Dieser kleine Australier hatte aber soo einen großen Hund bei sich.
26. November.
In der Futterküche werden in einem großen Bottich die Innereien des Schweines für die Würste gekocht. Alle gehen sie hin probieren. Ich muß auch mitessen: Wellfleisch, Herz, Lunge, Schnauze, Gehirn – dazu kleine Zwiebelscheiben. Alle sind begeistert über den guten Geschmack. Ich beiße immer nur ganz kleine Stückchen ab und laß den Rest dann wieder heimlich im Bottich verschwinden. Die Kühe haben heute ihre Euternetze verpaßt bekommen. Besonders die eine – Eva – hat verzweifelt versucht, sich dagegen zu wehren: Stehenbleiben, hinlegen, nicht weitergehen, weglaufen. Zum Schluß hat sie resigniert und aufgegeben. Vor Aufregung bekam sie Dünnschiß. Der Bauer bekommt vom Kulturamt einen Zuschuß zur Einzäunung einer größeren Weide – aus dem „Fond zur Förderung von rationellen Wirtschaftseinheiten“. Ein herrlicher Name. Aber manchmal ist die Situation wirklich haarig hier: so muß er z.B. für ein zehn Hektar großes Ackerstück an 32 Leute Pacht bezahlen. Was diesen Zuschuß für die Einzäunung betrifft, so darf er nicht irgendwie die Weide einzäunen, sondern muß imprägnierte Fichtenpfähle verwenden, und die darf er nicht einfach selber machen, er muß sie gegen Rechnung kaufen. Dazu müssen sie eine bestimmte Länge haben, sonst wird der Antrag nicht bewilligt. Und natürlich macht er mit dem Tischler, der nebenbei noch für alle Leute in der Gegend diese Pfähle herstellt, gemeinsame Sache und bescheißt so wenigstens das Kulturamt ein bißchen.
Der Bauer hat als erster hier in der Gegend ein Silo gehabt, als erster jetzt den Betonspaltenboden, er hat eine landwirtschaftliche Ausbildung absolviert (nur solche Bauern können überhaupt bei der Landwirtschaftskammer einen Antrag stellen, der auch Aussicht hat, genehmigt zu werden). Daneben sitzt der Bauer noch im Gemeinderat und ist Feuerwehrhauptmann. (Gerade baut er im Dorf neben der Kirche ein neues Spritzenhaus – an den schon fertigen Rohbau hat er ein großes Schild angebracht mit der Aufschrift: „Klugscheißer werden nicht mehr gebraucht, nur noch Leute, die mitarbeiten“.) Er ist wer, abgesehen davon, dass er hier sowieso der größte Bauer in der Umgebung ist. Man sieht das schon, wenn er die Straße im Dorf entlanggeht – am Gang und daran, wie ihn die Leute grüßen. Und wenn ich mit ihm zusammen gehe, seine Kommentare über diesen oder jenen Nachbarn: „Der kommt auch nie auf einen grünen Zweig“, „Wie kann man sich nur so einen großen Mähdrescher kaufen, wenn man so gut wie gar kein Ackerland hat“, „Das ist kein landwirtschaftlicher Betrieb, das ist ein Schrottplatz“, „Mit dem hatte ich auch immer Ärger. Bis ich ihm mal gezeigt habe, was …“.
Nur mit dem einen großen Bauern, mit dem zusammen er sich einen Zuchtbullen hält, verbindet ihn so etwas wie Freundschaft. Aber auch bei dem ist er auf der Hut, denn auf dem Hof hat noch immer der 70jährige Vater das Sagen und „das ist ein ganz ausgebuffter Hund“. Auch in der Dorfkneipe geht eine große Sicherheit von ihm aus. Und trotzdem ist er eigentlich so unsicher und hilflos und zwängt sich von einer ad-hoc-Entscheidung in die andere – selbst in seinem eigenen Stall, in dem er doch wirklich „sein eigener Herr“ ist. Aber es ist ja eigentlich nicht sein eigener Stall. Die Industrie hat ihn da hingestellt und er muß zusehen, wie er damit zurecht kommt. Dazu noch mit der belastenden Behauptung, dass es genau das richtige sei, dieser Stall.
Heute nachmittag haben wir die restlichen zwanzig Rinder von der Weide geholt und in die neuen Ställe getrieben. Das Treiben war schon eine Schwierigkeit, weil einige immer ausrissen und auch der Schäferhund sie nicht wieder zurücktreiben konnte und dann in der Scheune das Durcheinander, weil wir sie in den neuen Ställen jeweils nach Alter und Größe trennen wollten. Es dauerte Stunden. Was mir gefiel war, dass Hans und Maria dabei nicht die Geduld verloren (Maria nur einige Male, Hans schimpfte dann mit ihr). Aber auch so war es chaotisch genug und als wir endlich alle drin hatten, war die ganze Scheune vollgeschissen. Und dann kannten die Rinder die Selbstfanggitter natürlich nicht und wenn sie sich darin eingefangen hatten, dann rissen und zogen sie derart, dass sie sich fast das Genick darin brachen. Außerdem stießen die neben ihnen stehenden Rinder sie dann immer noch kräftig in die Rippen. Einige Male legte sich ein in dem Gitter eingefangenes Rind auch noch hin und wir mußten es mit mehreren Leuten wieder befreien, weil es sonst erstickt wäre. Hans gab nicht eher auf, als bis alle Tiere mit ihrem Kopf im Selbstfanggitter steckten und fraßen. Einige besonders gewitzte Tiere weigerten sich, dem Ding zu nahe zu kommen und wir mußten sie buchstäblich reinprügeln.
Ich hatte gedacht, wir würden um 17 Uhr mit der ganzen Sache fertig werden, dann wollte ich nach dem Kaffee mit dem Zug nach Alf in die Diskothek fahren. Aber der ganze Spaß (einschließlich füttern und saubermachen) dauerte bis weit nach Mitternacht. Danach trank ich gerade noch einen Kaffee in der Küche und jetzt sitze ich wieder in meinem Zimmer – mit dem von Maria gemachten Bett im Rücken und dem von ihr geleerten Aschenbecher neben mir. Hans war sehr zufrieden mit mir vorhin im Stall. Die meisten Leute, die ihm auf dem Hof helfen, sind mit den Tieren immer viel zu hektisch – auch Philip. Sie verlieren schnell die Geduld, haben keine Ahnung von den möglichen Reaktionen der Tiere und lassen sich nichts anderes einfallen als prügeln. Die Knechte sind sowieso bekannt für ihre Brutalität im Umgang mit den Tieren. Ich kenne auch nur solche brutalen Typen. Entweder ist es deswegen, weil sie sich so wenig Arbeit wie möglich machen wollen, oder weil es nicht ihr eigenes Vieh ist, oder weil sie nach oben ducken müssen und deswegen nach unten treten. Auf den ostelbischen Höfen hat man deswegen den Knechten die Kühe gar nicht anvertraut. Da gab es den „Schweizer“ und der hatte seine Lehrlinge. Und der Schweizer arbeitete mit den Kühen selbständig, d.h. auf Gewinnbasis und einige Kühe aus der Herde gehörten ihm sowieso ganz alleine. So war jedenfalls gesichert, dass die Kühe anständig behandelt wurden und die Zucht sich langsam verbesserte. Von Lohnarbeitern ist so etwas anscheinend nicht zu erwarten.
Hans wartet ab, sieht zu, was das Tier vor hat und geht mit den Kühen fast liebevoll um. Einige mag er allerdings nicht, auf die drischt er dann auch mit dem Stock ein. Und bei einigen anderen ist er einfach fest der Meinung, dass sie den gesamten Ablauf genau kennen müßten, genauso wie er und wenn sie dann irgendwie aus der Reihe tanzen, kriegen sie welche auf den Rücken. Einige Kühe hält er für intelligent, einige für dumm – und die mag er dann nicht, weil sie die Arbeit verkomplizieren. Und ich glaube, obwohl ich die Kühe nicht melke, kenne ich sie jetzt schon langsam alle, dass er damit nicht ganz Unrecht hat. Zwischendurch heute habe ich den Schlachtern beim Wurstmachen geholfen – den Fleischwolf drehen. Das Hackepeter schmeckte wirklich gut, die Leberwurst auch. Obwohl ich nicht so richtig auf den Geschmack gekommen bin bei diesen riesigen Mengen, die vor meiner Nase lagen und bei diesem Geruch in dem ganzen Raum, in dem die Schlachter arbeiteten. Der eine von ihnen, der ältere, erklärte mir alles ganz genau. Er hat auch sofort geschnallt, worauf es mir ankam, er sagte: „Paß genau auf. Damit du weißt, wie das geht. Damit du das auch noch kennenlernst. Was man Selbermachen kann, soll man auch machen. Und Schlachten und Wurstmachen gehört einfach dazu.“
Den ganzen Tag habe ich nach einer Gelegenheit gesucht, den Bauer um Geld anzuhauen (Vorschuß, Lohn, oder was auch immer). Ich habe sogar gedacht, es unbedingt heute tun zu müssen, morgen, wenn sich vielleicht eines der Rinder in diesen bescheuerten Selbstfanggittern erdrosselt hat, ist er bestimmt nicht gerade großzügig gestimmt. Abgemacht hatte ich mit ihm: Kost und Logis für Leinchen und mich frei, dafür arbeite ich umsonst auf dem Hof mit. Wenn er dann in Lohnarbeit in den Wald geht zum Holzrücken (er hat auf seinem großen Deutz-Traktor eine schwere Seilwinde zum Holzrücken), bekomme ich den vollen Anteil, den ein Helfer für diese Arbeit vom Forstamt bezahlt bekommt. Aber noch sind wir kein einziges Mal im Wald gewesen, weil wegen des Umbaus immer noch so viel auf dem Hof zu tun war. Er könnte deswegen jetzt sagen: mir steht nichts zu. Aber er würde es, glaube ich, nicht sagen. Er ist allgemein im Dorf hier als jemand bekannt, der seinen Mitarbeitern einen guten Lohn zahlt, deswegen arbeiten auch alle gern bei ihm. Trotzdem meinte ich, einen guten Moment abpassen zu müssen. Und dann verpaßte ich ihn vor lauter Arbeit heute doch.
Und wir stehen jetzt genau hier. An dieser Stelle.
27. November.
Zu früh aufgewacht, wieder eingeschlafen, verschlafen. Sonntags ist immer Hetze beim Melken und für Füttern, weil sie alle in die Kirche gehen wollen und der Bauer hernach zum Frühschoppen in die Kneipe. Gut, dass wir gestern die letzten Rinder von der Weide geholt haben. Heute Nacht hat es Stein und Bein gefroren und alles ist zugeschneit. Maria hat einen Teil meiner Wäsche gewaschen. Die Jeans hat sie hernach sogar gebügelt. Jetzt mit Bügelfalte mag ich sie kaum anziehen. Die Hose sieht schrecklich aus. Und dabei war es so nett gemeint von ihr. Oder meint sie vielleicht, dass es auf sie zurückfällt, wenn ich schlampig im Dorf herumlaufe – ihr Knecht? Maria und die Oma sieze ich immer noch. Maria redet mich mal so mal so an. Carlo erzählte mir neulich: im Stall hätte er mitbekommen, wie Hans seine Frau fragte: „Was, du siezt den immer noch?“ Worauf sie entgegnete: „Dann muß er mich erst einmal duzen“.
Nach dem Mittagessen bringt mich der Bauer nach Kröv – den Ort, in dem die Oma groß geworden ist. Wir müssen über die Moselberge. Auf dem Weg dahin nimmt der Bauer drei junge Anhalterinnen mit. Sie kennen ihn: „Du bist doch der mit dem gelben Mähdrescher …“ Er freut sich, sagt: „Nein, den hatte ich mal. Jetzt habe ich einen grünen.“ Die Oma hat mir erzählt, früher hatte jeder in Kröv noch einige Kühe und die Weiden hatten sie auf der anderen Seite der Moselberge. Das Heu haben sie damals immer mit Ochsenkarren durch den Wald über den Berg gefahren. Und nebenbei hat jeder noch einen kleinen Weinberg gehabt. Jetzt ist Kröv ein reicher Ort geworden, wegen der vielen Touristen im Sommer und weil der Wein „Kröver Nacktarsch“ so berühmt ist. Die Straße führt in Serpentinen durch die Weinberge. Der Bauer setzt mich mitten im Dorf ab. Zuerst gehe ich an die Mosel. Es ist neblig heute. Ich setze mich an das Ufer. Schlechtes Gewissen wegen Leinchen. Sie war heute nur eine halbe Stunde draußen. Ich hatte sie wieder reingeholt von der Weide, weil ich in Kröv in die Diskothek gehen wollte und es vielleicht sehr spät werden würde. Das bedrückt mich jetzt, am Ufer der trüben Mosel sitzend an einem trüben Sonntag und gegenüber auf der anderen Flußseite die kahlen Weinberge und eine halbverfallene Burg.
Ein Café suchen. Dort lese ich bei Kaffe und Kuchen die Zeitung. Danach schlendere ich durch die kleinen alten Gassen. Ich komme an einer Diskothek vorbei. Sie ist schon geöffnet. Am frühen Nachmittag. Ich gehe hinein – in eine andere Welt: Flashlight, Disco-Sound, ein Schwarzer als Rausschmeißer. Es sind überwiegend Teenager hier und einige wenige Schwarze – GIs. Zwei junge Typen setzen sich zu mir an den Tisch. Wir kommen ins Gespräch. In der Hauptsache reden die beiden, sie sind nervös wie junge Hunde. Sie kommen auch nicht von hier, sind hier wegen der Disko. Sind hier hergetrampt. Sie sind beide Heimkinder, jetzt Lehrlinge und wohnen in einem Lehrlingsheim. Hier in dieser Gymnasiasten-Scene in der Disko werden sie es schwer haben, jemanden kennenzulernen, obwohl sie sich äußerlich denen angepaßt haben. Nachdem sie die zehnte Cola ausgetrunken haben, verabschieden sich die beiden von mir – kumpelhaft, weil sie in mir einen Verbündeten, einen aus derselben Klasse, gefunden haben: auch so ein armes Schwein, weil ich Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft bin, weil ich kein eigenes Auto habe, keine Uhr am Handgelenk, keine Stereo-Anlage (wie sie rausgekriegt haben) und weil ich eine zerrissene Lederjacke trage. Ich gehe zu Fuß die elf Kilometer bis nach Kinderbeuren. Es ist bitterkalt und natürlich hält kein Wagen. Auf der Hälfte der Strecke – oben auf dem Berg – fange ich an zu laufen, querfeldein. Es ist herrlich. Wie ein Rausch. Unten im Dorf angekommen, schwitze ich. Unten angekommen, kommt der Mond hinter der Wolkendecke hervor.
28. November
Das Pferd auf die Weide gebracht, ein wenig mit ihm gespielt. Aber dann musste ich in den Stall, füttern. Ich war eh schon zu spät dran. Jeden Tag zerreißen ein paar Kühe ihr Euterschutznetz. Ich hoffe, es geschieht mit Absicht. Im Gegensatz zum Hinlegen, Nicht-Weiter-Gehen, usw. sind derlei Widerstandsformen zu subtil, um bestraft werden zu können. Man kann nur zähneknirschend ein neues kaufen.
29. November
Nachts ging ich noch einmal nach unten auf den Hof, schaute kurz in den Stall – das Pferd, das schon geschlafen hatte, sprang sofort auf und begrüßte mich, ich gab ihr etwas zu fressen und ging dann den Berg hinterm Haus hoch. Es war eine sternenklare Nacht. Ich starrte in den Himmel.
30. November
Strahlende Sonnen, überall Rauhreif und kalt ist es. Ich trage zum ersten Mal in diesem Winter meinen Fellmantel und meine Pelzhandschuhe. Leinchen spring ausgelassen auf der Weide rum. Ich hatte heute Morgen meinen Kompaß rausgeholt, um genau zu sehen, wo Süden ist. Meine euphorische Stimmung hält nicht lange an. Der Bauer holt mich beim Frühstück wieder runter. Unvermittelt sagt er – beim Zeitunglesen: „Diese Studenten, die demonstrieren, die müßte man alle an die Wand stellen und eine Reihe nach der anderen abknallen.“ Er will mich provozieren. Aber ich schaue aus dem Fenster über die Moselberge in Richtung Süden. Bald geht es wieder dem Sommer entgegen. Der Bauer und ich fahren heute auf die Moselberge. Dort auf einem Acker von ihm, liegen einige hundert Zentner Kalk, die ausgestreut werden müssen. Wir fahren mit zwei Treckern hin. „Zieh dich bloß warm an. Meine Frau hat dir noch eine zweite Hose oben hingelegt“, sagt der Bauer. Und fügt hinzu: „Ich will dich hier nicht vier Wochen krank liegen haben.“ „Sehr rücksichtsvoll“, erwidere ich. „Mit Rücksicht kommt man nicht weiter.“ Während der zehn Kilometer langen Fahrt singe ich: Übers schneebedeckte Feld.
Der Bauer ist mit dem Kabinentrecker gefahren, der schneller als der alte Deutz ist, den er mir gegeben hat. Aber ich mag diesen Trecker, der offen ist, trotzdem gerne. Es ist der gleiche, den ich bei Dirk immer gefahren habe. Oben auf dem Berg schon überhole ich einen Bauern, der mit Pferd und Wagen unterwegs ist. Hinten auf dem Wagen sitzt sein Knecht. Er sieht häßlicher aus als der Klöckner von Notre-Dame. Seltsamerweise haben hier viele Leute in der Gegend einen Buckel. Auf dem Acker auf den Moselbergen hatte man einen phantastischen Ausblick – zur einen Seite auf die Eifel, zur anderen über den Hunsrück. Mit der Zeit werde ich immer gieriger nach Ausblicken von Berghöhen.
Niemals die Waffe auf deinen Kommandeur richten.
1. Dezember
In der Bauernzeitung die Rubrik „Zur Feder gegriffen“: Vor einigen Wochen schrieb eine Ehefrau, sie hätten eine Party gehabt, eine junge Frau hätte ihr Baby mitgebracht, das im Nebenraum schlief, dann sei es aufgewacht und die junge Frau hätte es gestillt, mitten zwischen den anderen Leuten. Viele hätten daraufhin empört die Party verlassen, andere hätten sich darüber gestritten – ist es schicklich, sein Kind vor den Augen anderer Leute zu stillen? Darüber streiten sie sich jetzt schon seit mehreren Wochen in dieser Rubrik. Ein anderes Stichwort: „Ich hetze von Adventsfeier zu Adventsfeier“. Auch darüber gibt es einen lebhaften Streit unter den Leuten, die der Zeitung Briefe schreiben. Manchmal steht aber auch was ganz Spannendes drin: da schreibt z.B. eine alte Bauersfrau: „Früher hatten wir oft nicht genug Holz zum Heizen den Winter über und haben oft gefroren. Heute haben wir Zentralheizung in jedem Zimmer und Warmwasserboiler und das ganze Haus ist gut isoliert und ich habe eine moderne Küche. Aber heute friere ich viel mehr als früher. Es ist viel kälter im Haus geworden. Die Atmosphäre zwischen uns im Haus ist so kalt geworden.“ Ein wunderschöner Brief. Nur, auf dieses Stichwort (vielleicht: „Energiekrise“) geht kein Schreiber ein, niemand antwortet der alten Frau.
Heute haben wir wieder den ganzen Tag auf dem Reiler Berg Kalk gefahren. Wir hatten Essen mit und uns ein großes Lagerfeuer gemacht. Die Pausen zwischendurch wurden sehr schön: Kaffee und heißer Wein aus Thermosflaschen, belegte Brote, am Feuer sitzen, Zigarette rauchen. Zwei Männer im Schnee. Meine Aufgabe während der Arbeit war es, mit dem Frontlader den Düngestreuer zu füllen, dann fuhr der Bauer mit dem vollen Düngestreuer aufs Feld – verschwand auf dem riesigen Feld im Nebel meinen Blicken und ich schaufelte den auseinandergerissenen Haufen Kalk in der Zwischenzeit wieder zusammen. Am Feldrand lagen noch große Haufen Stroh, die nicht gepreßt worden waren und die ich anstecken sollte, aber das Zeug brannte nicht mehr gut. Es war zu feucht, voller Rauhreif und dann hatten die Wildschweine auf der Suche nach übrig gebliebenen Körnern auch noch darin rumgewühlt. Als ich Abends zurück auf den Hof kam – todmüde, zerschlagen und ein dickes Auge, weil mir Kalk reingeflogen war, fand ich mehrere Briefe auf meinem Schreibtisch.
2. Dezember
Schweinestall ausmisten, das ist wirklich „in der Landwirtschaft sein“. Aber diese ganzen mistlosen Ställe hier. Bei Dirk oder auch bei Tichy in Gebhardshain habe ich gerne im Mist gestanden und ausgemistet. Hier ist der Mist nur Abfall – lästiger Abfall. Und ich komme mir vor, als stünde ich im Abfall. So schnell geht das. Den Tag heute habe ich vertrödelt. Ich sollte auf einer entfernten Weide den Elektrodraht einrollen – ein paar tausend Meter. Als ich dort war, hatte ich schon nach kurzer Zeit keine Lust mehr … und verpißte mich einfach, ging nach Bengel runter, kaufte mir den „Stern“ und setzte mich in ein Café. Als ich wieder auf den Hof zurückkam, war gerade eine Kuh am Kalben. Aber es dauerte und dauerte. Die Fruchtblase hing schon raus. Als wir die anderen Kühe zum Melken reintrieben, sprang eine Kuh, die bullig war, der gerade kalbenden auf den Rücken. Die aber ließ sich weder von ihrem Geburtsvorgang noch von der bulligen Kuh auf ihrem Rücken beeindrucken, fraß ruhig weiter, versuchte ab und zu den Hund zu stoßen, wenn er ihr zu nahe kam. In dem Moment lief mir der Schweiß die Stirn runter. Später gebar sie Zwillinge – beides Bullen.
Noch später brachte der Postbote einen Brief von Dirk für mich: „Es ist nicht grundlos, weshalb ich dir schreibe. Ich komme mit dem Bauen nicht voran. Mein Vorschlag deswegen: Gesetzt den Fall, du hättest noch Luft, mir zu helfen (nicht umsonst) und wieder bei uns zu wohnen wie im Sommer. Dann würde ich Dich dort abholen mit dem Pferd wo du bist. Den Winter über würdest du bleiben, sagen wir bis Mitte April. Danach würde ich Dich dort wieder hinbringen und Du würdest dann die Wanderschaft fortsetzen.“ Usw. Ich war so verdattert, dass ich erst einmal den Brief noch mal von vorne las, drehte und wendete und dann einen Spaziergang durch den „Kondelwald“ machte. Auf einem Waldweg kam mir ein Typ entgegen. Als er näher kam, sah ich, er trug Jeans, eine schmuddelige Jacke und hatte lange schwarze Haare. Hier in dieser Gegend hatte so gut wie niemand lange Haare. Als er näher kam, lächelten wir uns wie zu einer flüchtigen Begrüßungsformel zu. Dann blieb er stehen und murmelte irgendetwas, was ich nicht verstand und zeigte mir dann eine kleine Blechschachtel, die er öffnete. Darin lag ein noch lebender Salamander. Er sagte mir, er wolle ihn seiner Freundin zeigen und ihn danach wieder freilassen. Dann lächelte er mich wieder an, verabschiedete sich und wir gingen beide weiter. Das war alles und ich setzte meine Überlegungen weiter fort.
Ich werde wohl Dirks Angebot annehmen. Aber was werde ich in Wienbergen arbeiten? Ausgerechnet einen neuen großen Mastschweinestall wollen wir bauen. Ein scheußliches modernes Ding. Noch schlimmer als der neue Laufstall bei Hans. Werde ich das durchhalten, ohne mich mit Dirk zu zerstreiten? Es sind ja nur vier Monate. Aber wieder der Ärger mit Dirks Schwiegervater – mit dem Boß, weil der mich für diese oder jene Kleinigkeit, die man leicht alleine erledigen kann, einspannt.. Und jeden Morgen müde und jede Nacht mit Doris unterwegs. Sonntag werde ich Dirk schreiben. Ich werde ihm schreiben, dass er mich am Donnerstag abholen soll. Dann kann ich für mich und Leinchen noch alles regeln und am Montag fange ich dann bei Dirk wieder an zu arbeiten. Als ich von dem Spaziergang zurückkomme, sitzt Maria mit einigen Frauen aus der Nachbarschaft bei Kaffee und Kuchen und sie begrüßen mich – höflich, freundlich, distanziert. Nur Maria lächelt ein wenig schelmisch. Ein nettes Lächeln. Bei solchen Treffen redet man auch über die Männer, quatscht sich aus und wenn einer von dieses Spezies dann zufällig mal dazu kommt, wird er gleich angefrotzelt.
Mich machen die Frauen nicht an. Wenn Edith in Wienbergen sich mit den anderen Frauen getroffen hat – und das war mindestens ein-, zweimal die Woche der Fall, dann haben sie mich nicht aus ihrer bissigen Kritik ausgespart. Ich gehörte irgendwie dazu, zu den Männern, die so oft es geht in der Kneipe sitzen und über die Frauen herziehen. In Wienbergen haben die Frauen mehr als hier zusammengearbeitet. Sei es beim Rübenhacken, in bezug auf Kindergarten, Schule oder Ähnliches, oder beim Schlachten des Geflügels. Da kamen dann immer mehrere Frauen zu der einen und halfen der beim Schlachten und Ausnehmen und dann trafen sie sich am nächsten Tag bei der anderen, usw.. Und obwohl wir, die Männer, damit nichts zu tun hatten, fand ich es immer ganz lustig, wie sie so alle in einem Haufen Blut und Federn standen und sich dabei unterhielten und Witze machten und dabei ab und zu einen tranken. Die Männer arbeiten eigentlich nie so eng zusammen. Wurschteln mehr alleine vor sich hin – eingeschlossen zumeist in der Treckerkabine und als kleiner Punkt sichtbar übers Feld fahrend. Die Frauen haben eigentlich immer mehr mit denen zu tun, denen ihre Zuneigung gilt (Ehemann, Kinder, Nachbarsfrauen, etc.), die Männer mit denen, die, wenn sie nicht aufpassen, sie übers Ohr hauen können (Händler, Müller, etc.). Wenn ein Tippelbruder sich Wienbergen nähert, dann schmieren die alten Frauen Brote, die jungen hängen die Wäsche ab und die Männer rufen die Polizei.
Seltsam übrigens, dass ich an den Wegrändern so viele Pornos gefunden habe und in den Wäldern so viele Frauenschuhe – auffallend viele Frauenschuhe. Was man so alles sieht, wenn man zu Fuß geht. Die Schuhe haben die Frauen wahrscheinlich weggeworfen, um schneller vor jemandem abzuhauen.
Der Bauer arbeitet noch im Stall, ich gehe zu ihm hin und zeige ihm Dirks Brief. Er meint, ich soll mich doch von Dirk abholen lassen und dann soll er mich im Frühjahr gleich mit dem Auto nach Frankreich bringen.
3. Dezember
Beim Kartoffeln aussortieren hatte ich wieder meine Schwierigkeiten, die ich bei jeder Routine-Arbeit habe: ich bringe alles durcheinander – die kleinen und faulen Kartoffeln in die Säcke, die großen für die Schweine. Vor einigen Jahren habe ich mal in einer Sackfabrik gearbeitet: die Zuckersäcke wenden, reinigen und dann neun Säcke in einen stecken und zubinden. Nachdem ich dort schon aufgehört hatte, fand man durch Zufall heraus, dass ich meiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen war: mal hatte ich sieben oder acht in einen Sack getan, mal zehn, elf oder zwölf. Nie neun. Ich habe es einfach nicht geschafft. Und dabei hatte ich mich wirklich bemüht. Nach dem Kartoffel-Aussortieren habe ich noch ein wenig Grassilage freigelegt für den Abend und bin dann ins Dorf gegangen – nur mal eben schnell einen Kaffee trinken und einige Platten hören. Der Wirt und sein Bruder erzählen mir Nichtssagendes. Sie sind beide einäugig und haben beide ein Glasauge. Ich weiß nie, wie ich sie anschauen soll. Dann kommen einige Gäste. Einer von ihnen hatte gestern Polterabend. Er gibt jede Menge Bier und Korn aus. Zurück auf dem Hof stolper ich besoffen die Treppen zu meinem Zimmer hoch.
Oben liegt ein Brief für mich – von meinem Vater und Frauke: alles in großen Buchstaben geschrieben, mit fünf verschiedenfarbigen Filzstiften dahingerotzt, ein toller Brief: „Mein lieber Junge! Ich hoffe, dass jetzt, da du unseren Brief in den Händen hältst, das Kälbchen endlich das Licht der Welt erblickt hat. Meinetwegen könnten alle naselang Kälber des Bauern Hermann das Licht der Welt erblicken, bekämen wir doch auf diese Art Post von dir, von meinem großen Bengel, schweigsam sonst, so aber ausschüttend wie ein Monsunregen. Dieser Satz sollte nichts anderes ausdrücken, als dass wir uns sehr gefreut haben über deinen Brief, dass du noch gesund bist und das Pferd natürlich auch, und dass du wieder ein Dach über dem Kopf hast. Halt den Kopf hoch, trotz gelegentlicher Zahnschmerzen, argwöhnischer Gendarmen und mißtrauischer Bevölkerung und schiefen Nacken. Deine gesunden Abwehrmechanismen, die mir so gut bekannt sind, wirst du mit tiefem Schlaf (bis Mittag) wieder erlangen. Und dann wirst du bald auch wieder Geld haben. Deine Schuhe werden besohlt sein. Der Hufschmied ebenso wie der Bremer Zahnarzt, der auf seine Klötzchen wartet. Alles ist okay. Mittlerweile wird Mutter Hermann mit dem Essen auf dich warten. Hau rein, meine Junge. Wenn du nicht viel Geld bekommst, so hau wenigstens rein in die Frikadellen. Wir sind in Gedanken dabei, mit unserem Renterfrühstück. Dieses Frühstück, man könnte ebenso gut ohne Übertreibung auch Spätstück dazu sagen, weil es immer elf, zwölf Uhr wird, es macht uns fit für die harte Arbeit am Eisen. Bei dem Fritz sind wir immer noch am Machen, schweißen, schmieden und kloppen. Das Werk ist aber bald fertig. Der Schmied in Magelsen hätte nie im Leben so schief und krumm arbeiten können wie wir. Und er schlug den Amboß in den Grund. Und ich hätte das nie bezahlen können, Sieben Sauerstofflaschen, du kennst diese großen Jonnies aus Eisen, und fünf Azetylenflaschen haben wir inzwischen geleert, noch einige kommen hinzu … Es ist ein ganz lustiges Flaschenleeren. Das Ergebnis dieser ganzen Bemühungen ziert dann zentnerschwer die eicherne Eingangstür. Tür – sagte ich Tür? – es ist ein Portal, mindestens. Ich freue mich immer wieder, wenn du „machst“. Bei Dirk, bei den Bauern. Je mehr du machst, desto näher kommst du den Tieren, die so sind wie sie sind und ohne Ideenzwang. Aber ich glaube, dass es schon nicht mehr so früh ist, oder dass es schon wieder früh wird. Frauke schläft ruhig und tief und die beiden Hunde schnarchen. Ich möchte jetzt erst einmal den Brief beenden. Wünsche dir ‚Gute Nacht‘ und halte die Ohren steift; genauso wie das Pferd es macht.“
Jetzt sitze ich schon wieder bei einer Tasse Tee am Schreibtisch. Eigentlich wollte ich in die Disko, aber zu müde. Dabei habe ich heute so gut wie nichts geschafft. Eben schaue ich bei der Oma rein, um ihr zu sagen, dass ich noch einmal kurz fortgehe. Sie backt gerade Kuchen und nebenbei strickt sie Kleider für ihre Enkel – die Zwillinge. Sowas von emsig und fleißig. Und was sie sonst noch alles macht: Brot backen, einen Adventskranz flechten, ihre Hühner versorgen, kochen, Wurst machen, Einkochen, den Sohn ausschimpfen, wenn er mit seinen Investitionsplänen größenwahnsinnig wird, im Gemüsegarten arbeiten, ab und zu die Schweine versorgen, uns mit ihren Erinnerungen und Erfahrungen unterhalten und belehren, die in alle Winde zerstreute Familie zusammenhalten … In der Kneipe hole ich mir nur kurz Zigaretten und geh dann wieder. Dort wieder die übliche Zecheratmosphäre. Der Bräutigam ist auch wieder da, diesmal mit seiner Braut. Die beiden zeigen Hochzeitsfotos herum. Er in schwarzem Anzug, sie in weißem Kleid. Beide lächeln und halten großen Blumensträuße in den Händen.
Das selbe Kleid hatte sie auch schon bei der Verlobung an.
4. Dezember. Sonntag
Strahlend blauer Himmel, kalt und sonntäglich. Den ganzen Vormittag habe ich alleine im Stall gearbeitet. Die anderen waren in der Kirche – im Kloster bei Bengel. Ich hatte mir das Radio aus meinem Zimmer runtergeholt und habe dann die Rinder bei der Musik von irgendwelchen Klavierkonzerten gefüttert. In der nächsten Woche soll eines der Rinder geschlachtet werden. Schlachten. Eine seltsame Tätigkeit, eine merkwürdige Kunst. Im Ostblock, in China – wo doch Frauen in allen Berufen mittlerweile arbeiten, gibt es keine weiblichen Schlachter. Ich meine jene Leute, die dem Tier das Bolzenschußgerät auf die Stirn drücken. Das erste, was mein Vater mir erwiderte, als ich ihm sagte, ich wolle aufs Land ziehen und dort in der Landwirtschaft arbeiten, war: Tierzucht und Tierhaltung, das ist ja ganz schön, aber irgendwann müssen die Tiere ja auch mal geschlachtet werden. Das kannst du doch gar nicht. Du kannst doch noch nicht einmal Blut sehen … usw. Er verachtet sogar Leute, die „ein Tier umbringen können“. In den Landkommunenen ist das „Schlachten“ eines der beliebtesten Themen. Es wird regelmäßig wieder eingebracht. Und fast immer von den Männern. Die Frauen handhaben das Problem lockerer: erst einmal müssen die Kälber, Lämmer, Ferkel, etc. geboren werden, dann wird man immer noch überlegen können. Dann sind die Tiere geboren und die Männer drängen wieder darauf, das Problem zu diskutieren und dann kommt man wieder aufs „Fleisch essen“ und ob überhaupt und die Männer behaupten, ihnen würde es nichts ausmachen, so ein Tier zu schlachten, „das gehört einfach dazu“, etc.. Und die Frauen sagen dann: jetzt sind die Jungen erst einmal noch bei der Mutter, und da müssen sie noch eine ganze Weile bleiben und dann wird man weitersehen, wenn es soweit ist. Und wenn es dann soweit ist, geht die Diskussion wieder los. Und meistens holt man dann einfach den Hausschlachter und dann kommt der Fleischprüfer und die größten Stücke werden erst einmal ins Kühlhaus gebracht…
Kurz vor Mittag kamen alle von der Kirche zurück. Der Bauer war noch in der Kneipe hängengeblieben. Vor knapp drei Wochen hatte ich mir eigentlich vorgenommen, heute loszugehen, weiterzugehen. Bei so einem tollen Wetter auch noch. Aber daraus wird jetzt nichts mehr. Heute – am Tag des Herrn – arbeiten nur die Frauen. „Heute arbeitet niemand“, sagen die Männer. Das Fell von Leinchen schimmert jetzt samtrot wie der Herbstwald in der Sonne. Alle Leute, die auf ihrem Sonntagsspaziergang an der Weide vorbeikommen, freuen sich über ihren Anblick. Nach dem Füttern fuhr mich der Bauer nach Wittlich. Beim Aussteigen drückte er mir noch dreißig Mark in die Hand. Ein sauberes, reiches, kleines Städtchen, das sich außerhalb einige trostlose Arbeiterwohnsiedlungen und einige Fabriken hingestellt hat und sich deswegen im Innern einigen Luxus leisten kann: teure Geschäfte, alte renovierte, aufpolierte Fachwerkhäuser, viele Bars und Disko-Clubs mit gediegenem Intérieur. Weil die Leute hier alle nicht tanzen können, hat man in den Diskotheken gleich auf die Tanzflächen verzichtet. In der einen bleibe ich trotzdem und bestelle ein Bier, weil ich einige langhaarige, verlodderte Typen entdeckt habe, die so wenigstens sympathisch aussehen.
An der Theke gerate ich in ein Gespräch mit einer Gymnasiastin. Sie redet von den „Kannakern“ und meint damit die hier stationierten französischen Soldaten. Die Frau fand ich von Anfang an unsympathisch, jetzt freu ich mich darüber, dass sich mein „erster Eindruck“ bestätigt hat. Danach quatsche ich eine Weile mit einem Typen, der gerade sein Abi gemacht hat und jetzt bis zum Ersatzdienst rumhängt. Hier in Wittlich ist nichts los, meint er. Ich soll in eine Disko im Hunsrück fahren, dort wird zwar viel gefixt, aber ansonsten ist dort eine gute Atmosphäre und anständige Musik haben sie dort auch. Die Disko in Alf kennt er auch, meint, dort wird viel gekifft. Das kann ich bestätigen, denn als ich dort war, redete alles über Haschisch: dem einen hatte seine Mutter für hundert Mark Shit geklaut, während er schlief, der andere hatte sich gerade ein Stück für fünfzig Mark gekauft, usw.. Der Typ, mit dem ich quatsche, haut mich um einige Zigaretten an, verabschiedet sich dann: „Nichts los heute Abend.“ Auch da muß ich ihm recht geben. Ich gehe ebenfalls, schlendere noch ein wenig durch die Innenstadt. In einer Bar trinke ich einen Kaffee. Die anderen Gäste und der Wirt trinken Krim-Sekt. Der Wirt zuckt bei meiner Bestellung zusammen.
Am Ortsausgang versuche ich zu trampen. Kein Wagen hält an, ich gehe zu Fuß weiter. Eine klare Nacht. Alle Sterne sind zu sehen. Nach sechs Kilometern Spaziergang ein Dorf, eine Kneipe. Ich gehe hinein und bestelle einen Tee. Inmitten dieser neugierigen und mißtrauischen Runde von Blicken. Ich frage den Wirt nach einem Telefon und wähle Dirks Nummer. Nach einer Weile meldet sich Edith. Noch ganz verschlafen. Sie denkt, man hat sie angerufen, weil auf dem Hof ihrer Eltern eine Kuh mit dem Kalben nicht weiter kommt und fragt, ob sie rüberkommen soll. „Nein“, sage ich, „soll ich kommen?“ Meine Stimme klingt natürlich nicht so, als würde ich gerade von der Mosel aus anrufen und deswegen fragt sie, ob ich schon in der Nähe bin. Dann reden wir noch übers Wetter und dann sagt sie, ich soll Morgen, wenn Dirk da ist, noch einmal anrufen. Ich lege auf. Jetzt ist erst einmal der Stein wieder ins (zurück-)rollen gekommen. Morgen dann werde ich mit Dirk die organisatorische Seite besprechen. Nicht viel besser gelaunt setze ich meinen Fußweg zurück nach Melchhof fort.
Endlich hält ein Wagen. Ein Student, der zurück nach Mainz zur Uni will, nimmt mich mit. Er ist Nichtraucher und läßt mich nicht in seinem Wagen rauchen. Und dann ist es ihm auch noch peinlich, es mir zu verbieten. Und dann studiert er auch noch Geographie. Und dann sagt er auch noch, ich hätte Glück gehabt, sonst würde er immer die Bundesstraße 50 nach Mainz nehmen, nur heute würde er gerade mal die andere Strecke fahren. Was soll ich bloß darauf erwidern? Zurück auf dem Hof leiste ich noch eine Weile dem Pferd im Stall Gesellschaft. Aber es ist zu müde, immer wieder fallen ihm im Stehen die Augen zu. Ich gehe auch ins Bett. Bis zum Einschlafen höre ich noch ein wenig Radio.
6. Dezember
Gestern Abend bin ich noch zu der Oma ins Zimmer gegangen, um mir einen Fernsehfilm anzuschauen. Die Oma war gerade dabei, aus den Bändern, mit denen die Heu- und Strohballen zusammengebunden werden und die man sonst nach dem Gebrauch wegschmeißt, eine Fußmatte zu machen. Das ist wirklich irre. Wir beide schauten uns dann den Film an. Was ich nicht verstand, das waren ihre Zwischenbemerkungen während des ersten Teils. Danach schlief sie ein. Sie verstand einfach den Film nicht. Aber irre, dass ich das nicht verstand. Die Handwerker beispielsweise sind genauso blöd, wenn sie einfach nicht begreifen wollen, dass ein Nicht-Handwerker in handwerklichen Tätigkeiten laufend auf Schwierigkeiten stößt. „Was? Das kannst du nicht? Das ist doch puppeneinfach.“ Und lachen sich halbtot und können es gar nicht fassen. Vormittags habe ich mich in die Kneipe geflüchtet. Immer hoffe ich, dort niemanden zu treffen, nicht angequatscht zu werden, in kein Gespräch verwickelt zu werden. Einfach nur dasitzen, Musik hören, meinen Kaffee schlürfen, träumen.
Zurück auf dem Hof machte ich ein großes Feuer – verbrannte das ganze Gerümpel, das sich seit dem Umbau der Scheune in einem Stall angesammelt hatte. Die Flammen schlugen haushoch und ich stand die ganze Zeit dabei und schaute in die Glut. Die ganze Familie hier ist um das Wohlergehen des sechsjährigen Sohnes besorgt. Die zwei Jahre ältere Tochter läuft dagegen einfach so mit – kaum, dass einer überhaupt hin hört, wenn sie bei Tisch mal was sagt. Sie ist jetzt schon immer ein wenig farblos und kränkelnd gewesen. Durch ihre Wehwehchen erheischt sie sich dann doch wieder ab und zu einige Aufmerksamkeiten und den süßen Hustensirup. Der Sohn dagegen ist klein, stark und strotzt vor Gesundheit und jeden Tag kämpft er nach dem Essen mit seinem Vater in der Küche rum. Wenn er zu seinen Eltern sagt „Du kannst mich mal“, freuen sich alle über seine Frechheit. Nur die Oma ruft „Na, na, so was sagt man doch nicht zu seinen Eltern.“ Die Tochter würde sich so etwas nie herausnehmen (können). Sie ist einfach schon unfähig dazu. So wird ein Hoferbe erzogen, der sich später durchsetzen kann – erfolgreich. Und die Tochter heiratet ja später sowieso. Sie hilft jetzt schon fleißig im Haushalt mit. Am liebsten putzt sie die Fenster oder backt Kuchen. Und sie ist ja nicht häßlich. Und dumm ist sie auch nicht. Wahnsinnig. Mit acht Jahren schon so viel Nicht-Sein aufgebürdet zu bekommen.
7. Dezember
Heute arbeiten wir den ganzen Tag verbissen daran, den neuen Laufstall in der Scheune wieder verschwinden zu lassen – wenigstens optisch. Morgen kommt eine Kommission vom Kulturamt und besichtigt den Hof, um für den nächsten Anbau, der im Frühjahr gemacht werden soll, einen Zuschuß zu bewilligen. Angebaut werden soll ein Boxenlaufstall für die Kühe (das Neueste vom Neuesten). In diesem Anbau ist aber von der eingereichten Planung her auch der Rinderlaufstall mit enthalten, der ja schon in diesem Jahr gebaut worden ist. Und deswegen muß er morgen wieder verschwunden sein. Damit er genehmigt wird. Der totale Blödsinn. Aber mir gefällt die Idee. Erstens helfe ich ja mit, das Ding verschwinden zu lassen – und sei es auch nur für einen Tag (und außerdem sehe ich es ja nicht mehr, wenn er wieder zum Vorschein kommt, weil mich morgen Dirk abholen will), und zweitens bescheißt Hans auf diese Weise die Behörde. Und das finde ich auch in Ordnung. Wir haben uns lange Zeit überlegt, wie wir das machen sollen. Hans wollte eigentlich nur Strohballen von außen an die Selbstfanggitter stellen – bis unter die Decke. Maria und mir war das zu riskant, weil die Rinder ja schließlich Krach machen und vielleicht sogar die Strohballen umstoßen könnten. Ich hatte den Vorschlag gemacht, für die zwölf Kühe, die auch im Laufstall sind, an der anderen Seite der Scheune einen provisorischen Laufstall aus Holz zu bauen und die fünfzig oder sechzig Rinder für einen Tag auf die Weide zu treiben und dann die leeren Ställe mit Strohballen zuzupacken. Aber Hans was das zu viel Arbeit und außerdem war es für die Rinder draußen jetzt schon ziemlich kalt und ob sie überhaupt noch einmal freiwillig in diese scheußlichen Ställe zurückgehen würden, war auch unklar. Schließlich wurde folgendes beschlossen: die Rinder bleiben, wo sie sind und für die Kühe bauen wir in der Scheune aus Holz einen Laufstall mit dickem Stroheinstreu.
Marias und meine Bedenken wegen des Lärms, den die Rinder wahrscheinlich machen werden, zerstreute Hans, indem er uns sagte, die vom Kulturamt, das sind alles so Akademiker und Bürohirsche aus der Stadt, die haben doch keine Ahnung von Landwirtschaft und „wenn da ein Rind blökt, dann sage ich denen, das war eine Kuh von nebenan aus dem Kuhstall. Außerdem sollen die da drinne nicht groß diskutieren, die sollen sich kurz das Ding angucken und dann wieder raus. Maria kann ja in der Zwischenzeit schnell einen Kaffee für die machen, den trinken wir dann im Haus und reden kurz über den Antrag und dann sollen die wieder verschwinden“. Er redete sich dabei richtig in Rage. Den Tag über bauten wir erst einmal den Laufstall und schmissen Strohballen runter. Aufschichten können wir sie erst morgen früh, weil die Rinder ja noch gefüttert werden müssen. Nach dem Füttern Abends ließ ich mir von Maria noch einmal ein paar Mark geben und trampte dann nach Alf. Hans hatte mich beim Abendbrot schon gefragt, wieviel Geld ich denn noch von ihm bekäme. Antwort: Nichts. Nach zehn Minuten an der Straße stehen, nahm mich ein Autofahrer bis fast nach Alf mit. Er war mißtrauisch. Fragte: Woher, wohin? Ich beantwortete ihm alle Fragen so gut es ging. Dann unterbrach er mich und sagte: „Hör zu, junger Mann. Ich nehm dich ja auch so mit. Aber hör auf zu lügen. Das stimmt doch alles nicht.“
Mißmutig stieg ich aus seinem Wagen und ging die letzten drei Kilometer zu Fuß. Es war genau die selbe Strecke, die ich an dem Abend vor meinem Horror-Kiffen schon mal gegangen war. Rechts oben auf dem Berg die Burg, von der man im Dunkeln nur eine scheußlich rot-gelbe Lichterkette sah und links oben ein Cruzifix aus Neonröhren. In der Diskothek war es wieder halbleer. Ich saß an der Theke und trank ein Bier. Von den Typen, mit denen ich gekifft hatte damals, war nichts zu sehen. Ein etwas älterer Typ, der neben mir saß, versuchte mit mir ins Gespräch zu kommen: „Nichts los hier heute …“ usw.. Er war Elektriker und arbeitete in der Zentrale der fünf Moselkraftwerke – „sehr viel Verantwortung“. Er erzählte, er hätte nebenbei noch eine kleine Landwirtschaft mit 25 Mutterkühen und bis vor einem Jahr hätte er mit zwei anderen Bauern eine gemeinschaftliche Landwirtschaft betrieben mit über hundert Hektar Land und über hundert Mutterkühen und Schweinen. Dann hätten sie sich aber gestritten und wären auseinandergegangen. Bis auf die 25 Kühe und ein bißchen Land hätte er dann alles aufgegeben, um als Elektriker arbeiten gehen zu können. Er wohnte in Bengel und auch Hans kannte er gut. Er hatte sogar Land an ihn verpachtet.
Als er dann irgendwann gehen wollte, bot er mir an, mich in seinem Auto bis Bengel mitzunehmen. Wir unterhielten uns über Mutterkuhhaltung unterwegs im Auto. In Bengel lud ich ihn noch zu einem Bier ein. Die Kneipe war brechendvoll. Man feierte Nikolaus oder so was. Seine Frau saß auch dort an einem Tisch. Der Typ, der mich mitgenommen hatte, fragte mich plötzlich, nachdem er auf einem Bierdeckel irgendetwas ausgerechnet hatte: „Was hältst du davon, für 18.000 Mark brutto im Jahr meine Landwirtschaft für mich zu machen? Kost und Logis frei. Und wenn du den Viehbestand vergrößerst, erhöht sich dein Anteil …“ Ich lehnte das Angebot ab, sagte ihm, dass ich bis zum Sommer 1978 schon ausgebucht sei und danach wahrscheinlich irgendwo im Süden in der Landwirtschaft arbeiten wolle. Er wechselte das Thema: „In der Disko in Alf war auch nichts los, oder?“ Er gab noch eine Runde Bier aus und zahlte. Seine Frau wartete schon im Mantel an der Tür auf ihn. Ich ging auch. Durch den Regen über den Berg zum Hof zurück.
Danach bist du aber dran – mit der nächsten Runde.
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