Aus Anlaß des 20. Jahrestages der Abwicklung der DDR und vor allem seiner Wirtschaftsbetriebe hier die Texte zu den in den vorangegangenen blogs eingestellten Photos vom Gerätebatteriewerk Belfa und seiner Belegschaft. Am Anfang der taz-Berichterstattung stand eine kurze Nachricht:
(5.6.92) Der Betriebsrat der »Berliner Akkumulatoren Elemente Fabrik« (BAE Belfa Gerätebatterien) wehrt sich gegen die beabsichtigte Kündigung von weiteren 100 Mitarbeitern. In einem offenen Brief an die Treuhand-Vorsitzende Birgit Breuel heißt es, man sei nicht bereit, ein »drittes Mal wie Schafe zur Schlachtbank zu gehen«. Nach zwei Kündigungswellen 1990 und 1991 stehen derzeit noch 173 Mitarbeiter auf der Gehaltsliste, die meisten allerdings mit Kurzarbeit Null. Vor der Wende waren hier fast 500 Personen beschäftigt.
Der Betriebsratsvorsitzende Peter Hartmann wirft der Treuhand vor, seit der Wende keinen Pfennig in den Betrieb investiert zu haben: »Man hat uns regelrecht verhungern lassen.« Hintergrund sind die jüngsten Verkaufsgespräche der Treuhand. Nachdem kürzlich ein erster Privatisierungsversuch gescheitert war, wurde dem Betriebsrat am 21. Mai diesen Jahres vom Treuhand-Privatisierungsmanager Graf v. Bismarck mitgeteilt, daß nunmehr eine neue Käufergruppe (die Herren Bartz und Starke) Interesse an der Firma bekundet hätten und eine »Beschäftigungsgarantie« für 53 Mitarbeiter anböten. Am nächsten Tag wurde die Geschäftsführung angewiesen, eine Personalreduzierung auf 53 Mitarbeiter vorzunehmen und die Kündigungen bis zum 30. Juni auszusprechen.
Der Betriebsrat forderte hingegen eine Beschäftigungsgarantie für alle verbliebenen Beschäftigten, die Offenlegung aller Anbieterkonzepte und den Ausschluß einer »Immobilienlösung«. Die BAE Belfa produziert auf einem 28.000 Quadratmeter großen Gelände in Oberspree Gerätebatterien. Obwohl der Betrieb weitaus preisgünstiger als die Westkonkurrenz ist und sich auf Markterfordernisse umgestellt hat, werden weiterhin rote Zahlen geschrieben. Hauptvorwurf des Betriebsrates: Die Treuhand habe nichts getan, um beim Aufbau eines eigenen Vertriebsnetzes zu helfen. Auch seien keine branchenübliche Werbung, keine Leistungsgebühren für die großen Handelsketten und keinerlei Marketing finanziert worden.
Als nächstes kam eine noch kürzere Meldung (am 10.7.92):
Rund einhundert Beschäftigte des BAE/Belfa-Batteriewerkes in Ost-Berlin haben gestern ihr Werk besetzt und eine zweitägige „Protestproduktion“ aufgenommen. Mit dieser ersten Betriebsbesetzung in Ost-Berlin wenden sie sich gegen die drohende Liquidation durch die Treuhand. Geplant ist, einen Teil der hergestellten Gerätebatterien vor der Treuhand abzuladen. In den zwei Tagen wollen die Arbeiter 100.000 Batterien produzieren.
Der erste ausführlichere taz-Artikel handelte dann von einer den Arbeitskampf bei Belfa flankierenden Ausstellung über das Werk – in der Galerie „Friseur in der Botschaft“ (heute b-books, pro qm und dog-film). Sie bestand im Wesentlichen aus dem Belfa-Verkaufswagen vor der Tür der Galerie und einem Vortrag:
(11.12. 1992) Dass die Ausstellung hier im „Friseur“ stattfindet – hat seine Gründe: Die nach der Wende von 500 auf nunmehr 163 Beschäftigte »gesundgeschrumpfte« und seit zwei Jahren auf Nullstunden-Kurzarbeit gesetzte Belegschaft bezeichnet nämlich die besonders unfähigen Treuhand-Manager, die abwechselnd für die Privatisierung und nun für die Liquidierung ihres einstigen DDR-Monopolbetriebes zuständig sind, schlicht als »Friseure«. Bei jedem interessierten Investor ordnete die Treuhand dessen Wünschen gemäß neue Massenentlassungen an, 1990 wurde faktisch ein Invesitionsverbot für die BELFA verfügt.
Das Werk in Oberspree ist immer noch Teil der Industriebatteriefabrik BAE in Oberschöneweide, seine Verselbständigung wurde wieder und wieder in Aussicht gestellt. Mitte des Jahres blieb als einziger Interessent die Düsseldorfer Firma »Gewerbe im Park« (GIP) übrig, die sieben Millionen Mark für das 28.000 Quadratmeter große Grundstück, idyllisch am Fluß gelegen, bot.
Als die Treuhand zögerte, weil sie dafür eigentlich zwölf Millionen erlösen will, polierten die GIP-Manager ihr Angebot auf: Ein Vertriebsfachmann hatte zuvor Abnahme-Absichtserklärungen für BELFA-Batterien von mehreren Großhandelsketten in Aussicht gestellt – nun bot GIP eine Arbeitsplatzgarantie für rund 100 Beschäftigte bei Fortführung eines Teils der Batterieproduktion, wollte dafür aber nur zwei Millionen Mark für das Ganze zahlen und die restlichen 5 Millionen in die Produktion investieren.
In der Treuhand hatte man sich derweil jedoch schon auf den lukrativen Immobiliendeal eingestellt: »Zwei unabhängige Wirtschaftsgutachten« seien zu dem Ergebnis gekommen, die Batterieproduktion müsse eingestellt werden – so Treuhand-»Friseur« von Bismarck gegenüber den GIP-Geschäftsführern. Zwar handelte es sich dabei nur um hauseigene Argumentationshilfen zur Flankierung der »Immobilienlösung«, aber selbst ein Großteil der Restbelegschaft ist mittlerweile nicht mehr so richtig davon überzeugt, daß ihre seit der Wende durchaus den marktwirtschaftlichen Erfordernissen angepaßte Produkt-Palette noch eine Chance hat, sich gegen Marktführer wie Varta, Duracell und Philips behaupten zu können. Mittels Betriebsbesetzung und Protestdemonstrationen ließ sich bei der Treuhand eben noch eine Auslaufproduktion bis zum Jahresende durchsetzen, die ein an Narva orientiertes Umschulungs- und Qualifizierungsmodell mit Wiedereinstellungsgarantie halbwegs realistisch erschienen ließ.
Eben diese Chance zu vereiteln, das scheint nun einem »Friseur« der Treuhand-Abteilung für Arbeit und Soziales zu obliegen. Während der zu liquidierende Betrieb mit seinen alles andere als maroden Produktionsmaschinen und Forschungseinrichtungen bei den Coiffeuren der Treuhand-Liegenschaftsverwaltung gelandet ist. Desungeachtet haben neben der GIP jetzt auch noch andere Investoren die Botschaft – »Energiespeicherung: ein ebenso interessantes wie vielversprechendes Problem der Zukunft« – vernommen. Für sie will man in der Treuhand-Abteilung Elektrotechnik jetzt doch noch einmal eine »begrenzte Neuausschreibung« des Werkes wagen.
Die Berliner SPD, allen voran Walter Momper, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Peter Wolf und der Abgeordnete Siegfried Scheffler favorisieren derweil eine mittlere Lösung (»stramme Haltungen ersetzen keine Mehrheiten«): Verlagerung der Kernproduktion auf einen anderen Industriestandort bei gleichzeitiger Entwicklung der BELFA-Immobilie am Treptower Spreeufer. Im Gegensatz zu seiner Immobilienfirma Ellinghaus hielt Momper den Bau eines Hotels nebst Yachthafen auf dem Gelände für durchaus realistisch und wünschenswert.
Während in dem bereits vorskizzierten Düsseldorfer GIP-Gewerbepark-Entwurf vor allem die darin eingezeichneten Mercedes-Limousinen auffallen, sind es in einem Entwurf der Londoner Projektagentur Sir Alexander Gibb für das Industriegebiet »Spreeknie« – auf der gegenüberliegenden Flußseite – ebenfalls Yachthäfen, die der »Revitalisierungs-Strategie« Markanz verleihen sollen. Angesichts solcher Idden für ein Luxus-Environment fragen sich die Rest-Belegschaften hüben wie drüben jedoch, ob sie zukünftig ohne Yachtschein dort überhaupt noch Arbeits- und Parkplätze finden werden.
Da die meisten bei Belfa Beschäftigten in Oberschöneweide wohnen, wo auch der Stammbetrieb, rund um die sogenannte „Quandt-Villa“, angesiedelt ist, drehten sich die Gespräche nicht selten um die Probleme in „Oberschweineöde“ und die ebenfalls von Abwicklung bedrohten Großbetriebe dort:
(13.12. 93) Der einstige Ku’damm Oberschöneweides, die Wilhelminenhofstraße, droht zum Slum zu verkommen, befürchtet Köpenicks SPD-Bürgermeister. Das ORB- Team war vor Ort dabei, als die harte Schichtarbeiter-Säuferkneipe „Feierabend“ endgültig geschlossen wurde: Den herbstlich-elegischen Abgesang auf einen wichtigen Träger proletarischer Kultur – „Eine Heimstatt wird wegrationalisiert“ – schauten wir uns als Video auf der üppig mit 100.000 DM „Begrünungsgeld“ vom Bezirk ausgestalteten Hinterhof-Veranda von Peter Hartmann an.
Er wohnt gleich um die Ecke vom „Feierabend“ und war zuletzt Betriebsratsvorsitzender des Gerätebatteriewerks BAE/Belfa, jetzt ist er arbeitslos-krankgeschrieben. Der TV-Beitrag endet mit einem Paar, das traurig und betrunken zum letzten Walzer tanzt, der aus der „Feierabend“- Musikbox quillt. Peter kommentiert: „Sentimentale Scheiße. Die beiden sind jetzt im Vorruhestand. Die Roggensack hatte das Eisenlager unter sich. Ihr Lebensgefährte war bei uns Sachbearbeiter für Schrott und Sekundärrohstoffe. Das war vielleicht eine Marke. Ich habe den kennengelernt, als wir mal russische Batterien für Indien mit Belfa-Etiketten versehen und neu verpacken mußten. Dafür waren zusätzlich 15 Leute eingestellt worden, er mit.
Das war in diesem saukalten Winter, als im Bocksberg die Turbine rausgeflogen ist, wo keine Straßenbahn mehr fuhr. Vier, fünf Jahre ist das jetzt her, da habe ich den kennengelernt. Er hat mir erzählt, er sei Diplom-Ingenieur für Bau, und er mache das hier bloß, weil er nach Berlin ziehen wolle, er hätte ein Haus in Frankfurt/Oder. Ich habe dem alles geglaubt, er war auch intelligent, den ganzen Tag hat der gequasselt. Hinterher habe ich erfahren, was mit dem wirklich los war: Vier Jahre ist er jeden Tag mit Aktentasche und Stullenpaket losgegangen und hat der ollen Roggensack vorgegaukelt, er gehe arbeiten. Hat von der ihrem Geld gelebt und immer gesagt: seins wird gespart.
In der DDR gab es ja nun mal keine Arbeitslosen. Deswegen hat sie vier Jahre gebraucht, um dahinterzukommen. Und dann fing er bei uns an, sie hat ihm die Stelle wahrscheinlich vermittelt. Soviel zu dem arroganten Grauhaarigen im Film, der sagte: ,Mir gefällt es nicht, hier zu leben!'“
Ein Bericht vom Arbeitsgericht:
(1.3.94) Dedr taz-Redakteur Severin Weiland berichtete mehrmals über den zweijährigen Arbeitskampf der Belegschaft des Gerätebatteriewerks Belfa– Oberspree. Zuletzt gelang es dort 20 Hungerstreikenden, daß ihr Betrieb, statt liquidiert zu werden, doch noch privatisiert wurde. Die neuen Besitzer, ein Münchner Batterievertrieb namens „Batropa“, übernahmen allerdings nur 85 der 130 Mitarbeiter. Zu den Entlassenen zählten auch die beiden aktivsten Betriebsräte, Peter Hartmann und Renate Mudrack. Renate Mudrack schloß jetzt vor dem Arbeitsgericht einen Vergleich mit den neuen Belfa-Eignern, die nicht einsehen wollten, daß sie mit dem Kauf auch sämtliche Betriebsräte mitübernommen hatten.
Ihr Münchner Anwalt hatte dann aber doch noch weitere Argumente gegen die Wiedereinstellung wenigstens der zwei Arbeitnehmervertreter in petto: 1. hätten die beiden Ersatzarbeitsplätze in einer Treuhand-Restverwertungsgesellschaft abgelehnt; 2. würde ihre Wiedereinstellung den Betriebsfrieden gefährden: „Hören Sie sich dazu mal die fünf verbliebenen Betriebsräte an, den neuen Vorsitzenden Herrn Kiel zum Beispiel: Es gibt keinen Klassenkampf mehr!“; 3. ein Appell an die gesellschaftliche Verantwortung des Gerichts: „Meine Mandanten sind hier, um Arbeitsplätze in Berlin zu schaffen, trotz all der gegenwärtigen Wirtschaftsprobleme, das sollte man doch nicht gefährden.“ Der milchgesichtige Vorsitzende blieb hart: „15.000 DM Auslösung sind zuwenig, sag‘ ich Ihnen gleich.“ Schließlich einigte man sich auf 22.000 DM – von Beklagtenseite widerruflich, falls die Treuhand den Belfa-Besitzern, die gerade dabei sind, das ganze Gelände an der Spree ebenfalls zu kaufen, die Auslösesumme nicht wenigstens zur Hälfte rückerstattet.
Renate Mudrack, Maschinenbau-Technikerin und seit 15 Jahren bei Belfa, konnte das Urteil gleich mit nach Hause nehmen. Ihr Mann ist Strömungsforscher an der TU, und demnächst fahren sie in Urlaub. 6.000 DM wird man ihr sofort überweisen. Trotzdem war sie unzufrieden: „Ich wäre lieber ökonomisch selbständig geblieben!“ Peter Hartmann, der nicht nur wiedereingestellt werden will, sondern auch erneut als Betriebsrat bei Belfa kandidiert, will sich dagegen „auch nicht mit noch mehr Geld abspeisen lassen“ – an seinem Arbeitsgerichtstermin am 9. März. Auch er verreist jedoch erst einmal – nach Portugal, zu einem Arbeitskämpfertreffen.
Ich habe es übernommen, bis dahin ein Dossier über die Belfa– Geschäftsführer Hauser, Boeckeler und Thieme zusammenzustellen. Gegen die beiden ersteren sind bereits einige Klagen ehemaliger Mitarbeiter ihrer in Konkurs gegangenen „Elektrozentrale“ in Tuttlingen anhängig.
P.S.: Das Beste am Arbeitsgericht ist das Seewasser-Aquarium in der Kantine, mit gepflegter Korallenriff-Flora und -Fauna.
Wenig später ging es bereits um den Wahlkampf des Ex-Betriebsratsvorsitzenden:
(31.8.94) Am vergangenen Sonntag bestritt der Bundestagskandidat der PDS für Treptow und Köpenick, Hanns-Peter Hartmann, im Sportlerheim „Eiche“ seine erste Wahlkampf-Veranstaltung. Der PDS- Kandidat für Mitte und Prenzlauer Berg, Stefan Heym, gab Hartmann hin und wieder geschickt die Stichworte. Auch der Köpenicker SPD- Konkurrent und Bundestagsabgeordnete Siegfried Scheffler nahm teil. Möglicherweise lag es an dieser besonderen Zusammensetzung, daß dieses Podiumsgespräch weitaus besser besucht war als der Berliner SPD-Wahlkampfauftakt in der Kulturbrauerei am Tag zuvor, an dem Thierse, Staffelt, Scharping und die Senatoren Krüger und Nagel teilnahmen.
Der SPD-Mann Scheffler hatte Peter Hartmann auch früher schon unterstützt, als es darum gegangen war, die Gerätebatteriefabrik BELFA vor der endgültigen Abwicklung durch die Treuhand zu bewahren. 80 von 120 Mitarbeitern wurden schließlich von den neuen Eigentümern übernommen, nicht jedoch der dort beschäftigte Betriebsratsvorsitzende Peter Hartmann. Er klagt seitdem auf Wiedereinstellung. Die neuen BELFA-Besitzer und die Treuhand boten ihm in erster Instanz 58.000 DM an, die er aber ablehnte. Dafür offerierte dann die PDS dem einstigen SPD- Ostmitgründer eine Kandidatur als Parteiloser auf ihrer „Offenen Liste“. „Damit Ostinteressen nicht unter den Latsch kommen“, so lautete nun sein Motto, das man auch als Transparent in der „Eiche“ aufgehängt hatte.
„Wo wären diese Interessen denn ohne die SPD geblieben?“ hielt der ehemalige Tiefbauingenieur Scheffler dagegen, dem Peter Hartmann unumwunden „eine größere Kompetenz für Bonn“ bescheinigte, weil der SPD-Mann bereits eine „Legislaturperiode hinter sich“ hatte. Beiden ging es primär um die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen in ihren Wahlplädoyers, wobei Scheffler auch noch auflistete, welchen Köpenicker Mietern oder Arbeitnehmern er bereits konkret als SPD- Abgeordneter geholfen hatte.
In dem von PDS-Wählern dominierten Publikum befanden sich auch einige Köpenicker Betriebsräte. Einer, von der Yachtwerft, arbeitete bis Anfang 1994 in der von Walter Momper gegründeten SPD-Betriebsräte-AG mit: „Aber ich hab’s bei der SPD aufgegeben, nachdem ich denen so oft gesagt habe, was not getan hätte.“
Peter Hartmann war ebenfalls in der SPD-Betriebsräte-AG aktiv gewesen, daneben aber noch in der autonomen Berliner und ostdeutschen Betriebsräteinitiative, die der Betriebsratsvorsitzende von Narva, Michael Müller, 1992 „angeschoben“ hatte.
Aus der Konkursmasse der mit Abschluß der Treuhand-Privatisierungen eingegangenen Initiativen wurden neben Peter Hartmann auch noch der Bischofferöder Betriebsrat Gerd Jütemann sowie der Industriepfarrer und Indienfahrer Willibald Jacob als Bundestagskandidaten von der PDS gewonnen. Auch der Berliner HBV-Gewerkschaftsvorsitzende Manfred Müller gehört in gewisser Weise zu diesem Kreis.
Für Hanns-Peter Hartmann, der sich mittlerweile wegen seiner PDS-Kandidatur mit dem Narva- Betriebsratsvorsitzenden Michael Müller zerstritten hat („Wie willst du denn in Bonn auch nur einen einzigen Arbeitsplatz retten?“), ist Stefan Heym, neben Graf von Einsiedel und Gerhard Zwerenz, so etwas wie eine Orientierungsfigur in seinem dritten Lebensabschnitt „PDS-Bundestagskandidat“.
Davor war der gelernte Rinderpfleger und diplomierte Agrartechniker viele Jahre stellvertretender LPG- Vorsitzender bei Oranienburg. Im Gerätebatteriewerk BELFA dann arbeitete er zwölf Jahre an der Stanze, bis ihn seine Kollegen in der Wende zum Betriebsratsvorsitzenden wählten. Vor einigen Monaten entschied sich die Restbelegschaft erneut für ihn, obwohl er seinen Betrieb als Arbeitsloser genaugenommen nicht mal mehr betreten darf: „Der Klassenkampf ist jetzt beendet“, hieß es dazu erklärend in einem Schreiben der neuen Firmenbesitzer an Peter Hartmann. Dabei denkt der viel eher gradlinig-querulatorisch als strategisch-organisatorisch oder gar gesamtgesellschaftlich. Und so weigert er sich, etwa auf PDS-Veranstaltungen in Köpenicker Hochburgen der ehemaligen Staatsorgane, „denen auch nur ein bißchen nach dem Mund zu reden“. Neulich, auf der Busfahrt zu einer PDS-Schulung, bot Stefan Heym ihm Wahlkampfunterstützung an. Hartmann nahm dankend an: „Wenn du mal einen Proleten auf deinen Versammlungen brauchst, komme ich auch gerne zu dir!“ Das hörte die vor ihnen sitzende Spiegel-Reporterin. Sie fragte ihn daraufhin nach dem Motiv für seine PDS-Kandidatur. Das sei die Partei, die „am konsequentesten Interessen von Arbeitnehmern“ vertrete, antwortete er. Die Reporterin machte daraus später: „Die PDS setzt sich als einzige für die Aufrechterhaltung der Arbeiterklasse ein.“ Und das sollte er auch noch gegen die ihm in ideologischer Hinsicht zu laxen und zynischen Heym und Zwerenz gesagt haben. Der Jungen Welt gefiel dieses vermeintliche Hartmann-Bonmot dennoch so gut, daß sie es sogleich zum Spruch des Tages kürte. Was wiederum einige PDSler bewog, sich bei Hartmann besorgt zu erkundigen, ob er jetzt der kommunistischen Plattform beigetreten sei. Mittlerweile gefällt Hartmann selbst schon die Spiegel-Version besser als seine eigene.
Nichtsdestotrotz ist ihm „die kommunistische Plattform“ gewissermaßen wesensfremd, ebenso wie „durch die Bank“ die jungen westdeutschen PDS-Kandidaten, die er vor einigen Wochen auf einer Kandidaten-Schulung der PDS bei Potsdam kennenlernte, wo ihnen allen eine der Partei verbundene Werbeagentur videogestützt Interview-Antworttechniken und Talk-Auftritte, Personal Marketing kurz gesagt, beibrachte. Auch die Kandidaten-Fotos für die Plakate und Prospekte wurden dort aufgenommen. Hartmanns Wahlversprechen darauf lautet: „Ich habe erfolgreich für Arbeit gekämpft und werde es auch in Zukunft tun.“
Auch über einige After-Strike-Parties galt es Bericht zu erstatten:
(20.2.95) Es ist guter deutscher Brauch, daß Leute, die zusammen einen Hungerstreik gemacht haben, sich danach immer mal wieder treffen. In Ostdeutschland hat es bisher nur zwei solcher kollektiver Streiks gegeben: im Treptower Batteriewerk Belfa und bei den Bischofferöder Kalikumpeln. Beide Gruppen hatten sich auch schon 1994 getroffen, wobei ihr Verzehr über die Reste der einstigen Streikkasse beglichen worden war. Heuer mußte man nun selber zahlen: Bei Belfa war das im ehemaligen Klubhaus gegenüber der Wuhlheide, das die Belfa-Einkaufsleiterin gepachtet hat. Man sprach über den (individualisierten) Stand der Dinge: Es sieht schlecht aus mit Belfa und dem letzten Rest der Belegschaft, die dort noch Arbeit hat, nur bis Mitte 1995 noch „pönal-abgesichert“.
Nichtsdestotrotz hat Ingenieur Lothar, der während des Streiks ein tolles Arbeiterführer-Coming-out hatte, seine KWV-vernachlässigte Wohnung in Müggelheim gekündigt und eine neue am Marienfelder Tor gefunden; Eigentümerin ist die Ärzte-Genossenschaft. Sein Bausparvertrag geht jetzt zwar für Kaution und Auslegeware drauf, dafür freut er sich auf die Fußbodenheizung. Die Ingenieurin und Betriebsrätin Renate hat gerade eine Umschulung bei Siemens absolviert: Sie ist nun technische Redakteurin, für internationale Gebrauchsanweisungen.
Ein „Beruf mit Zukunft“ – trotzdem wird sie erst einmal arbeitslos. Von den älteren Arbeiterinnen bekamen die meisten bisher nur Ablehnungen oder aber Unzumutbarkeiten angeboten, wie zum Beispiel einen 27-Stunden-Job als Verpackerin in Spandau, bei dem sie genauso viel verdienten wie beim Köpenicker Arbeitsamt. Eine ist als ABM-Kraft mit der „Beräumung“ nicht betriebsnotwendiger Belfa-Gebäude befaßt und mußte gerade das Archiv ausmüllen, wobei sie unter anderem auch ihre eigenen Unterlagen vernichtete: „Da hätte ich fast ein bißchen geheult.“
Betriebsratsvorsitzender Peter Hartmann hat einen Vergleich mit den neuen Belfa-Eignern geschlossen: dafür, daß sie ihn nicht wieder einstellen, bekommt er rund 80.000 Mark. Statt sich mit seiner Freundin Ewa selbständig zu machen, wird er im Herbst noch einmal für die PDS in Berlin kandidieren.
Bei der PDS ist auch der Bischofferöder Betriebsrat Gerd Jütemann gelandet. Er flog aus Bonn ein, als Ende Januar der zweite Gerichtsprozeß gegen vier Kalikumpel im Moabiter Amtsgericht statfand. Sie sollen vor der Treuhand randaliert haben, konkret habe der Ingenieur Frank Gerber, als Birgit Breuel im Mercedes das THA-Gebäude verließ, mit einer Bierdose geworfen, was Landfriedensbruch sei. Woraufhin ein Polizist ihn umgerempelt und in eine Wanne geschleift haben will.
Die Kalikumpel reisten zu seinem Prozeßtermin mit zwei Bussen an – und fanden prompt keinen Platz im viel zu kleinen Saal des Anbaus B. Der Richter war zudem überfordert und berief sich auf die Vorschrift „Mindestzuschauerzahl“, obwohl zwanzig Presse-Sitzplätze nicht besetzt waren. Schließlich fand er doch einen größeren Saal. Beim ersten Gemurmel aus den Publikumsreihen drehte er jedoch erneut durch und schrie: „Wir machen hier ein ganz normales Verfahren – es geht darum, daß ich in aller Ruhe entscheiden will, ob hier ein Strafverfahren vorliegt oder nicht.“ Drei Polizisten hatte er als Zeugen geladen. Diese widersprachen sich dann aber derart in ihrer Darstellung der Tatumstände (Bierdosenwurf) und des Verhaftungsvorgangs, daß das Verfahren gegen Frank Gerber schließlich eingestellt wurde.
Jütemann und viele andere waren damit nicht zufrieden: „Der hätte freigesprochen werden müssen!“ Gleichwohl legte Gerber keine Berufung ein. Er hat einen neuen Job und will sich auf anderes konzentrieren.
Seine Rechtsanwaltskosten wird man aus der „Bischofferode ist überall!“-T-Shirt-Kasse begleichen. Von Moabit aus fuhren die Kalikumpel direkt zur Grünen Woche, wo sie erst mal feierten. Später fragte ich einen der Betriebsräte, ob sein Bonner Kollege Jütemann auch noch gelegentlich in Bischofferode aktiv sei. „Ja, wenn es bei irgendwelchen Verhandlungen gar nicht mehr weitergeht, dann drohen wir mit ihm. Und das hilft auch. Der PDS-Abgeordnete Jütemann ist jetzt so etwas wie ,ein Gespenst geht um im Eichsfeld‘.“
Noch einmal zum Kampfmittel Hungerstreik:
(23.8.95) Es begann mit dem Geschäftsführer einer Schuhfabrik in Burg bei Magdeburg, der wegen stockender Verhandlungen mit der Treuhandanstalt 1992 in einen Hungerstreik trat. Ebenfalls wegen der Treuhand trat dann ein Teil der Belegschaft des Berliner Batteriewerks Belfa in den Hungerstreik, und kurz darauf die Bischofferöder Kalikumpel, deren monatelange Nahrungsverweigerung 1993 die Medien beschäftigte. Auch eine Gruppe von PDSlern um Gregor Gysi, der zuvor die CDU-Kalikumpel unterstützt hatte, begann einen Hungerstreik in der Volksbühne, um gegen die Versuche der Bundesregierung zu protestieren, das SED-Parteivermögens einzukassieren.
In Mecklenburg-Vorpommern, im Dorf Passee, trat der SPD-Bürgermeister Adolf Wittek in einen Hungerstreik: Dort hatte ein CDU-Makler aus Bad Schwartau das gesamte Dorfzentrum für 52 Pfennig pro Quadratmeter erworben und dann den Bürgermeister aus seinem Büro sowie dessen Frau aus ihrem Konsum-Laden zwangsräumen lassen. Der Hungerstreik avancierte zum medial anerkannten Kampfmittel zwecks Erhalts von Arbeitsplätzen im Osten, der Westen zog mit jungkatholischen Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit nach. Deswegen entschlossen sich die Kreuzberger Spaßpolitiker der KPD/RZ ebenfalls zu diesen Formen gewaltfreien Widerstands, als sie – angekettet an die Briefkästen vor dem Postamt am Halleschen Tor und mit Kerzen – gegen die Einführung neuer Postleitzahlen für den Bezirk SO 36 hungerstreikten.
In Westdeutschland griff dann sogar ein gar nicht lustiger Lektor eines Literaturverlags zur Waffe „Meditation und Fasten“, nachdem seine konventionellen Versuche, ein von ihm herausgegebenes Buch von Ernst Herhaus in den Medien rezensiert zu bekommen, gescheitert waren. Und im Anschluß einer Jugoslawien betreffenden „Avignon-Deklaration“ von Künstlern trat eine Gruppe französischer Prominenter um Ariane Mnouchkine ebenfalls in einen todernst gemeinten Hungerstreik – zur Beendigung der sogenannten Balkan-Krise.
In Berlin hatten derweil linke Kurden aus Protest gegen das Verbot und die Verfolgung der PKK einen Hungerstreik angefangen, wobei eine ihrer Genossinnen an Herzversagen gestorben war. Die hungerstreikende Kurdengruppe war nur mangelhaft medizinisch betreut worden, hieß es anschließend. Beim Hungerstreik einer Gruppe Boizenburger Bürger Anfang August war dies absolut nicht der Fall: Es handelte sich dabei mehrheitlich um Mitarbeiter des Boizenburger Krankenhauses. Mit ihrer Nahrungsverweigerung wollten sie einen Klinik-Neubau erzwingen, den mitzufinanzieren ihnen nach der Wende die Stadt Kiel versprochen hatte.
Bei allen Hungerstreiks, an denen ich – nicht fastend! – teilnahm, stellte sich mir stets die Frage: Was ist Glück? Die meist auf Campingliegen und mit Mineralwasser beziehungsweise Säften „Kämpfenden“ empfand ich fast immer als glücklich, aufgekratzt gar. Die am Hungerstreik der Bischofferöder Kalikumpel beteiligte Pastorin Christine Haase sprach in diesem Zusammenhang neulich von einer glücklichen „Ganzheitlichkeit“, die während „der harten Auseinandersetzungen“ erreicht wurde. Anschließend fiel wieder alles auseinander, viele Beteiligte wurden krank, vier starben sogar – nach der Niederlage durch Treuhand, Bundesregierung und BASF.
„Man wird leichter, man bekommt Wind unter die Flügel, durch die anderen und durch die Solidarität von außen, auch über die Medien“, so sagte ein am Belfa-Hungerstreik Beteiligter. Er meinte das sowohl ironisch, körperlich, als auch ernsthaft psychologisch, perspektivisch. Das Ende eines Hungerstreiks wird fast immer als Absturz erlebt, auch wenn die Forderungen oder ein großer Teil davon erfüllt wurden.
Absatzprobleme bei Belfa nach der Privatisierung:
(21.10.95) Der arbeitslose Betriebsrat mit Restmandat beim Batteriewerk in Oberspree hatte neulich Gelegenheit, seine Wendeerfahrungen beim Aufbau eines Vertriebsnetzes von unten („Klassenkampf als Marketing“ mit dem „Soli-Pull-Effekt“) erneut anzuwenden: Da lud ihn nämlich der bayrische Belfa-Besitzer Boeckeler, der den unkündbaren BR- Vorsitzenden bei Übernahme des Betriebes 1993 unschön entlassen hatte, ins Grand Hotel, wo er ihm gestand: „Belfa hat enorme Absatzprobleme!“
Zum Erreichen der Gewinnzone bräuchte man 7 Millionen Mark für Werbung. Aber seit Juni würden Treuhand und Senat keine Zuschüsse mehr zahlen. Sein Belfa/Batropa-Geschäftsführer Thieme präzisierte: Erst sei es zu „Ausläufern“ bei der Umstellung auf quecksilberfreie Produktion gekommen, nun würde man nur noch die Alkalinen herstellen. Dann wäre das neue rot-grün-goldene Marketing-Konzept erst 1995 angelaufen. Weswegen der Umsatzrückgang (von 450.000 Mark vor der Privatisierung auf jetzt 250.000 Mark im Monat) noch nicht aufgefangen sei. Immerhin wäre Belfa Hauptlieferant für Telekom und Bundestag. Auch greifen die „Zweitplazierungen“, Batterien mit Fußballvereinsaufkleber: „Belfa ist unbekannt, aber nicht der 1.FC Bayern!“ Schon habe man eine „Batropa UK limited in London“ für solche „Nischenstrategien“ gegründet. Und Hauptgesellschafter Boeckeler habe zusammen mit Dr. Söhngen von der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft inzwischen das Belfa– Grundstück dazuerworben. Die „Vision“ ist: „Daß wir hier ein kleines Produktions-, Dienstleistungs- und Handelszentrum machen.“ Da es sich dabei um ein Massenprodukt handele, wäre ein „massenmediales Marketing“ angemessen. Vielleicht könne Hanns-Peter Hartmann mit seinen Medienkontakten flankierende Maßnahmen ergreifen.
Hartmann steckte gerade mitten im Wahlkampf als PDS-Kandidat in Treptow-Johannisthal. Also mobilisierte er erst einmal die PDS-Bezirkspresse, um den drohenden Arbeitsplatzverlust abzuwenden: durch Werbung für ein „Produkt aus den neuen Bundesländern“, das „preiswerter, aber dieselbe Qualität wie die Westmarken hat“. Auch Verkaufsstände auf PDS-Festen organisierte er, von den Belfa-Leuten tauchte nie jemand auf. Telefonisch zur Rede gestellt, meinte Vertriebschef Eggert erst: „Die Leute aus der Produktion können das neue Produkt nicht richtig repräsentieren!“ und dann: „Ich kann Sie aber unterstützen, Herr Hartmann – mit Batterien und Taschenlampen als Werbegeschenke im Wahlkampf.“ Hartmann meinte, nicht richtig zu hören: „Die PDS gibt es auch noch in zehn Jahren! Es geht aber hier um Belfa! Ihr seid in Not!“ Hatte Boeckeler ihn etwa nur ins Grand Hotel bestellt und bewirtet, um ihn vorzuführen oder ruhig zu stellen? Auch einige Belfa-Kollegen (auf Nullstunden-Kurzarbeit) witterten „Verrat“: von Hartmann.
Dann trat Stefan Heym zurück, und er wurde sein Nachrücker im Bundestag. Jetzt galt es, sich beide Optionen offen zu halten: die Aussicht auf drei Jahre in Bonn und den Sieg bei der Wahl fürs Abgeordnetenhaus in Johannisthal, wo die PDS zuletzt 83 Prozent bekam. Hier wie dort trat Hartmann übrigens mit dem Slogan an: „Damit Arbeiterinteressen nicht unter den Latsch kommen!“ Noch ist sein „Marketing von unten“-Konzept also nicht völlig ausgereizt.
Über den gläsernen Abgeordneten:
(3.1. 96) Die Zeitung der AL/Die Grünen Stachel schreibt: der PDS-Kandidat Hans Peter Hartmann würde „wegen der höheren Diäten“ lieber nach Bonn gehen als ins Berliner Abgeordnetenhaus…
Es war genau umgekehrt! Aber Stefan-Heym-Nachrücker Hartmann mußte dann auf Drängen der Partei sein Mandat in Berlin niederlegen, damit dort der AEG-Betriebsratsvorsitzende Uwe Döhring nachrücken konnte.
In Berlin hätte Hartmann abzüglich der Parteispende 5.500 Mark monatlich bekommen, in Bonn bleiben ihm 3.700 Mark – von 14.052 Mark! Er muß dort 2.000 Mark für eine halbe Sekretärin abdrücken, 1.000 Mark für einen Drittel-Hauptamtlichen, ferner das Gehalt für seinen Bonn-Assistenten, der noch nicht feststeht, und schließlich die Bürokosten und das Gehalt für seinen Mitarbeiter in seinem Wahlkreis im Bezirk Treptow.
Hinzu kommen: eine 1.700- Mark-Spende für den PDS- Bundesvorstand, 300 Mark zur Finanzierung eines PDS-Westbüros, 350 Mark für einen allgemeinen PDS-Fonds, mit dem Projekte gesponsert werden, 500 Mark gehen auf ein Sozialkonto (für einen Sozialplan seiner Mitarbeiter im Falle seiner Nichtwiederwahl), je 100 Mark bekommen seine Wahlkreise Treptow und Köpenick.
Dann gehen noch 3.700 Mark für Steuern ab und 770 Mark für seine Sozialversicherung. Und schließlich braucht er auch noch ein Zimmer in Bonn – die bisher angebotenen Unterkünfte am Noch-Regierungssitz waren undiskutabel: 680 Mark für 20 Quadratmeter, und die Vertragsklauseln hatten es auch noch in sich: „Bei Wiederwahl 1998 verlängert sich das Mietverhältnis automatisch um weitere vier Jahre“, oder: „Für jede Reparatur werden im Einzelfall 150 Mark fällig“ usw…
Bis auf weiteres muß er sich also jedesmal ein Hotelzimmer für 140 Mark pro Nacht suchen. Dafür stattete ihn der Staat schon mal mit Privilegien aus: ein Inland-Freiflugticket, eine kostenlose Bahncard und ein Abgeordnetenausweis – im Lederetui, ferner einen Terminkalender mit rotumrandeten Sitzungswochen – ebenfalls in Leder, dazu noch drei weitere Kalender in Gummi: für eine Ehefrau und zwei Kinder (die er aber nicht hat), außerdem eine Klemmvorrichtung für die Windschutzscheibe seines Personenkraftwagens, in die eine Karte mit der Aufschrift „Bundestagsabgeordneter“ kommt: mit der darf er überall parken.
Als er letzte Woche mit seinem verdreckten Trabant vor der Tür des neuen Bundestagshauses Unter den Linden zwischen vier Mercedes-Limousinen hielt, wollte ihn der Pförtner kurzerhand wegscheuchen, Hartmann blieb stur: „Ich parke hier und basta!“ – „Das ist verboten!“ schrie der Pförtner. „Schauen
Sie mal hier auf die Windschutzscheibe, was sehen Sie da?“ fragte Hartmann listig. „Wo haben Sie d a s Ding denn her?“ fragte der Pförtner entsetzt zurück. Dennoch mußte er schließlich klein beigeben: Gewählt ist gewählt!
Im Bundestagshaus bekam Hartmann erst einmal vier dicke Bücher ausgehändigt – mit seinen Rechten und Pflichten, ferner wurde er dort in die Geheimnisse der „MdB-Hotline“ eingeweiht: damit kann er jetzt von Berlin nach Bonn zum Ortstarif telefonieren.
Und das alles, weil 39,7 Prozent der Treptower – ewiggestrige Betonköpfe – ihn wählten und Stefan Heym vor Ablauf der Legislaturperiode zurücktrat. Aber wenn irgendeiner – im Gegensatz zu den vermufften Öko- Karriere-Fuzzis von der AL – diesen ganzen wichtigtuerischen Abgeordneten-Quatsch wirklich verdient hat, dann der arbeitslose Belfa-Arbeiter Peter Hartmann, den man trotz seiner unkündbaren Betriebsratsposition auf die Straße gesetzt hatte!
Apropos: 150.000 Mark ließ sich die Treuhand diesen ungesetzlichen Spaß kosten. Von dem Geld kauft Hartmann sich jetzt eine von ihm nicht benötigte Eigentumswohnung in Oberschweineöde (von einem West-Haus- und -Kneipenbesitzer, der nebenbei mit Honig handelt). Damit kommt er noch in den Genuß der bis 1996 geltenden „Sonder-AfA Ost“ und spart Steuern.
Noch mal über die Absatzprobleme bei Belfa nach der Privatisierung:
(9.7.96) „Wir pushen wie blöd“ erklärte unlängst noch der Geschäftsführer des Batteriewerks Belfa, Thieme, und meinte damit seine nun auch von „Orwo“ übernommene „Nischen- und Private-Label-Strategie“. Jetzt pushte er sich jedoch frustriert selbst aus dem Betrieb und nach München zurück.
Der alte Belfa-Kampfgruppenkarrierist Krämer ist damit wieder Alleingeschäftsführer, und er ist der Meinung: „Wir müssen das Unternehmen am Leben erhalten, indem wir die Lohnkosten reduzieren“ – jedoch nicht die Gehaltskosten: Und also wurden in einer „Betriebsvereinbarung“ erst einmal die Lohngruppen der Arbeiter runtergesetzt.
Bei Belfa gibt es jedoch überhaupt nichts mehr zu forschen – und kaum noch etwas zu produzieren: Bis auf die „LR6“ werden alle Batterietypen von Varta gekauft und bei Belfa bloß noch umettikettiert. Denn – laut Krämer – „können wir so viel Batterien produzieren wie wir wollen, wir werden damit nie ein Plus machen“. Freilich auch nicht mit dem derzeitigen Etikettenschwindel und den noch 53 hochqualifizierten Mitarbeitern (35 mußten am 1. April gehen).
Und deswegen wurden die Urlaubs- und Weihnachtsgelder der noch Verbliebenen schon mal in (theoretische) „Frei-Zeit“ umgemünzt und ihre zwei letzten Tarifanpassungen in zinslose Darlehen an den Betrieb umgewandelt, der außerdem mit den Lohn- und Gehaltszahlungen drei Monate im Rückstand bleibt. Dieses „Bündnis für Arbeit“ muß gemäß dem Treuhand-Kaufvertrag mindestens bis zum 31. 12. 1997 aufrechterhalten werden.
Bei dieser „Perspektive“ ist es nur logisch, daß bis dahin die gehaltsempfangende Belfa-Leitungsebene (die 60 Prozent der Belegschaft ausmacht) zusammenhält gegenüber den lohnempfangenden Facharbeitern (40 Prozent). Zu der Intellektuellen- Seilschaft zählt seit dem Rausschmiß des Arbeiter-Betriebsratsvorsitzenden Hanns-Peter Hartmann auch dessen Nachfolger, Zink-Kohle-Chemiker Hajo Kiel – jetzt für Reklamationen zuständig -, der die „Betriebsvereinbarung (als Ergänzung zum Arbeitsvertrag)“ auf dem kurzen Dienstweg mit der Geschäftsleitung verabschiedete. Die Lohneinbußen bekamen die Beschäftigten nur mündlich mitgeteilt. Auch über die Anerkennung ihrer teilweise 30jährigen Betriebszugehörigkeit hatte es nur mündliche Zusagen von Geschäftsführer Thieme und Eigentümer Boeckeler gegeben. Das Bundesfinanzministerium wich der Frage aus und antwortete: „Abfindungsansprüche“ von den nach der Privatisierung gekündigten 35 sowie noch gekündigt werdenden Belfa-Mitarbeitern sind „Streitfragen“ zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Treuhand hat „hierauf keine Einflußmöglichkeit“.
Ein Belfa-Brigadeausflug nach Westdeutschland:
(3.8.96) Die Ostler sind es anscheinend gewohnt, alle zur selben Zeit aufzustehen, Feierabend zu haben und auch zur selben Zeit in Urlaub zu fahren. In der eingemauerten DDR machte das Sinn: „Die schönsten Wochen des Jahres“ fielen nun mal zwischen Rügen und Erzgebirge in die Sommermonate. Heute sind solche Kollektivgewohnheiten jedoch „kontraproduktiv“: Irgendwo ist immer Sommer, zudem ist es außerhalb der Urlaubssaison billiger und der Reiseverkehr weniger nervig.
Solch stoizistisches Dumpfverhalten hat aber natürlich – auch „Charakter“! Eine Brigade des Batteriewerks Belfa, die gar nicht mehr besteht, auch das Werk produziert eigentlich nur noch zum Schein, fährt alljährlich seit der Wende in den „Heidepark Soltau“ – und nahm mich heuer mit! „Wir fahren diesmal mit Kind und Kegel und einem Wessi“, wie Peter Hartmann sich ausdrückte. Unser Treck bestand aus drei PKWs. Aus alter sozialistischer Gewohnheit wurden die Kofferräume mit Verpflegung vollgepackt – als ginge es nach Polen. Die Stimmung war schon bei Abfahrt – um 5.30 Uhr morgens – ausgezeichnet, ich war aber noch nicht ausgeschlafen.
Zudem sah ich meinem ersten Besuch in einem Vergnügungspark mit gemischten Gefühlen entgegen – wurde dann aber positiv überrascht. Das fing schon mit dem Park-Bedienungspersonal, von denen die meisten aus Soltau und Umgebung stammten, an: Man war ausgesprochen freundlich, fröhlich gar und saugeduldig, selbst bei den unentschlossensten und verwirrtesten Gästen – Kindern zum Beispiel. Und es wimmelte im Park von Kindern! Ich sah aber nur ein einziges (ein einziges!), das weinte. Der Vater ging mit ihm zu einem Teich und zeigte auf die Fische – und sofort hörte es auf zu weinen.
Kleidungsmäßig waren West- und Ostdeutsche sowie Polen kaum noch zu unterscheiden. Es dominierte die plastikbunte Fitneßmode – mit Turnschuhen, deren Distinktionsmerkmale ich mir im Gegensatz zu den Müttern in unserer Brigade einfach nicht einprägen kann. Man kann jedoch sagen, daß die Westler mehrheitlich in den Park-Restaurants aßen und tranken, während die Ostler höchstens kurz die Imbißbuden frequentierten, dafür jedoch auf den riesigen Parkplätzen ausgiebig picknickten, wobei die Polen sogar das entsprechende Großgerät (wie Tische, Stühle und Grill) auspackten.
Eine weitere Ost-West-Differenz machte sich verhaltensmäßig auch in unserer dreizehnköpfigen Brigade bemerkbar, vielleicht als ein Proletarier-Mittelschicht-Unterschied: Für das Eintrittsgeld konnte man beliebig oft sämtliche Vergnügungsangebote – wie Karussels, Achterbahnen, Wildwasserboote und so weiter – benutzen, dazu den Zoo und die Tiershows besuchen. Um auf eine möglichst günstige akkordlohngewohnte Kosten-Nutzen-Rechnung zu kommen, hetzte alles von Gerät zu Gerät – und je magenumdrehender das Vergnügen war, desto höher der Lust-„Gewinn“. Nur Maja aus Polen, die in eine Charlottenburger Grundschule geht, und ich benutzten kein einziges Karussel: Wir amüsierten uns dafür über das Treiben um uns herum auf der Erde. Das verstanden wiederum die anderen nicht, die uns glatt für Spielverderber gehalten hätten, wenn wir nicht so guter Dinge gewesen wären.
Maja und ich wären dafür gerne in die Tiershows gegangen, das erschien den anderen jedoch als Zeitverschwendung. Immerhin konnten wir sie dann noch zu einem Eilmarsch durch den Tierpark überreden, nachdem Eva und Peter bei einem Looping fast schlecht geworden war.
Auf der Heimfahrt am Abend schworen sich dann alle, im nächsten Jahr noch früher loszufahren: „Wir hatten ja gar keine richtige Zeit, alles gründlich auszuprobieren!“
Erneuter Hungerstreik bei Belfa:
(27.2.97) Ihr Hungerstreik dauert schon acht Tage: „Sie sind aber noch gut drauf“, meint der nicht mithungernde neue Belfa-Betriebsratsvorsitzende Hajo Kiel. Die Verzweiflungsaktion begann am vergangenen Mittwoch: zunächst mit einem Protest vor der Treuhandnachfolgerin BvS am Alexanderplatz, wo die Beschäftigten eine „Belfa-Litfaßsäule“ aufstellten. Am darauffolgenden Tag traten erst neun, dann zwölf Belfa-Mitarbeiter in einen Hungerstreik, um die Öffentlichkeit auf den drohenden Verlust der letzten verbliebenen 43 Arbeitsplätze im Treptower Batteriewerk hinzuweisen.
Wenn nicht schnell ein Teil der fünf Millionen Mark Verluste, die bei Belfa aufgelaufen sind, durch eine „Liquiditätshilfe“ ausgeglichen wird, muß der Fabrikbesitzer Klaus Boeckler ein Rechtsanwalt aus München, Konkurs anmelden. Drei BvS-Gutachter fällten dazu ein „Negativurteil“, zwei andere Wirtschaftsprüfungen – eine im Auftrag der Banken, eine andere im Auftrag von Boeckler – kamen jedoch zu dem Urteil „sanierungsfähig“.
Der Unternehmer selbst argumentiert: Als er 1993 den Betrieb für eine Mark übernahm – mit 83 von zuletzt 137 Mitarbeitern -, sei ihm von der BvS versichert worden, drei Belfa-Produktionsstrecken ließen sich ohne Probleme auf quecksilberfreie Batterien „in Varta-Qualität“ umstellen. Dem war jedoch nicht so: Belfa produziert heute nur noch eine alkalische Batterie, der Rest des Sortiments wird in Osteuropa dazugekauft. Boeckler investierte bis heute zwölf Millionen Mark, außerdem bekam er eine Forschungsförderung von 60.000 Mark und erwarb das 2,8 Hektar große Werksgelände an der Spree.
Die drei Westmanager, die er aus München holte, haben inzwischen das sinkende Schiff wieder verlassen. Geschäftsführer ist jetzt erneut Lutz Krämer, der bis zur Privatisierung Betriebsleiter war.
Während die IG Metall bei der BvS darauf drängt, drei Millionen Mark für Belfa locker zu machen, bemüht sich der Köpenicker SPD- Abgeordnete Siegfried Scheffler, über seine Bonner „Ost-Initiative“ Druck auf den Bundesfinanzminister auszuüben. Beim Berliner Wirtschaftssenator macht man eine Bürgschaft von einem erneuten finanziellen Engagement des Unternehmers abhängig.
Von den Hungerstreikenden meint einer: „Es ist schon paradox, daß ich hier zusammen mit dem Unternehmer kämpfe, aber ich tue es auch, um an meine 15.000 Mark heranzukommen, die er mir, aber auch anderen von uns noch an Gehältern schuldet.“ Paradox ist auch die Beteiligung des PDS-Bundestagsabgeordneten Hanns-Peter Hartmann am Hungerstreik: Er war von der Wende bis 1993 Betriebsratsvorsitzender bei Belfa und hatte damals den Betrieb gerettet. Damals initiierte er den Hungerstreik, samt einer Protestproduktion gegen die Treuhand, die das 1992 stillgelegte Werk – Varta zuliebe – abwickeln wollte. Der neue Eigentümer dankte es ihm indes nicht: Der an sich unkündbare Betriebsratsvorsitzende wurde noch in der Nacht der Vertragsunterzeichnung entlassen. Die Treuhand gab Boeckler dafür noch extra 150.000 Mark, die dieser dann vor dem Arbeitsgericht an Hartmann zahlen mußte.
Dem arbeitslosen Stanzer bot anschließend die PDS einen Listenplatz für den Bundestag an. Am vergangenen Montag erfuhr Hartmann von dem erneuten Hungerstreik seiner ehemaligen Belfa– Kollegen, und bereits in der Nacht – nach einem Votum des fünfköpfigen Betriebsrates – legte er sich zu ihnen auf die Campingliegen. Zuvor war es dort zu Auseinandersetzungen gekommen: Einige fühlten sich von der Geschäftsleitung mißbraucht und „wie Bauern hin- und hergeschoben“, andere wollten die Einigkeit mit dem Unternehmer nicht aufs Spiel setzen. Dennoch erhofften sich alle von Hartmanns Mittun eine Stärkung ihrer Position nach innen, aber auch nach außen – im Hinblick auf die öffentliche Resonanz.
Die Geschäftsleitung möchte zwar auch den Druck auf die BvS verstärken, aber nicht wirklich proletarisch-solidarisch und ohne die PDS: Sie gibt quasi Gas und bremst zugleich. Bis zur Privatisierung war Hartmann stets „Motor“ der Kämpfe bei Belfa gewesen, das hat man dort nicht vergessen, diesmal muß er jedoch einen „Eiertanz“ machen, um die prekäre Allianz zwischen Geschäftsleitung, Betriebsrat und Belegschaft nicht allzusehr durcheinanderzubringen. Ihr Kampf geht weiter. Auch wenn sie dabei immer weniger werden.
Was hat der erneute Betriebskampf gebracht?
(12.3.97) Für Gewerkschafter und Intellektuelle gilt noch immer das alte afrikanische Sprichwort: „Wenn eine Ziege da ist, darf man nicht an ihrer Stelle meckern!“ Es zeigt sich nämlich, so der Sozialforscher Ronald Hitzler, „daß persönliche Betroffenheit den Zugang zum Feld und die routinierte Teilnahme im Feld erleichert“. Aber, so fügt der Wissenschaftler hinzu, und darüber freut sich die FAZ ganz besonders: Die dadurch erreichte Vereinfachung der Datenerhebung verursacht deutliche „Mehrkosten“ bei der Datenauswertung, „weil die dabei unabdingbare Distanzierung nicht nur von den Alltagsbelangen des Wissenschaftlers, sondern auch von den pragmatisch- ideologischen Relevanzen, die im je untersuchten Feld gelten, durch über das Forschungsinteresse hinausgehendes Engagement erschwert wird“.
Nun lassen sich natürlich die „Mehrkosten“ bei starkem Engagement leichter wegstecken als bei reinem Forschungsinteresse. Aber vor allem wird bei diesem „Einerseits-Andererseits“ übersehen, daß die „Hysterie am Anfang jeder Wissenschaft steht“ (Jacques Lacan). Es sind fast immer die sogenannten Betroffenen, die das Problem zuallererst artikulieren – und später kommen die Wissenschaftler, Journalisten und Politiker angewackelt und machen ein „Thema“ daraus.
In der Art schien zunächst auch der erneute Hungerstreik der Belegschaft des Batteriewerks Batropa/Belfa zu funktionieren. Er hatte dann trotz mangelnder solidarischer Resonanz Erfolg, als die Treuhand/BvS und das Land Berlin noch einmal je 1,5 Millionen Mark lockermachten, um zusammen mit dem „frischem Geld“ (ebenfalls 1,5 Millionen) des Belfa-Alleingesellschafters Hubert Bockeler und seiner Banken das Unternehmen mit noch 43 Beschäftigten zu „retten“.
13 Tage hungerten dafür 12 Belfa-Mitarbeiter, die letzten sieben Tage schloß sich ihnen ihr ehemaliger Betriebsratsvorsitzender Hanns-Peter Hartmann an, der inzwischen für die PDS im Bundestag sitzt, und dies, weil Boeckeler ihn nach dem ersten erfolgreichen Hungerstreik gekündigt hatte. Jetzt saßen sie einträchtig zwischen den Campingliegen und spielten zusammen Skat. „Dieser Hungerstreik war aber auch deswegen ein absolutes Absurdum“, so ergänzte ein ehemaliger Betriebsrat, „weil er primär auf Angestelltenbasis gelaufen ist. Die waren diesmal im Gegensatz zu 1993 der Motor des Hungerstreiks, weil sie im Falle eines Konkurses für 3.000 DM netto oder mehr nie wieder was auf dem Arbeitsmarkt gefunden hätten. Dabei kostet die Weißkittel-Truppe nur noch was und bringt nichts mehr ein!“
Auch der neue Betriebsratsvorsitzende Hajo Kiel ist Teil dieser „Truppe“. Hinzu kommt, daß von der konzertierten Finanzspritze erst einmal die Banken mit 1,8 Millionen Mark profitieren und dann noch Varta mit 70.000 Mark. Auch die Lohnrückstände des Unternehmers gehen inzwischen in die Hunderttausende. Daß ich diese überhaupt in einem Hungerstreik-Artikel erwähnt hatte, fanden einige Belfa-Leute bereits „kontraproduktiv“, darüber hinaus begriffen sie – zu Recht – meine Unterwerfung unter die taz-Doktrin: „Ereignis-Priorität“ und „szenischer Einstieg“ – als „allzu distanzierte Berichterstattung“. Ähnlich schimpften sie dann nur noch über den Treptower CDU-Fraktionsvorsitzenden, der gemeint hatte, er fände es ungeheuerlich, daß sie für Arbeitsplätze hungern würden: „So etwas macht man nur, wenn es um Menschenrechte geht!“ Als sie ihn fragten, ob er noch alle Tassen im Schrank habe, meinte er: „Ihr habt doch nichts dazugelernt, ihr seid immer noch die alten Stalinisten!“ Das sagte der CDU-Dumpfmeister ausgerechnet zum ehemaligen Bürgerrechtler Hajo Kiel. Meinen Text bezeichnete dann wiederum ausgerechnet der altneue Geschäftsführer Krämer als „unsolidarisch“ gegenüber ihrem Kampf. Ein ehemaliger Belfa-Mitarbeiter meinte anschließend, all diese „Absurditäten“ wären nicht passiert, wenn die IG Metall – als Scharnier zwischen den „Datenerhebern“ und den „Datenauswertern“ – mehr als nur ein „Soli- Fax an die Presse“ geschickt hätte.
1. Nachtrag:
(17.5.97) Das Batteriewerk Belfa ist wieder da, wo es vor dem Hungerstreik war: Die BvS gibt kein Geld, Senat und Banken nur einen (nicht abrufbaren) Kredit. Jetzt ist die Belegschaft auf „Struktur-KuG“, auch „KuG- Null“ genannt. „Viele Betriebsräte wissen noch gar nicht, daß es so etwas gibt“, meint der Geschäftsführer der Beschäftigungsgesellschaft „Brücke“, Jan Franke. Im Westen kannte man bis zur Wende nur das konjunkturelle Kurzarbeiter-Geld (Kon- KuG). Die (erst zwei- und jetzt einjährige) strukturelle Kurzarbeit (mit null Stunden) kam mit der Treuhand und zuerst im Osten auf. „Es geht dabei darum, bei dauerhaftem Wegfall von Arbeitsplätzen die Arbeitslosigkeit 12 Monate hinauszuschieben.“
2. Nachtrag:
(5.8.97) Die Batterienfabrik Belfa/Batropa in Treptow ist noch immer nicht über den Berg. Die verbliebenen 43 Beschäftigten wurden auf Kurzarbeit zurückgestuft und wickeln nur kleinere Aufträge ab. Batropa-Eigentümer Klaus Boeckeler, ein Rechtsanwalt aus München, schuldet der Belegschaft seit Monaten die Löhne. Ursache der schier unendlichen Krise ist nach Ansicht der Wirtschaftsverwaltung, daß Boeckeler zugesagte Investitionen von 1,5 Millionen Mark nicht aufbringt.
„Der Münchner Unternehmer hat bisher noch überhaupt keinen adäquaten Eigenbeitrag geleistet und finanzielle Zusagen nie eingehalten“, kritisiert Joachim Hinze, Sprecher von Wirtschaftssenator Elmar Pieroth (CDU). Dieser hatte sich mit dem Eigentümer und der Treuhandnachfolgerin BvS im Februar dieses Jahres geeinigt, jeweils ein Drittel der Sanierungskosten zu tragen und noch einmal jeweils rund 1,5 Millionen Mark für das notleidende Unternehmen lockerzumachen. Damit wollte man den drohenden Konkurs abwenden.
Nachdem die BvS später von ihrer Zusage Abstand genommen hatte, war der Senat bereit, eine Bürgschaft aufzubringen. Die Übernahme dieser Bürgschaft wurde jedoch an die Bedingung geknüpft, daß Batropa-Eigentümer Boeckeler zunächst sein Geld bezahlen müsse. „Die entsprechenden Unterlagen fehlen bislang“, so Wirtschaftssprecher Hinze. Dennoch schießt das Land erst einmal das Geld vor: Am Freitag vergangener Woche verkündete Pieroth, das Land werde für einen Betriebsmittelkredit in Höhe von 3,75 Millionen Mark bürgen.
Während der Eigentümer für Stellungnahmen nicht zu erreichen ist, stellt sich der Vorsitzende des Batropa-Betriebsrats, Hajo Kiehl, hinter den Eigentümer: „Boeckeler hat die Eigenleistung in Höhe von 1,5 Millionen Mark erbracht. Es ist der Bürokratismus, der alles verzögert“.
Die Gnadenfrist war im März nur deshalb beschlossen worden, weil einige der damals noch 45 Beschäftigten in einen Hungerstreik getreten waren. 1992 hatte ein Teil der Belfa-Belegschaft schon einmal einen mehrwöchigen Hungerstreik durchgeführt. Damals ging es darum, die von der Treuhand beschlossene Abwicklung des Betriebs zu verhindern. Quasi in letzter Sekunde fand man dann den Investor Boeckeler, der Belfa für die berühmte symbolische eine Mark übernahm. Zusammen mit seiner Frau erwarb er wenig später auch das 2,8 Hektar große Fabrikgelände an der Spree.
In der Immobilie sehen die meisten den wesentlichen Grund für Boeckelers Engagement. Der Investor habe ein Grundstück in schöner Lage unweit der Spree gekauft, auf der leider noch eine Fabrik stehe. An der Produktion habe der Investor kein wirkliches Interesse.
PDSler im Wahlkampf:
H.P. Hartmann stellte sich kürzlich mit seinem PDS-Wahlkampftisch neben den Eingang eines Supermarkts in Treptow. Er hatte gerade einen Rentner davon überzeugt, ihn zu wählen, als drei vermummte Männer aus dem Supermarkt stürzten – und einen Moment stutzten angesichts des Wahlwerbetisches mit PDS-Luftballons neben ihnen. Der Rentner ging sogleich mutig auf sie zu, woraufhin er von einem der Männer erschossen wurde. Anschließend flüchteten die drei Gangster um die Ecke, wo ihr Wagen stand – und verschwanden. Hartmann gelangte später als Nachrücker von Stefan Heym in den Bundestag.
Und nun erwischte es seinen früheren Studienkollegen und besten Freund Siegfried Mattner aus Schmachtenhagen bei Oranienburg, der für die PDS in Brandenburg kandidiert. Der frühere LPG-Vorsitzende und jetzige Kolchos-Geschäftsführer sowie Gründer des berühmten „Bauernmarktes“ ist ein derartig begnadeter Arbeitsplatzbeschaffer, dass die Phalanx seiner antikommunistischen Gegner geradezu unüberschaubar wurde.
Als Siegfried Mattner nach einer langen Parteisitzung am darauffolgenden Morgen länger als gewöhnlich schlief und seine Frau und seine Tochter schon aus dem Haus waren, klingelte es plötzlich an der Haustür. Als er öffnete, war jedoch niemand zu sehen. Er ging daraufhin unter die Dusche.
Da klingelte es wieder. Diesmal standen zwei Männer vor der Tür, die ihn sofort zurück ins Haus drängten und ihm eine Pistole an die Schläfe drückten. Er konnte nur noch den Schlüssel umdrehen, sodass die Tür angelehnt blieb. Dann begann der 60-jährige gelernte Melker und Judomeister sich zu wehren. Als Erstes ergriff er die Pistole, die daraufhin in eine Ecke flog. Dann bekam er aber von hinten einen Schlag mit einem schweren Gegenstand auf den Kopf und fing stark an zu bluten. Er drehte sich um und trat den Angreifer mit Füßen, wobei er sich zwei Zehen brach. Schließlich hielten die beiden Männer ihn an seinem Morgenmantel fest, er konnte sich aber losreißen und flüchtete nackend auf die Dorfstraße – laut um Hilfe schreiend. Eine Nachbarin rief sofort die Polizei und gab ihm eine Decke. Da erst merkte Mattner, dass er einem der Männer beim Gefecht die Gürteltasche abgerissen hatte, die er immer noch in der Hand hielt. Darin befand sich ein jugoslawischer Pass, ein Handy, ein Autoschlüssel und 500 Euro.
Die Polizei kam zwar schnell, aber die Gangster fand sie nicht. Es waren zwei Jugoslawen, sie hatten ihr geklautes Auto nahe dem S-Bahnhof abgestellt, bereits am nächsten Tag wurden sie in Berlin verhaftet. Siegfried Mattner musste erst einmal ins Krankenhaus, wo man seine Zehen schiente und die Kopfwunde vernähte. „Sie haben Glück gehabt, dass sie so schwer verletzt wurden“, meinten die Polizisten anschließend zu ihm, „sonst hätte ihnen keiner den Überfall geglaubt, jeder hätte das für Wahlwerbung gehalten.“
Die Mattners wohnen in einem typischen LPG-Haus, das genauso aussieht wie alle anderen – und noch nicht einmal am Dorfrand. Und die beiden Gangster kamen um 8 Uhr früh. Als sich Siegfried Mattner wieder etwas beruhigt hatte, fragte er sich: Warum gerade ich? Würden wütende Neonazis überhaupt zwei Jugoslawen beauftragen? Und kommt da jetzt noch was nach? Als er dann am Wahltag im Gegensatz zu Ströbele das Direktmandat verfehlte, beruhigte er sich jedoch langsam wieder. So, als ob die Gefahr dadurch geringer geworden sei.
Rückblickend:
(26.3.05) Die beiden Münchner Manager, die Hartmann selbst als Käufer für Belfa fand, hatten eine „Private-Label-Strategie“ verfolgt, d. h. sie ließen die Gerätebatterien z.B. mit Marilyn-Monroe-Porträts und Bayern-München-Logos bekleben. Dann wurde jedoch eine Maschine nach der anderen stillgelegt – und stattdessen Billigbatterien, u. a. aus Indien, zugekauft. Fortan wurden hier bloß noch deren Label bunt überklebt.
Von Hartmann erfuhr ich jetzt, dass diese „Nischenstrategie“ ein Flop gewesen sei, die Fabrik gebe es gar nicht mehr, zuletzt – 2001 – habe nur noch etwa ein Dutzend Leute bei Belfa gearbeitet. Er selbst saß zunächst, nach einer kurzen Arbeitslosigkeitsphase, für die PDS im Bundestag. Bei der Wahl 1998 kandidierte er jedoch nicht mehr – und wurde erneut arbeitslos. Mit seiner 150.000-DM-„Abfindung“ und einem zusätzlichen Bankkredit erwarb er eine moderne Eigentumswohnung, die aber schon seit Jahren leer steht. Er selbst wohnt noch immer bescheiden in einem alten Wohnblock, der zum Batteriewerk gehörte. Dort war es ihm nach der Wende gelungen, für den bleiverseuchten Hinterhof 100.000 DM Begrünungsgeld vom Senat loszueisen – und damit Büsche und Bäume zu pflanzen und einen Koi-Teich anzulegen.
Zwischen 1999 und 2003 bekam er aber überraschend drei mal eine ABM-Stelle als Projektleiter einer Handwerksbrigade, die Altenwohnungen renovierte. Dabei arbeitete er auch wieder mit ehemaligen Belfa-Kollegen zusammen. Nach zwei Knieoperationen wurde er als invalid und nicht mehr vermittelbar bis zur Rente eingestuft.
Währenddessen hatte seine Freundin Ewa, die ebenfalls früher bei Belfa gearbeitet hatte, mit ihm zusammen einen kleinen Hof im Lubusker Städtchen Grosno erworben. Dort halten sie inzwischen auch einige Nutztiere und müssen deswegen ständig zwischen Berlin und Polen hin und her pendeln. Der gelernte Agraringenieur Hartmann fühlte sich in den letzten Jahren immer niedergeschlagener, die frische Luft im Lubusker Land ließ ihn aber langsam wieder aufleben.
Ähnlich wie ihm ging es nebenbei bemerkt auch einem der Bischofferöder Kalikumpel, wie mir die dortige Pastorin erzählte: Nach dem langen, vergeblichen Hungerstreik, der vier Aktivisten das Leben kostete, war auch er krank geworden, dann hatte er aber sein Land zurückbekommen und sich eine Kuh angeschafft. Als sie kalbte, gewann auch er mit der Zeit seinen Lebensmut wieder.
Hartmann lud mich zu sich auf seinen Hof nach Osno ein, dazu musste ich in Küstrin umsteigen. Als ich bei ihm ankam, mistete er gerade den Stall aus. Ich erfuhr, dass es auch schon zu Verlusten gekommen sei – u. a. hätte ein Marderhund alle Hühner gerissen. Ich berichtete ihm von einem neuen polnischen Dokumentarfilm über ein Hilfsprogramm für Arbeitslose in Ostpolen, das „Ziegen statt Sozialhilfe“ heißt.
Hartmann meinte, dass das bei vielen Leuten durchaus funktionieren könne. In seiner Nachbarschaft würden bereits etliche arbeitslose Deutsche leben, die sich so über Wasser hielten: Die Fabrikarbeit habe eben keine Zukunft mehr in Deutschland. „Und mich – als Landwirt – zieht es sowieso aus der Stadt. Die Arbeit in der Batteriefabrik sollte eigentlich nur vorübergehend sein. Ich fing 1979 in einer neuen Abteilung an einer Fließpresse an. Meine Brigade bestand zu 60 Prozent aus Vorbestraften. Zusammen mit einem Kumpel habe ich es dann geschafft, dass unsere Brigade durch Neuerungsvorschläge und Kampf schließlich die bestverdienende des ganzen Betriebes wurde. Das hat mich dort gehalten – und auch noch die Arbeit im Betriebsrat ab 1989. Aber jetzt sind das doch alles nur noch traurige Rückzugsgefechte – in den letzten Fabriken, mindestens in Berlin.“
Die Situation am Stammbetrieb BAE in Oberschöneweide auf der anderen Seite der Spree:
(17.5.05) So wurde und wird die von den Kommunisten bloß listig „versteckte Arbeitslosigkeit“ in Oberschöneweide ans Licht gezerrt: Zuerst riss man 1990 die Gebäude des VEB Berliner Metall- und Halbzeugwerke (BMHW) ab – und errichtete auf dem Gelände einen Supermarkt. Dann wurde das Institut für Nachrichtentechnik (INT) nebenan erst von der deutschen Alcatel-Tochter „Standard Elektrik Lorenz“ erworben – und 1992 abgewickelt. Das Gebäude erwarb ein Immobilienhändler, der dort eine Spielhalle einquartierte. Das gegenüberliegende Transformatorenwerk (TRO) wurde gleichzeitig von der Daimler-Tochterfirma AEG (wieder) übernommen, die 46 Millionen Mark an Fördermitteln investierte. Dann erwarb aber die Alcatel-Tochterfirma GEC Alsthom Teile der AEG – und diese musste dafür ihr TRO-Werk stilllegen. Die Uferimmobilie übernahm ein ehemaliger Manager von Ruhnke-Optik – und machte daraus ein Kunstzentrum, das nun ein „touristischer Anziehungspunkt“ erst Ranges werden soll – laut Quartiersmanagerin Heidemarie Mettel.
Ähnlich verlief die „Privatisierung“ des riesigen Kabelwerks Oberspree (KWO) nebendran, das mit großem Trara von der British Callendar Company (BICC) gekauft wurde – dann aber ebenso wie die Berliner Kabelwerke von Siemens und Alcatel dicht machte. In die Rathenauvilla auf dem Gelände zog die Berliner Landesentwicklungsgesellschaft (BLEG): Aus einem Teil der denkmalgeschützten Gebäude machte sie ein „Handwerks- und Gewerbezentrum“. Zudem war sogar ein Yachthafen geplant. Inzwischen wurde die BLEG jedoch ebenfalls abgewickelt.
Vorher steckte sie aber noch einige Anwohner mit ihrem Optimismus an: So ließ sich zum Beispiel der Wirt der Schichtarbeiterkneipe „Sporti“ zur Fortbildung nach Las Vegas schicken, als er zurückkam, hatte seine Frau bereits Konkurs angemeldet. Ähnlich ging es dem Wilhelminenstraßen-Entwickler Manfred, der erst mit einem Thaibordell, dann mit einem potenzstärkenden Gelee-Royale-Mittel aus China scheiterte – und schließlich an einer Kartoffel erstickte.
Auch der Westjournalist Carsten Otte, der sich zwecks Recherche für seinen Roman „Schweineöde“ vor Ort einmietete, scheiterte: Sein Buch denunziert bloß die Dauerbewohner dieses größten Berliner Industriegebiets, das Emil Rathenau einst auf der grünen Wiese errichten ließ. Sein dortiges Autowerk NAG krönte der Architekt Peter Behrens einst mit einem Turm am Spreeknie, in dem sich zuletzt ein Technik-Museum befand. Jetzt steht der Turm jedoch leer.
Aus der NAG-Fabrik wurde zu DDR-Zeiten das Werk für Fernsehelektronik (WF), das 1992 von Samsung übernommen wurde. Die Koreaner beschäftigen heute deutlich mehr als die 1.000 Mitarbeiter, die sie damals übernahmen. Der Betriebsratsvorsitzende Wolfgang Kippel meint: „Wer es schafft, bei Samsung reinzukommen, der verlässt den Betrieb als Rentner.“ Die Koreaner wollten 1995 auch noch den sächsischen Öko-Kühlschrankhersteller Foron übernehmen, aber die Siemens AG schrieb ihnen: Sie würden das als „unfreundlichen Akt“ ansehen – prompt zog Samsung seine Offerte zurück.
Vis à vis übernahm die BLEG 1993 ein Grundstück und errichtete dort ein „Technologie- und Gründerzentrum Spreeknie“ (TGS), in das einige outgesourcte WF-Gewerke und eine Qualifizierungsgesellschaft einzogen. Daneben befindet sich die Berliner Akkumulatoren- und Elementefabrik (BAE), ihr Gründer Quandt ließ dort ebenfalls seine Villa errichten. Nach der Wende wollte seine westdeutsche Firma Varta wieder bei der BAE einsteigen, sie kam jedoch nicht über Absichtserklärungen hinaus, stattdessen privatisierten leitende Angestellte die BAE, wobei sie sich jedoch von ihrem Betriebsteil Gerätebatterien (Belfa) trennten.
Die Belfa erwarben zwei Münchner, die eine Private-Label-Stategie verfolgten, mit der sie 2001 Pleite gingen. Nun hat auch das Industriebatteriewerk BAE Konkurs angemeldet, weil die Bleipreise aufgrund der starken chinesischen Nachfrage von 400 auf 700 Euro pro Tonne stiegen. Aus dem BAE-Verwaltungsgebäude machte derweil ein Köpenicker Sozialhilfeverein ein „WAS-Haus“ („Wohnen – Arbeit -Sucht“). Aus dem BAE-Kulturhaus wurde ein „kurdisches Kulturzentrum“, das jedoch schnell Pleite ging – seitdem steht das riesige Gebäude leer. Alle Hoffnungen, auch der Kneipenwirte, richten sich nun auf das KWO-Gebäude, in das die Fachhochschule für Wirtschaft und Technik (FHTW) einziehen soll. Diese möchte jedoch lieber in Karlshorst bleiben.
Zu DDR-Zeiten arbeiteten in Oberschöneweide über 30.000 Menschen, jetzt sind 80 Prozent der Bewohner Sozialhilfeempfänger, wie eine Studie der Supermarktkette „Kaiser’s“ ergab. Die dortige Filialleiterin schaffte bereits den „langen Donnerstag“ ab.
Das Verschwinden der Betriebsräte:
(27.10.05) Freigestellte Betriebsräte sind so gut wie unkündbar – sie machen für gewöhnlich als Letzte das Licht im Betrieb aus. Seit der Wende ist jedoch alles anders. So wurde z. B. dem Betriebsratsvorsitzenden des Batteriewerks Belfa in Schöneweide Hanns-Peter Hartmann sofort nach der Privatisierung seiner Firma gekündigt – mit der Begründung: „Wir brauchen Sie nicht mehr, Herr Hartmann, der Klassenkampf ist beendet!“ Als Nachrücker von Stefan Heym gab er daraufhin ein kurzes PDS-Gastspiel im Bundestag – und wurde dann arbeitslos. Inzwischen ist er Rentner und hält Ziegen auf einem kleinen Bauernhof in Polen.
Auch für die Westberliner Betriebsräte änderte sich ab 89/90 vieles: Der Betriebsratsvorsitzende von Krupp Stahlbau Karl Köckenberger schaffte sich beizeiten ein zweites Standbein an – indem er den Kinderzirkus Cabuwazi gründete. Dann wurde in Ostberlin erst die Firma „B-Stahl“ abgewickelt und schließlich auch Krupp Stahlbau: Kurz vor Fertigstellung des letzten Großauftrags rückte um Mitternacht die Geschäftsführung mit Lkws an, um heimlich alle Teile und Maschinen nach Hannover zu schaffen. Der Belegschaft und Köckenberger gelang es zwar noch, den Abtransport mit einer Menschenkette zu verhindern. „Aber danach war trotzdem Schluss!“
Ähnlich kriminell ging es bei der Elpro AG in Marzahn zu, einst eines der DDR-Vorzeigeunternehmen. Beim Versuch, sich gegen den Plattmachwunsch von Siemens zu wehren, landeten am Ende einige Geschäftsführer vor Gericht und einer im Knast. Die Elpro AG war irgendwann verschwunden – ihr Betriebsrat Jürgen Lindemann wurde arbeitslos. Auch seinen nächsten Arbeitsplatz, bei einem Ingenieurbüro, verlor er bald. Zudem hatte er sich wie auch Hanns-Peter Hartmann von seiner Abfindung eine Eigentumswohnung (in Kassel) zugelegt, die unvermietbar war, so dass er bald auch noch einen Haufen Schulden hatte. Heute ist er in der Initiative Berliner Bankenskandal aktiv.
Der Betriebsratsvorsitzende von Narva, Michael Müller, ein gelernter Schweißer, kuckte sich erst in Lateinamerika nach einem Job auf einer Finca um, dann nahm er eine Stelle als Hausmeister auf dem ehemaligen Narva-Gelände an. Unauffindbar sind der ehemalige Betriebsratsvorsitzende von Orwo, Hartmut Sonnenschein, sowie der Betriebsratsvorsitzende der DDR-Reederei DSR, Eberhard Wagner: Angeblich soll er in Bremerhaven für ein Forschungsschiff verantwortlich sein.
Bis jetzt gehalten hat sich dagegen der Betriebsratsvorsitzende des Werks für Fernsehelektronik (WF) in Oberschöneweide, Wolfgang Kippel. Bei unserem letzten Gespräch war er noch ganz optimistisch: „Wer es schafft, bei Samsung reinzukommen, der verlässt den Betrieb als Rentner“, meinte er. Damit wird es nun nichts mehr – Samsung machte das WF dicht. Einer, der nie so optimistisch war, aber dennoch immer noch als Betriebsrat wirkt, ist Gerhard Lux. Er arbeitet in einem AEG-Werk in Marienfelde. Auch die AEG wurde inzwischen abgewickelt, aber seinen Betriebsteil übernahm ein französischer Konzern: „Wie lange das gut geht, weiß ich nicht“, meinte er auf der letzten 1.-Mai-Demo der Gewerkschaften. Und schlug dann ein Treffen aller bis 1994 in der Betriebsräteinitiative Engagierten vor. Oben Erwähnte sind nur ein Teil davon und selbst bei ihnen fehlen uns Adressen.
Zwei Mal lud MdB Hartmann uns nach Bonn ein – nach der zweiten Reise kam folgender Text über diese Bildungsreise zustande:
Platzmajor Goldmann, so genannt, weil man ihn im Wachregiment Felix Djerschinskij zum 40.Jahrestag der DDR, im Oktober 1989, noch zum Major befördert hatte – und drei Monate später schon alles geplatzt war…Axel Goldmann – nun also wieder zivil und nach kurzer Taxifahrerexistenz jetzt als MdB-Mitarbeiter von Hartmann in Berlin tätig, hatte die Fahrt nach Bonn organisiert, zusammen mit seinem Bonner Fraktions-Kollegen Frank vor Ort. Auch dessen Karriere verdient es hervorgehoben zu werden:
Philosoph und Historiker (mit dem Schwerpunkt Rußland-Reiseberichte) sowie Sammler alter Bücher: ein Hobby, das schon sein Vater fast ruiniert hatte – sowohl politisch (da er mehrfach Westbücher an Land zog, weswegen man ihn in die Kreisleitung einbestellte) als auch pekuniär (da immer mehr kostbare Bücher von der Koko-Abteilung Kunst und Antiquitäten bei den Antiquariaten für das Westgeschäft aussortiert wurden, die diese dann nur noch risikohaft überteuert an Franks Vater abtreten wollten).
Nach der Philosophieausbildung wurde der Sohn Fallschirmjäger bei den Pionieren – scharf, fast unmenschlich trainiert, um im Konfliktfall auch hinter den feindlichen Linien bestehen zu können. Und da war er ja nun auch – aus Halle stammend – gelandet: in Bonn, wo er seinen Sportlerkörper im Fitnessstudio weiter stählte und an manchen Tagen bis zu 100 Kilometer mit dem Rennrad abfuhr. Im Studio freundete er sich mit einem CDU-Juristen an, dieser gelangte dann jedoch über die Ökologie seines Körpers und dessen Umwelt bis in das Bündnis 90/Grüne. Vielleicht war Franks profundes Wissen auf nahezu allen Gebieten nicht ganz unbeteiligt an diesem fliegenden Wechsel.
Zwischen dem letzten DDR-Fallschirmabsprung und seiner MdB-Assistenz (Schwerpunkt „Europarecht“) war er kurz Fahrradkurier einer Apotheke in Naumburg gewesen. Und trotz aller Fitness rauchte der Bartträger ständig Pfeife.
Während der zigarettenrauchende Platzmajor stets mit kräftiger Stimme sprach („Die brauchte ich auch für meine Truppe!““Aber dafür hattest du doch deinen Unteroffizier!““Auch dem mußte man laut kommen!“), war der Parashoot-Pionier eher leise, schweigsam gar, wie es sich für einen MdB-Redenschreiber im Hintergrund gehört.
Nun zu unserer Reisetruppe (49 Personen umfassend): Da war erst einmal die sechsköpfige „AG Junge Genossen Treptow“: vier Punker, ein Theologiestudent und eine Gruftie-Frau in Hotpants. Und dann der sogenannte Holzjournalist Christian Specht: der gute Geist von taz, Grüne und PDS in Berlin. Es gibt einen einfühlsamen Film über ihn: „Oh, Mitternacht, oh Sonnenschein“ – und zu seinem dreißigsten Geburtstag, am 9.Januar, ein großes Fest.
Auf der Bonn-Reise bewies er erneut, daß er „menschlich“ von uns allen am meisten drauf hat, wie man so sagt. Ständig trieb er uns moralisch zum Eingreifen an. „Ey, da haut eine Mutter ihr Kleinkind!“ oder „Dort führen die Bullen gerade einen harmlosen Penner im Park ab!“ und – noch schlimmer: „Die Bonner PDSler, gerade mit einer Kundgebung zu Ehren der verschleppten und ermordeten Juden beschäftigt, tun alle so, als würden sie das nicht bemerken!“
Auch wir, die AG Junge Genossen Treptow und ich, die wir uns von der Bonner PDS bereits abgesondert hatten, taten so, aber dank Christian wenigstens mit schlechtem Gewissen! Wir mußten einfach zwischendurch mal biergartenmäßig Luft holen. Die Reisegruppe war interessant gemischt genug. Da war erst einmal die Dolmetscher-Gruppe: Helmut, Honeckers Arabisch-Dolmetscher, seine Frau Dagmar, Französisch, und Katja Russisch sowie ihr Mann Bernd – einst Revisor für die Gastrasse, nunmehr selbständiger Steuerberater – u.a. auch für den MdB Hartmann, den wir in Bonn besuchten.
Für Hartmann war dies seine erste und letzte Legislaturperiode und deswegen gab unsere Reisegruppe so etwas wie eine Wähler-Abschiedsvorstellung für ihn vor Ort. Hartmann war zuletzt Betriebsratsvorsitzender des Berliner Batteriewerks Belfa gewesen, wo er zusammen mit der ostdeutschen Betriebsräteinitiative mehrere erfolgreiche Kämpfe gegen die Abwicklung seiner „Bude“ durch die Treuhand geführt hatte. Dabei war er zwei mal mit seiner Belegschaft in einen Hungerstreik getreten.
„Dieser Job ist mir wie auf den Leib geschneidert!“ meinte er auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen. Der gelernte Schweine- und Rinderzüchter hatte bereits 1959 als LPG-Lehrling im Wohnheim Falkenberg einen ersten Hungerstreik organisiert – zur Verbesserung der Verpflegung (der RIAS berichtete). Als Kind war er oft wegen seiner abstehenden Ohren gehänselt worden und hatte früh gelernt, sich dagegen zu wehren. Vier mal wies man ihn deswegen in Erziehungsanstalten ein. Gleich nach der Lehre ließ er sich jedoch mit dem ersten selbstverdienten Geld seine Ohren operativ anlegen – und wurde etwas umgänglicher.
Dennoch warnte er noch auf der Agraringenieurschule in Oranienburg die Schulleitung am Schwarzen Brett davor, zukünftig – ausgehend vom 11.Plenum des ZK der SED, auf dem die Kulturschaffenden gezügelt worden waren – jede gerechtfertigte Kritik von unten als „Skeptizismus“ abzutun. Seinem anschließenden Rausschmiß kam er durch Selbst-Exmatrikulierung zuvor, dann holte ihn das Militär.
Sein NVA-Offizier bescheinigte ihm später: Er habe „die anderen Genossen im negativen Sinne beeinflußt“. Noch später wurde er dennoch Diplom-Agraringenieur, als „Parteiloser“ bekam er jedoch nie eine Chance, LPG-Vorsitzender zu werden. 1978 zog er nach Berlin-Köpenick zurück, wo er als Arbeiter in der Batteriefabrik anfing.
Zwölf Jahre stand er dort an der „Stanze“. Mit List und Tücke schaffte er es, daß sein „Rabauken-Kollektiv“ die am Besten verdienendste Brigade des ganzen Werks wurde. In der sogenannten Wende wählte ihn die Belegschaft zum Betriebsratsvorsitzenden. Die zwei Münchner Jung-Unternehmer, denen er 1994 mit seinen „Kampfmaßnahmen“ half, den Betrieb für 1 DM zu übernehmen, bedankten sich erst bei ihm und schmissen ihn – den an sich Unkündbaren – dann raus, mit der Begründung: „Der Klassenkampf ist jetzt beendet, wir brauchen Sie nicht mehr, Herr Hartmann!“
Obwohl Gründungsmitglied der SPD in Köpenick und eher Antikommunist trug ihm anschließend die PDS an , auf ihrer „Bunten Liste“ zu kandidieren. 1996 kam er als Nachrücker von Stefan Heym in den Bundestag. Der gewiefte West-PDS-Abgeordnete und Gewerkschaftsfunktionär Manfred Müller überließ ihm dort sofort seinen Platz in der „Sozial und Personal-Kommission“ – eine Art Betriebsrat des deutschen Bundestages, wo Hartmann sich denn auch bald sehr viel wohler als im EU-Ausschuß fühlte, weil er dort weiter wie ein engagierter Gewerkschafter wirken konnte. Nur eben, daß es nicht die Bonner Bundestagsbediensteten – Fahrer, Sekretärinnen, Kindergärtnerinnen etc. – waren, die ihn gewählt hatten.
Abends in der Hotelbar diskutierte die Reisegruppe mit ihm darüber: Es war keiner darunter, der Hartmann dieses quasi-„unpolitische“ Engagement übelnahm, im Gegenteil: Bis hin zu einem ehemaligen Kampfgruppen-Kommandeur, zuletzt bei Rudi’s Resterampe tätig, waren fast alle ein bißchen stolz auf ihn und seine Gradlinigkeit. Auch ein alter NVA-Oberst, der nun gegen das „Rentenstrafrecht“ prozessierte, war darunter, sowie ein ehemaliger DDR-Botschafter in der Schweiz. Der Abgeordnete arbeitete auch weiterhin an der Stabilisierung seines heimischen Freundeskreises: vor allem an seinem „Hinterhof-Soziotop“ – bestehend aus den Nachbarn der zum Batteriewerk gehörenden Mietskaserne in Köpenick, für dessen Ambiente-Aufmöbelung Hartmann sogar einmal 100.000 DM „Begrünungsgeld“ vom Bezirksamt loseiste.
Zum mitreisenden Hinterhof-Kollektiv gehört zum einen seine frühere Kollegin und jetzige Freundin Ewa, die nun in einem Import-Export-Elektronikladen in der Kantstraße arbeitet. Sie hatte für die Bonnfahrt Urlaub genommen. Dann der schwäbische Oberschöneweide-Investor Manfred und seine thailändische Freundin Weo. Ferner der schon zu DDR-Zeiten mit Schuhen spekulierende Unternehmer Jürgen und die Oberkellnerin der Oberschöneweider Kneipe „Hollywood“ Erika. Außerdem noch Hartmanns Arbeitskumpel Manne und dessen erste sowie zweite Ehefrau Barbara, ebenfalls Kellnerin im Hollywood. Auch Hartmanns Ziehsohn Peter, ein junger Elektriker, war zusammen mit seiner Freundin mit von der Partie. Wie immer gab es auch einen, den niemand mochte: diesmal hieß er Gerhard – er war früher Geschäftsmann bei der KoKo gewesen, und jetzt – berentet – als umtriebiger Makler tätig.
Am besten gefiel mir, neben dem Holzjournalisten Christian, der Platzmajor Goldmann, der uns wie seine Truppe behandelte und sich z.B. – bei Diskussionen mit irgendwelchen Ministerialbeamten – persönlich beleidigt fühlte, wenn einer aus der Reisegruppe sich dabei seiner Meinung nach blamierte. Diese Fürsorglichkeit machte die Fahrt für ihn besonders anstrengend. Zum Glück meldete sich stets die Hälfte der Truppe ab, um auf eigene Faust beispielsweise das „Phantasiealand“ oder eine „Hausbrauerei in Siegburg“ zu besuchen. Dabei übernahm dann der inzwischen ortskundig gewordene Hartmann die Führung. Besonders im Ministerium für widerwärtige Angelegenheiten, bei einem nicht-endenwollenden Wort-Vortrag in großer Hitze, erschöpfte sich das Politik-Informationsinteresse unserer Reisegruppe schnell. Dafür wurde abends an der ausgekühlten Hotelbar ausgiebig politisiert. – Mit ein bißchen Wehmut. Hartmann war quasi schon am Kofferpacken. Zwar gewann sein Nachfolge-Kandidat im Wahlkreis Treptow-Köpenick, Lothar Bisky, das Direktmandat dann ebensowenig wie er zuvor, aber da die Partei für Hartmann nirgendwo sonst eine Verwendung fand, wurde er mit der Konstituierung des neuen Bundestages wieder arbeitslos.
Eventuell wird er seine Hinterhof-Aktivitäten zu einem Hausverwalter-Job ausbauen. Seine Freundin Ewa hat Pensionsgeschäfts-Ambitionen an der polnischen Ostsee-Küste. Das erste diesbezügliche Objekt redete ihnen allerdings ihr Kumpel Manfred, der bereits Erfahrung mit Immobilien hat, aus. Auch die Russisch-Dolmetscherin Katja, schon seit Jahrzehnten mit Hartmann befreundet, ist jetzt geschäftlich in Polen unterwegs: Sie sucht geeignete Ferienobjekte für Berliner Kinder – im Auftrag von Jugendämtern, daneben betreut sie noch ein Projekt für Straßenkinder in der mongolischen Hauptstadt – wo ich mich wiederum mit dem Redakteur der neuen Jugendzeitung „Super“ austausche . Der Aktionsradius unserer Wähler-Reisegruppe erweitert sich also permanent – dazu diente nicht zuletzt auch die Bonn-Fahrt, das „Bonn-Abenteuer“, wie Hartmann seinen dreijährigen Ausflug in die große Politik nannte.