regen Austausch hat“. Der CDU-Bürgermeister von Frankfurt/Oder würde sich dagegen schon etwas davon versprechen, wenn seine Stadt neben Slubice ebenfalls zu einer SWZ erklärt werden würde, er ist jedoch pessimistisch, dass dies geschieht.

Der Frankfurter DGB-Vorsitzende kann nur davor warnen: Sonderwirtschaftszonen würden die neuen Länder bloß zu „Indianerreservaten“ machen ohne Rechte für die Beschäftigten. Dass solche oder ähnliche Stimmen Gewicht haben, ist für einige Minister in der polnischen Regierung ein Indiz dafür, dass Deutschland und speziell die ehemalige Ostzone im Gegensatz zu Polen – mit seinen „Enterprise Zones“ – immer noch viel zu „sozialistisch“ sei. Dabei ist das Gegenteil der Fall, wenn man dem deutschen EU-Abgeordneten  Ulrich Stockmann glauben darf: „Die meisten Merkmale einer SWZ erfüllt der Osten ohnehin schon.“ Eine explizit ausgewiesene „SWZ würde deshalb keine nennenswerten Veränderungen bedeuten.“

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