vonHelmut Höge 26.11.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Die „Mobile Akademie“ von Hannah Hurtzig gastiert vom 3. bis zum 5.Dezember im Hau 1, Stresemannstraße 29. Diesmal geht es thematisch um Gefühle/Emotionen und Affekte – und wie immer um eine Ausdehnung und Aufbereitung des  diesbezüglichen (universitären) Wissens auf bzw. für die Straße und das dort eventuell daran interessierte Publikum (Amüsierpöbel?).

Dazu heißt es in der Vorankündigung:

Für die meisten Empfindungen fehlt es an Worten. Oder umgekehrt: Man hat immer nur jene Gefühle, für die man Worte hat, die man definiert oder interpretiert. Dabei sprechen wir notgedrungen in einem Jargon, in jener Sprache, die uns zur Verfügung steht. Letztlich scheint dann das, was gefühlt wird, dem zu entsprechen, was formuliert wird. So kreieren Erzählschablonen Gefühle, assistiert von einem wuchernden Konsultations- und Beratungsmarkt mit seinem in alle öffentlichen und privaten Bereiche reichenden Terror einer therapeutischen Sprache.
Beobachten Sie Ihre verbalen Selbstvergewisserungsstrategien und Ihre emotionale Selbstverzauberung am Schauplatz der Intimität!
Die neue Installation der Mobilen Akademie zeigt aktuelle wissenschaftliche und poetische Formulierungsversuche für Erregung, Affekt und Gefühl im Dialog.
Rede und Gegenrede und phantasmagorischer Wortmehrwert in einem von 100 Silhouetten bevölkerten Jahrmarkt – namens „Schauplatz der Intimität“.

Konkret wird dabei auf die Manpower eines Excellence-Clusters (u.a. der FU) zurückgegriffen, dazu schreibt Hannah Hurtzig:

Seit zwei Jahren sondiert der Forschungsverbund „Languages of Emotion“ die Zusammenhänge zwischen Emotionen und Zeichenpraktiken und bündelt hierfür wissenschaftliche Kompetenzen aus mehr als 20 Disziplinen der Geistes- und Naturwissenschaften mit je eigenen Traditionen des Affektdenkens. Die Emotionsforschung der vergangenen 20 Jahre hat die Rolle der Sprache weitgehend vernachlässigt und die Sprachforschung die Rolle der Emotionen. Die multidisziplinäre Anlage des Clusters zielt darauf, dies von beiden Seiten her zu verändern.
40 Cluster-Schwestern und -Brüder stellen ihre Themen und Forschungen am „Schauplatz der Intimität“ im Gespräch mit Fachkollegen, Interessenten und Klienten vor:
Ärger. Alexithymie. Altern. Angst. Besessenheit. Bewunderung. Coolness.

Den Haag. Demenz. Ekel. Fan und Fantum. Faszination. Grübeln. Hymnische Verehrung. Kettensäge. Landleben. Melodrama. Mimesis. Nationalstolz. Neugier. Scham. Schönheit. Unechte und dumme Gefühle. Unheimliche Orte. Stolz. Vergebung. Darwinfinken.

Außerdem wird die israelische Kultursoziologin Eva Illouz an den drei Tagen im „Parlamonium“ genannten Veranstaltungsort Anweisungen zur Immunisierung gegen die Heilsversprechen der Selbstbeobachtung senden:
Hört endlich auf, euch selbst verbessern zu wollen!
Über das Selbst zu herrschen heißt, über den anderen zu herrschen!
Fühlt weniger!

Ob Eva Illouz oder Hannah Hurtzig uns dies rät, wollte ich wissen, und fing schon mal im Vorfeld der Hau1-Veranstaltung an, mich für „dumme Gefühle“ zu interessieren:
Ein dummes Gefühl stellte sich bei mir das letzte Mal ein, als ich mir einen Überblick über den Stand der  Gefühlsforschung verschaffen wollte – und dabei auf ein ganzes Labyrinth von Sensologien gestoßen war. Als ich dann zur Ablenkung Rüdiger Saffranskis Studie über „Die Romantik“ las, wurde ich überdies mit lauter (schönen) Gefühlslehren konfrontiert. Ähnlich wie bei  vielen russischen und auch noch sowjetischen Schriftstellern: Bei ihnen spiegelt sich das bewegte Gefühlsleben ihrer Protagonisten in der Natur, im Wetter, in der Landschaft wider.

Umgekehrt suchen westliche  Wissenschaftler immer wieder in der Natur nach unserem Seelenleben, indem sie es dort auf Hormone und Gene reduzieren.

Im Labor für Verhaltensneurobiologie der TH Zürich gingen die Wissenschaftler kürzlich der Frage nach, wie junge Weißbüschelaffen auf kurzzeitige Trennungen von ihrer Mutter reagieren. 28 Tage lang wurden sie täglich für ein bis zwei Stunden isoliert. Es reichte, dass sie aufgrund des Trennungsschmerzes bleibende Schäden davontrugen. Sie waren ängstlicher, spielten seltener und lernten schlechter – als die von ihren Familien ungetrennt gebliebenen jungen  Weißbüschelaffen der Kontrollgruppe. Ihr Gefühlshaushalt war nachhaltig erschüttert worden. Schon früher waren in ähnlichen Experimenten mit Rhesusaffen auf diese Weise „schwere Persönlichkeitsstörungen“ festgestellt worden, was u.a. dazu geführt hatte, dass man in den Geburtskliniken inzwischen die Kinder so wenig wie möglich von ihren Müttern trennt. In der Familienforschung wurden diese Affen-Experimente mit der „Double-Bind-Hypothese“ bestätigt: Danach führen  widersprüchliche Botschaften der Mutter, wenn sie ihrem Kind z.B. verbal mitteilt, Komm her, gestisch jedoch vermittelt, Bleib weg, zu schizophrenem Verhalten.

Seit kurzem haben die „Gefühle“ erneut Konjunktur, die unterschiedlichsten Wissenschaftler beschäftigen sich damit. Der israelischen Soziologin Eva Illouz geht es in ihrer Untersuchung über die „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ um die menschlichen Emotionen als Produktionsfaktor: „Die Psychoanalyse entstand aus dem Rückzug des Selbst in die Privatsphäre und aus der Sättigung des Privaten mit Emotionen. In Verbindung mit der Produktivitätssprache der Unternehmen und der Kommodifizierung des Selbstseins im Bereich der psychischen Gesundheit war die Psychologie dafür verantwortlich, aus dem emotionalen Selbst einen öffentlichen Text und eine öffentliche Inszenierung zu machen, aufgeführt an verschiedenen sozialen Orten, etwa in intimen Beziehungen, im Unternehmen, in Selbsthilfegruppen, in Talkshows und im Internet. Die Transformation der Öffentlichkeit in eine Arena der Zurschaustellung von Privatheit, Emotion und Intimität, die kennzeichnend war für die öffentliche Sphäre der letzten zwanzig Jahre, kann nicht angemessen verstanden werden, ohne zu würdigen, dass die Psychologie dazu beitrug, private Erfahrungen in öffentliche Diskussionen zu konvertieren…Es ist dieses fortschreitende Ineinandergehen der Ressourcen des Marktes und der Sprache des Selbst im 20. Jahrhundert, das ich emotionalen Kapitalismus‘ genannt habe.“

Die Tübinger Philosophin Sabine A.Döring veröffentlichte 2009 einen Reader zur „Philosophie der Gefühle“, im Klappentext heißt es: „Wenn es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so etwas wie die ‚arme Verwandtschaft‘ unter den philosophischen Themen gab, so waren das die Gefühle. Zwar hatten sich Klassiker wie Platon, Aristoteles, Spinoza, Descartes und Hume eingehend mit ihnen befaßt, aber seit Kant, der sie als ‚Gegner der Vernunft‘ abtat, wurde den Gefühlen in der Philosophie nur noch wenig Beachtung geschenkt. Erst seit den 1960er Jahren rückten sie wieder in den Fokus des Interesses, und zwar aufgrund der Einsicht, daß Gefühle kognitive mentale Zustände sind, die dazu dienen können, andere Zustände und Handlungen rational zu machen. Strittig ist indes, von welcher Art emotionale Kognitionen sind. Der Band versammelt in historisch-systematischen Einzelstudien die wichtigsten Positionen in der Philosophie der Gefühle.“

Bereits „1980 trat Klaus R. Scherer mit dem Appell ‚Wider die Vernachlässigung der Emotion in der Psychologie‘ vor den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie,“ schreibt Thomas Anz im Rezensionsforum „literaturkritik.de“ 2006 über den Stand der Gefühlforschung. „Unter Berufung auf Scherer konstatierte 1983 das von Harald A. Euler und Heinz Mandl herausgegebene Handbuch ‚Emotionspsychologie‘ ausdrücklich eine „Emotionale Wende“ in verschiedenen Kulturbereichen. In der aktualisierten und erheblich erweiterten Neuauflage des Handbuchs von 2000 ist von dieser Wende nicht mehr die Rede – wohl weil es sich inzwischen um ein etabliertes und nicht mehr neues Forschungsfeld der Psychologie handelt.“

Über ein 2009 erschienenes Buch zur „Kritik der emotionalen Intelligenz. Die Logik der Gefühle“ von Aaron Ben Ze’ev heißt es in der Verlagsankündigung: „Warum weinen wir im Kino? Wie geht man am besten mit zerstörerischen Gefühlen wie Eifersucht um? Obwohl Gefühle unser ganzes Leben durchziehen, wurden ihre Natur, ihre Ursachen und ihre Wirkung erst in letzter Zeit von Sozialwissenschaftlern und Philosophen untersucht. Doch trotz des steigenden wissenschaftlichen Interesses an diesem Thema reichen die empirischen Ergebnisse immer noch nicht an unser intuitives Wissen heran.“

Der Autor, Philosophieprofessor in Tel Aviv,  behandelt in seinem Buch „zentrale Themen wie emotionale Intelligenz, geregelte Emotionen, Emotion und Moralität.“ Daneben beschäftigt er sich mit  „einzelnen Gefühlen: Neid, Eifersucht, Schadenfreude, Mitgefühl, Mitleid, Ärger, Haß, Abscheu, Liebe, Lust, sexuelles Begehren, Glück, Traurigkeit, Stolz, Bedauern und Scham.“ Leider nicht mit dem Einsamkeits- und Verlassenheits-Gefühl, das die Affenforscher ab den frühen Fünfzigerjahren bereits umtrieb.

Auch der italienische Ästhetikprofessor Mario Perniola kommt in seiner Gefühlkulturkritik „Über das Fühlen“, soeben im Merve-Verlag erschienen, nur kurz darauf zurück. Es geht ihm in seinem Essay um das Bereits-Gefühlte:

„Unseren Großeltern noch stellten sich die Gegenstände, Personen und Ereignisse als etwas Fühlbares dar, als etwas, von dem sie eine innere Erfahrung hatten, über das sie sich freuten oder betrübt waren, an dem sie sensorisch, emotionell, geistig teilnahmen oder das sie ganz im Gegenteil nicht einmal gewahrten oder sich überhaupt weigerten, dessen gewahr zu werden.

Uns hingegen stellen sich die Gegenstände, die Personen, die Ereignisse als etwas dar, das bereits gefühlt ist, das mit seiner bereits determinierten sensorischen, emotionalen, geistigen Tonalität von uns Besitz ergreift. Der Abstand tut sich hier keineswegs zwischen emotionaler Teilnahme und Gleichgültigkeit auf, sondern zwischen dem Fühlenden und dem Bereits-Gefühlten. Das zu Fühlende kann gefühlt oder nicht gefühlt werden; das Bereits-Gefühlte kann dagegen nurmehr gepaust werden.

Ob seine Tonalität warm oder kalt ist, wird zweitrangig im Blick auf die Tatsache, dass wir hier vom Fühlen wie vom Nicht-Fühlen ausgeschlossen sind. Den Menschen aus Teilnahme oder Gleichgültigkeit, aus Sensibilität oder Nicht-Sensibilität zu entlassen, ihn von der Mühe, Anstrengung, Verantwortung, Aufmerksamkeit, Entscheidung, Anteilnahme zu entbinden, ihn ebenso vom enormen Aufwand an Energie, die beim Fühlen verbraucht wird, wie von der enormen Vergeudung an Gegenständen, Personen und Ereignissen auszuschließen, die ungefühlt vorüberziehen, das ist die große historische Wende, an der wir als Zeugen teilhaben.“

Von einer Situation des „Bereits-Gefühlten“ in die nächste zu geraten kann „trostlos“ sein, Silvia Bovenschen schreibt erklärt in „Wer weiß was“ warum: „Im Grunde handelt es sich um vorweggenommene Rückblicke. Vollendete Vergangenheit. Ich werde einen Sportwagen gefahren haben. Ich werde eine sexy Geliebte gehabt haben. Denken, nein Wähnen im Futurum exactum. Das ist gefährlich. Da bist du als Gegenwärtiger gar nicht mehr drin.“

Wenn ansonsten gesagt wird, dass die Gefühlsforschung und -politik quasi noch am Anfang steht, dann unterschlägt man alle Dichter und Schriftsteller, die sich gerade auf diesem Feld derart hervorgetan haben, dass man ihre Romane auch als eine Gefühlsschule bezeichnen könnte. So ging es z.B. vielen jungen Russen bereits im 19. Jahrhundert so, dass sie sich in bestimmten Gefühlsmomenten nicht mehr sicher waren, ob es sich dabei um ihre eigenen Emotionen oder um die  angelesenen von Puschkin handelte. Ähnliches bewirkte auch die deutsche  Literatur der Romantik – bis heute. Erinnert sei nur an das „Werther-Syndrom“. Bereits 1613 schilderte Miguel de Cervantes in seinem „Don Quijote“ einen durch zu viel Romanlektüre in seiner Wahrnehmung und seinem Gefühlshaushalt Verwirrten. Auch das Theater diente lange Zeit der „Gefühlserziehung“ – weil es in der Schauspielerei auch um und vor allem „falsche Gefühle“ geht, deswegen votierte Jean-Jacques Rousseau in seinem Theater-Artikel für Diderots „Enzyklopädie“, diese Anstalt zu schließen.

Nach Alexander Kluge ist vor allem die Oper ein „Kraftwerk der Gefühle“, in seinem 1983 gedrehten Episodenfilm „Die Macht der Gefühle“ zeigt er dazu eine mögliche Utopie, „nämlich die positiv wirkende Organisation der Gefühle“, daneben stellt er aber auch ihren negativen Einfluss auf menschliche Entscheidungen heraus. Die Zeitschrift „Titanic“ persiflierte seinerzeit den von ihr als allzu tiefsinnig empfundenden Film „Die Macht der Gefühle“ mit einem Poster, das den Penis eines Barockengels zeigte – und darunter den Behauptungssatz:  „Der macht die Gefühle“.

Im Forum „erdbeerlounge.de“ geben einige Frauen jedoch zu bedenken: Wenn z.B. ihr Freund nach dem „Sex“ sofort aufspringt, um zu duschen, oder sich wieder anzuziehen, um irgendetwas zu erledigen, dass sie gerade dann ein „blödes Gefühl“ haben. Umgekehrt spricht eine Frau von einem „dummen Gefühl“, das sie überkommt, wenn sie nach einem „spontanen Sex“, selbst wieder ihrer zuvor unterbrochenen Beschäftigung nachgeht. Solche und ähnliche Gefühle werden neuerdings auch in dem Gruner&Jahr Premium-Frauenmagazin „Emotion“ verhandelt.

Ins Grundsätzliche gehend war dieses „Problem“ bereits zwischen Erich Fromm und Herbert Marcuse kontrovers diskutiert worden – unter dem Begriff „triebtheoretischer ‚Radikalismus'“. In der radikal gestimmten Studentenbewegung folgte man dabei letzterem, während Erich Fromm ab den Siebzigerjahren anscheinend und zunehmend Erbauungsliteratur veröffentlichte. Hier aber erst einmal jetzt seine damalige Antwort auf Herbert Marcuse – in der Zeitschrift „Dissent“, New York 1955:

Ich freue mich, dass mir Gelegenheit gegeben wird, auf Herbert Marcuses Artikel Social Implications of Freudian Revisionism in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift zu antworten. Dies um so mehr, als Marcuse mich einen Vertreter der „revisionistischen“ Theorie nennt und mir vorwirft, ich hätte mich aus einem radikalen Denker und Gesellschaftskritiker in einen Fürsprecher der Anpassung an den Status quo verwandelt. Vor allem aber möchte ich Marcuse deshalb antworten, weil er einige der wichtigsten Probleme der psychoanalytischen Theorie und deren gesellschaftliche Auswirkungen berührt Probleme, die für jeden von allgemeinem Interesse sind, der sich mit der heutigen Gesellschaft beschäftigt. Allerdings kann ich dabei nicht wie Marcuse verfahren und die verschiedenen „revisionistischen“ Autoren in einen Topf werfen. Ich kann nur für mich selber sprechen. Dafür gibt es einen sehr einleuchtenden Grund: Obwohl meine Schriften in gewissen Punkten mit denen von Horney und Sullivan übereinstimmen, unterscheiden sie sich grundsätzlich von jenen gerade in bezug auf die Probleme, mit denen sich Marcuse in seiner Abhandlung befaßt. (In E. Fromm, 1955a, GA IV, S. 137f., habe ich auf verschiedene grundlegende Unterschiede zu Sullivan hingewiesen.)

Dass Marcuse uns alle in einen Topf wirft, führt leider dazu, dass er die Vorwürfe gegen mich mit Zitaten aus den Schriften von Horney und Sullivan belegt, wenn er bei mir selbst nicht findet, was seinen Zwecken dient. Marcuses Abhandlung enthält zwei Hauptthesen. Zum einen ist für ihn die Freudsche Theorie nicht nur psychologisch gesehen korrekt, sondern sie ist auch eine radikale Theorie, indem sie die heutige Gesellschaft explizit und implizit kritisiert. Zum anderen hält er meine Theorie philosophisch gesehen für idealistisch, da ich zur Anpassung an die gegenwärtige entfremdete Gesellschaft rate und meine Kritik an dieser Gesellschaft ein reiner Lippendienst sei. Ich möchte auf diese Vorwürfe nacheinander eingehen. [114] Dass Freud ein Gesellschaftskritiker war, stimmt, aber seine Kritik bezieht sich nicht auf die heutige kapitalistische Gesellschaft, sondern auf Kultur im allgemeinen. Glück ist für Freud gleichbedeutend mit der Befriedigung des Sexualtriebs, speziell mit der Befriedigung des Wunsches, freien Zugang zu allen verfügbaren Frauen zu haben. Nach Freud mussten sich die Primitiven nur äußerst wenige Beschränkungen in bezug {343} auf die Befriedigung dieser Grundbegierden auferlegen. Außerdem konnten sie ihren Aggressionen freien Lauf lassen. Die Verdrängung dieser Wünsche führte dann zu einer ständig wachsenden Kultur und gleichzeitig zu einer wachsenden Häufigkeit von Neurosen.

„Der Kulturmensch“, sagt Freud, „hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht“ (S. Freud, 1930a, S. 475). Freuds Menschenbild war das gleiche, das auch den meisten anthropologischen Spekulationen des neunzehnten Jahrhunderts zugrunde liegt. Der vom Kapitalismus geprägte Mensch ist angeblich der natürliche Mensch, weshalb der Kapitalismus als die Gesellschaftsform angesehen wird, die den Bedürfnissen der menschlichen Natur entspricht. Diese Natur des Menschen ist auf Konkurrenzkampf ausgerichtet; sie ist aggressiv und egoistisch und sucht ihre Erfüllung im Sieg über den Konkurrenten. Im Bereich der Biologie hat Darwin diese Auffassung in seiner Theorie vom Überleben des Stärksten zum Ausdruck gebracht. Im Bereich der Volkswirtschaft handelt es sich um den Begriff des homo economicus, wie ihn die klassischen Nationalökonomen vertreten. Im Bereich der Psychologie bringt Freud die gleichen Ideen über den Menschen zum Ausdruck, wobei seine Grundvorstellung die des Konkurrenzkampfes ist, der sich aus dem Wesen des Sexualtriebs ergibt: „Homo homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (a. a. O., S. 470). Die Aggressivität des Menschen hat nach Freud zwei Ursachen: einmal den angeborenen Zerstörungstrieb (den Todestrieb) und zum anderen die Versagung seiner triebhaften Wünsche, die ihm die Kultur auferlegt. Der Mensch kann zwar seine Aggression durch das Über- Ich teilweise auf sich selbst lenken, und eine Minderheit kann ihre sexuellen Begierden in brüderliche Nächstenliebe sublimieren, doch bleibt die Aggressivität an sich unausrottbar. Die Menschen werden immer miteinander in Wettbewerb treten und sich gegenseitig angreifen, und wenn es nicht um „dingliche Güter“ geht, „so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Missgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muss. Hebt man auch dieses auf durch die völlige Befreiung des Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so lässt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, dass der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird“ (a. a. O., S. 473).

Dafür Freud die Liebe im wesentlichen sexuelle Begierde ist, sieht er sich gezwungen, einen Widerspruch zwischen Liebe und gesellschaftlichem Zusammenhalt anzunehmen. Liebe ist ihrem Wesen nach egoistisch und antisozial, und das Gefühl der Solidarität und der brüderlichen Liebe sind keine primären Gefühle, die in der Natur des Menschen wurzeln, sondern zielgehemmte sexuelle Begierden. Aufgrund dieser Vorstellung vom Menschen, von seinem angeborenen Verlangen nach uneingeschränkter sexueller Befriedigung und seiner Destruktivität musste [115] Freud zur Annahme eines unausweichlichen Konflikts zwischen jeder Kultur und seelischer Gesundheit und menschlichem Glück gelangen. Der Primitive ist gesund und glücklich, weil seine Grundtriebe nicht frustriert werden, es fehlen ihm jedoch {344} die Errungenschaften der Kultur. Der zivilisierte Mensch ist sicherer, er genießt Kunst und Wissenschaft, muss aber durch die ständige Frustrierung seiner Triebe, wozu ihn die Kultur zwingt, neurotisch werden. Für Freud stehen Gesellschaft und Kultur in einem wesensmäßigen und unausweichlichen Konflikt mit den Bedürfnissen der menschlichen Natur, so wie er sie sieht, und der Mensch steht vor der tragischen Alternative zwischen dem Glück, das sich auf die uneingeschränkte Befriedigung seiner Triebe gründet, und der Sicherheit und den kulturellen Errungenschaften, die durch Triebverzicht zustande kommen und die daher zur Neurose und allen anderen Formen seelischer Erkrankung führen. Für Freud ist die Kultur das Ergebnis von Triebversagung und daher die Ursache seelischer Erkrankungen.

Es liegt auf der Hand, dass von Freuds Standpunkt aus keine Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung der Gesellschaft besteht, da keine Gesellschaftsordnung den notwendigen und unvermeidlichen Konflikt zwischen den Bedürfnissen der menschlichen Natur und dem Glück auf der einen Seite und den Ansprüchen der Gesellschaft und Kultur auf der anderen Seite überbrücken kann. Ist das eine radikale Theorie, eine radikale Kritik an einer entfremdeten Gesellschaft? Freud übt nur in einer Hinsicht Kritik an der heutigen Gesellschaft. Er kritisiert sie wegen ihrer überstrengen sexuellen Moral, die mehr Neurosen hervorrufe, als notwendig sei. Diese Kritik hat mit der sozio-ökonomischen Struktur der Gesellschaft nicht das geringste zu tun, sondern nur mit ihrer Sexualmoral; im übrigen finden wir bei ihm die gleiche tolerante Einstellung, wie wir sie in der heutigen Erziehung, Strafverfolgung und Psychiatrie vorfinden. (Vgl., hierzu auch den Beitrag E. Fromm, 1935a, GA I, S. 115-138, den Marcuse in seinem Artikel zitiert.) Freuds Kritik an der heutigen Gesellschaft ist vom gleichen Geist erfüllt wie alle heutigen Reformvorschläge. Zweitens geht Marcuse von der Annahme aus, Freuds Triebtheorie sei deshalb eine radikale Theorie, weil sie materialistisch sei und zu den Wurzeln vorstoße. Ich finde es erstaunlich, dass er dabei dem Irrtum verfällt, eine Theorie als „radikal“ zu bezeichnen, die ganz und gar vom Geist des bürgerlichen Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts durchdrungen ist. Wie jeder deutlich erkennen wird, der die Freud-Biographie von Jones liest, war Freud stark von den materialistischen Physiologen wie Brücke, Du Bois-Reymond und anderen beeinflusst. Nach deren Auffassung waren sämtliche beim Menschen zu beobachtenden Phänomene physikalischchemischer Art, und Freuds Libidotheorie ist ebenfalls auf dieser Grundlage aufgebaut. Diese Art von Materialismus hat Marx mit seinem historischen Materialismus überwunden, bei dem das Tätigsein der Gesamtpersönlichkeit in ihren Beziehungen zur Natur und zu den anderen Mitgliedern der Gesellschaft der archimedische Punkt ist, von dem aus Geschichte und gesellschaftliche Veränderungen erklärt werden. Geht man von dieser Art des Materialismus aus, so gelangt man zu einer Theorie der menschlichen Natur, die alles andere als „ideologisch“ ist.

Eine derartige Theorie [116] gründet sich auf die „Situation des Menschen“, auf die spezifischen Bedingungen menschlicher Existenz. Der Mensch, der sich seiner selbst bewusst ist, hat die Welt der Natur transzendiert: Er ist Leben, das sich seiner selbst bewusst ist. Gleichzeitig bleibt er Teil der Natur, und aus diesem Widerspruch erklären sich seine {345} grundlegenden Leidenschaften und Strebungen, sein Bedürfnis zu anderen Menschen in Beziehung zu treten, sein Bedürfnis, seine eigene Rolle als Geschöpf dadurch zu transzendieren, dass er selber schafft (oder zerstört), sein Bedürfnis, ein Identitätsgefühl und einen Rahmen der Orientierung sowie ein Objekt der Hingabe zu haben. Diese Bedürfnisse können auf unterschiedliche Weise erfüllt werden – wobei die verschiedenen Weisen dem Unterschied zwischen seelischer Gesundheit und Krankheit, zwischen Glück und Unglück entsprechen. Diese Bedürfnisse müssen jedoch erfüllt werden, wenn der Mensch nicht wahnsinnig werden soll. Andererseits ist die Erfüllung aller triebhaften Bedürfnisse – einschließlich der sexuellen – noch keine ausreichende Vorbedingung für Glück, ja nicht einmal für geistige Gesundheit. Mein Begriff der menschlichen Existenz ist nicht weniger real als der Triebbegriff, und er ist keineswegs idealistisch. Er ist weiter gefaßt und begriffen in Richtung auf Aktivität und Praxis und gründet sich nicht auf eine spezifische physiologische Substanz. Zu glauben, eine Theorie, welche größere Freiheit für den Sexualtrieb fordert, sei schon aus diesem Grund eine radikale Theorie, ist ein Irrtum, der entweder als Resultat eines missverstandenen Materialismus zu verstehen ist oder der eine Reaktion darauf ist, dass die konservativen und reaktionären Gruppen zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine strenge und repressive Sexualmoral vertraten. Daher entstand der Eindruck, dass sexuelle Emanzipation ein radikaler Schritt in Richtung auf Emanzipation von Unterdrückung schlechthin sei. Die Einstellung der Nazis zur sexuellen Freiheit war jedoch ein recht konkreter Hinweis darauf, dass diese Annahme falsch ist. Die Nazis waren weit davon entfernt, sich in diesem Punkt die reaktionäre Ideologie zu eigen zu machen, sondern sie waren im Gegenteil für sexuelle Promiskuität und äußerst großzügig in bezug auf ihren Sexualkodex. Aber man braucht noch nicht einmal die Nazis als Beispiel heranzuziehen. Die uneingeschränkte sexuelle Befriedigung gehört zu den Charakterzügen des Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts genau wie das Bedürfnis nach Massenkonsum und der Grundsatz, dass jedes Verlangen auf der Stelle befriedigt werden muss und kein Wunsch versagt werden darf. Das Grundgesetz, nach dem Wünsche ohne viel Zögern befriedigt werden müssen, bestimmt besonders seit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch unser sexuelles Verhalten. Eine grobe Form eines missverstandenen Freudianismus pflegte die geeigneten Rationalisierungen dafür zu liefern: die Idee, dass Neurosen die Folge “ verdrängter“ sexueller Begierden, dass Frustrationen „traumatisierend“ sind und dass man um so gesünder ist, je weniger man verdrängt hat. Selbst Eltern entwickelten einen „Komplex“ aus der Sorge heraus, ihren Kindern ja alles zu geben, was sie haben wollten, damit sie nur nicht „frustriert“ würden. Leider landeten viele dieser Kinder samt ihren Eltern auf der Couch des Analytikers – vorausgesetzt sie konnten es sich leisten.

Dass die Gier nach bestimmten Dingen und die Unfähigkeit, die Befriedigung seiner Wünsche hinauszuschieben, für den modernen Menschen so charakteristisch sind, [117] darauf haben nachdenkliche Menschen wie Max Scheler und Henri Bergson nachdrücklich hingewiesen. Am prägnantesten hat es Aldous Huxley in Brave New World (1946) getan. Unter den Devisen, auf welche die Heranwachsenden in Brave New World konditioniert werden, ist eine der wichtigsten: „Schiebe nie das Vergnügen, das du heute haben kannst, auf morgen auf. “ Sie wird ihnen „zweimal die Woche von 14 bis 161/2 Uhr zweihundertmal“ eingehämmert. Diese augenblickliche Wunscherfüllung wird als Glück empfunden. „Heutzutage ist jeder glücklich“, lautet eine andere Devise von Brave New World. Die Menschen „kriegen alles, was sie haben wollen, und sie wollen niemals etwas haben, was sie nicht kriegen können“. Dieses Bedürfnis nach dem unmittelbaren Konsum der Gebrauchsgüter und nach der unmittelbaren Befriedigung der sexuellen Wünsche sind in Brave New World – genau wie {346} in unserer Welt – miteinander gekoppelt. Es gilt als unmoralisch, seinen „Liebes“-Partner über eine relativ kurze Zeit hinaus zu behalten. Die „Liebe“ ist eine kurzlebige sexuelle Begierde, die sofort befriedigt werden muss. „Man gibt sich die größte Mühe zu verhindern, dass jemand gar zu sehr liebt; so etwas wie eine gegenseitige Verpflichtung zur Treue gibt es nicht. Man wird darauf konditioniert, dass man gar nicht anders kann als das zu tun, was man tun sollte. Und was man tun sollte, ist im großen und ganzen so amüsant, und so vielen natürlichen Impulsen wird freies Spiel gewährt, dass man tatsächlich keinen Versuchungen mehr zu widerstehen braucht“ (A. Huxley, 1946, S. 196). Dieser Mangel, sich Wünsche versagen zu müssen, hat die gleichen Folgen wie das Fehlen einer offenen Autorität – es führt zur Lähmung und schließlich zur Zerstörung des Selbst. Wenn ich die Erfüllung meiner Wünsche nicht hinausschiebe (und ich bin darauf konditioniert, mir nur das zu wünschen, was ich bekommen kann), dann habe ich keine Konflikte, keine Zweifel, ich brauche keinen Entschluss zu fassen, ich bin nie mit mir selbst allein, weil ich immer beschäftigt bin – mit meiner Arbeit oder mit meinem Vergnügen. Ich brauche mir nicht als meiner selbst bewusst zu werden, weil ich immerzu mit meinem Vergnügen beschäftigt bin. Ich bin – ein System von Wünschen und deren Befriedigung; ich muss allerdings arbeiten, um mir meine Wünsche erfüllen zu können – und eben diese Wünsche werden von der Wirtschaft ständig stimuliert und gelenkt. Die meisten dieser Begierden sind künstlich erzeugt, selbst die sexuelle Begierde ist bei weitem nicht so „natürlich“, wie man behauptet. Sie ist zum Teil künstlich stimuliert. Und das kann auch gar nicht anders sein, wenn wir Menschen haben wollen, wie sie das gegenwärtige System braucht – Menschen, die sich „glücklich“ fühlen, die keine Zweifel kennen, die keine Konflikte haben und die sich ohne Anwendung von Gewalt lenken lassen. Das Prinzip, dass Liebe mit sexuellem Begehren identisch sei, und die Idee, dass die Emanzipation des Menschen in der vollkommenen und uneingeschränkten Befriedigung seiner sexuellen Begierden beruhe, ist demnach tatsächlich ein Bestandteil jenes Kitts, der die Menschen in der  gegenwärtigen Phase des Kapitalismus miteinander verbindet.

Zu Anfang unseres Jahrhunderts war das eine reformistische Ideologie. Wenn man sie jetzt als eine radikale Theorie ansieht, so zeigt das nur, dass wir aus der Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren nichts gelernt haben. [118] Ich komme jetzt zu Marcuses zweiter These, zu seiner Kritik am „Revisionismus“. Marcuse behauptet, dass Freuds Grundannahmen wie zum Beispiel die von der Funktion des Unbewussten, von mir „in einer Weise neu definiert (wurde), dass ihre explosive Bedeutung so gut wie aufgehoben wurde“ (H. Marcuse, 1955; dt.: S. 243). „Die Psychoanalyse sollte sich wieder an der traditionellen Bewusstseinspsychologie präfreudscher Prägung orientieren“ (a. a. O.). Marcuse macht nicht einmal den Versuch, diese Kritik mit Beispielen zu belegen. Meine eigene Arbeit (und die von Sullivan und weitgehend auch die von Horney) konzentriert sich auf den Konflikt zwischen unbewussten und bewussten Strebungen. Geht man davon aus, dass das Unbewusste mit sexuellen Strebungen identisch ist, dann ist allerdings die blinde Annahme {347} möglich, dass jede Theorie, die im Sexualtrieb nicht die treibende Kraft sieht, das Unbewusste außer acht lässt, aber man muss – gelinde gesagt – schon sehr naiv sein, um zu einem solchen Schluss zu kommen. In engem Zusammenhang damit steht Marcuses Behauptung, dass „sekundären Faktoren und Beziehungen (der reifen Person und ihrer kulturellen Umgebung) die Würde primärer Prozesse zugeschrieben“ würden, wodurch der Einfluss „der frühen Kindheit – der Periode, in der dem einzelnen das allgemeine Schicksal aufgeprägt wird“ (a. a. O., S. 236 und 249), zu gering eingeschätzt werde. Ich frage mich, wieso es Marcuse entgangen ist, dass Sullivans Arbeiten sich fast ausschließlich mit der Kindheitsentwicklung befasst haben und dass auch ich festgestellt habe, dass der Charakter eines Menschen hauptsächlich von der Situation in seiner Kindheit bestimmt wird. In Escape from Freedom (1941a, GA I) habe ich zu zeigen versucht, dass diese Tatsache jedoch nicht im Gegensatz zum Einfluss der Gesellschaft auf den einzelnen Menschen steht, weil die Familie „die psychologische Agentur der Gesellschaft“ ist, die die Funktion hat, den Charakter des Heranwachsenden so zu formen, wie es für das fortgesetzte Funktionieren einer bestehenden Gesellschaft notwendig und nutzbringend ist. Marcuse erwähnt einen meiner wichtigsten Begriffe überhaupt nicht, obwohl er seit den frühen Aufsätzen aus den dreißiger Jahren bis zu meinen gegenwärtigen Veröffentlichungen immer ein Schlüsselbegriff war, nämlich den Begriff des Gesellschafts-Charakters.

Ich habe den Gesellschafts-Charakter als den Kern der Charakterstruktur definiert, die den meisten Mitgliedern der gleichen Kultur gemeinsam ist. Die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft und die verschiedenen Klassen oder Statusgruppen in ihr müssen sich so verhalten, dass sie funktionieren, wie dies das Gesellschaftssystem erfordert. Der Gesellschafts- Charakter hat die Aufgabe, die Energien der Mitglieder einer Gesellschaft so zu lenken, dass es keine Angelegenheit einer bewussten Entscheidung ist, ob ihr Verhalten dem gesellschaftlichen Muster folgt oder nicht, sondern dass sie sich so verhalten wollen, wie sie sich verhalten müssen, und dass sie gleichzeitig ihre Befriedigung darin finden, dass sie sich den Erfordernissen ihrer Kultur entsprechend verhalten. Es ist also die Funktion des Gesellschafts-Charakters, die Energie der Menschen so zu formen und in einer gegebenen Gesellschaft derart zu kanalisieren, dass ein weiteres Funktionieren dieser Gesellschaft gewährleistet ist. Aber noch wichtiger als alle diese Entstellungen und Missverständnisse ist Marcuses Hauptargument, dass man sich auf einer ideologischen Ebene befindet, wenn man von [119] Liebe, Integrität, innerer Stärke und so weiter spricht. Angeblich ist nur der Geschlechtstrieb das Substrat der Realität, die dem ideologischen Überbau von Liebe und so weiter zugrunde liegt. Behauptet Marcuse tatsächlich, dass Hass, Destruktivität und Sadismus Ideologien seien? Offensichtlich doch nicht. Die einzige Kontroverse, die sich ergeben könnte, ist doch, ob man sie im Sexualtrieb, im Todestrieb oder in anderen grundlegenden Faktoren des menschlichen Daseins verwurzelt sieht. Andererseits sind Liebe und innere Stärke nach Marcuse lediglich Ideologien. Sein Argument lautet, dass es in der heutigen entfremdeten Gesellschaft keine Liebe, keine Integrität und keine innere Stärke als Realität gäbe. Er behauptet, das Ziel einer optimalen Entwicklung der inneren Fähigkeiten eines Menschen und die Verwirklichung seiner Individualität seien genau das, was „im wesentlichen nicht erreicht werden kann…, weil die herrschende Kultur eben ihrer Struktur nach dies unmöglich macht. Entweder definiert man die ‚Persönlichkeit‘ und die ‚Individualität‘ im Sinne ihrer Möglichkeit innerhalb der geltenden Kulturformen, in welchem Fall ihre Verwirklichung für die überwiegende Mehrheit gleichlautend mit erfolgreicher Anpassung ist. Oder man definiert sie im Sinne ihres transzendierenden Gehalts, inklusive ihrer ihnen von der Gesellschaft versagten Möglichkeiten jenseits (und unterhalb) {348} ihrer aktuellen Existenz; in diesem Falle würde ihre Verwirklichung eine Überschreitung der geltenden Kulturformen zu radikal neuen Weisen der ‚Persönlichkeit‘ und ‚Individualität‘ hin sein, die mit den anerkannten Formen unvermeidbar sind. Das würde heute bedeuten, dass man den Patienten dahingehend ‚heilt‘, ein Rebell oder (was das gleiche hieße) ein Märtyrer zu werden. Die revisionistische Auffassung schwankt zwischen den beiden Definitionen. Fromm ruft all die altehrwürdigen Werte der idealistischen Ethik wieder ins Leben, als hätte noch nie jemand ihre konformistischen und repressiven Züge aufgewiesen. Er spricht von der produktiven Verwirklichung der Persönlichkeit, von Fürsorge, Verantwortung und Respekt vor den Mitmenschen, von produktiver Liebe und Glück – als könnte der Mensch tatsächlich all das in einer Gesellschaft ausüben, die Fromm selbst als völlig ‚entfremdet‘ und von den Konsum-Beziehungen des ‚Markts‘ beherrscht, darstellt…“ (H. Marcuse, 1955; dt.: S. 253f.).

Damit sagt Marcuse, dass jeder, der Integrität besitzt und zu Liebe und Glück fähig ist, in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft entweder zum Märtyrer oder verrückt werden muss. Er macht selbst einige geringfügige Einschränkungen, wenn er sagt, dass diese Ziele „im wesentlichen“ unerreichbar seien und dass ihre Verwirklichung für die „große Mehrheit“ gleichbedeutend mit Anpassung sei, aber er schenkt dieser wichtigen Einschränkung keinerlei Aufmerksamkeit. Ich habe in meiner Beschreibung des produktiven Charakters keinen Zweifel daran gelassen, dass er in einer entfremdeten Gesellschaft eine Seltenheit ist und im Gegensatz zur Marketing-Orientierung steht, welche die Regel ist. Ich bestimme die produktive Orientierung dahingehend, dass sie das vorherrschende System transzendiert, und nur ein voreingenommener Leser kann übersehen, dass ich immer wieder betont habe, dass Glück und Liebe, so wie ich sie verstehe, nicht die gleichen Tugenden sind, welche in einer entfremdeten Gesellschaft als Liebe und Glück bezeichnet werden. Aber das ist etwas [120] völlig anderes, als wenn man sagt, nur ein Märtyrer oder ein Psychotiker könne heute noch Integrität besitzen und Liebe empfinden.

Es ist erstaunlich, dass Marcuse seine eigene dialektische Einstellung so weit aufgibt, dass er Schwarz-Weiß-Malerei betreibt und vergisst, dass die entfremdete Gesellschaft bereits in sich selbst die Elemente entwickelt, die ihr widersprechen. Einen Rebellen in der kapitalistischen Gesellschaft des Westens mit einem Märtyrer gleichzusetzen, ist recht unrealistisch, wenn man nicht derart konformistisch eingestellt ist, dass man glaubt, ein Rebell zu sein, bedeute dasselbe wie ein Märtyrer zu sein. Wenn Marcuse recht hätte, so müssten wir tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass in der kapitalistischen Gesellschaft für Liebe und Glück überhaupt kein Platz mehr sei. Der einzige Unterschied zwischen dem Durchschnittsmenschen und dem „radikalen Denker“ bestünde dann nur darin, dass der Durchschnittsmensch ein opportunistischer Automat wäre, ohne es selbst zu wissen, während der radikale Denker dies ebenfalls ist, es jedoch weiß. Nach Marcuses Theorie muss die Entmenschlichung des Menschen offensichtlich erst vollkommen sein, damit es zu einer Befreiung kommen kann. Für ihn übt jeder, der die Voraussetzungen für Glück und Liebe untersucht, Verrat am radikalen Denken. Jeder, der sich selbst und anderen zu helfen versucht, Glück und Liebe bis zu einem gewissen Grade zu realisieren, ist – wenn er kein Märtyrer oder Narr ist – ein Gesinnungsgenosse von Hochwürden Peale. Ich bin im Gegenteil der Ansicht, dass „die Vorbedingungen für Liebe und Integrität untersuchen“, soviel heißt wie nach den Gründen suchen, weshalb sie in der kapitalistischen Gesellschaft {349} Schiffbruch erleiden und dass die Analyse der Liebe Gesellschaftskritik ist und außerdem dass der Versuch, diese Tugenden zu üben, ein Akt lebendigster Rebellion ist. Leider handelt es sich dabei nicht nur um eine akademische Frage. Die Vernachlässigung des menschlichen Faktors und die Gleichgültigkeit in bezug auf die moralischen Qualitäten der Politiker, die in Lenins Haltung so deutlich zum Ausdruck kam, ist einer der Gründe für den Sieg des Stalinismus. Der Stalinismus ist die Verwirklichung des Sozialismus unter Ausklammerung seiner humanen Ziele. Da eine jede Verbesserung der menschlichen Situation davon abhängen wird, dass Veränderungen gleichzeitig im ökonomischen, im politischen und im menschlich-charakterlichen Bereich geschehen, kann keine Theorie als radikal bezeichnet werden, die dem Menschen gegenüber eine nihilistische Haltung einnimmt.

Ich gebe Marcuse darin recht, dass die heutige Gesellschaft eine entfremdete Gesellschaft ist und dass in ihr aus diesem Grunde die humanistischen Ziele des Lebens, nämlich Glück und Individualität, nur selten verwirklicht sind. (In E. Fromm, 1955a, GA IV, befasse ich mich mit den Auswirkungen der Entfremdung auf das Individuum.) Aber ich bin ganz und gar nicht der Meinung, dass diese Eigenschaften deshalb bei überhaupt niemandem zu finden sind, dass ihr Wesen und ihre Voraussetzungen zu analysieren ideologisch sei und dass man „Anpassung“ predige, wenn man die Menschen dazu ermutige, sich darin zu üben. Marcuses Einstellung ist ein Beispiel für einen als Radikalismus getarnten menschlichen Nihilismus.

Literatur:

Freud, S.: Gesammelte Werke (G. W.) [hier zitierte Ausgabe] Bände 1-17, London 1940- 1952 (Imago Publishing Co.) und Frankfurt 1960 (S. Fischer Verlag). – The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud (S. E.), Bände 1-24, London 1953-1974 (The Hogarth Press). – Sigmund Freud. Studienausgabe (Stud.) Bände 1-10. Ergänzungsband (Erg.), Frankfurt 1969-1975 (S. Fischer Verlag).

Freud, S., 1930a: Das Unbehagen in der Kultur, G. W. Band 14, S. 419-506; S. E. Band 21, S. 57-145.

Fromm, E., 1935a: Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Paris 4 (1935) S. 365-397; GA I.

Fromm, E., 1941a: Escape from Freedom, New York 1941 (Farrar); Die Furcht vor der Freiheit, Zürich 1945 (Steinberg); Frankfurt/Köln 1966 (Europäische Verlagsanstalt); GA I.

Fromm, E., 1955a: The Sane Society, New York 1955 (Rinehart and Winston, Inc.); Der moderne Mensch und seine Zukunft. Eine sozialpsychologische Untersuchung, Frankfurt/Köln 1960 (Europäische Verlagsanstalt); Wege aus einer kranken Gesellschaft, GA IV.

Huxley, A., 1946: Brave New World, London 1946 (The Vanguard Library); deutsch: Schöne neue Welt, Frankfurt/Hamburg 1955 (S. Fischer Verlag).

Marcuse, H., 1955: Eros and Civilization, Boston 1955 (Beacon); deutsch: Eros und Kultur, Stuttgart 1957 (Klett); deutsch: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt 1970 (Suhrkamp Verlag)

Inzwischen redet man in der Gefühlstheorie und -politik von „sozialer Kompetenz“ – um seine Erforschung haben sich insbesondere die feministischen Biologinnen  verdient gemacht. Noch ganz aktuell ist dazu eine Debatte um die „Anti-Fassadentheorie“ des holländischen Biologen Frans de Waal, die ich jedoch erst später einfügen werde. Hier erst einmal nur so viel:

Der Primatenforscher Frans de Waal hat viel dafür getan, zu beweisen, dass bei den sozial lebenden Tieren (einschließlich des Menschen) der „Egoismus“ etwas Sekundäres ist – eben weil sie (und wir) die Einsamkeit schlecht ertragen – mit unserer Fähigkeit zu Empathie und Mitleiden (die nicht christlich, sondern evolutionär erworben ist). Wir brauchen die „Anerkennung“ (Hegel) der Anderen. Wer nicht anerkannt wird ist sozial tot – und bald auch wirklich. Das gilt für alle sozial lebenden Tiere, mindestens der „höheren“. Sogar an einem Rathaus in London findet sich diese Einsicht: „Fellowship is life and the lack of fellowship is death“.

Affen affizieren und von Affen affiziert-Werden – als äffisches Verlangen:

Einige sozial lebende Affenarten haben eine besondere Fähigkeit,  zu affizieren und affiziert zu werden, das gilt vor allem für die Bonobos. Wir setzen dagegen eher auf Befehl und Bemächtigung. Die Bonobos, unsere nächsten Verwandten, sind konsequente Spinozisten (geblieben).

Donna Haraway beschreibt die Arbeitsweise der Pavianforscherin Barbara Smuts und der von ihr beobachteten Paviane als eine Form des »Gemeinsam-Werdens«, die über das spinozistische »Tier-Werden« bei Deleuze/Guattari hinausgeht, weil sich dabei  ein Feld (in einer Feldforschung) eröffnet habe, auf dem sich zwei  Spezies „begegnen“. Dazu merkt der Biologe Cord Riechelmann an: „Haraway definiert so die Grenzen des Begriffs »Tier-Werden«, unterschlägt aber, das die beiden Theoretiker diesen Vorgang vor allem als eine Schreibposition begreifen, den Begriff also viel abstrakter auslegen, als dies im Kontext der Tierforschung möglich ist.“

Eine kühne Behauptung – dass es dem Philosophen Gilles Deleuze und dem Psychiater Felix Guattari bei ihrer Konzeption des nach überall hin „Affizierens“ und „Affiziert-Werdens“ um eine „Schreibposition“ geht, um einen „abstrakten Begriff“. Denn immerhin hätten die beiden zu Lebzeiten sofort das situationistische Credo unterschrieben: „Um schreiben zu können, muß man gelesen haben und um lesen zu können, muß man zu leben verstehen – sonst kommt man nur dahin, die abstrakten Forderungen einer abstrakten Existenz endlos zu wiederholen.“

Wenig später sagt Riechelmann es selbst: „Ihren Begriff entwickeln sie zuerst im Kafka-Buch von 1975 und präzisieren ihn dann 1980 in ihrem Hauptwerk »Tausend Plateaus« in dem Kapitel »Intensiv-werden, Tier-werden, Unwahrnehmbar-werden«. Schon die Aufzählung im Titel deutet an, dass »Tier-werden« nur eine Form eines allgemeiner gefassten Begriffs von »Werden« ist.

»Tier-Werden« versucht, von Melville über Kafka bis hin zu Deleuze/Guattari immer auch Fluchtlinien aufzuzeigen, mit denen man leben kann, ohne eine Utopie entwerfen oder auf die Erlösung hoffen zu müssen. In diesem Sinn entwirft der ganze Werden-Komplex bei Deleuze/Guattari auch eine Ethik. Freilich ist diese Ethik keine des Geistes oder gar des Denkens, sondern allein eine des Körpers. Es geht um das Tätigkeits- oder Trägheitsvermögen eines Körpers. Der Denker, der das Verhältnis der zwischen den Körpern wirkenden Kräfte am besten begriffen hat, ist für Deleuze Spinoza. Der Gegensatz von Affizieren und affiziert Werden spanne das Machtgefüge auf, in dem man sich begegnet.“

Damit macht der ausgebildete Biologe aus dem Deterritorialisierungsforscher Deleuze flugs-„freilich“ einen Reterritorialisierer.

Tatsächlich spricht Deleuze in seinen „Cours“ (auf deutsch in www.webdeleuze.com) von unserer  spinozischen „Macht affiziert zu werden“. Und diese „ist die Macht eures Wesens affiziert zu werden“. Mit „euer“ sind hier seine Hörer angesprochen.

Als Beispiel führt Deleuze den Sonnenverehrer und überhaupt „Pantheisten“ D.H. Lawrence an:

„Die Wesenheiten sind unterschieden, und gleichzeitig unterscheiden sich die einen von den anderen lediglich im Inneren. So dass, wenn mich die Sonne affiziert, ich mich eben durch die Strahlen selbst affiziere, und die Strahlen, durch die ich mich selbst affiziere, die Strahlen der Sonne sind, die mich affizieren. Dies ist solare Auto-Affektion. In Worte gefasst, hat dies ein groteskes Aussehen, aber versteht, dass das auf der Ebene der Lebensweisen ganz anders aussieht.“

Riechelmann bemüht sich aber nicht nur, kurz und schmerzlos die Arbeiten der Feldforscherinnen Smuts und Strum und der Biologin Haraway abzutun. Weil diese sich als „Bündnispartner“ der „Akteur-Netzwerk-Theoretiker“ um Bruno Latour verstehen, erledigt er auch diesen gleich mit: In einem taz-Artikel, der als  Nachruf auf den Ethnologen Claude Lévi-Strauss gedacht war. Claude Levi-Strauss hatte einmal (in einem Zeit-Interview) über einen lang gehegten Wunsch gesprochen: „Ich hätte mich gern einmal richtig mit einem Tier verständigt, Das ist ein unerreichtes Ziel. Aber da ist die Grenze, die nicht überschritten werden kann“. Riechelmann schreibt anknüpfend an dieses Zitat:  „An dieser Grenze hat er bis zuletzt nicht gerüttelt. Er hat sie, als er in der Nacht vom vergangenen Samstag auf Sonntag kurz vor seinem 101. Geburtstag in Paris verstarb, mit ins Grab genommen.“ Die Grenze?

Weiter schreibt Riechelmann: „Das kann man wie ein Vermächtnis lesen.“ – Das daran nicht gerüttelt werden darf? „Der einflussreichste Ethnologe des 20. Jahrhunderts hält einen aus dem Kitsch-Universum fern, das Mensch und Tier in einen Topf wirft und das auch noch für fortschrittlich hält, wie es zurzeit etwa exemplarisch der Wissenschaftsdenker Bruno Latour tut.“ Der damit nämlich eindeutig gegen das Tier-Mensch-Grenz-Vermächtnis von Lévi-Strauss verstößt.

Aber die Affenforscher, auch Riechelmann war mal einer, geben nicht auf: auf ihrer Nachrichtenseite „primates online“ berichtete gerade eine Gruppe von Anthropologen, die freilebende Japanmakaken erforschen, dass die Grossmütter in ihren sozialen Verbänden eine wichtige Rolle spielen, indem sie sich – wie die Süddeutsche Zeitung hervorhebt – den von ihren Muttern vorübergehend verlassenen Kleinkindern annehmen. Dank ihrer  Betreuung überleben mehr Japanmakaken als in Affenpopulationen, wo es diese Großmutterfunktion nicht gibt. Bei Elefanten gibt es sie ebenfalls – sowie auch bei kanadischen und finnischen Menschenfamilien im 18. und 19.Jahrhundert, wie eine Vergleichsstudie ergab. „Allerdings ließ sich dieser positive Effekt nur für Omas mütterlicherseits nachweisen. Bei Großmüttern väterlicherseits war er nicht erkennbar,“ schreibt der SZ-Rezensent und erwähnt dann eine weitere Ausnahme: „In einer anderen Untersuchung an Familien der ostfriesischen Region Krummhörn hatten die Schwiegermütter sogar einen negativen Effekt auf das Wohlergehen ihrer Enkelkinder. Lebten sie in der Nähe, stieg das Sterberisiko der Babys auf das Zweieinhalbfache an.“ Man kann vermuten, dass diese ostfriesischen Großmütter in vielen Fällen die Aufgabe hatten, die Kinder ihrer Töchter bzw. Schwiegertöchter zu töten, weil die Großfamilien in diesem armen Landstrich nur wenige Kinder ernähren konnten, gleichzeitig jedoch mutig genug waren, um das selbst zu bestimmen.

Zurück zu dem „Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden“ von Deleuze/Guattari: Wenn das eine Reihung sein soll, dann wäre hier das „Tier-Werden“ bzw. das Feld, auf dem dies zu geschehen hätte, nur eine Zwischenstation. Und erst einmal müßte das „Intensiv-Werden“ gelingen. Über das „Werden“ generell führen D&G aus: Es gehöre „immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Es kommt durch Bündnisse zustande…Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrepondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‚zu scheinen‘ noch ‚zu sein‘.“  Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt. Für Deleuze/Guattari „gibt es ebensoviele Geschlechter wie Terme in der Symbiose, ebensoviele Differenzen wie Elemente, die bei einem Ansteckungsprozeß mitwirken.“ In diesem Zusammenhang betonen sie, dass es sich beim Tier-Werden immer um ein Plural handelt – also um Schwärme, Meuten, Banden… Und diese bilden sich eben durch „Ansteckung“. Man könnte stattdessen auch von „affizieren und affiziert-werden“ reden.

P.S.: Um Ruhe und Ordnung besorgt rät uns die Süddeutsche Zeitung heute – im Zusammenhang der Schweinegrippe: „Impfen – und nicht von Hysterie anstecken lassen“.

Dass es so etwas wie eine „ansteckende Neurose“, gibt, die es die eigentlich gar nicht geben darf, darüber hat bereits der Ethnopsychoanalytiker Paul Parin 1948 geforscht: Siehe: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/05/22/paul_parin/

P.P.S.: Gegen Eva Illouz und Hannah Hurtzigs Aufforderung an die Teilnehmer der mobilen Akademie: „Fühlt weniger!“ Aber auch gegen Cord Riechelmanns Forderung „Achtet die Tier-Mensch-Grenze“ richtet sich die Forschung zweier extraterristrischer Anthropologen, die immer wieder von Silvia Bovenschen in ihrem neuen Roman „Wer weiß was“ dialogisch eingeblendet wird:

„Andere aber, wenige, sehr wenige, wollen heraus aus ihren Gefängnissen, ihren Denk- und Fühlzellen, den Schranken ihrer Zeit und des Allgemeinen Dafürhaltens. Diese wenigen durchbrechen immer mal wieder eine kleine Schallmauer.“ Es folgen einige künstlerische Beispiele – und darauf der Einwand: „Die Zitation einzelner Überschreitungen bringt uns nicht weiter, Wir brauchen Gattungsmerkmale.“

Über das „Durchbrechen einer kleinen Schallmauer“ – als „Intensiv-Werden, Tier-Werden und Unwahrnehmbar-Werden siehe: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/09/22/ddr-forschung/

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/11/26/gefuehleemotionenaffekte/

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kommentare

  • Über die Gefühlserziehung durch Literatur erfährt man einiges in Dieter Hildebrandts Buch „Schillers erste Heldin. Das Leben der Christophine Reinwald, geborene Schiller“.

    Der FAZ-Rezensent schreibt heute:

    Schiller hat (gegenüber Goethe) den pedantischen und geizigen Reinwald [den Ehemann seiner Schwester] beschrieben als „nicht ganz ungeschickten Philister“. Und er ist es auch, der 1802 hinter dem Rücken Reinwalds eine Geheimkorrespondenz mit seiner Schwester beginnt.

    Hildebrandt erläutert dieses wohlgemeinte „Verschwörertum“ als den naheliegenden Versuch Schillers, die Schwester wenigstens mental und seelisch „aus dem Martyrium ihrer Ehe zu befreien“.

    Bei Christophine verbindet sich diese Befreiung vor allem mit einer intensiven und hellsichtigen Lektüre der Dramen ihres Bruders. Wie Hildebrandt zeigt, geht im Falle der Jungfrau von Orleans Christophine sogar so weit, dass sie hierin die Aura ihres eigenen Schicksals spürt, „so daß ich oft des Morgens ganz abgemattet als wenn ich die Johanna selbst vorgestellt hätte, aufstund“.

  • Auf die „Grenze“ zwischen Tier und Mir kam Cord Riechelmann kürzlich noch einmal zurück – in einer FAS-Rezension der DVD mit Philosophemen von Gilles Deleuze, von ihm selbst erzählt – und auf Deutsch übersprochen von Hanns Zischler: „Abécédaire“ – so der Titel, weil seine Zuhörerin Claire Parnet Deleuze ihm die Stichworte alphabetisch geordnet vorgab – beginnend mit a wie animal („Tier-Werden“) und b wie boisson („Alkohol trinken“).

    Riechelmann schreibt über das deleuzianische „Tier-Werden“: „das heißt [richtig verstanden] an eine Grenze gehen, die Sprache, die Syntax an eine Grenze treiben, und eine dieser Grenzen ist die Grenze zum Tier.“

    Über die Rolle des Alkohols bei Deleuze heißt es – etwas weniger apodiktisch: Für die Überschreitung – „um etwas zu sehen, was andere nicht sehen. Dazu könne der Alkohol ein Türöffner sein.“

  • Über Herbert Marcuse, und sein Verhältnis zur Freudschen Psychoanalyse, fand ich neulich einen interessanten Text von Bernd Nitschke, ein Düsseldorfer Psychoanalytiker, der uns 1974 mit seinem Buch „Die Zerstörung der Sinnlichkeit“ kam – zur richtigen Zeit. Er veröffentlicht heute u.a. im „Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik“, als ich seine Homepage aufschlug, las ich dort als erstes: “ welcome – bienvenue – willkommen – in düsseldorf“. Da kam Freude auf, zumal es noch einen weiteren lustigen Psychoanalytiker gibt – der in Düsseldorf praktiziert. Der Text von Nitschke, den ich hier reinkopieren möchte, heißt „Liebe – Verzicht und Versöhnung. Das Ethos der Entsagung im Werk des Goethe-Preisträgers Sigmund Freud“:

    Goethepreisträger – ist Freud mit diesem Titel zu charakterisieren? Ist sein „schöpferisches Wirken“ zu Recht „mit einer dem Andenken Goethes gewidmeten Ehrung“ in Verbindung zu bringen, wie Alfons Paquet (1930, 545), der Sekretär des Preiskuratoriums meinte, als er den 74jährigen Freud über die bevorstehende Auszeichnung informierte? Gewiß, es gibt Bezüge zwischen Freud und Goethe. Wenn Freud psychoanalytische Erkenntnisse absichern wollte, berief er sich gern auf Goethe als „Kronzeuge“ (Marcuse 1956, 82). Den vielfachen Gebrauch Goethescher Sentenzen im Werk Freuds hat Walter Schönau (1968) aufgezeigt. Er wies jedoch ebenfalls nach, daß Freud die Worte des Dichters – zum Beispiel in der Dankesrede anläßlich der Goethepreisverleihung – bisweilen in einer Weise gebrauchte, die ihrem ursprünglichen Sinn nicht entsprach. Beruht die Ehrung Freuds im Namen Goethes also auf einem Mißverständnis?

    Freuds Überzeugung (II/III, 443), er habe sich nach dem Anhören eines Vortrags über Goethes „schönen Aufsatz Die Natur“ für „das Studium der Naturwissenschaft“ (XIV, 34) entschieden, war jedenfalls ein Mißverständnis. Der ursprüngliche Text, von dem eine revidierte Abschrift aus Goethes Hand vorliegt, stammt nicht von Goethe. Er erschien erstmals anonym um 1780. Später (1892) wurde Georg Christoph Tobler als Verfasser dieses Text bekannt, indem es über die Natur heißt: „Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos und allgewaltig […]. Man reißt ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geheimnis ab, das sie nicht freiwillig gibt“ (zitiert nach Hemecker 1991, 149f.). Der Ton dieses lyrisch-naturphilosophischen Hymnus imponierte Goethe. Doch was hat dieser Hymnus mit Freuds analytischer Rationalität zu tun? Hat Freud nicht versucht, der Trieb-Natur die Geheimnisse abzuzwingen, die sie nicht freiwillig preisgibt?

    Freud erhielt den Goethepreis als Auszeichnung für sprachliche Meisterschaft, für seine Fähigkeit, den „Lemuren Gestalten und Namen zu geben“, die im Dschungel der inneren Natur leben und von Freud ans Tageslicht gebracht wurden. „Dieses Namengeben scheint mir, hat die Menschheit, die Sprache bereichert“, urteilte Alfred Döblin, einer der Preiskuratoren, 1930 (zitiert nach Plänkers 1993, 169). Freud ist zu danken, daß wir vieles von dem, was früher nur zu fühlen und oft genug nur blind in Handlungen auszudrücken war, aus-sprechen und nach-denken können. Seit 1964 verleiht die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt denn auch einen Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.

    Die Versprachlichung des Affekts im Kontext einer dialogisch-therapeutischen Beziehung und die dadurch ermöglichte Vermenschlichung der animalischen Triebnatur, das ist die eine Leistung Freuds, die im Namen Goethes geehrt wurde. Die andere Leistung Freuds, dessen wissenschaftliche Prosa, hatte Arthur Schnitzler anläßlich einer Rezension der deutschen Übersetzung des Buches des französischen Autors Hippolyte Bernheim über „Die Suggestion und ihre Heilwirkung“ (1888/89) lange vor 1930 gewürdigt: „Dr. Freud, der das Buch in ganz mustergiltiger Weise ins Deutsche übertragen, hat sich damit ein besonderes Verdienst für die Sprache erworben, die er auch in einem trefflichen Vorwort persönlich zu vertreten weiß“ (Schnitzler 1889, 215).

    Die Diskussion, die der knappen Entscheidung des Kuratoriums voraus­ging, das Freud den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main zuerkannte – sieben Stimmen für, fünf gegen Freud –, zeigt, daß die Frage, ob Freuds Werk im Namen Goethes zu Recht geehrt werden kann, dennoch berechtigt ist. So hatte der Kurator der Frankfurter Universität, Kurt Riezler, seine Entscheidung gegen Freud ausdrücklich mit dem „prägnant Un-Goethischen, ja Wider-Goethischen“ in Freuds Werken begründet. Bei Freud sei eine „Zentrierung des Menschen vom peinlich Krankhaften her“ erfolgt, die Riezler als der „penetrante Gegensatz“ zu allem erschien, „was der Name Goethe bedeutet“ (zitiert nach Plänkers 1993, 171). Die anderen Repräsentanten der Bildungsinstitutionen, die den Namen Goethe verwalteten, schlossen sich diesem Urteil an: Julius Petersen, Vertreter der Goethe-Gesellschaft; Hans Wahl, Direktor des Weimarer Goethe-Museums; und Ernst Beutler, Vertreter des Freien Deutschen Hochstifts. Petersen und Wahl blieben der Feier aus Protest fern, bei der Anna Freud als Vertreterin ihres krebskranken Vaters die Auszeichnung am 28. August 1930 im Frankfurter Goethe-Haus entgegennahm. Was brachte die Gegner der Preisverleihung an Freud so sehr in Harnisch?

    Ihrem Verständnis von sittlicher Vollkommenheit entsprach das Bild, das sie sich von Goethes Menschenideal gemacht hatten, nicht dem Menschenbild, das Freud konzipiert hatte. Die geistreichen Herren wußten sich mit allen einer Meinung, die wie sie nach dem Sittlich-Vollkommenen strebten, also etwa auch mit jenen Damen, die Ende der zwanziger Jahre als „Menschen, die das natürliche Sittengesetz noch anerkennen“, eine „Protesterklärung katholischer Lehrerinnen“ unterzeichnet und damit „aufs schärfste“ gegen Freuds „Pansexualismus“ protestiert hatten (zitiert nach Meng 1928/29). In diesen Chor der Sittlich-Entrüsteten stimmte auch Egon Friedell ein. Im dritten Band seiner 1931 erschienenen „Kulturgeschichte der Neuzeit“ charakterisierte er Freud als „Seher und Sänger für die Mächte des Dunkels“. Die Psychoanalyse, so fuhr er fort, verkünde „den Anbruch des Satansreichs“. Friedell selbst gab sich als „Kenner der schwarzen Messe“ aus, der wußte, wovon er sprach, als er vor den Satansanbetern warnte, die „als höchste Heiligtümer“ den „Phallus“ und den „Hintern“ des Teufels anbeteten. Freud habe „eine Reli­gion“ gestiftet. „Diese Religion ist heidnischen Charakters: Naturanbetung, Dämonologie, chontischer Tiefenglaube, dionysische Sexualvergötterung […]“ (Friedell, zitiert nach Springer 1994, 70).

    Wer nun glaubt, solch unfreiwillige Selbstentblößung gehöre der Vergangenheit an und sei deshalb in der Gegenwart allenfalls als Anektode zu zitieren, der irrt. Noch in einem 1986 aufgelegten Buch nahm der ZEIT-Autor Dieter E. Zimmer unter dem ebenfalls unfreiwillig komischen, weil doppelsinnigen Titel „Tiefenschwindel“ mit anstandsdamenhafter Entrüstung Anstoß an der Psychoanalyse, respektive an der „Pimmel-Philosophie“ der Psychoanalytiker! Und einige Jahre später machte Der Spiegel (30/1994) eine Titelgeschichte zum Thema „Gaukler oder Heiler – Was kann die Psychotherapie?“ mit dem Bild eines grinsenden Teufels auf, dem eine harmlos dreinblickende Freud-Maske übergestülpt worden war.

    Zurück zu Freud! Er hielt nicht viel von Rousseauisten, die das „Gute“ als Ausdruck der menschlichen Natur bejahen und das „Böse“ als deren Verirrung denunzieren. Hatte Freuds angeblicher „Pansexualismus“ die gesitteten Gemüter schon seit jeher erregt, so ängstigte die in den 1920er Jahren formulierte Theorie Freuds noch mehr, der zufolge es beim Menschen neben einer zeitlebens (zumindest latent) vorhandenen polymorph-perversen Sexualität auch noch einen angeborenen Destruktionstrieb geben sollte. Freud verstand die einfältigen Gemüter, doch er verspottete sie auch – und zwar mit heinescher Ironie: „[…] die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ,Bösen’, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird. Gott hat sie ja zum Ebenbilde seiner eigenen Vollkommenheit geschaffen […]. Der Teufel wäre zur Entschuldigung Gottes die beste Auskunft […]. Aber […] man kann doch von Gott ebensowohl Rechenschaft für die Existenz des Teufels verlangen, wie für die des Bösen, das er verkörpert. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es für jedermann ratsam, an geeigneter Stelle eine tiefe Verbeugung vor der tief sittlichen Natur des Menschen zu machen […] (Freud 1930 a, 479f.)

    Freud zitiert an dieser Stelle (XIV, 480, Anm. 1) nun aber nicht Heine, der das Himmlisch-Ideale den Spatzen, den Göttern und den Philistern überlassen wollte, vielmehr Goethe, der die „böse“ Seite der Natur durch Mephistopheles bejahen ließ: „So ist denn alles, was Ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt, Mein eigentliches Element.“ Freud entnimmt Goethes Faust auch eine Wegbeschreibung: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“. Er zitiert diesen Passus aus dem Faust – „Vorspiel auf dem Theater“ – in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, wenn er davon spricht, „das Höchste und das Niedrigste“ sei­en in der Sexualität „überall“ miteinander verbunden. Ja, so fährt Freud fort, „die Allgewalt der Liebe“ erweise sich ihren „Verirrun­gen“ (V, 61), in den sogenannten Perversionen, am deutlichsten. „Das Höchste und das Tiefste: […] Hymne und […] Schweinstall“ – „Liebe verbindet alles“, heißt es dazu in einem Brief Goethes an Frau von Stein (vgl. Nitzschke 1982, 67).

    Goethe hat die Themen ‚Scheitern am Begehren’ und ‚Erlösung vom Begehren durch Verzicht’ vielfach variiert. Ich nenne einige Beispiele: Im Werther reagiert der unglückliche Held auf den ihm zugemuteten Ver­zicht mit Verzweiflung und Selbstmord. In zwei der Haupthandlung beigegebenen Skizzen werden Mord und Wahnsinn als weitere Möglichkeiten des Scheiterns am unerfüllten Begehren dargestellt. In den Wahlverwandtschaften entzieht sich Charlotte den Wirrnissen der „erotischen Chemie“, indem sie schließlich sowohl auf den Ehemann wie auf den Geliebten verzichtet. Dieser freiwillige Verzicht gilt als Zeichen ihrer Tugend. Im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, der den Untertitel „Die Entsagenden“ trägt, begegnet der Held in der „Turmgesellschaft“ Menschen, die Maß und Begrenzung als höchste Ziele preisen. Und „in seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der Iphigenie“ (Freud 1930 b, 548), zeigt Goethe, daß der Zyklus immer neuer Schuld nur zu beenden ist, wenn der Wiederholungszwang gebrochen, auf Rache verzichtet werden kann. Und schließlich legt im Faust Gretchen einen Weg zurück, auf dem sie von der Verfehlung zur Entsühnung und zur Versöhnung gelangt – und dieser Weg führt von der sinnlich-irdischen zur himmlisch-reinen Liebe. Goethe redet dem Ethos der Entsagung in seinen Werken also immer wieder das Wort. Doch Freud? War und ist er nicht dafür bekannt, ja berüchtigt, das genaue Gegenteil, die Entfesselung der Triebwünsche, also das „prägnant Un-Goethische, ja Wider-Goethische“ propagiert zu haben, wie Riezler es ausgedrückt hat, weshalb er die Ehrung Freuds im Namen Goethes 1930 so entschieden ablehnen mußte?

    2

    „Sexuelle Revolution“ oder Ethos der Entsagung

    Freuds Standpunkt

    Die Kronzeugen der Revolteure von 1968 hießen Karl Marx und Sigmund Freud. Oder etwa nicht? Einer, der es wissen muß, der vormalige SDS-Theoretiker Reimut Reiche, der den Nagel mit Hammer und Sichel auf den Kopf getroffen hatte, als er 1968 sein Buch Sexualität und Klas­senkampf. Zur Abwehr repressiver Entsublimierung vorlegte, erinnerte sich zwanzig Jahre später so: „Es gab ein Ideal, einen ,Anspruch’, den ‚ganzen Marx’ […] zum Fluchtpunkt und Korrektiv unseres Denkens und Handelns zu nehmen. Einen vergleichbaren Anspruch durfte Freud bei uns natürlich niemals reklamieren. Die Psychoanalyse wurde eher über Herbert Marcuse und Wilhelm Reich ,rezipiert’, als daß Freud selbst studiert worden wäre. Der Psychoanalyse wurde niemals die Ehre zuteil, sie gleichsam werkgetreu, in ihrem historischen, klinischen und methodischen Entstehungszusammenhang verstehen zu wollen (Reiche 1988, 49).

    Beide – Wilhelm Reich und Herbert Marcuse – beriefen sich auf Freud, beziehungsweise auf das, was sie dessen Denkgebäude entnommen hatten: Anleitungen zur sexuellen (Selbst-) Befreiung, die von den „antiautoritären“ 68ern zum utopischen Projekt, genannt „sexuelle Revolution“, verdichtet wurden. Wilhelm Reich, Psychoanalytiker und KP-Mitglied, der 1933/34 aus den psychoanalytischen wie aus den kommunistischen Organisationen ausgeschlossen worden ist (vgl. Nitzschke 1997), hatte den Begriff „sexuelle Revolution“ geprägt. Eines seiner Bücher, das 1930 unter dem Titel Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral. Kritik der bürgerlichen Se­xualreform erschienen und 1936 unter dem Titel Die Sexualität im Kulturkampf (ein schöner Gleichklang mit Reiches Titel Sexualität und Klassenkampf!) erneut aufgelegt worden war, hatte anläßlich der (veränderten) amerikanischen Neuauflage 1945 noch einmal einen neuen Titel erhalten: The Sexual Revolution. 1966 erschien es in deutscher Rück-Übersetzung unter dem Titel Die sexuelle Revolution (im folgenden zitiere ich nach der deutschen Ausgabe von 1966). Damit war eine Kapitelüberschrift, die sich in früheren Ausgaben des Buches auf die libertäre Sexualpolitik in der Sowjetunion Anfang der zwanziger Jahre bezogen hatte, zum neuen Haupttitel des Buches geworden. Reichs Hoffnung einer Befreiung des Sexuellen durch die Russische Revolution war im real existierenden Stalinismus untergegangen; also wurde die Utopie nun neu formuliert und für die künftige (sexuelle) Revolution in den westlichen Industriestaaten reklamiert.

    Anders als die Kritiker, die gegen Freud den Vorwurf des „Pansexualismus“ erhoben hatten, wußte Reich nun allerdings, daß Freud nicht nur in seinem eigenen (sehr bürgerlichen) Leben, sondern auch in seiner Theorie und (therapeutischen) Praxis ein eher asketisch-spartanisches Programm befolgte. Reich kritisierte denn auch den „kulturphilosophischen Standpunkt“ Freuds, demzufolge „die Kultur ihr Entstehen der Triebunterdrückung bzw. dem Triebverzicht“ (Reich 1966, 39) verdanke sollte. Dieser Freudschen Auffassung setzte Reich die Überzeugung entgegen, jede Art des Verzichts auf Ausleben „natürlicher“ sexueller Bedürfnisse sei unnötig, ja schädlich. Seien die gesellschaftlichen Voraussetzungen erst einmal vorhanden, werde die Befreiung des Sexuellen nicht mehr lange auf sich warten lassen. In einer „Arbeitsdemokratie“ sei die kulturelle Zwangsmoral, die solange gebraucht werde, wie es die – nach Reichs Auffassung – sekundären, durch Triebunterdrückung und Triebverzicht entstandenen „perversen“ Triebwünsche gebe, nicht mehr nötig. Denn die eine Seite falle mit der anderen: an die Stelle zwangsmoralischer Beherrschung pervers verzerrter Triebbedürfnisse trete dann die (be-)freie Sexualität – die „natürliche“ Selbststeuerung „natürlicher“ Triebe.

    So weit, so schön. Aber es kann schon vor der Zeit des großen gesellschaftlichen Umbruchs so schön kommen, und zwar dann, wenn die Utopie im konkreten Einzelfall realisiert wird, in der therapeutischen Praxis nämlich. Zu diesem Zweck hat Reich eine Therapiekonzeption erarbeitet, die der Freuds in zentralen Punkten widerspricht. Bei Freud sollte der Patient vor allem lernen, wie der – nach Meinung Freuds für das Zusammenleben von Menschen notwendige – Triebverzicht auf nicht-neurotische Art zu bewältigen wäre. Reich versprach seinen neurotisch gehemmten und (oder) unfrei-„pervers“ agierenden Patienten hingegen, er könne sie wieder in „orgastisch potente“ Wesen zurückzuverwandeln, die sie ja schon einmal, als Kinder nämlich, vor dem Einbruch der Zwangsmoral gewesen sei­en. Reichs diesbezüglicher Optimismus war grenzenlos. Nach einer erfolgreichen Therapie werde, so behauptete er, „der frü­her unerläßliche Mechanismus der Selbstbeherrschung“ nicht mehr nötig sein. Denn dann gibt es „[…] wenig mehr, das beherrscht werden müßte. Der Gesunde hat praktisch keine Moral mehr in sich, aber auch keine Impulse, die eine moralische Hemmung erfordern würden […]. Käuflicher Geschlechtsverkehr wird eine Unmöglichkeit; vorhandene Lustmordphantasien verlieren ihre Kraft und Bedeutung. Einen Partner zur Liebe zu zwingen oder zu vergewaltigen, wird fremd und unausdenkbar. Ebenso früher etwa vorhanden gewesene Impulse Kinder zu verführen. Anale, exhibitionistische und andere Perversionen weichen regelmäßig vollkommen, dadurch weichen auch die sozialen Angst und Schuldgefühle. Die inzestuöse Bindung an Eltern und Geschwister verliert an Interesse […]“ (Reich 1966, 35).

    So schön kann das Leben sein! Es muß also nicht so düster sein, wie Freud es sah. Wenn Freud die „Natur“ des Menschen zur Hälfte als grausam, böse, aggressiv und in Hinsicht auf „pervers“-sexuelles Begehren als schwer bezähmbar einschätzte, so bleibt die „Natur“ des Menschen, die Reich imaginierte, als Ganzes gut, solange man sie der „natürlichen Selbststeuerung“ überläßt. Helmut Dahmer hat Reich wegen dieser Auffassung als „wahren Sozialisten“ bezeichnet. Er hat ihn damit jenen Schwarmgeistern zugerechnet, deren idyllische Gesellschaftsentwürfe Marx und Engels als „deutsche Ideologie“ so kritisiert hatten: „Der wahre Sozialist geht von dem Gedanken aus, daß der Zwiespalt von Leben und Glück aufhören müsse. Um für diesen Satz einen Beweis zu finden, nimmt er die Natur zu Hülfe und unterstellt, daß in ihr dieser Zwiespalt nicht existiere, und hieraus schließt er, daß, da der Mensch ebenfalls ein Naturkörper sei und die allgemeinen Eigenschaften des Körpers besitze, für ihn dieser Zwiespalt ebenfalls nicht existieren dürfe. Mit viel größerem Rechte konnte Hobbes sein bellum omnium contra omnes aus der Natur beweisen […]“ (1845/46, 460).

    In seinem Buch Eros and Civilisation (das im folgenden nach der deutschen Ausgabe von 1971 zitiert wird) hat Herbert Marcuse die „Freisetzung von Sexualität“ im Sinne Reichs einen „verallgemeinernden Primitivismus“ (1971, 235) genannt. Er hat dem Entwurf Reichs eine eigene Utopie entgegengesetzt, die – anders als die Reichsche – nicht auf Reinszenierung einer angeblich repressionsfreien Urgesellschaft abzielt, sondern auf eine künftige Gesellschaft, die sich von den Zwängen der Natur soweit emanzipiert hat, daß es auf dem Höhepunkt der zivilisatorischen Möglichkei­ten nun endlich doch noch zu einer Versöhnung des Menschen mit einer (Trieb-)Natur kommen kann. Anders als Reich, der in den sexuellen Perversionen die Abirrung vom „natürlich“ Gewollten erkannte und glaubte, diese Abirrungen verschwänden in einer nicht-repressiven Gesellschaft, glaubte Marcuse an die Möglichkeit des spielerischen Auslebens und ästhetischen Genus­ses des „perversen“ Sexus. So, als habe er nie bei de Sade gelesen, welch harte „Arbeit“ und welche zweckrationale Vernunft nötig sind, um ein perverses Ritual in Szene zu setzen, weil Nähe ohne die Anstrengung der peinlichen Beachtung subtiler Distanzvorschriften nicht zu genießen ist; so, als habe er nie vom Zwang und der Sucht gehört, die das perverse Ritual beherrschen, und zwar Wollust, aber weder die Freiheit noch Glück zulassen; so als wisse er von all dem nichts – verherrlicht Marcuse die Perversionen als Ausdruck „von Freiheit und Glück“ (1971, 54). Mit Freud unterstreicht Marcuse dann aber wieder die Sprengkraft der Perversionen. Deren allgemeinstes Ziel umschreibt er als „Suche nach endgültiger und integraler Erfüllung“, bei der der Sexus „vom Lustprinzip zum Nirawanaprinzip“ regrediere (1971, 55), eine Gefahr, die – wie Marcuse meint – von der Kultur erkannt worden sei, weshalb Perversionen in der repressiven Gesellschaft verpönt seien. In einer vom Arbeitszwang befreiten Gesellschaft könnten sie hingegen als selbständige Ausdrucksformen anerkannt und ausgelebt werden.

    Heute lassen sich diese zu Beginn der 1950er Jahre von Marcuse formulierten Thesen nicht mehr als Vision einer utopisch freien Gesellschaft mißverstehen; vielmehr lassen sie sich als Vorwegnahme einer den Zerfall des bürgerlichen Subjekts trotzig bejahenden „postmodernen“ Ideologie erkennen. Marcuse hat denn auch als einer der ersten die Rede vom Geschlecht gehalten, das nicht „eins“ ist. Er hat die „postmoderne“ Theorie vom Wechsel der Identitäten, der Fluktuation der Geschlechterrollen und dem Zerfall des Genitalprimats vorformuliert. Anders als viele seiner Zeitgenossen – anders vor allem als Adorno und Horkheimer – hat er den gesellschaftlichen Wandel nicht kulturpessimistisch kommentiert, sondern als Chance für eine neue – „individualisierte“ – Freiheit akzeptiert. Am Ende war er, anders als er von sich selbst glaubte, kein marxistisch-freudianisch argumentierender Gesellschaftskritiker, sondern der Prophet der Möglichkeiten, die das kapitalistische System im Zeitalter der „Globalisierung“ jenen bietet, die ihre Frei-Zeit „postmodern“ genießen können.

    Wenn „die vorherrschende historische Form des Realitätsprinzips“ – die Marcuse „Leistungsprinzip“ (1971, 40) nennt – erst einmal verschwunden sei, werde sich auch das Sexuell-Perverse von den Fesseln befreien, in denen es gefangen lag, solange die purita­nische Arbeitsmoral des traditionellen Kapitalismus nicht nur die Welt der Produktion, sondern auch die der Begierden behrrschte. Wenn das Realitätsprinzip „nicht (mehr) die Arbeit beherrscht“, dann habe es „nichts (mehr) in der Realität zu beherrschen“ – meint Marcuse (1971, 216). Es ist erstaunlich, wie sehr ein Philosoph, der sich ausdrück­lich auf Freud beruft – Marcuse gibt seiner Abhandlung den Untertitel „Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud“ –, die psychoanalytische Begrifflichkeit mißverstehen kann! Laut Freud hat das Realitätsprinzip nämlich keine historische Form. Vielmehr ist von einem „Prinzip“ die Rede, das unter allen historischen Bedingungen gleich bleibt, wenn es auch von Fall zu Fall – im glücklichen wie im un­glücklichen Fall – außer Kraft gesetzt werden (d. h. dem Lustprinzip weichen) kann.

    Das Realitätsprinzip dient unter allen historischen Bedingungen der Selbsterhaltung. Das Individuum lernt, die unmittelbare Erfüllung seiner Wünsche zurückzustellen und all jene Formen des Lustgewinns aufzuschieben, zu modifizieren oder aufzugeben, durch die es seine vitalen Bedürfnisse, seine körperliche Integrität oder seinen Selbstwert gefährdet sieht. Es lernt also, die Unlust in Kauf zu nehmen, die der Sicherung seiner existentiellen (auch seiner narzißtischen) Interessen dient. Von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden, also historisch wandelbar, sind die Verbote oder Einschränkungen, die den Triebwünschen gelten, sowie die Formen, in denen diese Wünsche zum Ausdruck gebracht werden können. Nach dem Lustprinzip in dem von Freud gemeinten Sinn – also im Sinne spontaner Triebbefriedi­gung oder Wunscherfüllung, im Sinne unmittelbarer Abfuhr des hier und jetzt auftretenden Affekts – kann unter keinen historischen Bedingungen gelebt werden. Und da die narzißtische Kränkung oder die Bedrohung des Selbstwertgefühls in der Beziehung des Menschen zu Menschen auftritt, wird es auch in einer „idealen“ Gesellschaft genügend Anlässe für das Bemühen geben, die Sicherung des narzißtischen Gleichgewichts (der psychophysischen „Stabilität“, um mit Fechner zu reden) unter Beachtung des Rea­litätsprinzips aufrechtzuerhalten.

    Ein Beispiel, das Marcuse anführt, zeigt, worum es beim Realitätsprinzip geht, auch wenn Marcuse meint, gerade dieses Beispiel eigne sich nicht als Beleg für die These, daß das Realitätsprinzip unter allen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen Gültigkeit besitzt: „Wenn ein Kind das Bedürfnis empfindet, jederzeit beliebig über die Straße zu laufen, so wäre die Unterdrückung dieses Bedürfnisses keine Unterdrückung menschlicher Möglichkeiten“ (1971, 221). Das Beispiel zeigt jedoch gerade, daß Triebkontrolle lebensnotwendig ist, das Kind den Fortschritt vom Lust- zum Realitätsprinzip also lernen muß. Im genannten Beispiel geht es um den Wunsch des Kindes, spontanen Bewegungsimpulsen in dem Augenblick, in dem sie auftreten, freien Lauf zu lassen. Dieser Wunsch muß eingeschränkt, der Impuls muß kontrolliert werden. Soweit das Kind hierzu in der Lage ist und zur vernünftigen Beurteilung der Situation und der Möglichkeiten kommt, die es in dieser Situation hat (um nicht vom Auto überfahren zu werden, wenn es über die Straße läuft), reguliert es seine Wünsche (beziehungsweise deren Erfüllung) nach dem Realitätsprinzip.

    Dem spontanen Ausleben unserer Triebimpulse sind nicht nur in diesem Fall Grenzen gesetzt. Die Grenzen der Wunscherfüllung werden durch die Umwelt, die Gesellschaft, durch Gewissen (Moral, Scham und Ekel) – vor allem aber durch den Wunsch des anderen gesetzt. Nur in seltenen Fällen können wir die „Identität von Freiheit und Glück“ erleben, von der Marcuse spricht – und zwar deshalb, weil unser Wunsch nur in seltenen Fällen mit dem Wunsch des anderen, der un­seren Wunsch erfüllen soll, identisch ist. Und auch dessen Wünsche an uns sind nicht immer mit unserem Wunsch identisch, die Wünsche des anderen zu erfüllen.

    Nur dann aber, wenn die Grenzen aufgehoben sind – können wir grenzenlos glücklich sein. Nur dann dürfen wir für einen kurzen „unhistorischen Augenblick“ (Nietzsche) vergessen, daß wir in der Kultur, also mit anderen Menschen zusammenleben, die wir für unsere Wunscherfüllung notwendig brauchen (vgl. Nitzschke 1991). „Das Unbehagen in der Kultur“ (Freud 1930a) entzündet sich ja gerade daran, daß wir an einem Ort jenseits von Eden leben, an dem die Erfüllung unserer Wünsche nicht ohne weiteres mit der Erfüllung der Wünsche des anderen identisch ist. Zu dieser Kultur gehört eine „,kulturelle’ Sexualmoral“ (Freud 1908), die sich historisch bedingt ändern mag, jedoch niemals – es sei denn für einen kurzen „unhistorischen Augenblick“ – gänzlich aufgehoben werden kann, solange Sexualität in Gemeinschaft mit anderen Menschen gelebt wird, also Rücksicht auf deren Wünsche zu nehmen ist. Hieran entzündet sich die – im Unbewußten niemals endende – Rebellion gegen die „Kultur“, die der Zwang zum Zusammenleben mit anderen Menschen auslöst. Dieser lebenslängliche Protest ist wiederum Ausdruck unseres eigen­sinnigen Beharrens auf ursprünglicher Wunscherfüllung nach den Re­geln des Paradieses oder der Utopie, also nach dem Lustprinzip.

    Freud war Realist. Das heißt, er war, „anders als Reich, Marcuse und einige französische Ideologen des Begehrens“, nicht davon überzeugt, daß „der freie Ausdruck unserer Wünsche und Triebe zu universellem Glück führen könnte“. Im Gegenteil. Für den – hypothetischen oder utopischen – Fall, wir könnten unseren Wünschen freien Lauf lassen, hielt Freud den „universellen Mord“ für das wahrscheinlichere Ereignis als das universelle Glück (Costoriadis 1996, 907). Freuds Menschenbild und Kulturtheorie haben also einen gemeinsamen Bezugspunkt: Es ist dies die Überzeugung, daß sich ein Mensch, der seine Triebwünsche jederzeit nach dem Lustprinzip regulieren wollte, „im Hader mit der ganzen Welt“, insbesondere aber im Konflikt mit allen anderen Menschen befinden würde. Ein Leben nach dem Lustprinzip ist „daher überhaupt nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihm; man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten. Was man im strengsten Sinne Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung […] und ist seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich“ (Freud 1930a, 434).

    3

    Liebe – Verzicht und Versöhnung

    Den Begriff „Lustprinzip“ übernahm Freud vermutlich von Gustav Theodor Fechner (vgl. Nitzschke 1989). Fechner, Begründer der Psychophysik, war Naturwissenschaftler, aber auch Metaphysiker. Und als solcher war er – im Gegensatz zu Freud, dem der Konflikt als Prinzip allen Lebens galt – von der grundsätzlichen Harmonie der Schöpfung und deshalb auch davon überzeugt, daß Lust und sittliche Liebe einan­der nicht ausschließen müssen, vielmehr identisch seien: „In der That ist es eigentlich nur im Streit, ob es richtiger ist, Liebe zu etwas oder Lust zu etwas zu sagen“, heißt es in Fechners Abhandlung „Ueber das Lustprinzip des Handelns“ (1848, 12).

    Für Freud sind Lust und Liebe schwer miteinander vereinbar. Liebe gilt ihm als Derivat zielgehemmter Lust, und die Fähigkeit zur dauerhaften Bindung setzt seiner Ansicht nach weitgehenden Verzicht voraus. Betroffen von diesem Verzicht sind nicht nur Inhalte, vielmehr auch die archaischen Formen der Befriedigung sexueller und aggressiver Triebwünsche. Dennoch spricht Freud – seinem Selbstverständnis gemäß – weder als Metaphysiker noch als Moralist, wenn er von der Notwendigkeit des Triebverzichts oder der Modifikation der Formen der Triebbefriedigung, vom Realitätsprinzip also, spricht. Freud, der das Ethos der Entsagung bejaht und als Naturwissenschaftler das Prinzip beschreibt, das menschliches Zusammenleben ermöglicht und auf Dauer sichert, trägt als Moralist sozusagen einen (natur)-wissenschaftlichen Talar.

    In diesem Zusammenhang ist auch Freuds Auseinandersetzung mit „einer der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft“ interessant, die „gewiß älter als das Christentum“ (Freud 1930a, 468), nämlich jüdisch-alttestamentarischen Ursprungs ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst / Denn ich bin der HERR“ (3 Moses 19, Vers 18). Freud fragt, seinem Selbstverständnis zufolge, wiederum nicht als Moralist, vielmehr als Forscher nach: Wie soll mir das gelingen – den anderen so zu lieben wie mich selbst? „Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgend eine Art verdienen […]. Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben […]. Wenn ich näher zusehe, finde ich noch mehr Schwierigkeiten. Dieser Fremde ist nicht nur im allgemeinen nicht liebenswert, ich muß ehrlich bekennen, er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Haß […]. Wenn es ihm Nutzen bringt, hat er kein Bedenken, mich zu schädigen […]. Ja, er braucht nicht einmal einen Nutzen davon zu haben; wenn er nur irgend eine Lust damit befriedigen kann, macht er sich nichts daraus, mich zu verspotten, zu beleidigen, zu verleumden, seine Macht an mir zu zeigen, und je sicherer er sich fühlt, je hilfloser ich bin, desto sicherer darf ich dies Benehmen gegen mich von ihm erwarten […] ja, wenn jenes großartige Gebot lauten würde: Liebe deinen Nächsten wie dein Nächster dich liebt, dann würde ich nicht widersprechen […]. Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn ange­griffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus, wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (Freud 1930a, 468ff.).

    Wilhelm Reich und Herbert Marcuse hatten diesen Mut. Freud besaß ihn nicht. Ihn zeichnete eine andere Art Mut aus. Er wollte vor der sexuellen und aggressiven Triebnatur des Menschen nicht fromm die Augen verschließen. Also suchte er nach Möglichkeiten für einen vernünftigen Umgang mit der Triebnatur. Wo Es war, soll Ich werden. Dieser oft zitierte Satz, der Freuds therapeutisches Programm charakterisiert, benennt die Möglichkeit, an die Freud dachte: An die Stelle animalischer Befriedi­gungsformen sollen Formen modifizierter Wunscherfüllung treten.

    Und so wird auch verständlich, warum Freud die von ihm konzipierte Therapie als Nacherziehung bezeichnen konnte. Nachträglich erreicht werden soll, was anhaltende neurotische Konflikte und unbewältigte Traumata verhindert haben: Triebkontrolle. An die Stelle neurotischer Triebhemmung oder antisozialer Triebenthemmung sollen Möglichkeiten der Triebbefriedigung treten, die selbst- und fremdschädigendes Verhalten ausschließen. Mit anderen Worten: Ein­sicht in die Notwendigkeit des Triebverzichts und die Fähigkeit, diesen Verzicht psychisch so zu bewältigen, daß keine psychopathologischen Formen des Ressentiments zurückbleiben – auch so ließe sich Freuds Therapieziel umschreiben. Kein Wunder, wenn Freud den Vorwurf ka­tholischer Betschwestern, verklemmter Kulturpäpste oder journalisti­scher Radaubrüder, er habe das ungehemmte Ausleben der Triebwün­sche propagiert, wiederholt scharf zurückgewiesen hat. Zum Beispiel so: „Ein böses und nur durch Unkenntnis gerechtfertigtes Mißverständnis ist es, wenn man meint, die Psychoanalyse erwarte die Heilung neurotischer Be­schwerden vom ‚freien Ausleben’ der Sexualität. Das Bewußtmachen der verdrängten Sexualgelüste in der Analyse ermöglicht vielmehr eine Beherrschung derselben, die durch die vorgängige Verdrängung nicht zu erreichen war“ (Freud 1923, 227).

    Man darf Freud wohl in die Reihe der Erzieher des Menschengeschlechts einordnen. Obgleich er überzeugter Atheist war, identifizierte er sich mit einem Religionsstifter – mit dem Mann Moses (vgl. Nitzschke 1996). Freud begrüßte den geistig-sittlichen Fortschritt, den der jüdische Monotheismus mit sich gebracht habe. Das „Mythische, Magische und Zauberische“ (Freud 1937-39, 122), das die vormonotheistischen Religionen verehrten, die Rituale der Triebvergötterung – die sexuelle Orgie und den Opfermord – praktizierten, sei dadurch gebannt worden.

    Doch wie jede andere, so kritisierte Freud auch die jüdische Religion. Da Religionen Triebkontrolle als Erfüllung eines göttlichen Gebots und nicht als Konsequenz vernünftiger Einsicht in die Notwendigkeit aus­weisen, behindern sie die Emanzipation, blockieren sie die vernünftige Selbststeuerung des Menschen. Erst die Ersetzung Gottes durch Vernunft und die Emanzipation des Ichs von einem grausam strengen Über-Ich vollenden das Projekt der Freudschen Aufklärung!

    Noch ein Nachsatz: Unlängst stritten sich zwei professionelle Freudianer, also zwei Psychoanalytiker. Der eine meinte, der Begriff „Versöhnen“ sei ein „eminent wichtiger Begriff“ für die psychoanalytische „Konfliktpsychologie“ (Ruff, Winkler 1990, 11). Der andere behauptete hingegen, dieser Begriff eigne sich überhaupt nicht für die „Freudsche Konzeption eines verhaltenskonstitutiven Konfliktgeschehens“, „es sei denn, wir haben ihn reflektiert und unmißverständlich gemacht“ (Ruff, Winkler 1990, 17). Ich hoffe, ich habe Freuds Konzept der Versöhnung verständlich machen können? Dieses Konzept verleugnet die prinzipielle Diskrepanz zwischen dem Wunsch und seiner Befriedigung nicht und zeigt die Konflikte, die aus dieser Diskrepanz resultieren, aber auch die Möglichkeiten ihrer Bewältigung auf. Mit anderen, mit Freuds Worten ausgedrückt: „Jede psychoanalytische Behandlung ist ein Versuch, verdrängte Liebe zu befreien“ (1907, 118). Wohl gemerkt: Liebe – nicht Lust!

    Der Kulturmensch soll sein animalisches, prähistorisches, infantiles Triebrepertoire, das Fremde, im Verlauf des Zivilisations- und Sozialisationsprozesses Fremd-Gewordene, als Eigenes wiedererkennen – um es dann mit Hilfe vernünftiger Einsicht erneut hinter Grenzen zu verbannen. Ist das nicht paradox? Anstatt die fremdgewordene Triebnatur am anderen wiederzuerkennen und sie an anderen stellvertretend zu verfolgen und zu vernichten, soll sie als eigene erkannt und pazifiziert werden: Diese Formulierung klingt schon etwas weniger paradox.

    Literatur

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    Zimmer, D. E. (1986): Tiefenschwindel. Reinbek (Rowohlt).

    Der Text ist erstmals in dem von Hans-Georg Pott herausgegebenen Band „Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen“, Fink Verlag, München 1997, 139-153, unter dem Titel Liebe – Verzicht und Versöhnung Das Ethos der Entsagung im Werk des Goethepreisträgers Sigmund Freud erschienen. Er wurde vorstehend leicht überarbeitet.

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