vonHelmut Höge 29.12.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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De oole düvel kummt mi nich mehr int huus, det sej ig di.

1.

Ein Lehrstück über politische Ökologie an der friesischen Küste. Das Stück wird immer noch gespielt, man kann es sich ansehen. Das wollten wir auch. – Und fuhren bei grauem Wetter am grauen Meer entlang – durch den „Nationalpark Wattenmeer“ in Nordfriesland. Lange Zeit wurde hier ein Kampf zwischen Ökonomie und Ökologie ausgefochten. Die Bauern und das von ihnen einst durch Eindeichung geschaffene Ackerland auf der einen Seite, auf der anderen Ringelgänse bzw. ihre Sprecher: Biologen und Umweltschützer. „Die Grünen sind schlimmer als die Gutsherren einst,“ so sagte es 2001 ein friesischer Bauer. Während das „Bundesamt für Naturschutz“ stolz bekannt gibt, dass sich die Ringelgänse in den „Schutzgebieten“ bereits auf eine andere Nahrung umgestellt haben: „Sie nutzen die landwirtschaftlichen Kulturen im Küstenbereich sowie die Salzwiesen und haben dadurch im Winterquartier und auf dem energiezehrenden Heimzug in die Brutreviere eine bessere Ernährungsgrundlage“.

Die Ringelgänse machen hier im Watt bloß Zwischenstation auf ihrem Flug von der französischen Atlantikküste nach Sibirien – und zurück. Wir sahen sie aber nicht, so sehr wir nach ihnen Ausschau hielten. Wir hätten im Mai kommen sollen. Da werden auf der Hallig Hooge, wo sich allein 20.000 Gänse zu dem Zeitpunkt aufhalten, die „Ringelgangstage“ veranstaltet, und die „Goldene Ringelgansfeder“ an Menschen verliehen, „die sich besonders um den Nationalpark verdient gemacht haben,“ wie wir im Info-Pavillon erfahren.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen Kultur und Natur – Bauern und Biologen – schaltete man einen Ethnologen ein: Werner Krauss. Er war kein neutraler Beobachter, versuchte den Dingen, die da verhandelt wurden, jedoch mit der Akteur-Netzwerk-Theorie zu kommen. In seinem Bericht „Die ‚Goldene Ringelgansfeder'“ schreibt er: Der jahrzehntelange „Kampf hat Wunden hinterlassen, aber er hat sich auch gelohnt“. Dazu zitiert er einen der Biologen: „Als die Bauern die Ringelgänse noch bejagten und zu vertreiben versuchten, hatten sie eine wesentlich höhere Fluchtdistanz.“

Heute wird das verbliebene Kulturland vom renaturalisierten Land durch eine weiß-rote Schranke abgetrennt: „In dieser Schranke steckt die ganze Vermittlungsarbeit“. Sie trennt Gänse von Bauern. Die Vögel haben nun einen Rastplatz, die Bauern bekommen für den „Wildschaden“ eine Kompensation von der EU, dazu gehört ein spezielles „Hallig-Entschädigungsprogramm“ – und „verbilligte Karten für die Schranke“. Der „Ringelgansschutz ist laut Krauss eine „Erfolgsstory des Naturschutzes.“ Ihr Bestand ist auf 280.000 angewachsen. Es wurde mit den Staaten auf ihrer Zugroute ein „Ringelgansmanagementplan“ verabschiedet.

Der holländische Agrarforscher  Frank Westerman beobachtete die Dinge von der anderen Seite aus – er sieht diesen zivilisatorischen Rückbau sehr viel pessimistischer. Seine Recherchen unternahm  er am Wattenmeer des Dollart zwischen West- und Ostfriesland, wo es nicht um den Lebensraum von Ringelgänsen, sondern von Säbelschnäblern ging. Während der „Watten-Rat“ auf deutscher Seite jubelt:  „Bis 2002 erreichte der Vogel in diesem Gebiet ‚internationale Bedeutung'“, schreibt Frank Westerman:  „Ende der Neunzigerjahre lagen hier Tausende von Hektar brach: Der Getreideanbau lag in den letzten Zügen und schien ein willenloses Opfer der Landschaftsplaner mit ihren Riesenbudgets.“ Die Verwaltung des „Naturschutzgebietes“ in der ostgroninger Region Oldambt ließ das Land „vogelfreundlich“ anlegen und errichtete für die Menschen „Vogelbeobachtungspunkte“. Westerman schreibt: „Vom Deich aus sah ich  Hunderte von Säbelschnäblerpaaren mit ihren Jungen am Ufer des Wattenpriels herumlaufen, dort, wo in den Achtziger Jahren noch Raps gestanden hatte.“

Auch das wollten wir uns ankucken, aber wieder kamen wir anscheinend zu spät. Die Säbelschnäbler sind Strichvögel, wegen des plötzlichen kalten Wetters waren sie vielleicht weiter nach Holland hoch gezogen. Auch der Dollart sah im übrigen so grau wie der Himmel und das „graue Meer“ bei Husum aus. Da wir aber schon mal in Westfriesland waren, fuhren wir noch landeinwärts: Gleich hinter Leeuwarden befindet sich ein Dorf namens „Jorwerd“, an dem der holländische Autor Geert Mak den „Untergang des Dorfes in Europa“ festgemacht hat. Um die Jahrhundertwende wohnten ungefähr 650 Leute in Jorwerd, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es noch 420, 1995 nur noch 330, wobei die meisten in der Stadt arbeiteten. 1956 schloß das Postamt, 1959 gab der letzte Schuster auf, der Hafen wurde zugeschüttet, die Bäckerei schloß 1970, zwei Jahre später wurde die Buslinie stillgelegt, 1974 gab der letzte Binnenschiffer auf, der Fleischer schloß seinen Laden 1975, der Schmied gab 1986 auf und 1988 machte der letzte Lebensmittelladen dicht, 1994 wurde schließlich die Kirche einer Stiftung für Denkmalschutz übergeben.

Als wir dort ankamen, hatte nicht einmal mehr die Dorfkneipe „Het Wapen van Baarderadeel“ geöffnet. Geert Mak meint: „Mit der Landwirtschaft war die Stabilität nicht nur aus der dörflichen Wirtschaft, sondern aus dem gesamten sozialen Leben des Dorfes gewichen“. Und die Landwirtschaft habe man sukzessive mit den EU-Subventionen zur Förderung konkurrenzfähiger Agrarbetriebe aus den Dörfern vertrieben. Dafür wurden „Naturpläne“ aufgestellt: „Manche Grundstücke wurden zu Biosphärenreservaten erklärt – und der Bauer erhielt eine Kompensation“. Es wurden sogar Planierraupen eingesetzt, um den fruchtbaren Ackerboden zu entfernen und das Terrain wieder künstlich karg zu machen. Dazu  wurde „ein Projekt nach dem anderen konzipiert – ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander“. Feriendörfer, Yachthäfen, Transrapid – es wimmelte von Masterplänen. So wurde Jorwerd zu einem Global Village.

Wir kehrten um und fuhren zurück nach Osten – an den Dollart: Die Säbelschnäbler waren noch immer nicht zu sehen. Es kam Nebel auf. Frank Westerman hatte sich auf drei Dörfer im Oldambt konzentriert – dem einstigen „Getreideparadies“, in dem es früher viele Landarbeiter gab und in dem noch 1994 über 50% der Wähler für die Kommunisten stimmten. Man nennt diese ostgroninger Region deswegen „das rote Dreieck“. Von hier stammte auch der einstige Herrenbauer und Sozialist Sicco Mansholt – der erste und wichtigste Landwirtschaftskomissar der EU, damals noch EWG genannt. Der „Kulturlandgewinner“ Mansholt entwarf das Agrarsubventionsmodell, das noch heute – wieder und wieder modifiziert – gültig ist. Und er war es auch, der sich zuletzt für „Kulturlandvernichtung“ – die Renaturierung, sogar Flutung von Ackerland einsetzte und an „Stillegungsprämien“ dachte. Das war, nachdem er in Brüssel Petra Kelly kennengelernt und sich in sie verliebt hatte, wie Frank Westerman berichtet, der darüberhinaus neben der „grünen“ auch noch eine „blaue Front“ am Dollart ausgemacht hat, die die Landwirtschaft nun quasi von beiden Seiten in die Zange nehmen.

Mit letzteren sind die Wasserwirtschaftsverbände gemeint, die bereits eingedenk der Klimaerwärmung daran gehen, aus der niederländischen Küste eine „Sonderzone“ zu machen, um „auf dem Land Raum für das Meer zu schaffen“. Über all diese „grünen“ und „blauen Projekte“ haben  sich jedoch die Getreidepreise in den letzten zwei Jahren verdoppelt, wie ein Oldambter Bauer dem Autor, Westerman, 2007 schrieb. Die zuständigen Behörden hätten ihm außerdem versprochen: „Auf guten, landwirtschaftlichen Böden soll keine Natur mehr angelegt werden.“

Vielleicht kommt es noch so weit, dass die EU sogar Fördermittel für Existenzgründungen von Kleinbauern auflegt. Wie schon Marx und Engels war auch Sicco Mansholt davon überzeugt gewesen, dass der kleinbäuerliche Familienbetrieb keine Zukunft hat – nur die industrielle Großlandwirtschaft. Sein berühmtester Gegenspieler war und ist der ostfriesische Bauer Onno Poppinga – aus Upgant auf der anderen Seite des Dollart. Seit den Siebzigerjahren kritisiert er schon die EU-Agrarpolitik. Das brachte ihm eine Landwirtschaftsprofessur an der Universität Kassel ein.

Als er dort 2008 emeritiert wurde, und fortan wieder Pferde züchten wollte, widmete ihm die taz ein Porträt, u.a. heißt es darin: „‚Er hat die herrschende Agrarpolitik immer aus einer linken Perspektive heraus kritisiert‘, sagt der EU-Parlamentarier Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf. Den mag Poppinga, obwohl er bei den Grünen ist‘ ‚Parteien sind mir Wurst‘, sagt er, ‚mit denen wollte ich nie etwas Näheres zu tun haben'“. Poppinga wird sich mit seiner Zeitung „unabhängige Bauernstimme“ auch weiterhin für eine Agrar-Subventionspolitik einsetzen, die den bäuerlichen Familienbetrieb stützt und nicht auslöscht – zugunsten industrieller Agrarbetriebe, die den Gegensatz von Kulturland und Natur verschärfen: „Da zentraler Grundkonsens jeder bisherigen staatlichen Agrarpolitik und der wissenschaftlichen Agrarökonomie die permanente Auflösung landwirtschaftlicher Betriebe und Abwanderung von Arbeitskräften war und ist, konnte von dort eine Bindung von staatlichen Zahlungen an die landwirtschaftliche Arbeit überhaupt nicht in den Blick kommen (es wäre ein ‚Verrat an Grundsätzen‘). Stellt man dagegen andere Interessen nach vorne (z. B. Erhöhung landwirtschaftlicher Wertschöpfung, regionale Erzeugung, sorgfältige Einzeltierbetreuung, Beitrag zur Minderung von Massenarbeitslosigkeit), so verändert sich die Frage nach der Bindung der staatlichen Zahlungen an die in der Landwirtschaft geleistete Arbeit auf den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit, und die ist leicht lösbar.“

In dieser Kunstgalerie am Hafen haben früher vierzig Frauen Krabben gepuhlt, hier saß ihr Aufseher.

2.

„Die Friesen“ – so heißt eine sich aus Emden als „nationale Minderheit in Deutschland“ zu Wort meldende Partei. Ihr Programm umreißt in etwa ein Gedicht von Hannes Flesner, dass sie deswegen für ihren Internet-Auftritt nutzt:

„All, wat ut de wiede Welt herkummt,

so moi wi dat schmaals finnen –

word Tied, dat wi uns mit leeverlass

mal up uns sülst besinnen!

Wi willn immer wieder/

un‘ willn immer mehr

man wat betaalen wi daarför!

Un wat tein Tree wieder

mit uns Nahber passeert,

dat interesseert uns je all bold nich mehr!“

Zuletzt veröffentlichte die Friesenpartei einen „Brief an den niedersächsischen Ministerpräsidenten:

Die Partei Die Friesen, in deren Namen ich Ihnen heute schreibe, begrüsst es in höchstem Maße, dass die dänische Firma DONG Energy A/S ihre Pläne, in Emden am Rysumer Nacken ein Kohlekraftwerk zu errichten, (vorerst?) zu den Akten gelegt hat.

Doch noch ist es für Freude zu früh: solange diese Tatsache nicht auch für die geplanten Kohlekraftwerke in Dörpen, Eemshaven, Stade und Wilhelmshaven gilt, kann für die Umwelt in den Friesischen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland und der Niederlande keine Entwarnung gegeben werden.

Um für die Zukunft wirksam zu verhindern, dass ein anderer Investor am Standort Rysumer Nacken ein Kohle- oder gar ein Atomkraftwerk errichtet, ist es zwingend erforderlich, unverzüglich das Landesraumordnungprogramm in der Weise abzuändern, dass in den Friesischen Gebieten (und speziell in Emden) ausschließlich Kraftwerke errichtet werden dürfen, die zu den Erneuerbaren Energien gezählt werden. Dazu zählen beispielsweise Windkraft, Solarenergie, Erdwärme, Speicherkraftwerke (Druckluft- oder Wasserspeicher), etc.

Desweiteren fordern wir Sie auf, sich vorrangig für die Realisierung des Projektes „NorGer“ einzusetzen. Hierbei handelt es sich um ein Gleichstromkabel, mit dem überschüssige (Wind?) Energie weitgehend verlustfrei nach Norwegen transportiert wird, um dort Wasserspeicher aufzuladen, die dann bei Flaute die Versorgung sicherstellen können. Derzeit scheitert dieses Projekt, das in den Niederlanden („NorNed“) bereits am 06. Mai 2008 in Betrieb genommen wurde, an der Finanzierung. Die notwendige Stromrichterstation (Umwandlung von Gleich- in Wechselstrom) könnte übrigens anstelle eines Großkraftwerkes am Rysumer Nacken errichtet werden.

Ihr Arno Rademacher (Bundesvorsitzender)“

Und das hier ist jetzt die neue Schweißroboterstrecke unseres VW-Werks

3.

Es ist kein Witz, daß die Ostfriesen das Watt bei Ebbe gelegentlich als Bauland anbieten – an ahnungslose Festland-Bayern z.B.. Selbst der große nordische Künstler Emil Nolde, dessen Vater einst friesischer Bauer war, hat einmal – beim Kauf des Hofes Utenwarf in Nordfriesland – nicht bedacht, daß das “ganze Land” im Winter unter Wasser stand, “ja sogar im Sommer überschwemmte”. Gerade als er sich damit abgefunden hatte, “wurden die Grenzen direkt vor unser Haus und Land gelegt und wir an Dänemark abgetreten”. Schon bald rückten dänische Ingenieure an, die eine künstliche Entwässerung des Gebietes vorbereiteten. Als früher Ökologe erstellte Emil Nolde daraufhin einen landschaftsschonenderen Gegenentwurf. “Als ich durch Zufall erfuhr, daß der Entwässerungsplan politisch sei – da war es mir klar, daß meine Arbeit in dieser Sache verlorene Mühe war”.

Man sagt, die Friesen kommen bereits mit einem Bausparvertrag auf die Welt. Tatsächlich könnte die “Blut und Boden”-Formel eine ursprünglich friesische Parole gewesen sein, obwohl die Nazis dann die “nordische Kunst” doch vorsichtshalber ächteten – und u.a. Emil Nolde mit Malverbot belegten.

Wiewohl Bauern und Seefahrer, besteht die eigentliche Kulturleistung der Friesen in der Landgewinnung. Das Husumer Nissenmuseum – einst von einem friesischen Auswanderer, der in Amerika reich wurde, gestiftet – ist deswegen auch und vor allem der friesischen Deichbau-Kunst gewidmet. Ein anderer Auswanderer – nach Deutsch-Südwest-Afrika, Sönke Nissen, finanzierte sogar die Eindeichung eines ganzen nach ihm dann benannten Koogs, inklusive der darin errichteten riesigen Bauernhöfe. Und der Husumer Dichter Theodor Storm wurde nach seinem Tod vor allem mit seinem Deich-Drama “Der Schimmelreiter” bekannt. Umgekehrt benannte man einen nach dem Zweiten Weltkrieg eingedeichten Koog nach seinem Novellen-Held, den Deichgrafen “Hauke Haien”. Einen zuvor eingedeichten Koog hatte man nach “Adolf Hitler” benannt und das Letzte Aufgebot des Krieges mußte dann – zusammen mit den Insassen des KZ Husum – einen “Friesenwall” aufschütten – gegen eine ziemlich unmögliche zweite alliierte Invasion vom Wattenmeer her.

Durch das selbstgeschaffene Land entsteht eine ganz eigene Bindung daran. Schon den römischen Gelehrten Gajus Plinius Secundus hatten einst die Friesen ins Grübeln gebracht: dieses “armselige Volk”, das auf “hohen Erdhügeln” in Schilfhütten lebt und mit “getrocknetem Kot” seine kärglichen Speisen kocht, damit sich “ihre vom Nordwind erstarrten Eingeweide erwärmen”. Bei Flut, “wenn die Gewässer die Umgebung bedecken, gleichen sie mit ihren Hütten den Seefahrern, Schiffbrüchigen aber, wenn die Fluten zurückgetreten sind”. Dennoch wollten die Friesen sich partout nicht den reichen, zivilisierten Römern unterwerfen: “wahrlich,” seufzte Plinius, “viele verschont das Schicksal zu ihrer Strafe”.

Verzweifelt wehrten sich die Friesen – in Sonderheit die sich selbst regierenden Kirchspiele der “Bauernrepublik Dithmarschen” – auch noch im Jahre 1500, als der holsteinische Herzog, zugleich dänischer König, sie mit einem starken Ritter- und Landsknecht-Heer zu unterwerfen suchte. Die von den Bauern aufgrund ihrer Hartnäckigkeit und der winterlichen Wegelosigkeit auf dem von ihnen selbst geschaffenen Land gewonnene “Schlacht bei Hemmingstedt”, schuf endlich – im Verein mit ihrer Bearbeitung zum Mythos – eine markante Eigensinnigkeit, an der bis heute herumgerätselt wird.

So fragte sich z.B. 1977 der einst aus Helgoland ausgewanderte Redakteur der New Yorker Zeitung “Frisian Roundtable”, ob wenigstens “unser inneres Friesland überleben wird?”. Ihm antwortete ein Vorstandsmitglied der niederländischen “Fryske Akademy” in Leeuwarden: “Wenn das Eigene ausschließlich auf die Sphäre der privaten Liebhaberei beschränkt bleibt, ist es eine verlorene Sache”.

In einem Vortrag über “Die große und die kleine Welt” – gehalten auf dem 15. Friesenkongreß in Aurich – bezeichnete der Philosoph Hermann Lübbe den “Regionalismus” als das “Ringen um Heimat”, dem eine wichtige kompensatorische Funktion angesichts der sich beschleunigenden “zivilisatorischen Innovation” zukomme. In der Zeitschrift “Nordfriesland” widersprach ihm daraufhin der Kieler Soziologiestudent Harm-Peer Zimmermann, der eine “Analyse des Wesens des Heimatgefühls” sowie eine “historische Ableitung der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung” des von Lübbe konstatierten “Vertrauensschwunds” und “Identitätsverlusts” vermißte.

“Wie in Gorleben,” behauptete der Student demgegenüber, “so entsteht Identität überall in der Auseinandersetzung mit dem Alltag. Das Glück stellt sich nicht durch einfache Erinnerung der Vergangenheit ein”. Das war – 1982/83 – durchaus noch klassenkämpferisch gemeint – und vor allem gegen “Musealisierungen” gerichtet.

Desungeachtet sind z.B. die einst armen Krabbenfischer, die es dann mit sozialdemokratischer Hilfe langsam zu Schiffseignern brachten – heute alle in der CDU beheimatet, ebenso die letzten vier noch existierenden Miesmuschelfischer, deren Tätigkeit von einem “Miesmuschel-Management-Plan (MMP) durchgeregelt wird. 1999 fanden sie sich zu einer Aktionseinheit mit den Kleinbauern, die die Salzwiesen im Vorland der Deiche mit Schafe beweiden, zusammen: auf der Deichlinie zündeten sie Mahnfeuer an. Damit wollte ihre “Allianz für die Westküste” einen schleswig-holsteinischen Kabinettsbeschluß zur Erweiterung des Nationalparks Wattenmeer abwehren. Die US-Journalistin Anjana Shrivastava sah darin das “Potential eines umgekehrten Gorlebens” – also einen reaktionären, antiökologischen Widerstands.

Tatsächlich ging es aber bei beiden Bauernprotesten – im wendtländischen Gorleben wie an der schleswig-holsteinischen Westküste – um die Gefährdung ihrer landwirtschaftlichen Existenz, gegen die sich sich zur Wehr setzten. Dort ist es der immer noch geplante Bau eines Nuklearen Entsorgungszentrums (NEZ) und hier die ebenfalls von oben verfügte Ausweitung von Naturschutzgebieten – zu Ungunsten der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Die Anfänge dieses bäuerlichen Widerstands reichen bis nach Whyl im Dreyländereck, wo die bundesdeutsche Anti-AKW-Bewegung ihren Anfang nahm. Weitere Orte, in denen diese Bewegung kulminierte, waren dann Wackersdorf in Oberbayern und Mutlangen nahe Schwäbisch-Gemünd.

Es scheint fast, dass die nachkriegsdeutsche Linke im Westen, wiewohl marxistisch-proletarisch orientiert, eher bei den Bauern auf dem Land als bei den Arbeitern in der Fabrik ein Echo auf ihre eigenen Kämpfe fand und findet. Man kann es auch so sagen: Der bäuerliche Widerstand bot den intellektuellen Linken in der BRD immer wieder Möglichkeiten für eine Massenbasis – zur Ausweitung ihrer Kämpfe, wobei die Bewegung sich jedoch auch immer wieder spaltete – in militante und weniger militante bzw. in legale und illegale.

Im Gorlebener “Stiftung Unruhe Info” heißt es 2001: “Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg und die Bäuerliche Notgemeinschaft könnten den ‘Autonomen’ wenigstens klammheimlich dankbar sein, dass gerade wir und nicht sie die zentrale Zielscheibe dieses gesellschaftlichen Ausgrenzungsbemühens sind”. Oft genug gerieten jedoch auch die unvermummten Bauern ins Visier von Polizei und Staatsschutz. In Gorleben war das insbesondere der Bauer Adi Lambke, der darüber inzwischen auch auf einer eigenen Webpage regelmäßig berichtet. “Mein Trecker und ich” heißt es dort z.B. an einer Stelle. Es gibt in diesen Protestbewegungen mittlerweile einen eigenen Traktorwortschatz: Treckerdemo, Demotrecker, Treckerblockade usw.. Gelegentlich operiert man sogar mit Spielzeugtreckern. 1979 veranstalteten die Gorlebener einen Trecker-Zug nach Hannover und 2000 sowie 2009 einen nach Berlin vors Brandenburger Tor. Die Polizei reagiert darauf mit Treckerzerstörungen, Treckerstillegungen und Führerscheinentzügen.

Rückblickend meinte 2005 der SPD-Landrat Hans Schuierer des Landkreises Schwandorf, wo man sich jahrelang gegen den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf wehrte: “Für unsere Region war das eine furchtbare Zeit. Wenn man sich vorstellt, wie viele Strafverfahren gegen friedliche Demonstranten liefen. Wie sich die Polizeiführung verhielt, dann kommt einem der Zorn hoch. Die Polizeihunde, die Schlägertrupps aus Berlin, wie die gewütet haben. Doch der fünfjährige Kampf hat sich gelohnt. Wir haben an dem Standort, wo die WAA errichtet werden sollte, inzwischen ein Industriegebiet und somit einen guten Tausch gemacht. Anfangs versprach die Betreibergesellschaft DWK 3200 Arbeitsplätze in der WAA, später 1600, dann 1200. Im Industriegebiet haben wir heute 4000 Arbeitsplätze…Ich muss ganz ehrlich sagen: Wir haben diese Autonomen gebraucht. Denn die Regierung hätte uns noch zehn Jahre um den Zaun rumtanzen lassen.”

Wenn mich nicht alles täuscht, begann dieser bäuerliche Widerstand schon vor dem Zweiten Weltkrieg – mit der “Landvolkbewegung” in den späten Zwanzigerjahre – von der schleswig-holsteinischen Westküste aus, damals noch ohne Trecker.

Diese Bauernkämpfe hatten zum Hintergrund eine massive Agrarkrise – im Zusammenhang der Weltwirtschaftskrise, von der vor allem die dortigen Mittelbauern betroffen waren, insofern sie als Viehmäster (Gräser) eine spekulative Landwirtschaft betrieben, d.h. sie nahmen Kredite auf, um im Frühjahr Mastvieh zu kaufen, dass sie anschließend mit Gewinn wieder zu verkaufen hofften. Weil aber immer mehr Billigimporte aus dem Ausland auf die Preise drückten, mußten viele Bauern Konkurs anmelden, zumal sie auch noch mit jede Menge Steuern belastet wurden. Bis 1932 wurden 800.000 Hektar Land zwangsversteigert und über 30.000 Bauern mußten ihre Höfe aufgeben.

“Keine Steuern aus der Substanz!” das war dann auch die Parole, unter der am 28. Januar 1928 140.000 Bauern in Heide, der Kreisstadt von Dithmarschen, demonstrierten. Ihre Sprecher wurden der Landwirt und Jurist Wilhelm Hamkens aus Tetenbüll im Eiderstedtischen und der Bauer Claus Heim aus St.Annen in Oesterfeld. Die beiden suchten sich ihre intellektuellen Bündnispartner sowohl in rechten als auch in linken Kreisen. Um die Landvolkbewegung voranzubringen, verkaufte der “Bauerngeneral” genannte Claus Heim dann 20 Hektar seines Landes und gründete eine Tageszeitung, außerdem wurden von dem Geld zwei Autos angeschafft. Als Redakteure gewann er den später kommunistischen Bauernorganisator und Spanienkämpfer Bruno von Salomon sowie dessen Bruder Ernst von Salomon, der zu den Rathenau-Mördern gehörte und in antikommunistischen Freikorps gekämpft hatte. Während die Kopfarbeiter fast alle aus der seit dem Kapp-Putsch berüchtigten “Brigade Ehrhardt” kamen, waren die Handarbeiter der Zeitung Kommunisten. Da man ihnen aus Geldmangel keine Überstunden vergüten konnte, durften sie gelegentlich auch eigene marxistisch inspirierte Artikel im “Landvolk” veröffentlichen.

Als Heims “Adjudant” fungierte jedoch bald der antisemitische Haudegen Herbert Volck, der wie folgt für die schleswig-holsteinische Bewegung gewonnen wurde: “Kommen Sie, organisieren Sie uns!” bat ihn ein Bauer in Berlin, “setzen Sie ihre Parole ‘Blut und Boden’ in die Tat um”. Volck gab ihm gegenüber zu bedenken, “ihr müßt euer Blut dazu geben”, nur für bessere “Preise von Schweinen, Korn und Butter kämpfe ich nicht”. Die Ursache für die wachsende Not der Bauern sah er darin, daß “plötzlich auf den jüdischen Vieh- und Getreidenhöfen die Preise herunterspekuliert” wurden. Und als wahre Kämpfer anerkannte er dann nur ganz wenige: “Claus Heim, der Schlesien- und Ruhrkämpfer Polizeihauptmann a.D. Nickels und ich,…keine Organisation, aber selbst bereit, in die Gefängnisse zu gehen, wollen wir dem Volke ein Naturgesetz nachweisen – das Gesetz des Opfers”.

Tatsächlich mußten die Aktivisten später alle unterschiedlich lange im Gefängnis sitzen. Die Landvolkbewegung radikalisierte sich schnell, zugleich spaltete sich ein eher legalistischer Flügel um Wilhelm Hamkens ab – und die schleswig-holsteinische NSDAP ging ebenfalls auf Distanz zur Landvolkbewegung. Es kam zu Bombenattentaten, Landrats- und Finanzämter wurden in die Luft gesprengt, und Polizei und Beamte daran gehindert, Vieh zu pfänden. Ein Landvolk-Lied ging so: “Herr Landrat, keine Bange, Sie leben nicht mehr lange…/Heute nacht um Zwei, da besuchen wir Sie,/ Mit dem Wecker, dem Sprengstoff und der Taschenbatterie!” Bei den Bombenattentaten wurde jedoch nie jemand verletzt. Einmal sprachen die Bauern sogar ein Stadtboykott – gegen Neumünster – aus, nachdem auf einer Bauerndemo ihr Fahnenträger, der Diplomlandwirt Walther Muthmann, schwer verletzt worden war. Er mußte dann nach Schweden emigrieren, später kehrte er jedoch wieder nach Deutschland zurück, wo man ihn für einige Wochen inhaftierte.

In Neumünster war 1928/29 der ehemalige Gutshofhilfsinspektor Hans Fallada Annoncenaquisiteur einer kleinen Regionalzeitung. Als ihr Gerichtsreporter saß er dann auch im Landvolk-Prozeß. Sein 1931 erschienener Roman “Bauern, Bonzen und Bomben” ist allerdings mehr ein Buch über das Elend des Lokaljournalismus als über die Not der Bauern. Von dieser handelte dann sein Roman aus dem Jahr 1938 “Wolf unter Wölfen”, in dem es um drei ehemalige Offiziere des Ersten Weltkriegs geht, die auf einem Gutshof bei Küstrin untergekommen sind. Auch Fallada arbeitete lange Zeit als Gutshilfsinspektor. Mit den Landvolkaktivisten teilte er dagegen mehrfache Knasterfahrungen. Während der “Bauerngeneral” Claus Heim bei seinem Prozeß und auch danach jede Aussage verweigerte, begannen seine Mitangeklagten schon in U-Haft mit ihren Aufzeichnungen.

Herbert Volck nennt seine abenteuerlichen Erinnerungen “Landvolk und Bomben”, Ernst von Salomons Erfahrungsbericht heißt “Die Stadt”. Erwähnt seien ferner die Aufsätze der Kampfjournalisten Friedrich Wilhelm Heinz und Bodo Uhse. Heinz arbeitete später im Range eines Majors mit antisowjetischen Partisanen in der Ukraine zusammen und machte dann eine kurze Karriere in Adenauers “Amt Blank”. Uhse brachte es zu einem anerkannten Schriftsteller in der DDR und war dort kurzzeitig Institutsleiter in der Akademie der Künste. Nach dem Krieg kamen vor allem Richard Scheringer und Ernst von Salomon noch einmal auf die Landvolkbewegung zu sprechen – Salomon in seinem berühmten Buch “Der Fragebogen” und der bayrische Bauer und DKP-Funktionär Scheringer mit seiner Biographie “Das große Los – unter Soldaten, Bauern und Rebellen”.
Noch später – nämlich nach der Wiedervereinigung – fühlte die FAZ sich im Sommer an Hans Falladas Neumünsterroman erinnert und übertitelte einen langen Kampfartikel gegen das unerwünschte Fortbestehen vieler LPGen in den fünf neuen Ländern mit: “Bauern, Bonzen und Betrüger”, ihm folgte der noch schärfere Spiegel-Aufmacher “Belogen und betrogen”. Vorausgegangen waren diesen West-Schmähschriften eine Reihe von Ost-Straßenblockaden und Demonstrationen – u.a. auf dem Alexanderplatz – von LPG-Bauern, die gegen den Boykott ihrer Waren – durch westdeutsche Lebensmittelkonzerne und von Westlern privatisierte Schlachthöfe sowie Molkereien – protestierten. Für die FAZ waren sie bloß gepresstes Fußvolk der “Roten Bonzen”, die sich noch immer an der Spitze der LPGen hielten, inzwischen jedoch Geschäftsführer von GmbHs, Genossenschaften oder sogar Aktiengesellschaften geworden waren.

Sich zeigen!

Diese Protestbewegung kanalisierte sich relativ schnell in Gremien- und Verbandspolitiken, wobei es meist nur noch juristisch darum ging, ob das Vermögen bei den LPG-Umwandlungen zu Ungunsten der Beschäftigten allzu niedrig angesetzt worden war, wie die FAZ und andere Anti-LPG-Kämpfer behaupteten, oder zu hoch, wie die LPG-Vorsitzenden und ihre Verbandssprecher nachzuweisen versuchten. Unter den mit der Anti-LPG-Politik der Wessis unzufriedenen Betroffenen gab es auch etliche LPG-Bauern – z.B. Emil Kort aus Kampehl, die zuvor schon einmal – bei der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR – Widerstand geleistet hatten. Damals noch als Einzelbauern. Emil Kort mußte wegen Sabotage und Boykotthetze sogar ins Gefängnis – und anschließend in den Untertagebau der Wismut. Nun fühlte er sich erneut – diesmal von Westlern – “angeschissen”. Er bleibt jedoch optimistisch – und meint, der Bauer ist als Unternehmer und Arbeiter zugleich Individualist, wenn auch meistens ganz unintellektuell, was eine Stärke und Schwäche zugleich sei, aber das mache ihn kämpferischer und ausdauernder als ein Arbeiter, dessen Identifikation mit “seinem” Betrieb eigentlich nur ein frommer Selbstbetrug sei.

An die Bauernunruhen, die mit der Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR einsetzten, erinnert das frühe Stück “Die Bauern” von Heiner Müller, das dem Autor jedoch zunächst bloß ein mehrjähriges Schreibverbot einbrachte und über eine einmalige Aufführung in der DDR nicht hinauskam. Es gibt darin nebenbei bemerkt ebenfalls schon einen ganzen Treckerwortschatz, denn: “Das Dorf wird motorisiert…Traktoren kriegen wir und der Bürgermeister wird verhaftet – wenn das kein Feiertag ist”.

Neuerdings machen auf dem Territorium der DDR nur noch die vom Braunkohletagebau bedrohten sorbischen Dörfer in der Niederlausitz mit ihren Bürgerinitiativen von sich reden. Neben den sorbischen Verbänden und Gebietskörperschaften sind hier vor allem die Umweltschützer solidarisch, deren Unterstützer-Netz inzwischen bis nach Indien und Nicaragua reicht, aber vor allem bis ins Umweltmusterland Schweden, wo die Spitze des Staatskonzerns Vattenfall sitzt, dem neuerdings die Lausitzer Braunkohle gehört.

Der inzwischen verstorbene Braunkohlen-Baggerführer Gundermann brachte es hier als regional verbundener Sänger zu einiger Berühmtheit. Auf der anderen Seite – vom Kampf der Bauern und Winzer in Wyhl aus – hub einst der “Barde der Anti-AKW-Bewegung” Walter Moßmann an. Auch an intellektuellen Sympathisanten fehlt es hier wie dort nicht. In Gorleben war das z.B. der Berliner Schriftsteller Hans-Christoph Buch, der mit seiner Frau ein Landhaus im Wendland besaß, in dem er dann sein “Gorlebener Tagebuch” schrieb, während er sich zugleich in eine junge Anti-AKW-Aktivistin vor Ort verliebte, wobei diese ihm dann mit der Widerstandsbewegung identisch wurde – und umgekehrt. Später veröffentlichte der März-Verlag Buchs “Bericht aus dem Inneren der Unruhe”. Der Autor arbeitet darin u.a. heraus, wie die lokale Bürgerinitiative zunächst die linken Sympathisanten aus den Städten mehr fürchtete als die Polizei. Einer der Aktivisten berichtete sogar regelmäßig dem Verfassungsschutz, und einem Sägewerksbesitzer wurde anonym gedroht, man werde sein Holzlager in Flammen aufgehen lassen, “wenn er sich weiter mit Kommunisten gemein mache”. Den ortsansässigen Künstlern und Intellektuellen sowie der immer wieder anreisenden linken “Politprominenz” gelang es jedoch bald, das Verhältnis der Einheimischen zu den kommunistischen Gruppen, den „Chaoten“, zu entspannen.

Im brandenburgischen Horno war der intellektuelle Sympathisant und Vorkämpfer ein englischer Schriftsteller, Michael Gromm. Den laut dpa “verhasstesten Ausländer Brandenburgs” erkannte das Cottbusser Verwaltungsgericht vor einiger Zeit wegen seines Engagements in Horno sogar als Wahlsorbe an. Seine Kampfschriften werden von der grünen “Heinrich-Böll-Stiftung” finanziert, zuletzt veröffentlichte er auf eigene Kosten ein Buch über “Horno – eine verkohlte Insel des Widerstands”. Kürzlich gab das Bundesverwaltungsgericht den widerständigen Hornoern übrigens recht – im Zusammenhang der Klage  eines vom Braunkohletagebau  im Westen – Garzweiler II –  Betroffenen.  Für das Dorf Horno kam dieser “Sieg” ihres Rechtsanwalts Dirk Teßmer  jedoch zu spät.
In der Lausitz gingt es – ebenso wie in Gorleben, wo die Einlagerung von Castor-Behältern in einen Salzstock verhindert werden soll – um eine staatlich durchgesetzte unterirdische Nutzung, bei der die Bauern der Region eine Bedrohung ihrer Existenz befürchten. In Wyhl, am Weinberg Kaiserstuhl, ging es hingegen um die Verhinderung einer oberirdischen Bebauung – durch ein AKW, ebenso in Wackersdorf, wo eine Wiederaufbereitungsanlage errichtet werden sollte, und in Mutlangen, wo die Amerikaner ihre Pershing II-Raketen aufstellten.

Ähnlich sah es auch bei der Entstehung der überhaupt ersten bundesdeutschen Bürgerinitiative in den Fünfzigerjahren – im niedersächsischen Künstlerdorf Worpswede – aus: Hier kämpften die Dörfler unter der Führung des Kommunisten und Kunstsammlers Friedrich Netzel dagegen, dass ein Kalksandsteinwerk im Rausch des allgemeinen Wiederaufbaus den für das Dorf zentralen Weyerberg einfach abbaggerte. Damals entstand aus dieser spontanen Protestbewegung bereits eine so genannte Unabhängige Wählergemeinschaft, die es bis ins Rathaus hinein schaffte – Und sich dann erfolgreich erst gegen den Plan von SPD und Bundeswehr wehrte, aus dem vor Worpswede liegenden Teufelsmoor einen “Nato-Bombenabwurfplatz” zu machen, ebenso konnte sie dann auch verhindern, dass aus den Hamme-Niederungen ein großes “Freizeit-Seen-Paradies” wurde. Die Worpsweder Intellektuellen und Künstler warfen jedoch den Bauern nach der Gebietsreform, durch die der Ort zur Großgemeinde wurde, vor, im Verein mit der CDU sowie mit etlichen kunstgewerblichen “Trittbrettfahrern” die Mehrheit an sich gerissen zu haben und eine “reaktionäre Politik” zu verfolgen. Ihre in den Achtzigerjahren als Alternative dazu gegründete “Künstlerpartei” kam allerdings über Absichtserklärungen nicht mehr hinaus.

Um sowohl unterirdische wie oberirdische Eingriffe in die Landschaft zu verhindern, entstand – ebenfalls in den Achtzigerjahren – im hessischen Vogelsberg eine Bewegung aus Bauern und aufs Land gezogenen Intellektuellen bzw. Künstlern: Dort sollten einerseits immer mehr US-Atomminen und chemische Waffen stationiert werden und andererseits begannen die umliegenden Großstädte das Grundwasser aus dieser Region für sich abzupumpen. Die Vogelsberger wehrten sich gegen diese ober- wie unterirdische Verwüstung – z.T. ebenfalls mit Bombenattentaten (gegen Baufahrzeuge). Ihr Anführer, der Speckenmüller, war in den Dreißigerjahren noch mit dem Bauernkampf in der nahen Rhön in Berührung gekommen. Dorthin hatte es Bruno von Salomon und Bodo Uhse verschlagen, nachdem die Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein zusammengebrochen war. Diese war jedoch nicht ganz erfolglos: viele Höfe konnten gerettet werden und es kam zu Steuererleichterungen für die Bauern.

Wie so oft in sozialen Bewegungen verschwinden die betroffenen Aktivisten anschließend aus der Geschichte, während die intellektuellen Unterstützer sich in die nächsten Aufstände reindrängeln. Bei den Frankfurter Linken und ihrer putschistischen Übernahme der hessischen Grünen habe ich das Anfang der Achtzigerjahre am Rande noch selbst miterlebt, ebenso in den Neunzigerjahren dann, als süddeutsche Maoisten die ostdeutsche Betriebsräteinitiative zu dominieren versuchten. Im Gegensatz zur Arbeiterbewegung, in der die Gewerkschaften nur allzu gerne die “Rädelsführer” aufsaugen, gelingt es im bäuerlichen Widerstand immer nur ganz wenigen, sich anschließend als Berufsrevolutionär oder deutscher Professor durchzuschlagen.

Allgemein bekannt wurde inzwischen der Bauer Onno Poppinga – aus Ostfriesland. Er gründete die immer noch wichtige linke Zeitung “Bauernstimme” mit und wurde dann Professor in Kassel. Eine seiner ersten Publikationen in den Siebzigerjahren war ein Vorwort zu einer französischen Studie und hieß im Untertitel “Power to the Bauer”, außerdem verfaßte er ein Buch über Biographien widerständischer Bauern in Ostfriesland sowie eins über “Bauern und Politik”, in dem er auch kurz auf die schleswig-holsteinsiche Landvolkbewegung einging, denn die bange Frage nach ihrer Zerschlagung 1933 lautete – nicht zuletzt für die Gestapo: “Wird Florian Geyers Fahne noch einmal über das Hakenkreuz siegen?” Für Poppinga bestand da keine Gefahr, denn die Landvolkbewegung “hatte keine antikapitalistische und sozialistische Perspektive: Sie wurde getragen von Großbauern, die ihre privilegierte soziale Stellung bedroht sahen. Das wird nirgends deutlicher als daran, daß nur sehr wenige Landarbeiter daran teilnahmen. Vor allem die klassenbewußten Landarbeiter der Marsch lehnten die Teilnahme an einer Bewegung, in der die Großbauern den Ton angaben, ab; es finden sich Hinweise, daß Landarbeiter von ihren Bauern nur durch ‘mittelbaren Zwang’ zur Teilnahme an den Demonstrationen veranlaßt werden konnten”.

Poppingas Einschätzung trifft sich mit der von DDR-Historikern, für die die “Einheitlichkeit” der Landvolkbewegung ebenfalls “nur in ihrer großbäuerlichen Klassenbasis, also in ihrem Konservativismus” bestand. Ganz anders schätzten das zur selben Zeit, Mitte der Siebzigerjahre, die eher anarchistisch-autonomistisch inspirierten Autoren der Zeitschrift “Atunomie” (Nr. 12, Sept. 1978, S. 46-73) ein, die Poppinga darin vorwarfen, daß er einem “klassischen Bewertungsschema verfallen” sei. Sie entdeckten demgegenüber rückblickend in der Landvolkbewegung, besonders in den Aktivitäten von Claus Heim und seinem Nachbarn Bur Hennings, den sie interviewten, eine “Qualität”, die weit über das hinausgging, “was wir an ‘linken’ Aktionen auch nur zu träumen wagen”.

Für Onno Poppinga ist dagegen das Wesentliche am Bauerntum nicht, wie noch bei Michail Bakunin, die spontane Fähigkeit zum Widerstand, zum Bruch – auch und gerade heute noch – sondern im Gegenteil die “Dauerhaftigkeit der sozialen und betrieblichen Organisation”, wobei jeder “politische Eingriff” nur schädlich sein kann. Bei einem Rückzug des Staates – wie bei den Rechtsnachfolgern der LPGen – bemerkt er denn auch, daß dabei wieder “immer deutlicher bäuerliche Strukturen sichtbar werden”. Bei seinem anhaltenden Engagement geht es ihm um eine Stärkung des bäuerlichen Eigensinns. Genau dieser führte aber dazu, daß die Aktivisten der Landvolkbewegung sich weder von links noch von rechts vereinnahmen ließen, sondern nach der Zerschlagung ihrer Selbsthilfe-Organisationen da weiter machten, wo sie angefangen hatten – auf kleiner Flamme, weswegen die dann auch nicht mehr in der ganzen Literatur danach auftauchen.

Erst einige Vorort-Recherchen ergaben: Der Bauernsprecher und Jurist Hamkens, der es über die NSDAP bis zum Landrat in Schleswig-Holstein gebracht hatte, sprach sich nach dem Krieg überraschenderweise für einen Wiederanschluß Schleswig-Holstein an Dänemark aus. Er starb erst Ende der Siebzigerjahre, war aber angeblich lange vorher schon altersdebil geworden.

Nachdem Claus Heim und andere politische Gefangene auf Initiative von NSDAP und KPD amnestiert worden waren, wurde dem “Bauerngeneral” sowohl von der KPD als auch der NSDAP eine Parteikarriere angeboten. Er lehnte ab, der Nazi-Partei gelang es dann jedoch auch ohne ihn, die Bauern hinter sich und ihren “Reichsnährstand” zu bringen, nachdem die Landvolkbewegung von der SPD-Regierung zerschlagen war. Im Endeffekt verloren sie dadurch gänzlich ihre Selbständigkeit, indem sie durch Festsetzung der Preise und Quotierung der Anbauflächen sowie mit dem Pfändungsverbot auf Erbhöfen gleichsam zu ideologisch veredelten Staatsbauern wurden (was die EU-Agrarpolitik nach dem Krieg in gewisser Weise fortsetzte).

Claus Heim zog sich derweil still auf seinen Hof zurück. Neben der Landwirtschaft gab er zusammen mit seinem Nachbarn Bur Hennings noch einmal in der Woche ein kleines, fast privates Kampfblatt heraus: “Die Dusendüwelswarf”. In den Fünfzigerjahren zog er sich auf sein Altenteil zurück und kümmerte sich fortan nur noch um seine Obstwiesen und die Hühner. Der Leiter des Heimatmuseums in Lunden Henning Peters kann sich noch erinnern, dass Claus Heim die Landvolk-Heimschule regelmäßig mit Eiern belieferte.

Und seine Enkelin, die heute in Berlin lebende Faschismusforscherin Susanne Heim, erinnert sich, dass die Bauern 1963 an der Westküste, “als sie wieder mal wegen einer Rationalisierungskrise demonstrierten”, ihren Opa noch einmal als “Gallionsfigur” hervorholten. Sie schrieb später ihre Diplomarbeit über ihn, und kürzlich besuchte sie eine Finka in Paraguay, die ihr Großvater einst als Auswanderer bewirtschaftet hatte, bevor er in den Zwanzigerjahren wieder nach Dithmarschen zurückkehrte, um sich der Landvolkbewegung zu widmen. Claus Heim starb im Januar 1968. Und jetzt ist es der alte Leiter des Lundener Heimatmuseums, der meint, “es wird Zeit, mal wieder an ihn zu erinnern”.

Zuletzt gab es in Schleswig-Holstein, aktuell vor allem auf der Eiderstedter Halbinsel, nicht nur einen Widerstand gegen die meist grünen Naturschützer, die hier laut Aussage des Kehdinger Bauern Schmoldt gegenüber dem Spiegel “das Land beherrschen wie einst die Gutsherren”, sondern auch einen wachsenden Unmut gegen die staatlichen grünen BSE-Maßnahmen – vor allem um die existenzzerstörenden Massentötungen von Rindern zu verhindern.

Als 2003 die Kälber des Landwirts Bernd Voß in Nordhastedt abtransportiert werden sollten, blockierten 350 Bauern den Hof. Sie fordern eine “Kohortenlösung”, d.h. im BSE-Fall nicht eine “Keulung” der gesamten Herde, sondern nur des betroffenen Tieres, seiner Familie und seines Jahrgangs. Den protestierenden Bauern gelang es, ein gerade geborenes Kalb beim herbeigeeilten Staatssekretär Rüdiger von Plüskow wieder loszueisen. Das Tier nahm die Nindorfer Bäuerin Michaela Timm in Pflege. Es wurde auf den Namen “Jeanne d’Arc” getauft und – nachdem in den nächsten Tagen alle Verhandlungen zwischen der Landesregierung und Michaela Timm gescheitert waren – auf einem anderen Hof versteckt.

Es kam daraufhin zu einem Streit zwischen der grünen Landwirtschaftsministerin, dem Land und dem Kreis Dithmarschen, wobei es zuerst einmal um die Frage ging: “Wer hat welche Ansprüche, und wie will er sie durchsetzen?” Gleichzeitig wurden von den Bauern überall im Land “Mahnfeuer” angezündet. Mit dem Kalb will die bäuerliche Notgemeinschaft nun einen eigenen Betrieb begründen, um einer drohenden Bestandssperre des Hofes der Familie Timm zuvorzukommen.

Der bäuerliche Widerstand – der von 1928/29 ebenso wie der in den Jahren 2000/2005 – ist zwar nicht auf die Westküste beschränkt, aber man ist sich einig, dass er durchaus mit der zähen friesischen bzw. dithmarschener Selbstbehauptung zusammenhängt – darin liegen sozusagen seine Wurzeln. Oder anders ausgedrückt – mit den Worten des Vorstandsmitglieds der Friesischen Akademie in Lieuwarden: “Nur wenn das Eigene nicht auf die Sphäre der privaten Liebhaberei beschränkt bleibt, ist es keine verlorene Sache.”

Und dementsprechend wurde auch der Friesenkongreß inzwischen aktiv. Er beauftragte den Friesenrat, in Ahnlehnung an die 15 Mio DM, die jährlich von Bund und Ländern an die sorbische Stiftung gezahlt werden, nun auch eine finanzielle Förderung für die friesische Minderheit zu verlangen – 100.000 DM wurden ihnen daraufhin sofort bewilligt, umgekehrt gründeten die ostdeutschen Sorben, inspiriert von den Aktivitäten der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, ebenfalls eine eigene Partei.

Die Sorben in der Lausitz sollten während der Nazizeit als “führerloses Arbeitsvolk” zum Straßenbau in den Osten deportiert werden, ihre Organisation, die Domowina, wurde verboten. Sie gehörte dann mit zu den ersten, die nach dem Einmarsch der Roten Armee wieder zugelassen wurden, später unterstützte die SED “ihre” Sorben großzügig. Diese Minderheiten-Politik wurde – mit Abstrichen – nach der Wende vom Westen fortgesetzt, außerdem wurde ein Siedlungs-Schutz für die slawischen Sorben in die Landesverfassungen von Brandenburg und Sachsen aufgenommen.

Das hinderte die Sozialdemokraten bis hin zum Kanzler Schröder jedoch nicht, gleichzeitig die zügige Abbaggerung des sorbischen Dorfes Horno zu verlangen, dessen Bewohner sich in toto weigerten, der Braunkohleverstromung zum Opfer zu fallen – d.h. den Baggern zu weichen. Gegen ihren Widerstand gab es bereits ein von der westdeutschen Energiegewerkschaft organisiertes “umgekehrtes Horno” in Form einer proletarischen “Mahnwache”, damit die Bagger das Dorf endlich plattmachen konnten – 4000 Arbeitsplätze seien sonst angeblich gefährdet. In der strukturschwachen Region Südbrandenburgs war die Politik der Landesregierung zusammen mit dem Oberbergamt und den Verwaltungsgerichten erfolgreich, denn inzwischen ist Horno bereits abgebaggert.

Aber so wie sich die extrem umweltschädliche Braunkohleförderung – also der Landabbau – seit der Liberalisierung des Strommarktes nicht mehr rechnet – und damit den in der Braunkohle arbeitenden Sorben in der Lausitz langsam die Existenzgrundlage entzogen wird, ist es auch mit der Landgewinnung an der friesischen Küste vorbei.

Hier wie dort zerfällt eine bäuerliche bzw. proletarische Kollektiv-Identität. In dieser Situation setzen beide Minderheiten auf staatliche Alimentierung – wenigstens ihrer Körperschaften. Im Gegensatz zu den Sorben sind die Friesen jedoch “kein Volk und auch kein Stamm, sondern eine Rechtsgemeinschaft” – der Schweizer Eidgenossenschaft ähnlich, wie Professor Ernst Schubert vom Göttinger Institut für historische Landesforschung kürzlich – auf dem 21.Friesenkongreß in Jever – ausführte. Deren zukünftiges Heil sieht man in einer wachsenden “Vernetzung” – hin zu einer eigengeprägten Identität als “Euroregion Frisia”. Wobei die Grenze der friesischen Sprache, die an immer mehr Hochschulen gelehrt wird, “leider mit der Landesgrenze nach Dänemark identisch ist”, wie man mir im Nordfriisk Instituut in Bredstedt erklärte. Das sei deswegen bedauerlich, “weil die EU besonders gerne grenzüberschreitende Aktivitäten fördert”.

Umgekehrt – von unten – übrigens auch: So wurde z.B. der Anti-AKW-Widerstand in Wyhl, im Dreyländereck, von vielen Schweizern und insbesondere Elsässern unterstützt, die sich bis heute auf Allemanisch untereinander verständigen, und zum Kampf in Wackersdorf rückten jedesmal so viele österreichische Sympathisanten aus dem nahen Salzburger Land an, dass die Regierungen ihnen schließlich den Grenzübertritt verweigerten. In Gorleben bemerkt man seit der Wende eine ansteigende Solidarität aus dem Osten, umgekehrt reisen viele Aktivisten aus Lüchow-Dannenberg regelmäßig zu Protestveranstaltungen nach Wittstock in die brandenburgische Region Prignitz, wo eine Bürgerinitiative gegen einen Bombenabwurfplatz der sowjetischen Streitkräfte und nunmehr der Bundeswehr kämpft.

Auch in Nordfriesland registriert man mit Genugtuung ein gestiegenes Interesse des Auslands an den bisher hier erkämpften Errungenschaften: Nachdem die Kurverwaltungen schon angefangen hatten, die ersten Strandkörbe reinzuholen, resümierte die “Dithmarscher Landeszeitung” die  Urlaubs-Saison 2003. Unter der Überschrift “Welt trifft sich im Nationalpark” hieß es da: “Umweltminister aus Süd- und Mittelamerika und der Mongolei, Lehrer und ein Filmteam aus Korea, ein Nationalparkdirektor aus Madagaskar und viele andere internationale Umweltexperten bereisten allein in diesem Jahr das Wattenmeer”. Hinzu kamen noch “1700 meist jugendliche Spielleute aus 6 Nationen” – zum internationalen Musikfestival nach Husum, sowie erneut etliche Prominente und Cineasten – zum erfolgreich über ganz Ostfriesland ausgedehnten Filmfestival von Emden. Touristen ließen sich jedoch heuer – wetterbedingt – nicht so viele blicken wie im Vorjahr. Meine Zimmervermieterin in Ockholm hatte sich gar nicht erst einen Quittungsblock angeschafft. Dafür kamen in diesem Jahr mehr Ringelgänse als sonst – aus dem sibirischen Partner-”Naturreservat Taymirski”. Die Bauern dürfen den gesammelten Kot der Gänse hernach bei der EU als Flurschaden in Rechnung stellen: Kleinvieh macht auch Mist – die dabei anfallende Menge pro Fläche zählt!

Daneben wird der “Küstenschutz” zunehmend von einem Arbeit-Nehmer zu einem Arbeit-Geber, d.h. der Einzelne wird immer weniger zu freiwilligen Deicharbeiten und Noteinsätzen herangezogen, das übernehmen Hauptberufler in den diversen Verbänden und Subunternehmen mit schwerstem Gerät, wo Landwirte höchstens noch als Ehrenamtliche in den Vorständen sitzen. Das Geld kommt vom Bund und vom Land, außerdem zahlen über 50.000 Grundeigentümer eine jährliche Deichsteuer. Auseinandersetzungen gibt es heute meistens zwischen den Deichverbänden und den Naturschützern. Im Endeffekt kommt es dabei im Küstenschutz zu immer neuen Arbeitsplätzen, mindestens Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Diesbezügliche Einbrüche gab es dagegen seit der Wiedervereinigung beim Nationalschutz – d.h. bei der Bundeswehr, die aber noch immer ein großer Arbeitsplatz-Beschaffer ist: Marine, Luftwaffe und Heer. Letzteres benannte sogar seine Kaserne in Heide nach der einzig historisch belegten Heldenfigur aus der Schlacht bei Hemmingstedt: “Wulf Isebrand” – ein Niederländer, dem mit seinem Schanzenplan und seinem vorbildhaften Verhalten im Kampf “der größte Anteil am Sieg der Dithmarscher Bauern zukommt”, wie das Landesmuseum in Meldorf meint. Ja, Freesenbloud is keene Bottermelk!

Dieses Haus des Salzwiesenschäfers Matthes soll jetzt mit Lottomitteln zu einem Museum umgebaut werden.

4.

Im “Fryslan”, dem Magazin für Geschichte und Kultur der friesischen Genossenschaft zu Leeuwarden, schreiben die Autoren Wim van Driel und Klaas Zandberg – über die Leeuwarderin Margaretha Geertruida Zelle: “Die Verbindung von Erotik, Spannung, Drama und Unschuldsvermutung gaben immer wieder aufs Neue Stoff für Bücher und Filme – über Mata Hari, die wohl bekannteste Friesin aller Zeiten”.

Bereits 1975 stellte die Verwaltungshauptstadt der Provinz Fryslan, Leeuwarden, ein kleines Denkmal vor Margreet Zelles Geburtshaus auf, das sie als Nackttänzerin Mata Hari zeigt. Und im Fries Museum Leeuwarden gibt es eine Dauer- Ausstellung über die 1917 als Doppelagentin hingerichtete Huthändler-Tochter. Sie wurde am 7.August 1876 geboren. Ihr Vater scheint sie sehr verwöhnt zu haben: “Großes Aufsehen erregte sie in der Stadt, als sie mit einem eigenen Ziegenwagen durch die Straßen fuhr”. Adam Zelle liebte es, Margreet, Griet genannt, als exotische Prinzessin auszustaffieren. Er war ein angesehener Kaufmann, sogar einmal Fahnenträger der Ehrenwache beim Besuch des Königs 1873. Anschließend ließ er sich vom Leeuwardener Maler A. Martin porträtieren. 1889 mußte er jedoch Konkurs anmelden und seine Familie fiel auseinander.

Margreet zog nach Leiden, wo sie eine Kindergärtnerinnenausbildung begann. Dort verliebte sich aber der Direktor in sie. Man zwang daraufhin das “friesische Flittchen”, die Schule zu verlassen. Margreet zog zu einem Onkel nach Den Haag. Dort las sie in einer Heiratsannonce “Offizier mit Urlaub aus Ostindien sucht Mädchen mit liebem Charakter, um eine Ehe einzugehen”. 1895 lernten sich die beiden kennen – und heirateten sogleich. Zunächst lebte das Ehepaar MacLeod in Amsterdam, wo Margreet ihr erstes Kind, Norman, gebar.

Danach zog die Familie nach Indonesien, wo sie ein zweites Kind, Jeanne, genannt “Non”, bekam. Dennoch paßte Margreet “nicht in die Zwangsjacke der Frau eines Offiziers in Ostindien, und er betrachtete ihr unabhängiges Benehmen als Ehebruch”. 1899 starb ihr Sohn. 1902 kehrte die Familie in die Niederlande zurück, wo Margreet die Scheidung beantragte. Zwar wurde ihr die Tochter zugesprochen und ihr Mann mußte für den Unterhalt aufkommen, aber erst zahlte er nicht und dann weigerte er sich, “Non” herauszurücken. Sie sah danach ihre Tochter nur noch einmal kurz im Jahr 1905 auf dem Bahnhof von Arnheim. Nach der Scheidung war Margreet 26 Jahre alt – und mußte “wieder von vorne beginnen”, wie das Fries Museum Leeuwarden schreibt. Sie ging nach Paris!

Einem Interviewer erklärte sie später: “Ich dachte damals, daß alle Frauen, die ihren Ehemann verließen, nach Paris gingen”. Beim ersten Mal scheiterte sie – und kehrte mittellos in die Niederlande zurück. Beim zweiten Mal, 1904, nahm sie dort Tanzunterricht. Bereits ihr Debüt – als orientalische Tänzerin “Lady MacLeod” im Salon der Baronin Kirejewsky war ein Erfolg: Es folgten weitere Auftritte in Privatsalons. Schließlich wurde sie vom Besitzer eines privaten Museums für asiatische Kunst, Guimet, eingeladen. Dort sollte am 13. März 1905 ihr erster öffentlicher Auftritt stattfinden, vorher dachten sich Guimet und Margreet einen neuen Künstlernamen für sie aus: “Mata Hari” – “aufgehende Sonne” auf Malayisch.

Das Fries Museum merkt dazu an: “Es ist der Anfang einer faszinierenden Karriere. In der Presse erscheinen lobende Kritiken…Einige Journalisten sind ein wenig kritisch über ihre Tanzkunst, aber die Tatsache, daß sie völlig nackt tanzt, macht viel Eindruck. Die Welt liegt ihr zu Füßen”. In den Interviews mit der “indischen Tänzerin” erfindet Margreet immer neue Geschichten über ihre Herkunft und ihre Initiation als Tempeltänzerin. Bereits ein Jahr später,1906, nach einem Auftritt in der Oper Monte Carlos im Ballett “Le Roi de Lahore” von Jules Massenett, ist sie die am besten bezahlteste Tänzerin Europas, über die zudem am meisten gesprochen und geschrieben wird. Margreet nimmt sich einen Agenten. Dennoch “ist das hohe Tempo nicht durchzuhalten,” so die friesischen Museologen: “Sie beschließt, sich etwas mehr Ruhe zu gönnen, sowohl in bezug auf Auftritte als auch in bezug auf die Männer. Jeweils nur ein Geliebter und für längere Zeit”.

Im Sommer 1906 ist das der Berliner Großgrundbesitzer und Leutnant Kiepert. Er mietet für sie ein Apartement in Kurfürstendamm-Nähe. Zwei mal tritt sie in dieser Zeit mit ihrer “indischen Nummer” in Wien auf. Eine Zigaretten- und eine Teesorte werden nach ihr benannt. Daheim in Leeuwarden versucht auch ihr Vater, an ihrem Ruhm zu partizipieren: Er veröffentlicht ein Buch “voller Erdichtungen und Phantasien” über seine Tochter. Margreet unternimmt weite Reisen – u.a. nach Ägypten. Anschließend tritt sie in Paris mit neuen Tänzen auf – hauptsächlich auf Wohltätigkeitsveranstaltungen. 1910 tanzt sie in Monte Carlo den “Danse du Feu” in der Oper “Antar” nach der Musik von Rimsky-Korsakov. Der Bankier Rousseau mietet das Chateau de la Dorée bei Tours für sie an und begleicht alle Rechnungen. In der Saison 1911/12 tritt sie in zwei Balletten der Mailänder Scala auf. Den darauffolgenden Herbst wohnt sie in einer Villa bei Paris, wo sie einige Male im Garten auftritt, begleitet von einem Orchester unter der Leitung von Inayat Khan, dem Begründer der Sufibewegung. Ihr Gönner, der Bankier Rousseau, muß Konkurs anmelden, Margreet ist gezwungen, wieder für Geld zu tanzen, nebenbei arbeitet sie in mehreren Bordellen gleichzeitig.

Als “spanische Tänzerin” tritt sie in einer Revue des Folies-Bergere auf. Anfang 1914 ist sie wieder bei ihrem Geliebten Kiepert in Berlin. Bevor sie im Metropoltheater tanzen kann, bricht der Krieg aus. Margreet läßt sich in Den Haag nieder. Der Baron und Kavallerieoffizier Van der Capellen hält sie aus. Sie reist von Hauptstadt zu Hauptstadt. “Im Frühjahr 1916 muß sie mit dem deutschen Geheimdienst in Kontakt gestanden haben,” heißt es vorsichtig im Fries Museum. Die Deutschen geben ihr den Codenamen “H-21″ – und 20.000 Francs Vorschuß. Im Juli 1916 ist sie wieder in Paris, wo sie sich in den jungen, aber wenig begüterten Vadime de Masloff verliebt, einen Hauptmann des ersten Russischen Kaiserlichen Regiments. Daneben aber auch noch in nicht weniger als 11 Offiziere – aus sieben Ländern: “Ich liebe Offiziere. Mein größtes Vergnügen ist es, mit ihnen zu schlafen, ohne an Geld zu denken”, wird sie sich später verteidigen, um den Spionagevorwurf zu entkräften. Dann lernt sie auch noch den Leiter des französischen Geheimdienstes, Hauptmann Ladoux kennen. Er macht ihr den Vorschlag, für Frankreich zu spionieren – in Brüssel. Auf dem Schiffsweg – über Spanien – wird sie in England von Bord geholt, weil man sie für die deutsche Spionin Clara Bendix hält. Margreet erzählt Scotland Yard von ihrem französischen Auftraggeber Ladoux. Dieser rät den Engländern daraufhin, sie nach Spanien zurückzuschicken – was auch geschieht.

In Madrid trifft sich Mata Hari mit dem Militärattaché der deutschen Botschaft, von Kalle. Am 2.Januar 1917 fährt sie nach Paris, wo sie Ladoux besucht, der bestreitet jedoch, mit ihr ein Arrangement getroffen zu haben. Fünf Wochen später verhaftet man sie in ihrem Hotel Elysées Palace. Ein Militärgericht klagt sie “prodeutscher Spionageaktivitäten” an – und befindet sie schließlich für schuldig. Ein Gnadengesuch des niederländischen Außenministeriums wird abgewiesen. Am 15.Oktober 1917 tritt sie vor ein zwölfköpfiges Erschießungskommando. Ihre Haltung – “bis zuletzt” – nötigt den Zeugen Respekt ab.

Es gab noch eine zweite berühmte Friesin: Franziska von Reventlow aus Husum (Nordfriesland). Über beide Frauen wurden inzwischen eine Unmenge Literatur und auch Filme veröffentlicht, meist von Frauen. Gerade erschien ein Reventlow-Roman von Franziska Sperr, der zu loben ist: “Die kleinste Fessel drückt mich unerträglich”. Zuvor hatte man bereits im Osten und im Westen zwei neue Biographien über Mata Hari veröffentlicht.

Die Friesen und erst recht die Friesinnen waren zu herausragenden Ich-Leistungen vor allem in der Emigration fähig – in Friesland selbst setzte ihnen wie erwähnt die Kollektiv-Ökonomie enge Grenzen. Die Gräfin Reventlow und Mata Hari erlebten erst den Niedergang ihres friesischen Heims, dann ging die eine nach Paris und die andere nach München. Zunächst heirateten sie einen sie versorgenden Spießer, dann entdecken sie die Kunst, das wilde Leben einschließlich Rauschgift und freie Liebe, dabei arbeiten sie zur Not auch als Prostituierte. Beide kommen währenddessen gut in der Welt herum, wobei es sie in die mondäne zieht, in der es Männer mit Geld gibt, obwohl sie eher jüngere minderbemittelte begehren – die eine linke Pazifisten, die andere patriotische Offiziere. Beide sind starke Einzelkämpferinnen und führen darüber Tagebuch, darüberhinaus wurde auch die Reventlow im Ersten Weltkrieg in einem “neutralen Kurort” mit einer buntgemischten Gruppe von Ausländern als Spionin verhaftet und verhört, weil man sie und ihren Begleiter verdächtigte, den Deutschen “Lichtsignale” gegeben zu haben, 1915 veröffentlicht sie darüber eine launige Kurzgeschichte: “Wir Spione” im Simplizissimus, 1918 stirbt sie nach einem Fahrradunfall im Krankenhaus von Ascona.

Was die als Spionin 1917 hingerichtete Mata Hari betrifft, so haben die Mata Hari Foundation und ihre Geburtsstadt Lieuwarden neue Beweise für ihre Unschuld gefunden und den französischen Staat verklagt. Ihre Recherchen basieren auf ein zweibändiges Werk über Mata Hari, das der 92jährige Résistance-Held Léon Schirmann veröffentlichte: “L’Affaire Mata Hari: autopsie d’une machination” Das ZDF berichtete am 6.2. 2004 darüber, wobei es zu dem Schluß kam, daß Mata Hari “verrucht aber unschuldig” war: “Auch wenn sie alles andere als eine Jahrhundertspionin war, so bleibt sie doch eine außergewöhnliche Persönlichkeit, die ihrer Zeit weit voraus war. Eine moderne Frau, die sich immer wieder neu erfand, intelligent, unabhängig, kosmopolitisch, freizügig, verführerisch, geheimnisumwoben, romantisch und pragmatisch zugleich”.

Die westfriesische Hauptstadt Lieuwarden ist heute nicht nur die “stad van Mata Hari”, sie hat noch eine weitere Berühmtheit vorzuweisen: Das etwa sieben Kilometer entfernte Friesendorf Jorwerd, über das wie oben bereits erwähnt der niederländische Publizist Geert Mak eine Studie veröffentlichte: “Wie Gott verschwand aus Jorwerd”. Sein Buch wurde in viele Sprachen übersetzt, im Deutschen bekam es 1999 den Untertitel: “Der Untergang des Dorfes in Europa”. Bei Leeuwarden wurde er sozusagen ausgelotet.

Um die Jahrhundertwende wohnten ungefähr 650 Leute in Jorwerd, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es noch 420, 1995 nur noch 330, wobei die meisten in der Stadt arbeiteten. 1956 schloß das Postamt, 1959 gab der letzte Schuster auf, der Hafen wurde zugeschüttet, die Bäckerei schloß 1970, zwei Jahre später wurde die Buslinie stillgelegt, 1974 gab der letzte Binnenschiffer auf, der Fleischer schloß seinen Laden 1975, der Schmied gab 1986 auf und 1988 machte der letzte Lebensmittelladen dicht, 1994 wurde die Kirche einer Stiftung für Denkmalschutz übergeben. Als ich das erste Mal – im Herbst 2000 – dort hin kam, hatte nicht einmal mehr die Dorfkneipe “Het Wapen van Baarderadeel” täglich geöffnet. Ansonsten sah das Dorf aber sehr freundlich und gemütlich aus. Der Autor Geert Mak meint denn auch am Schluß seines Buches – sinngemäß, daß man den Jorwerdern ihr langsames Verschwinden nicht anmerke: wie eh und je feiern sie alljährlich ihr rauschendes Dorffest, die “Merke” – “So lebt das Dorf weiter, im Traum des Frommen, im langsamen Tanz der Alten, in einer Leichtigkeit, die es früher nicht gekannt hat”.

Über die Ursachen aber, wie es dazu gekommen ist, gehen die Meinungen in Jorwerd auseinander. Für die Bäuerin Lies Wiedijk z.B. begann das Unglück damit, daß das Milchgeld, das ihnen jeden Freitag der Molkereifahrer ausgehändigt hatte, plötzlich auf ein Konto überwiesen wurde. Hiermit setzte die schleichende Verwandlung der Produktionsgemeinschaft in eine Konsumgesellschaft im kleinen ein, wobei die ökonomischen Banden nach und nach durch sportliche und kulturelle ersetzt wurden. Gerade die Neuhinzugezogenen stürzten sich häufig mit aller Energie ins Dorfleben, lernten Friesisch und traten dem Theaterclub bei. Da hier noch und zunehmend das Gesetz der kleinen Zahl galt, brauchte jedoch bloß einmal ein “aggressiver Schreihals in einen Neubau” einziehen – und ein paar Wochen in der Kneipe herumstänkern: schon blieben die Gäste aus. Zum Glück zog er wieder weg, “sonst wäre das wichtigste soziale Zentrum des Dorfes in ernste Schwierigkeiten geraten”. Geert Mak meint: “Mit der Landwirtschaft war die Stabilität nicht nur aus der dörflichen Wirtschaft, sondern aus dem gesamten sozialen Leben des Dorfes gewichen”.

Und die Landwirtschaft hatte man sukzessive mit den staatlichen Subventionen zur Förderung konkurrenzfähiger Agrarbetriebe aus den Dörfern vertrieben. Weit über 100.000 Bauern gaben nach 1945 in Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern alljährlich auf. Heute sind es allein in Deutschland noch 10.000 jährlich. Und ein Ende dieses Konzentrationsprozesses und damit der industriellen Tier- und Pflanzenproduktion ist nicht in Sicht. Was in der Sowjetunion die Kulakenvernichtung hieß, war und ist in Westeuropa die Vertreibung der Kleinbauern. Die “Bauernkultur” erlebte in der Mitte des 19.Jahrhunderts ihr letztes “großes Feuerwerk”, danach begann – mit der Mechanisierung – ihr Niedergang.

Im Mai 1940 setzten auch etliche Jorwerder “Bauern in ihrer Armut all ihre Hoffnungen (noch einmal) auf die neue Ordnung…Minne und seine Mutter traten begeistert den Nationalsozialisten bei, Lammert hatte sich sogar den Schwarzhemden angeschlossen”. Sietske, Fedde und Pieter versteckten dagegen untergetauchte Juden auf ihren Höfen: “Wir haben viel Spaß miteinander gehabt”. Dafür wurden sie nach dem Krieg in Israel geehrt, Lammert wurde zum Tode verurteilt, später jedoch begnadigt.

In den darauffolgenden Wiederaufbaujahren registrierten die Bauern die Brüche immer individueller: Für Sake Castelein war es die erste Melkmaschine, mit der “die Gemütlichkeit auf dem Hof innerhalb von ein paar Jahren verloren ging”. Für Bonne Hijlkema war es der erste Trecker 1960, und für Cor Wieddijk der erste Liegeboxen-Laufstall für die Kühe. Überhaupt wurde alles mehr und mehr auf Milchwirtschaft ausgerichtet. In Leeuwarden, dem regionalen Viehmarkt, stellte man ein großes Denkmal für eine Kuh auf, die von den Friesen sehr indisch “Unsere Mutter” – “Us Mem” – genannt wird. Nichtsdestotrotz verschwanden die Kühe von der Weide – und wurden bald ganzjährig im Stall gehalten, zudem derart hochgezüchtet, daß kein Tier mehr länger als drei bis vier Jahre seine “Milchleistung” hielt. Auch das bukolische Heumachen gab es bald nicht mehr, stattdessen lagen überall mit schwarzer Plastikfolie abgedeckte Feldsilos. Schließlich floß selbst für landlose Schweinebauern und Hühnerzüchter “das Geld in Strömen”: ihre Kinder “fuhren mit dem Mercedes zur Landwirtschaftsschule”.

Wegen der wachsenden Überproduktion zog die EU-Landwirtschaftspolitik die Notbremse: Es gab Abschlachtprämien für Kühe – und festgelegte Milchquoten. Die kleinen Milchbauern gaben auf – und verkauften ihre Quote: Noch “Mitte der Neunzigerjahre stellten in den Niederlanden durchschnittlich sechs Viehhalter pro Tag ihren Betrieb ein”. Inzwischen gibt es auch eine Mistquote. Und es mehren sich die Fälle von Viehverwahrlosung – “Früher hatte ein Kuh immer recht”. Jetzt ist sie ein Produktionsfaktor, so wie auch das Land, für das immer mehr “Naturpläne” aufgestellt werden: “Manche Grundstücke wurden zu Biosphärenreservaten erklärt – und der Bauer erhielt eine Kompensation. Es wurden sogar Planierraupen eingesetzt, um den fruchtbaren Ackerboden zu entfernen und das Terrain wieder künstlich karg zu machen.“

“Immer mehr Menschen erwarben sich ihren Reichtum durch Worte, durch Papier und abstrakte Geschäfte”. Dabei schien die Stabilität in der Provinz einer “heimlichen Panik” zu weichen. Früher wurde man hier umgekehrt wie in der Stadt ausgelacht, wenn man einer Mode folgte. Heute wird auch auf dem Land “ein Projekt nach dem anderen konzipiert – ausgereift und unausgegoren, brauchbar und wahnwitzig, alles durcheinander”. Feriendörfer, Yachthafen, Transrapid – es wimmelt von Masterplänen. So wurde Jorwerd zu einem Global Village.

Hier ist doch schon Wegelosigkeit – oder etwa nicht? Also was soll das Ganze…

5.

Das eigentliche “Friesland” (im engeren Sinne) hat sich mir erst 2005 erschlossen: Es ist grob gesagt die Gegend zwischen Wesermarsch und Wangerland, Wilhelmshaven, Leer und Jever. Dazu gehört auch noch die Insel Wangerooge, wohin man mich als Kind zwei mal im Sommer “zur Erholung” verschickte.

In Jever zeigte man mir 2004 die barocke Bibliothek des dortigen Gymnasiums, die eine eigene Buchrestauratorin beschäftigt. Diese war gerade dabei, über die in ihren Buchbeständen gefundenen Lesezeichen eine Ausstellung vorzubereiten.

Beim zweiten Besuch 2006 machte die im Jever Museum angestellte Kunsthistorikerin eine Schloßführung für uns. Zuvor war ich bereits einmal in Wilhelmshaven gewesen, wo ich mich primär für die dort situierte “Künstlersozialversicherung” interessierte – sowie mehrmals in Dangast, einem Badeort am Jadebusen: Einmal wegen einer dort in der Nähe wohnenden Frau namens Diane, die eine außergewöhnlich schöne Handschrift hat und zuletzt auf einem russischen Kreuzschiff im Mittelmeer arbeitete. Und zum anderen  wegen des Flohmarkts dort, auf dem u.a. auch antiquarische Bücher verkauft werden. Außerdem, weil Wladimir Kaminer im alten Kurhaus eine Lesung hatte, organisiert von seiner Agentin Petra, die ebenfalls aus Friesland stammt und in Jever zur Schule ging.

Von Dangast aus besuchten wir dann im Wangerland den Vorsitzenden des Bundesverbands für Windenergie Peter Ahmels, der dort in einem sehr schönen und sehr großen Bauernhof lebt, den vornehmlich seine vier Söhne bewirtschaften. Seine Frau arbeitet als Zahnärztin in Wilhelmshaven und er ist meist in seinem Berliner WKA-Büro. Auf ihren Äckern im Wangerland bauen die Ahmels Weizen an sowie Elefantengras (aus dem Heizbriketts gepresst werden). Daneben haben sie noch zwei Windkraftanlagen etwas abseits vom Hof in Betrieb.

Keine Berliner Bank wollte Ende der Neunzigerjahre dem Russen Kaminer ein Konto einrichten – da sprang die Jever Sparkasse ein, sie heißt genaugenommen Landessparkasse zu Oldenburg. Und weil sie in ihrem friesischen Wirkungsraum auch noch Kulturarbeit leistet, deswegen baute sie z.B. den alten überflüssig gewordenen Lokschuppen in Jever zu einem Veranstaltungssaal um, wo sie dann Kaminer, der inzwischen zu ihren Großkunden zählt, eine Lesung finanzierte. Und zwei Jahre später gleich noch einmal – im Bürgerhaus von Schortens/Heidmühl, ein friesischer Doppelort, der 2006 zur Stadt erklärt wurde.

Von der Kunsthistorikerin im Schloß zu Jever erfuhren wir anschließend einiges über die Geschichte dieses für mich Vierten Frieslands – nach West-, Ost- und Nordfriesland. Es war kein Wunder, dass ich es bis dahin quasi übersehen hatte, denn es unterscheidet wesentlich von den anderen dreien.

Das beginnt mit der dort mit einem Denkmal neben der Schloßeinfahrt geehrten friesischen Häuptlingstochter Maria von Jever (1500 – 1575) – als ihr die “Herrschaft” über das Jeverland zufiel. Wie alle Mächtigen wollte Maria ihr “Amt” sogleich vererbbar machen, das wurde ihr jedoch von den Friesen verwehrt. Die Vererbbarkeit von Titeln und vermeintlichem Eigentum – das ist sozusagen die Ursünde jedes lebendigen Gemeinwesens (siehe dazu Jacques Derridas Schrift über sogenannte “Schurken”- Staaten).

Der Vererbung von Ländereien mit oder ohne lebendem Inventar an mehr oder weniger schwachsinnige Nachkommen folgt auf dem Fuße die Erklärung der jeweiligen Herrschaft als gottgewollt und natürlich. “Das Geheimnis des Adels ist die Zoologie,” konnte Karl Marx deswegen sagen. Daraus folgt dann alles andere: dass es Menschen gibt, die zum Herrschen geboren sind und solche, die auf ewig dienen müssen z.B.. Und dieser ganze reaktionäre Quatsch endet noch lange nicht in Eugenik, Genetik und Evahermanisierung des gesamten Landes…

Demzufolge kann man heute im friesischen (Internet-) “Familienforum” lesen: “Maria hat viel für ihr Land getan. Sie erhob 1536 Jever zur Stadt, vergrößerte ihr Herrschaftsgebiet durch Neueindeichungen, erbaute Siele, förderte die Rechtspflege und unter ihrer Herrschaft blühte der Handel. Geheiratet hat sie nie. Doch scheint sie auch eine harte Herrscherin gewesen zu sein. Der Sage nach gab es einen jungen Mann namens Jan van Cleverns. Er war ein undankbarer Sohn, der seine Mutter schlug. Maria ließ ihm die Hand abhacken, damit er diese nicht mehr gegen seine Mutter erheben könne. Als sie 1575 starb, fürchtete man eine erneute Machtergreifung der Ostfriesen. Daher wurde ihr Tod geheimgehalten. Ihr Zimmer wurde verschlossen, das Essen vor die Tür gestellt. Ein Diener aß heimlich die Teller leer, damit niemand Verdacht schöpfen konnte, bis der rechtmäßige Erbe, Graf Johann VII von Oldenburg eingetroffen war.

Die Täuschung gelang so perfekt, dass noch heute die Sage geht, Maria sei nicht verstorben, sondern durch einen unterirdischen Gang verschwunden, durch den sie eines schönen Tages auch wieder zurückkehren werde. Daher läute man noch heute jeden Abend die Marienglocke, im Sommer um 22 Uhr, im Winter um 21 Uhr, um ihr den Weg zu weisen. Während der französischen Zeit haben die Franzosen das Läuten mehrfach verboten. Doch der Sage nach läuteten die Glocken von allein zur üblichen Zeit trotzdem. Der tatsächliche Hintergrund des Läutens ist allerdings die Polizeistunde, die Maria eingeführt hatte um ihren treuen Bürgern pünktlich nach Hause zu verhelfen. Maria ist noch heute mehr als eine historische Persönlichkeit. Sie ist in der Stadt allgegenwärtig und das sicherlich nicht nur für die Touristen. Niemand vor oder nach ihr hat so viel für das Jeverland getan.”

Das ist völlig unfriesischer unterwürfiger Regionalkitsch wenn nicht gar postfaschistisches Provinzdenken! Weil Maria “ihr” Jeverland damals (noch) nicht vererben durfte, verschenkte sie es an den Herzog von Oldenburg – mit der Maßgabe, dass es in Zukunft doch weitervererbt werden durfte – auch in weiblicher Linie. Auf diese Weise fiel Friesland (der Landkreis mit dem heutigen Autokennzeichen “Fri”) 1796 über die zoologisch-genealogisch verwickelten Verwandtschaftsbeziehungen des deutschen Kleinadels an die unbedeutende Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die sich dann allerdings überraschend zu Katharina der Großen aufschwang. Und damit gehörte Friesland plötzlich zu Russland.

Noch heute hängt das Bild der Zarin im Schloß zu Jever, unter dem dazumal Recht gesprochen wurde – aber jetzt nur noch mehr oder weniger kurzfristige Ehen geschlossen werden. Katharina hatte sich damals den Übergang von der Malerei auf Holz zur Leinwandmalerei zunutze gemacht – und sich quasi ständig von irgendwelchen renommierten Malern porträtieren lassen. Diese Porträts schickte sie zusammengerollte in jedes Amt ihres sich immer weiter gewaltsam ausdehnenden russischen Riesenreiches, womit sie sozusagen die ganzen Schweinereien und Willkürakte ihrer Beamte mit ihrem eigenen Bild – ikononenmäßig – von oben absegnete. Darüberhinaus ließ sie ihr Konterfei auch noch auf alle russischen Münzen prägen.

Nun war das Jeverland jedoch anders als weite Teile Russlands von ebenso selbstbewußten wie reichen Marschbauern besiedelt, sie besaßen z.T. sogar Handelsniederlassungen in der Stadt (Jever). Und immer wieder mußte ihre Herrschaft, der von Oldenburg eingesetzte Statthalter Katharinas der Großen vor Ort, die friesischen Bauern ermahnen, weniger edel und kostbar gewandet herum zu laufen, oftmals üppiger als der Adel selbst, so dass sie diese damit in Frage stellten und sich überhaupt für devote Untertanen ganz schlecht benahmen.

Aber um es kurz zu machen, Friesland wurde nach seiner letzten Regentin Maria von Jever nacheinander russisch, niederländisch, französisch und dann wieder russisch beherrscht. Im Schloß hängt noch ein Ölschinken vom Einzug der Kosaken in Jever 1813 – sie vertrieben die Franzosen. Sehr schön ist daneben auch ein an Malewitschs “Schwarzes Quadrat” erinnerndes Bild vom letzten Wolf im Landkreis, der 1738 erschossen wurde. Es ist das Lieblingsbild der Kunsthistorikerin.

1818 wurde dieses arg abseitig gelegene kleine russische Herrschaftsgebiet an die Oldenburger quasi zurückgeschenkt. Und 1933 entstand daraus das Amt Friesland im Rahmen der Oldenburgischen Verwaltungsreform aus der Vereinigung des bisherigen Amtes Jever mit dem größten Teil des Amtes Varel. Am 1. Januar 1939 erhielt das Amt seine heutige Bezeichnung “Landkreis Friesland”.

Zunächst wurde Wittmund neue Kreisstadt. “Aufgrund verschiedener Verfassungsklagen vor dem niedersächsischen Staatsgerichtshof in Bückeburg wurde die Kreisreform in Teilen als verfassungswidig festgestellt und dem niedersächsischem Landtag eine Überarbeitung des Gesetzes für den Raum Ammerland/Friesland nahe gelegt. Zum 1. Januar 1980 wurde die Reform zurückgenommen und die Landkreise Ammerland, Friesland und Wittmund in ihrer bisherigen Form wiederhergestellt. Kreisstadt ist seitdem wieder die Stadt Jever.” So steht es etwas pingelig in der entsprechenden Wikipedia-Eintragung, der man ja angeblich nicht trauen kann und darf. An anderer Stelle heißt es im Internet: Ausgehend von Maria von Jever “kam es nach über 400 Jahren zur Vereinigung von Ostfriesland und Friesland als Weser-Ems-Gebiet”.

Heute ist von der einstigen Russifizierung Frieslands kaum noch etwas zu spüren, sieht man von den Porträts im Schloß – von Katharina der Großen und ihrer Söhne/Nachfolger auf dem Zarenthron – ab, sowie von den gutbesuchten und fast schon regelmäßigen Lesungen Wladimir Kaminers im Jeverland. Aber noch immer gibt es dort in der Marsch etliche “dicke Bauern”. Neben der Pferde- und Rinderzucht verdienen sie am Tourismus sowie neuerdings auch am Windenergieboom. Wohl nicht zufällig kommt der Vorsitzende des Verbandes der Windkraftanlagenbetreiber von dort. Auch der Friesenpartei ist der Kampf für  Windmühlenflügel eines ihrer Hauptanliegen.

Schon wieder durchgefallen. Und das ist der einzige Automat in Wilhelmshaven, der noch Overstolz hat.

6.

Der Schweizer “Weltwoche”-Korrespondent Christoph Neidhardt legte in seinem Buch “Ostsee” die Vorstellung nahe, daß es sich dabei um ein Meer der Gesänge handelt. So spricht er z.B. von der “singenden Revolution der Esten”, die in ihrer Hauptstadt im übrigen das größte “Gesangs-Stadion” der Welt errichteten. Aber auch im lettischen Riga wurde bei der Konstituierung der dortigen Volksfront “immer wieder gesungen”. Zusammen hätten die beiden Völker “die Fronten der im Kalten Krieg erstarrten Ostseewelt” regelrecht “zersungen” – was dort aber quasi Tradition habe. Zu Zeiten der Hanse konnten “fahrende Spielleute und Ratsmusiker in jeder Stadt an der Ostsee arbeiten”. Vor allem die baltischen Städte “zogen viele wandernde Musiker an”. Gesungen wurde an der Ostsee bereits lange vor der Christianisierung: “Auf den Dörfern wurde mit Drehleiern, Strohfideln, Trummscheiten und Sackpfeifen musiziert.” Elias Lönnrot in Karelien und Friedrich Reinhold Kreutzwald im Baltikum sammelten bereits Mitte des 19. Jahrhunderts dörfliche Liedtexte…”1990 rappten die jungen Rigaer für Lettland”. Die Esten sagen rückblickend, sie seien während der Sowjetzeit in ihr “Liedgut emigriert”. Heute touren “ihre Chöre um die ganze Welt”.

Man könnte noch hinzufügen: In Litauen wurde 1991 der Komponist Vytautas Landsbergis zum Staatspräsidenten gewählt und wenig später ein Matrosen-Punksong zur Quasi-Nationalhymne erkoren. Aus Riga stammt der Record-Artist „Eastbam“. Die Polen und Russen haben bekanntlich schon immer gerne gesungen, die Finnen sind geradezu tangovernarrt, die Schweden mischen spätestens seit Abba in der internationalen Musikscene mit und in Dänemark kennt man ebenfalls viele lustige Lieder. Im ostelbischen Deutschland hatte zuletzt das sozialistische Liedgut ein Zuhause und die Wende wurde dort – mindestens in der Heldenstadt Leipzig – von einem Dirigenten namens Kurt Masur angeführt.

Neben der Gesangskunst, die am Mare Balticum gedeiht, arbeitet der Autor Christoph Neidhardt aber auch noch heraus, daß die Ostsee a) “ein Milchsäuremeer” und b) “eine See der starken Überzeugungen” ist – gemeint sind vor allem Sozialdemokratismus und Bolschewismus, ferner, daß man dort überall gerne Kaffee trinkt. Und dann steigt auch noch das Land ringsum langsam aus dem Meer empor.

Genau umgekehrt ist es an der Nordsee: hier handelt es sich bei den Küstenstreifen durchweg um sinkendes Land. Statt Kaffee bevorzugt man Tee. Und von den Bewohnern des “Mare Frisicum” behauptete bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus kategorisch “Frisia non cantat!” Seitdem haben unzählige Volkskundler und Regionalforscher den Beweis erbracht, daß die Friesen nicht nur kaum eigenes Liedgut besitzen, sondern überhaupt wenig auf Dichtung und Literatur geben. Dafür haben sie anscheinend eine Begabung für die Mathematik: “Am ausgesprochensten ist der Sinn der Friesen für Rechnen”, schreibt der Friesenforscher Rudolf Muus. Erklärt wird dies u.a. damit, dass das in drei getrennten Nordsee-Regionen – Hollands, Niedersachens und Schleswig-Holsteins – siedelnde Küsten- und Handelsvolk keine einheitliche Sprache hat, so daß die Verständigung immer über eine vierte – Hochsprache – erfolgen muß, wobei es ihnen primär um kaufmännigliche Vorteile geht.

Dennoch oder deswegen oder desungeachtet waren die Friesen fast immer frei: Sie haben mehrere Schlachten gegen Adels- und Bischofsheere gewonnen und erfolgreich städtische Revolutionen durchgeführt. Um 1230 wird ihnen quasi offiziell bescheinigt: “omni jugo servitutis exuti” – Sie haben das Joch der Knechtschaft verlassen. “Seltsam nahm sich Friesland unter den deutschen Territorien aus,” schreibt der Groninger Historiker I.H.Gosses: “Kein Graf, keine Lehnsleute, fast keine Ritter, keine Unfreien, keine ummauerten Städte; ein Land freier Bauern”. In dem die “Amtsgewalt nicht von oben – von einem Grafen, der den König vertritt, sondern von unten, aus der Rechtsgemeinde” hervorgeht, deren Bemühungen schließlich in das kodifizierte Stammesrecht “Lex Frisiorum” münden.

Im politischen Kampf um den Erhalt der “friesischen Identität” war noch 1848 der Schriftsteller Theodor Storm in das ihm verhaßte preußisch-deutsche Exil abgetrieben worden, nachdem das dänische Heer die “schleswig-holsteinische Freiheitsbewegung” zerschlagen hatte. Auch als dann einige Jahrzehnte später Preußen an der “Düppeler Schanze” die Dänen zurückschlug und Storm als Landvogt im Triumph nach Husum heimkehrte, konnte er sich nicht recht über diese Fremd-”Befreiung” freuen. Deutschland und Friesland wissen die Friesen bis heute sauber zu unterscheiden. So antwortete mir z.B. der Emder Bürgermeister, auf die Frage, was er früher gewesen sei: “Die bisherige ostfriesische Evolution verlief vom Bauern und Fischer über den Hafen- und Werftarbeiter zum VW-Arbeiter. Ich habe ebenfalls auf der Werft gearbeitet, aber dann auch in Deutschland: vier Jahre – in Köln, dann bin ich jedoch wieder nach Emden zurückgegangen”.

Diese Behaarlichkeit der Friesen erklärt die Forschung damit, daß sie in den Marschen auf von ihnen selbst geschaffenem Land siedeln: “Deus mare, Frisio litora fecit” so sagen sie es selbst: Gott schuf das Meer – und die Friesen die Küste! Diese wenig christliche, selbstbewußte Haltung im Verein mit ihrer Neigung zu Partisanenkampf, Piraterie und Strandräuberei hat die Kirche lange Zeit vergeblich zu bekämpfen versucht, sie hatte dort denn auch mancherorts schon Schwierigkeiten, den Zehnt einzutreiben, auf Sylt z.B., und ihr altes heinisches Heiligtum Helgoland ist bis heute eine zoll- und steuerfreie Zone.

Wiewohl Bauern, Händler und Seefahrer, besteht die eigentliche Kulturleistung der Friesen in der Landgewinnung – durch den Bau von Deichen gegen die Flut und Sielen zur Entwässerung bei Ebbe. Das Husumer Nissenmuseum – einst von einem friesischen Auswanderer, der in Amerika reich wurde, gestiftet – ist deswegen auch vor allem ihrer Deichbau-Kunst gewidmet. Ein anderer Auswanderer – nach Deutsch-Südwest-Afrika, Sönke Nissen, finanzierte sogar die Eindeichung eines ganzen nach ihm dann benannten Koogs (Polder in Westfriesland genannt), inklusive der darin errichteten riesigen Bauernhöfe. Und der Husumer Dichter Theodor Storm wurde nach seinem Tod vor allem mit seinem Deich-Drama “Der Schimmelreiter” bekannt. Umgekehrt benannte man einen nach dem Zweiten Weltkrieg eingedeichten Koog nach seinem Novellen-Held, den Deichprojektierer “Hauke Haien”.

Mit einer seltsam sturen Leidenschaft versucht dieses stets entlang der Nordseeküste und auf den Inseln bzw. Halligen siedelnde Volk allen Stürmen von See (aber auch allen Heeren von Land) die Stirn zu bieten. Inzwischen hat ihr “Projekt” – über die Jahrhunderte hinweg – “etwas absolut Extravagantes” im Sinne einer “poetischen Erfindung”, eines “Unternehmens von großer tragischer Thematik” bekommen, wie der italienische Schriftsteller Giorgio Manganelli im “Corriere della Sera” 1985 schrieb.

Schon den römischen Gelehrten Gajus Plinius Secundus hatten einst die Friesen ins Grübeln gebracht: dieses “armselige Volk”, das auf “hohen Erdhügeln” in Schilfhütten lebt und mit “getrocknetem Kot” seine kärglichen Speisen kocht, damit sich “ihre vom Nordwind erstarrten Eingeweide erwärmen”. Bei Flut, “wenn die Gewässer die Umgebung bedecken, gleichen sie mit ihren Hütten den Seefahrern, Schiffbrüchigen aber, wenn die Fluten zurückgetreten sind”. Dennoch wollten die Friesen sich partout nicht den reichen, zivilisierten Römern unterwerfen: “wahrlich,” schloß Plinius, “viele verschont das Schicksal zu ihrer Strafe”.

Indem sie dann jedoch – ausgehend von den Flussläufen – anfingen, das Land einzudeichen, die Moore und Sümpfe trocken zu legen und neues, künstliches Land zu schaffen, verzichteten sie erst auf die Wohnhügel (Wurten bzw. Warfen genannt) und dann auch auf Haufendörfer. Gleichzeitig entstand durch die Notwendigkeit des andauernden Deichbaus und – erhalts ein enger – kein völkischer, sondern ein eidgenössischer – Zusammenhalt, der sich u.a. in einer Kollektivmoral gegenseitiger Hilfe äußerte: “Wer nicht will deichen – muß weichen!”, gleichzeitig aber auch eigenwillige Konfliktlösungsstrategien hervorbrachte sowie grüblerische Charaktere.

Bei Sturm geht der Friese auf den Deich und schaut schweigend über das tosende Meer. Aber auch sonst, während man sich z.B. in Süddeutschland, vor allem in Wien, lärmend auf der Couch wälzt und an der Ostsee anfängt zu singen – heißt es in Friesland: Wo Blanker Hans war – soll Ich werden!

Schon Sigmund Freud griff bei der Beschreibung des Prozesses der Ich-Bildung auf eine friesische Deichbau-Leistung zurück, als er die Notwendigkeit zur Sublimation, d.h. der Kulturarbeit, mit der “Trockenlegung der Zuidersee” verglich. Wilhelm Reich hat demgegenüber dann, von Kopenhagen und Oslo aus, eher die Notwendigkeit der genitalen Befriedigung, d.h. das Sich Verströmen und Fließen Lassen, ein “ozeanisches Gefühl”, betont. Eine derartige Wunschpolitik müßte laut Klaus Theweleit in die antifaustische Formel münden: “Wo Dämme waren, soll (wieder) Fluß werden!”

Der Friese gönnt sich eine solche Deterritorialisierung nur in Form des Fernwehs, dem er dann als Seefahrer auch immer wieder nachgibt. Dieser Sturm und Drang rechtfertigt sich dadurch, daß das friesische Ich zu großen individuellen Leistungen vor allem im Ausland fähig ist. Im “Inneren” setzt dem die altehrwürdige Kollektiv-Ökonomie Grenzen. Das ist der Kern der berühmten Stormschen Novelle über das Scheitern – “Der Schimmelreiter”: “Als Exponent der von Storm so hoch geschätzten Selbstverwaltung ist der Deichgraf auf demokratisches Miteinander angewiesen; Hauke Haiens Verhältnis zu seinen Dorfgenossen aber ist gestört,” schreibt der Stormbiograph K.E. Laage. Storm selbst spricht von “der Ehrsucht und dem Haß” in seinem Herzen. Gerade als er eine neue – flache – Deichkonstruktion, die heute nebenbeibemerkt überall zu finden ist, durchsetzen will, gerät er “in Gegensatz zu seinen Freunden” – und scheitert.

In der berühmten fast dokumentarischen Verfilmung der Novelle – aus dem Jahr 1933 – wird diese Handlung an einigen wenigen aber entscheidenden Stellen zugunsten des “Führergedankens” verändert. Dadurch bekommt das Stormsche Drama ein Happy-End – und aus dem menschlich-fragwürdigen Deichgrafen, der zuletzt bereut, wird ein rundum positiver Held – der Neuen Zeit, dem Nationalsozialismus, vorauseilend. Auf diese reagierte man in den drei friesischen Siedlungsräumen dann jedoch durchaus unterschiedlich: Die militante, autonome Landvolkbewegung der reichen nordfriesischen Bauern (Gräser) Ende der Zwanzigerjahre verschwand fast sang- und klanglos im “Reichsnährstand”, nachdem die sozialdemokratische Regierung ihre Aktivisten kriminalisiert hatte. Die eher proletarisch orientierten Ostfriesen verschanzten sich in Mikropolitik. Und die Westfriesen wagten den Widerstand, indem sie Teile ihres eingedeichten Landes unter Wasser setzten, Sabotage verübten und Juden vesteckten. Von den 120.000 holländischen Nazi-Kollaborateuren waren 5000 Friesen, aber auch von diesen gingen nur wenige so weit, dass sie ihre Nachbarn verrieten – und deswegen nach dem Krieg hingerichtet wurden.

Wenn immer wieder betont wird, dass die Friesen dem Singen abhold sind, dann hängt dies mit ihrer gemeinschaftlichen Position in der Ambivalenz zusammen – zwischen Verlockung und Furcht gewissermaßen eingeklemmt. “Die ganze Küste ist äußerst labil”, urteilt der Kölner Historiker Otto Jessen. Vom Land her droht Unterwerfung, verbunden jedoch mit verheißenem Wohlstand. Während die Seeseite mit neuen (Siedlungs-)Räumen lockt, im Sturm aber auch alles verschlingen kann. “Nordsee ist Mordsee”, so hieß einmal ein Jugendfilm von Hark Bohm. Es gab eine lange Zeit, in der Friesland wegen der Sümpfe und Moore leichter von der See als von Land her erobert werden konnte.

In dem berühmten “Freesenleed” heißt es:

“wo de Möwen schrien, hell in’t Stormgebruus,

dor is miene Heimat, dor bün ick to huus.

Well’n un Wogen sungen dor mien Weegenleed,

un de hogen Dieken kenn’t mien Kinnerleed,

kenn’n ook all mien Sehnsucht, as ick wussen weer,

in de Welt to fleegen, över Land un Meer.”

Dieses “Friesenlied” schrieb eine Frauenzeitungsredakteurin im Jahr 1907 – die sinnigerweise aus dem Ostseebadeort Zingst am Darß (!) stammte. Ein in München lebender Flensburger (!!) brachte es dann nach Zürich (!!!), wo ein Arbeitergesangsverein es vertonte. Daneben gibt es noch mehrere hochdeutsche “Ostfriesenlieder” sowie auch ein holländisches Friesenlied, das in den Niederlanden als Wiegenlied bekannt wurde. Aber auch in jenem “Freesenleed”, das gewissermaßen die Ostsee den Friesen andichtete, singen nur Möwen, der Sturm und das Meer – kein Mensch. Und an die Gesänge der Mutter kann dieser sich auch nur noch vage erinnern: angesichts des männlich-mächtigen Damms ringsum – lange nach “Deichschluß”, wie man den dramatischen Abschluß einer Landgewinnungsmaßnahme nennt, der früher in ein Tieropfer gipfelte. Im Lied werden ihm nun die Jugendträume dargebracht.

“Sich (damit) abfinden und gelegentlich auf Wasser sehen,” riet Dr.Gottfried Benn aus Landsberg/Gorzów. Laut Rudolf Muuß, einem Pastor aus Stedesand, redete ein friesischer Bauer in den Zwanzigerjahren seinem Sohn die Sehnsucht in die Ferne mit den Worten aus: “Mien Söhn, wat wullt du dor buten? Hier is de Masch und de ganze annere Welt ist bloots Geest”. Noch im Jahr 2004 bestätigte der junge Dithmarschener Bauer und Filmregisseur Detlev Buck diese altfriesische Welt- und Weitsicht, als er – in der taz – schrieb: “Bin einmal um die Welt geflogen, hab gemerkt, das ist ja nicht viel, worum sich’s dreht, und – Mann, da ist ja viel Wüste, mehr als alles andere. Und habe beschlossen, verdientes Geld aus der Filmunterhaltung in Land anzulegen.”

Nicht nur die Friesen lockt das Meer (das im Französischen gar mit dem Wort Mutter ineins klingt) in Form verführerischer Frauen, die man Nixen oder auch Meerjungfrauen nennt. Die Dänen haben solch eine gar zum Wahrzeichen ihrer Ostsee-Hauptstadt gemacht – so als wäre diese die Frucht einer glücklichen Verbindung zwischen Land- und Meeresbewohnern. Als solche begreift sich im übrigen auch das kleine sibirische Volk der Niwchen, das am Ochotskischen Meer lebt und eine Meer-Frau als Urahnin verehrt. Neuerdings besitzt auch das Ostseebad Boltenhagen eine bronzene Nixe, die auf einem Findling im Meer sitzt, sie schaut allerdings nicht wie die Kopenhagenerin aufs Wasser, sondern “etwas unbestimmt in Richtung Ufer”, wie die FAZ schreibt.

Den Friesen locken jedoch selbst diese notorischen Sängerinnen nicht mit Liedern aufs Meer oder in die Tiefe – im Gegensatz zu den vielen Kulturträgern oben auf der Geest:

Angefangen mit den homerischen “Sirenen” des Odysseus, der seiner Schiffsmannschaft die Ohren verstopfte, um sie vor deren “verderblichen Gesang” zu retten. In Goethes Gedicht “Der Fischer” ist es dann ein “feuchtes Weib”, das dieser vor sich im Wasser auftauchen sieht: “Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;/ Da war’s um ihn geschehn:/ Halb zog sie ihn, halb sank er hin/ Und ward nicht mehr gesehn.” In Heinrich Heines berühmten Gedicht über “Die Heimkehr” wird aus den Sirenen eine langhaarige Flußnixe: “…Ich glaube, die Wellen verschlingen/ am Ende Schiffer und Kahn;/ Das hat mit ihrem Singen/ die Loreley getan”. In den darauffolgenden „Undine“-Variationen ist es eher die Frau, die liebt – und leidet. Die Autoren  ließen sich dabei zunächst von einer Schrift des Paracelsus aus dem Jahr 1590 inspirieren: “Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris, et de caeteris spiritibus”, das zunächst die allerchristlichsten Hexenverfolger auf die Idee der “Wasserprobe” gebracht hatte.

„Droh mir nicht mit dem Zeigefinger“…“Das ist mein Eyeliner. Lenk nicht ab!“.

7.

Neulich saß ich in der Kneipe „W. Prassnick“ in der Torstraße, aß das „Tagesgericht“ und las in der FAZ – einen langen Artikel der mir bis dahin unbekannten Anne-Dore Krohn. Sie erzählte darin eine Geschichte von 1989ff, da war sie zwölf und ging in Zehlendorf aufs Gymnasium. Eines Tages kam ein Mädchen aus dem Osten, dem nahen Kleinmachnow, in ihre Klasse und dieses Mädchen war so selbstbewußt und klasse, dass sich schon bald die Mädchenclique der Autorin um sie scharrte und ihre Freundschaft suchte. Die in Kreuzberg wohnende Anne-Dore Krohn hat Undine kürzlich noch einmal besucht, diese wohnt jetzt in Pankow bzw. umgekehrt: Undine hat Anne-Dore Krohn in Kreuzberg besucht. Dort hat die Autorin ihr, während sie Rotwein tranken, erzählt, dass sie einen Artikel schreiben möchte – mit dem Titel: „Undine kommt!“  Und so geschah es dann ja auch. Ich war gerührt – zahlte mein Essen und ging.

Aber nur eine Ecke weiter – in die Gaststätte „Baiz“. Dort an der Theke fiel mir irgendwann ein, dass der Titel des Artikels „Undine kommt“ eine Anspielung auf den Titel einer feministischen Erzählung von Ingeborg Bachmann war: „Undine geht“…

Dieser Titel hatte sich wiederum auf ein romantisches Märchen von Friedrich de la Motte Fouqué: „Undine“ bezogen. Dabei handelt es sich um eine kleine reizende Nixe aus dem „Mittelländischen Meer“ die einen Mann mit Gesang umwirbt – um durch Vermählung mit ihm in den Genuß einer Seele zu kommen. Nachdem er sie als Hexe beschimpft hat, verschwindet sie jedoch  wieder im Wasser, d.h. „verströmt sich“ – um ihn zuletzt mit einem zärtlichen Kuß in den Tod zu befördern.

Fouqués „Undine“ wurde zum Vorbild für Hans-Christian Andersens „kleine Meerjungfrau“. Und 1961 für Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“. Auch hier wendet sich die Frau, wieder „unter Wasser“, noch einmal, ein letztes Mal, an den Mann, an die  Männer – „Ungeheuer“ und „Verräter“ allesamt. (1)

Ich habe vorweggegriffen,  denn erst einmal war mir dort an der Theke des „Baiz“ nur der Titel dieser Erzählung wieder eingefallen. Aber dann hörte ich, wie ein Gast zu der Frau am Zapfhahn sagte: „Mach mir auch eins, Undine.“

„Heißt du wirklich Undine?“ fragte ich sie daraufhin in einem passenden Moment. Als sie das bejahte und sogleich noch hinzufügte – „so wie die Undine geht von  Ingeborg Bachmann“, da erzählte ich ihr kurz von dem Artikel „Undine kommt“. Sie war sehr daran interessiert. Da ich die Zeitung durch hatte, schenkte ich sie ihr. Und so kamen wir ins Gespräch, wobei ich von den e.e. „Undine“-Fassungen erfuhr. Aber es war vor allem der Frauenname, der hängen blieb, weil er mir gleich mehrmals an dem Tag begegnet war.

Und das sollte sich fortsetzen. Ich besuchte kurz darauf eine Veranstaltung der Zeitschrift für Politik, Theorie und Alltag: „Polar“ – in den Sophiensaelen. Auf dem Podium saß u.a. die sympathische grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms, eine Baumschulgärtnerin, die in der Anti-AKW-Bewegung aktiv war und dann in der „Wendländischen Filmkooperative“ mitarbeitete. Sie erzählte ein paar Erfahrungen aus Brüssel. Dorthin war sie zunächst, 1984 – nach einem abgebrochenen Studium, als Mitarbeiterin der Europaparlamentsabgeordneten Undine von Blottnitz gekommen, ebenfalls eine Anti-AKW-Aktivistin aus Gorleben – und eine Undine: „Kämpferin bis zum Ende“ titelte der Spiegel, als sie 2001 starb. Und dann entdeckte ich gleich noch eine Undine. Im Publikum saß die ehemalige Hausbesetzerin Rahel Jaeggi. Sie war Redakteurin bei „Polar“ geworden und zudem inzwischen Philosophieprofessorin an der Humboldt-Uni. Im Berliner Philosophen-Montagskreis „MoMo“ hatte sie einmal einen Vortrag über „Freiheit und Indifferenz“ gehalten. Und dort referiert auch immer mal wieder die Philosophin Undine Eberlein – über „Leibliche Resonanz“. Im „Freitag“ fand ich zu ihr den Hinweis, dass diese Undine im Gegensatz zu der anderen gesund und munter ist und gerade an einem Forschungsprojekt zum Thema „Schönheit“ arbeitet. In ihrem Artikel darüber heißt es an einer Stelle: „Schönheit, in all ihrer Flüchtigkeit [ich las zuerst Flüssigkeit], ist ein Versprechen des Glücks.“ Ich dachte dabei in der Tat  an das Zerfließen von Ich-Grenzen. Undine Eberlein spricht am Ende von einer „Erfahrung der Präsenz von Lebendigkeit und Intensität“.

In der „Zeit“ fand ich einen Hinweis – auf eine weitere Abgeordnete der Grünen (im Bundestag), die Undine heißt: Undine  Kurth aus Quedlinburg. Es gibt viele Internet-Eintragungen von ihr und über sie – bis hin zu „abgeordnetenwatch.de“, ein extrem unseriös klingender Onlinedienst. Dagegen wird auf einer Webseite der Grünen in Euro und Cent genau vorgerechnet, „was Undine Kurth als Abgeordnete verdient“. Sie scheint sich im Parlament vornehmlich für die Neuregelung der  Natur- und Tierschutzrechte auszusprechen. Außerparlamentarisch engagiert sie sich u.a. für Elefanten, Zirkustiere, Pelztiere, Delphine, Haie, Wölfe, Wildkatzen und Affen.

Die Undinereihung in meinem Leben, die ich z.T. per Mausclick vorantrieb, ging weiter: Eines  Morgen saß ich am Schreibtisch, blätterte unkonzentriert einen Stapel Zeitungen durch und stieß dabei auf einen ebenso langen wie unangenehmen Artikel vom „Merkur“-Herausgeber Karl-Heinz Bohrer. Während ich ihn schon beiseite legen wollte, fiel mir ein, dass der Autor doch mit der Schriftstellerin Undine Gruenter verheiratet ist oder war: Was ist eigentlich mit der, die sich der Bachmannschen Undine gewissermaßen verpflichtet fühlte?

Bei Wikipedia heißt es, dass sie 2002 mit Fünfzig in Paris starb, wo sie 1987 hingezogen war – weg von Bohrer. Ein Satz aus ihrem „Journal 1986 bis 1992: Der Autor als Souffleur“ lautet:

„Eine Mutter, die es versteht, mich noch mit 35 Jahren in ihre Selbstinszenierungen als Statistin hineinzuziehen. Eine Mutter, mit der ich wieder, immer noch, verkehre, ohne jemals eine Aussprache gehabt zu haben. Aus Ablehnung einer Rache, die mich selbst vergiften würde.“ Kurz vor ihrem Tod beendete Undine Gruenter die Arbeit an ihrem Roman „Der verschlossene Garten“.

Fast zur gleichen Zeit veröffentlichte eine andere Undine – mit Nachnamen Kalmus, ein Buch mit dem Titel „Gewässer im Garten“, und eine gewisse Undine Leverkuehn „Wege durch Seelenlandschaft“. Dabei handelt es sich um eine Lyriksammlung.

Auf der Suche nach einem Gedicht von dieser Undine  stieß ich auf die Ankündigung eines ganzen „Deutschen Undine-Treffens“ – leider nicht in Berlin, sondern im bayrischen Kloster Benediktbeuren. Organisiert von Eva Brandenbusch und Dr. med. Cseke treffen sich hier auch keine Lyrikerinnen und auch nicht alle Frauen, die Undine heißen, sondern Menschen, die am „Undine-Syndrom“ leiden. Dieses Leiden ist laut Wikipedia „eine seltene angeborene Erkrankung des zentralen Nervensystems, bei der die normale autonome Atmungskontrolle fehlt oder gestört ist. Die Bezeichnung Undine-Syndrom geht auf eine germanische Legende zurück, in der die Nymphe Undine einen Fluch über ihren untreuen, irdischen Mann legte, der ihm die autonome Atmungskontrolle nahm, sodass er im Schlaf starb.“

Im österreichischen Kurort Baden spielt diese Nymphe noch heute eine wichtige Rolle und deswegen hängen bzw. stehen dort gleich  mehrere Kunstwerke, die sie darstellen. Seit 2004 wird zudem ein internationaler Filmpreis für Nachwuchsschauspieler im deutschen Sprachraum, den der Kurort Baden alljährlich verleiht – nach Undine benannt. Und dann gibt es dort auch noch eine Frauenberatungsstelle, die sich „Stützpunkt Undine“ nennt.

An der Ostseeküste wurde 1910 ein Seebäderschiff auf den Namen Undine getauft. Das auf der Rostocker Neptun-Werft gebaute Schiff ging bereits zwei Mal unter, derzeit soll es angeblich auf  einer Werft in Dresden restauriert werden. Wie ist es da hingekommen? Ich erinnere mich allerdings, dass die ganzen Undine-Märchen, -Lieder, -Gedichte, -Opern auch schon – mal in Salzwasser und mal in Süßwasser spielten. Allerdings ging die Undine in diesen ganzen Bearbeitungen nur einmal unter, was ihr als Nymphe jedoch nicht sonderlich schwer fiel – also kein Unglück war. Ebenfalls in Süßwasser, nämlich an der Elbe bei Hamburg,  liegt noch ein Schoner namens Undine – er ist heute Europas letzter aktiver Frachtsegler, wie es heißt.  Seine Fracht besteht jedoch inzwischen aus schwererziehbaren Jugendlichen, die durch die „Sachzwänge und Aufgaben an Bord“ vor dem Untergang bewahrt, d.h. zu anständigen Menschen erzogen werden sollen – laut des „Betreuungsvereins  ‚Gangway'“.

Als ich das nächste Mal in der Kneipe „Baiz“ an der Theke stand erfuhr ich von der dort arbeitenden Undine, dass sie nur einmal bisher eine andere Frau getroffen habe, die auch Undine hieß – mit der sei sie dann auch gleich ins Gespräch gekommen. Die Frau  stammte aus Rathenow, wo es noch mehrere Undines gäbe, denn dort in der Nähe befände sich das Gut Nennhausen, das Friedrich de la Motte Fouqué gehörte – dem Verfasser des romantischen Märchens „Undine“. 1998 benannte man die Stadtbibliothek von Rathenow nach ihm. Außerdem kreierte man dort ein „Undine-Logo“, mit dem alljährlich ein „Wettbewerb für neue Märchen“ beworben wird. All das habe dazu geführt, dass die Eltern in und um Rathenow ihren  neugeborenen Mädchen gerne den Namen Undine geben.“

Im Internet annonciert auch noch ein  „Schwimm Sport Verein Undine 08“ – allerdings nicht in Brandenburg, sondern in Mainz sowie eine Rudergesellschaft „Undine e.V.“ – in Saarbrücken.

Und ferner eine Ethnologin – an der Freien Universität Berlin, die Undine mit Nachnamen heißt. Aber  nicht nur das, zu ihrem, Urte Undines, Forschungsschwerpunkten gehören auch noch „Natur-Kultur-Beziehungen“ sowie „Naturgefahren“. Über letzteres schrieb die FAZ – laut „berlinerliteraturkritik.de“: „Die Behandlung der kulturellen Deutung und Verarbeitung von Naturkatastrophen lasse einiges zu wünschen übrig. Urte Undine Frömming habe sich weder einfach, klar noch ausführlich ausgedrückt.“ Immerhin – wird positiv vermerkt, dass sich die Autorin lange auf der indonesischen Insel Flores aufhielt und in Riten eingeweiht wurde, die die dortige Bevölkerung gegen die häufigen Vulkanausbrüche entwickelte. Die FU offeriert Urte Undines Institutsbereich „Anthropology of Nature and Disaster“ etwas großsprecherisch: „Im Zentrum des in letzter Zeit international stark an Bedeutung gewonnenem Forschungsbereichs, stehen sozialanthropologische Untersuchungen der Imagination und kulturellen Konstruktion von Natur und Weltbildern sowie Fragen eines ’nachhaltigen‘ Mensch-Natur-Verhältnisses…“

Darüberhinaus fand ich noch mehrere „Label“ für feine, selbstgefertigte Frauenkollektionen, die  „Undine“ heißen. „Die Welt“ meldete z.B.: „Undine Piepke scouted Jungdesigner und vermarktet diese…“ Das hört sich nicht gut an.

Es gibt auch etliche Prostituierte, die sich unter dem Namen Undine vermarkten (lassen). Bei einer heißt es: „Wenn Du Hure Undine auf den Körper spritzen willst, dann ist das in Winterthur möglich. Ausdauer erhält Undine von den Huren Winterthur durch das häufige Training in Tennis und Callanetics“. Bei letzterem handelt es sich um ein Muskeltrainingsprogramm, wie mich dann eine andere Webseite halbwegs aufklärte.

Ich stieß außerdem noch auf einige Sängerinnen mit dem Namen Undine: u.a. Undine Dreißig, die zum Ensemble des Magdeburger Theaters gehört, ferner die niedersächsische Sängerin Undine Metzel und die in Salzburg die „Undine“ gebende Camilla Nylund – in Dvoraks Oper „Rusalka“. Rusalka – das ist Undine, die aus dem Wasser emporsteigt, um eine menschliche Seele zu erhalten. Ein Rezensent der Oper schrieb  im Tagesspiegel: „Rusalka aber kann ihren Prinzen nicht festhalten, weil sie stumm ist.“ Auch  Hans Christian Andersens „Kleine Meerjungfrau“ wünschte sich schon so sehr, „ein Mensch zu sein, dass sie den Sprachverlust akzeptiert. Unfähigkeit zu kommunizieren ist ihr Schicksal, eine Fremdlingin unter den Menschen.“ In der Salzburger Aufführung setzte da angeblich des Regisseurs „Kunst“ ein: das „Paradox einer stummen Sängerin“ zu inszenieren.

Noch im 18. Jahrhundert hatte der dänische Anatom Caspar Bartholin diese Wassernixen  zusammen mit den Menschen und Affen als „homo marinus“ klassifiziert. Sie bekamen damit quasi die wissenschaftlichen Weihen – nach einer langen (poetischen)  Faszinationsgeschichte. Beginnend mit den homerischen „Sirenen“ des Odysseus, der seiner Schiffsmannschaft die Ohren verstopfte, um sie vor deren „verderblichen Gesang“ zu retten.

Neuerdings hat eine feministische amerikanische Anthropologin mit dieser Idee von der singenden Undine als homo marinus noch einmal wissenschaftlich Ernst gemacht. Laut Elaine Morgan waren es die Frauen, die nach Verlassen der Bäume erstmals Schutz vor ihren Feinden im Wasser suchten. Dort lernten sie den aufrechten Gang, die Schmackhaftigkeit der Meerestiere, bekamen eine glatte, unbehaarte  Haut, veränderten sogar ihre weibliche Anatomie und wurden intelligent und verspielt. So wie im übrigen alle Säugetiere (und Vögel), die wieder ins Wasser zurück gingen: Delphine, Wale, Otter und Pinguine beispielsweise. Während die Männer dagegen quasi auf dem Trockenen hocken blieben – und dabei jede Menge Jäger-Idiotismen ausbildeten. Elaine Morgans feministische Studie endet versöhnlich: „Wir brauchen weiter nichts zu tun, als liebevoll die Arme auszubreiten und ihnen zu sagen“ (oder zu singen): „Kommt nur herein! Das Wasser ist herrlich!“

Zu meinem Erstaunen geriet  ich dann auch noch an eine regelrechte Nixenforschung in Berlin. Sie gipfelte darin, dass der Kulturwissenschaftler Friedrich Kittler von der Humboldt-Universität eine Schiffexpedition in die Gewässer um Capri, der Insel der Sirenen, organisierte, wo Odysseus sich einst ihrem Gesang ausgesetzt hatte. Nach einer der drei Sirenen, Parthenope, wurde später eine Stadt benannt, das heutige  Neapel. Schon Goethe hatte sich dort in Sirenenforschung versucht: „Und nun nach allem diesem und hundertfältigem Genuß locken mich die Sirenen jenseits des Meeres, und wenn der Wind gut ist, gehe ich mit diesem Brief zugleich ab – südwärts,“ schrieb er „leichtlebig“ aus Neapel, kam dann jedoch nie wieder auf seine kurze Forschungsexpedition zu sprechen.

Kittler brachte jedoch von seiner Kreuzfahrt zwischen Messina und Neapel, an der sich u.a. auch der Leiter des Tierstimmenarchivs der Humboldt-Universität,  Karlheinz Frommholt, beteiligte, jede Menge Audio-Material mit. Auf seiner CD „Musen, Nymphen, Sirenen“ erstattete er darüber auch schon Bericht (sehr hörenswert).

Zu sehen gab es eine sogenannte „Sirenide“ einmal in der  einst vom Biologen Anton Dohrn gegründeten Meeresforschungsstation in Neapel – und zwar in einem Aquarium.  Wie der faschistische Theoretiker Curzio Malaparte in seinem Buch „Haut“ berichtet, wurde dieser „Fisch“, wie fast alle anderen in Dohrns Aquarien auch, 1944 vom Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte, die Neapel eingenommen hatten, getötet – um anschließend von ihnen verspeist zu werden. Malaparte will (wie nahezu überall) selbst bei diesem „Gastmahl des Meeres“  mit dabei gewesen sein. Weil aber dieses „zur Gattung der Sirenoiden“ gehörende Meerestier („dessen Flanken in einem Fischschwanz endeten – genau wie von Ovid beschrieben“) einem kleinen toten Mädchen zum Verwechseln ähnlich sah, habe eine der anwesenden weiblichen US-Offiziere darauf bestanden, den „Fisch“ stattdessen ordnungsgemäß im Garten der Forschungsstätte zu bestatten. Es geht das Gerücht, dass er später wieder  ausgegraben wurde und dass das Skelett sich heute im „Museo di Biologia Marina e Paleontologia“ von Reggio Calabria befindet (man kann es sich im Internet ansehen).

Für die Amerikaner sind die Sirenen das, was wir  „Seekühe“ nennen: pflanzenfressende Meeressäugetiere, die es nur noch in tropischen Gewässern gibt. Es gab daneben auch noch welche in sibirischen Gewässern: Sie, die so genannten Stellerschen Seekühe, wurden jedoch, nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung, ihres Trans und schmackhaften Fleisches wegen, ausgerottet (Näheres  dazu unter „Sirenews“). Die ausgerotteten wie die noch lebenden Seekühe sehen jedoch weder wie die auf antiken Vasen dargestellten Sirenen aus, noch singen sie wie die von Homer geschilderten. Das gilt auch für die bis zu ein Meter langen Arten der Gattung „Siren“, die man auf  Deutsch treffend „große Armmolche“ nennt, weil sie nur Vorderbeine haben, dazu Lungen und Kiemen. Sie gehören zur Familie der „Sirenidae“, leben an der Küste Floridas, ernähren sich von Kleingetier und Pflanzen und halten Sommerschlaf. Bei dem von Malaparte beschriebenen „Speisefisch“ aus der „Zoologischen Station“ von Neapel könnte es sich eventuell um eine solche „Schwanzlurche“  gehandelt haben, dann ist sie allerdings nicht mit dem Skelett im Museum von Reggio Calabria identisch. Zudem „singen“ Seekühe wie Armmolche zwar, und erstere nennen sich dabei sogar bei Namen, aber ihre Tonfolgen wirken auf Menschen nicht betörend, geschweige denn bezwingend. Am Rande sei hierzu erwähnt, dass Kafka gerade das Schweigen der Sirenen für eine „noch größere Waffe“ als ihren Gesang hielt. Da haben wir bereits das „Paradox der stummen Sängerin“

Schließlich folgte ich noch einer Einladung (Eingebung) ins neue Medizinhistorische Museum auf dem Charité-Gelände – und stieß  dort auf gleich zwei in Alkohol eingelegte und ausgestellte „Sirenen“. Es handelte sich dabei um tote Säuglinge, d.h. um „menschliche Fehlbildungen“: Bei der einen –  „Sirenoiden“ – fehlten „die Beinanlagen, der Harntrackt und die Geschlechtsorgane“ – der Körper ging stattdessen ab der Hüfte in eine Art Schwanz über. Der anderen – „Sirenomelie“ – fehlten „Beine, Geschlechtsorgane, Niere, Blase und Enddarm“. Beide waren also nicht lebensfähig, man ließ sie wohl gleich nach der Geburt sterben.

Für die zwei ausgestellten „sirenoiden Fehlbildungen“ machen die Kuratoren  „übermässigen Alkoholgenuß der Mütter“ verantwortlich. Mit einem der Kuratoren hatte ich ein kurzes Gespräch, wobei wir auf die amerikanischen „Sirenen“ zu sprechen kamen – die Seekühe. Ich erfuhr, dass es im Ostberliner Tierpark  Friedrichsfelde ein großes Wasserbecken mit diesen Tieren gäbe. Die Seekühe dort würden aus den Sümpfen Floridas stammen. Und jeden Tag steige nun ein Taucher zu ihnen herab, um sie zu liebkosen – d.h. mit ihnen zu kommunizieren, wie man ja heute sage, damit sie sich trotz Gefangenschaft dort wohl fühlen. Und so sollte es ja eigentlich auch sein: dass der Mensch den Sirenen ins Wasser folgt – und nicht umgekehrt.

An einem Sonntag schaute ich mir dieses Schauspiel an. Eine ältere Zoobesucherin, die glaube ich nicht Undine hieß, erklärte mir dort vor dem Becken, in dem neben den fünf Seekühen lauter Salatköpfe schwammen, dass das Weib den Übergang von der Natur zur Kultur bewerkstellige – jedesmal wenn sie ein Kind gebäre. Die schönen Meerjungfrauen – Sirenen symbolisieren dies bereits durch ihr Geteiltsein in Mensch und Fisch, was nichts anderes als die Ambivalenz der Liebe bedeute. An dieser rätselte schon Sigmund Freud herum. Er begriff die erfüllte Liebesbeziehung zunächst als „wirkungsvolles Mittel gegen das Unbehagen in der Kultur“, da nur sie imstande sei, ein ozeanisches Gefühl befriedigten Narzißmus hervorzurufen. Da jedoch nichts verletzender sei als der Bruch einer Liebesbeziehung, nahm er wieder Abstand von dieser schönen Vorstellung – und damit auch vom „ozeanischen Gefühl“ als etwas, für das es sich zu kämpfen lohne. An die Stelle der gefährlichen Ambivalenz der Liebe trat die öde Balance des Ichs – zwischen Nähe und Distanz. Ganz anders dagegen der russische Dichter Majakowski, der die Männer anherrschte: „Solange in dieser Newa-Tiefe/Die rettende Liebe Dir nicht begegnet/Irre weiter durch die Kanäle/Rudere!“

(1) An Ingeborg Bachmanns die Männer verfluchende „Undine“ erinnert neuerdings „Die wütende Meerjungfrau“ – ein Preis, den verschiedene Nichtregierungsorganisationen in Kopenhagen gerade an drei Konzerne verliehen, „die besonders große Leistungen erbracht haben, um die Klimagespräche und andere Klimamaßnahmen zu sabotieren“. Der „Ehrenpreis“ wurde nach dem Wahrzeichen Kopenhagens – der Meerjungfrau-Skulptur – benannt, die auf das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen zurückgeht. Mit dem „wütenden Meerjungfrau“-Preis hat man heuer 1. Monsanto, 2. Royal Dutch Shell und 3. das Amerikanische Öl-Istitut ausgezeichnet. Die Preisverleiher erklärten dazu: Monsanto bekam eine deutlicher Stimmenmehrheit von uns, weil „der  Gentechnik-Lobbyist in der Vergangenheit immer wieder versuchte, insbesondere die ‚Grüne Gentechnik‘ als Lösung für den Welthunger anzupreisen und mit enormen Investitionen in den Biospritsektor, unter dem Deckmantel dem Klimawandel entgegenwirken zu wollen, zur Abholzung von Regenwaldgebieten beigetragen hat.“

P.S.: Einen schönen Überblick über die ganzen Undine-Bearbeitungen – von Paracelsus über die Romantiker bis zu Joanna Russ – bietet die Dissertation von Gerlinde Roth: „Hydropsie des Imaginären. Mythos Undine“, erschienen im Centaurus-Verlag, Pfaffenweiler 1996

Da drüben liegt noch einer von diesen Storm-Verehrern. Sein Name fällt mir auch gleich ein.

8.

Literatur:

– Auf dem Flohmarkt am Schöneberger Rathaus erwarb ich 2006 einen Reader von Enn Vetemaa: “Die Nixen in Estland – ein Bestimmungsbuch”. Es erschien auf Deutsch 1985 in der “Spektrum”-Reihe des Verlags Volk und Welt, jedoch nicht aus dem Estnischen, sondern aus dem Russischen übersetzt, dafür aber mit zwei Nachworten auf Französisch und auf Plattdeutsch – Ostsee-Plattdeutsch, denn da heißen die Nixen “Fischswanzdierns”, an der Nordsee würde man von “Fischswanzdeerns” sprechen. Das Buch enthält neben einer “Bestimmung anhand des Liedes” von Nixen auch noch ein allerdings unvollständiges Literaturverzeichnis. Außerdem erwarb ich noch eine Dissertation: „Hydropsie des Imaginären. Mythos Undine“ – von Gerlinde Roth über die Wassersucht der Dichter (s.o.).

– Auf Hans Peter Duerrs Friesenverachtung “Rungholt – Die Suche nach einer versunkenen Stadt”, in der es um Ausgrabungs-Fundstücke im Zusammenhang seiner “Rungholt”-Forschung im Wattenmeer ging, antwortete der Friese Jan Christophersen mit einem Roman, “Schneetage”, in dem es ebenfalls um eine Wattenmeer-Expedition auf der Suche nach Rungholt geht, allerdings weniger verkniffen als der Streit zwischen dem Landesamt für Vor- und Frühgeschichte, das für das Wattenmeer gewissermaßen zuständig ist, und dem aus Heidelberg stammenden Bremer Professor Duerr mit seinen Studenten, die dort mit einem Schiff hinfuhren und verschiedene Gegenstände ausbuddelten, anhand derer Duerr dann seine mittelmeerzentristischen Schlüsse zog.

Das „WestküsteNet“ meinte dazu: „Der Leiter des Landesamtes für Vor- und Frühgeschichte, Prof. Joachim Reichstein spricht von Raubgrabung und überzieht dem Ethnologen und Prof. Hans Peter Duerr aus Bremen mit einem Rechtsverfahren. Dieser wiederum wirft dem Schleswiger Archäologen vor, daß wichtige Erkenntnisse zurückgehalten würden. Bei allem Streit geraten viele Positionen durcheinander und verwischen sich derartig, daß sich fast keiner mehr auskennt. Der Spiegel sieht im zweiten Artikel (19. Dez. 1994) die Nordseeküste bereits als “Bermuda-Dreieck” an und zitiert einen nicht genannten Kenner: “Die ganze Rungholt-Forschung ist in einem Sumpf von subjektiven Ansichten und persönlichen Eitelkeiten gefangen.”

– Die eingangs erwähnte Debatte über privatwirtschaftlichen und politischen “Regionalismus” hat zuletzt  der friesische Germanist Olaf Schmidt mit seinem Roman “Friesenblut” wieder aufgenommen.

Man sagt, die Friesen sind den Künsten eher abgeneigt, der Mathematik aber nicht, was von ihrer händlerischen Lebensweise seit dem Megalithikum komme, die zudem immer wieder ins Piratische lappte. Man könnte sie aber auch als seefahrende Viehhirten bezeichnen.

Zu Zeiten Karls des Großen erledigten sie den Handel für das Reich – bis nach Bagdad hin. Um 1230 wird ihnen quasioffiziell bescheinigt: “omni jugo servitutis exuti” – sie haben das Joch der Knechtschaft verlassen.

Auch in dem in der Gegenwart spielenden Roman von Olaf Schmidt, der heute als Redakteur beim Leipziger Stadtmagazin Kreuzer arbeitet, spielt die friesische Geschichte eine große Rolle. Nicht nur in Nebenbemerkungen wie etwa der über das Tourismusgeschäft der Föhrer: “Das kleine Volk der Inselfriesen hatte weiß Gott seinen Beitrag zur Ausplünderung der Welt geleistet. Jetzt fuhr man eben nicht mehr auf Beute hinaus, der Reichtum kam von selbst. Was hatte sich schon wirklich geändert?”

Die Hauptfigur des Buchs ist ein auf die Insel Föhr zurückkehrender junger Kunsthistoriker namens Anselm, der dort Material für seine Doktorarbeit über den 1839 gestorbenen und von der Kunstwelt eher gering geschätzten Föhrer Maler Oluf Braren sammeln will. Er knüpft dabei an den Forschungen eines jüdischen Kunsthistorikers an, der 1936 auf die Insel gekommen war und dann von den Nazis umgebracht wurde.

Anselm verbindet eine alte Freundschaft mit dem Inselpfarrer, der einmal Anti-AKW-Aktivist war. Er hat von einem bisher unbekannten Bild des Malers erfahren, das sich im Besitz einer Föhrerin befindet, die es erst jüngst von ihrer in den Dreißigerjahren nach Amerika ausgewanderten älteren Schwester erbte. Auch der Föhringer Verein ist an dem Bild interessiert, denn Oluf Braren wird vom Vereinsvorsitzenden “für den einzigen Künstler von Rang” gehalten, “den unsere Heimatinsel je hervorgebracht hat”. Aber noch bevor er oder Anselm sich über das Bild hermachen können, ist es verschwunden. Gestohlen. Das verleiht dem Roman den Schwung eines Krimis. Dieser wird jedoch immer wieder ausgebremst dadurch, dass parallel zur Aufklärung des Gemäldediebstahls die Lebensgeschichte des Malers ausführlichst erzählt wird.

An der Bildsuche beteiligt sich bald auch noch der Inselreporter, der gewissermaßen auf die Nazizeit in der Föhrer Geschichte spezialisiert ist. Genauso wie der Pfarrer hält er den Heimatverein für eine “reaktionäre Bagage”. Ein Buch – vom Vater des Vereinsvorsitzenden verfasst – hieß bereits “Friesenblut”. Olaf Schmidts Roman ist eine ironische Antifa-Antwort darauf und gleichzeitig eine Erinnerung an die Juden einst auf der Insel, die zumeist Touristen waren: “Wyk [auf Föhr] war kein antisemitisches Seebad. Aber als die Nazis dann hier das Sagen hatten, war man sofort tausendprozentig.”

Eine Ausnahme bildete jene Inselminderheit, die 1920 beim Volksentscheid für den Anschluss Föhrs an Dänemark stimmte. Einer von ihnen lebt noch heute. Er ist immer noch davon überzeugt, “dass damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei” und dass “die Friesen weder deutsch noch dänisch sind, sie sind etwas Eigenes für sich. Doch von alters her haben sie zu Dänemark gehört und sind damit immer zufrieden gewesen”.  Der erste “Friesenblut”-Roman – “Ein Nordseebuch von Schutz und Trutz” – war unter anderem dem neuerlichen Kampf gegen die “frechen Dänen” nach 1918 gewidmet.

Diese ganzen Geschichten wirken bis heute nach unter der neobanalen Ferienoberfläche der Insel, wobei die vor 15.000 Jahren existierende Hochkultur noch ganz frisch in Erinnerung ist, während die Nazizeit schon “sehr lange her” ist. All diese Widersprüche zerren nun die drei nach dem verschwundenen Bild fahndenden Protagonisten in Schmidts Roman nach und nach ans Licht. Olaf Schmidt hat einem Kapitel das Motto eines Heimatforschers vom Festland aus dem Jahre 1865 vorangestellt: “Wollte und dürfte ich die Geheimnisse der Föhrer und namentlich der Föhrer Nachtschwärmer und Finsterlinge aufdecken, so müßte ich lange Kapitel schreiben.”

Olaf Schmidt hat das getan. In einer Rezension seines Inselkrimiromans verbietet es sich jedoch aufzudecken, wie er ausgeht. Ein Kritiker nannte sein Werk “ein sprachmächtiges Epos über ein Provinzgenie”. Dem möchte ich zuletzt aber widersprechen, denn ein Schriftsteller ist im Gegenteil jemand, der Probleme mit dem Schreiben hat – und Olaf Schmidt hat sich mit “Friesenblut” jede Menge Schreibprobleme gemacht. Als küstennaher Heimatforscher hat er dabei zugleich gekonnt die Dialektik von Erden (bzw. In-See-Stechen) und Abheben berücksichtigt.

Nicht hinkucken. Der Herr rechts von mir, von dir aus links,  dessen Hund hat eben an deine Theke gepisst.

9.

“Welkoam op Lunn!“ Ähnlich wie das Jeverland ist auch Helgoland gewissermaßen ein friesischer “Sonderfall”. Als “taz-Sommerloch-Team”besuchten  wir einmal im Auftrag der Kulturredaktion und zusammen mit der Hamburger Photographin Susanne Klippel die “graue Stadt am Meer” Husum – auf den Spuren Theodor Storms. Anschließend fuhren wir dann auch noch, auf eigene Rechnung, nach Helgoland – auf den Spuren eines abgesagten Tote-Hosen-Konzerts.

Schon in vorchristlichen Zeiten war Helgoland viel besucht – es war eine cimbrisch-friesische Pilgerstätte (Heiligland = Helgoland). Dem bereitete dann Karl der Große ein blutiges Ende, was ihm dort übrigens noch heute übel genommen wird, wie unlängst erst die “Geschichtswerkstatt Wilhelmshaven” in einem Forschungsprojekt vor Ort feststellte. Damals gehörten noch ausgedehnte Acker- und Weideflächen zur Insel. Durch mehrere schwere Sturmfluten wurde die Landmasse jedoch derart reduziert, daß die Bewohner zwecks Subsistenzsicherung aufs offene Meer, d.h. auf den Heringsfang, ausweichen mußten, was ihnen als ehemalige Bauern bis heute nicht ganz geheuer zu sein scheint. Kam noch hinzu, daß nach einem Massaker an mehreren auf Helgoland missionierenden Nonnen die Heringsschwärme zur Strafe ausblieben. In ihrer Not gewährten die Helgoländer der kriminellen Vereinigung norddeutscher Seeräuber Logis und Logistik – insbesondere den Männern um Klaus Störtebecker. “Überfälle sind unsere Landwirtschaft”, das gilt für Zigeuner, Partisanen und Piraten gleich. Mit einem attraktiven Angebot gelang es jedoch den Hansestädten Bremen und Hamburg, die Inselbewohner wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen: Sie setzten sie als Lotsen für die christliche Seefahrt zwischen Elbe und Weser ein, auf einem ehemaligen Helgoländer Hünengrab wurde der erste Feuerturm errichtet.

Es gab Rückfälle, insbesondere gegen Monatsende: da ließ man schon mal in stürmischen Nächten grob fahrlässig das Leuchtfeuer ausgehen – und hielt sich hernach am Strandgut schadlos. Die Oberhoheit über die Insel lag abwechselnd bei Dänemark und Schleswig, bis 1807 – als die Engländer Helgoland eroberten. Der heutige Reichtum einiger alteingesessener Familien geht auf diese Zeit zurück, da ein großer Teil des englischen Handels aufgrund der napoleonischen Kontinentalsperre über Helgoland abgewickelt wurde. Mit dem “Frieden von Kiel” war damit jedoch Schluß – und es stellte sich erneut die Frage: Was tun? In dieser Situation erfand der Homöopath Jakob Siemens die jodhaltige Seeluft und das gesunde Reizklima: das “Seebad” auf dem Roten Felsen, das noch heute an guten Tagen bis zu 10.000 Urlauber besuchen. Als Wilhelm II. 1890 Helgoland gegen Sansibar von den Engländern eintauschte, wurde zum ersten Mal das “Deutschlandlied” gesungen, das Heinrich Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland gedichtet hatte.

Anschließend wurde die Insel als “unsinkbarer Zerstörer” (Tirpitz) militärisch ausgebaut. Währenddessen komponierte Anton Bruckner das Chorwerk “Helgoland”. 1929 kam dem heuschnupfengeplagten Werner Heisenberg auf Helgoland angeblich die entscheidende Idee zur Quantenmechanik. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Engländer die Theorie von der Unsinkbarkeit der Insel widerlegen, indem sie mit Hilfe von 0,01 Megatonnen Sprengstoff den Problemfelsen Helgoland ein für alle mal aus der Welt zu schaffen versuchten – vergeblich. “Aber unschätzbare Kulturwerte gingen dadurch für immer verloren,” so der Wahlhelgoländer und Heimatforscher Knut Husum.

Seit dem Wiederaufbau der Ober- und Unterstadt, die nun mit einem Fahrstuhl verbunden wurden, und der Wiederaufnahme des Seebäder-Fährdienstes basiert die Insel-Identität vornehmlich auf den zwei Säulen: Kleiner werdendes Nationalheiligtum (”Den Blick von der ‘Roten Klippe’ – dankbar für das Verbliebene – auf das Meer richten”) und ständig die Warenangebotspalette erweiterndes Off-Shore-Duty-Free-Shop-Mekka (”Erst kaufen – später abholen”). Also Pilgerstätte für Vaterlands-Junkies einerseits und Alkohol- sowie Tabak-Interessierte andererseits. “Der Trend vom nüchternen Badegast zum besoffenen Butterfahrer geht quer durch beide Gruppen”, so der Hummerfischer Harie Hinrichs. Zum Ausnehmen der meist nur für vier Stunden auf der Insel sich aufhaltenden Besucher haben sich die Helgoländer außerdem noch das Ausbooten einfallen lassen: die täglich 7 Seebäderschiffe dürfen nicht am Hafen anlegen, sondern müssen auf Reede vor Anker gehen – und die Passagiere werden von dort mit kleinen Booten abgeholt. So weit so gut.

Aber als wir uns einmal dort ausbooten ließen, drohte dem Roten Felsen gerade neues Ungemach: Die Musikgruppe “Tote Hosen” hatte auf ihrer Tournee “Damenwahl” zwei volle Tage Helgoland eingeplant. Sie tauchten jedoch nie auf der Insel auf. Wir fragten erstaunt im Touristen-Informationszentrum nach: Dort wußten sie jedoch von nichts und durften auch nichts darüber sagen. Man verwies uns an den Kulturreferenten im Rathaus. Herr Gesang befand sich aber unentwegt in einer Sitzung. Wir gingen daraufhin zur “Nordseehalle ‘Atlantis’”, wo das Konzert eigentlich stattfinden sollte. Ein Kellner verriet uns, der Pächter – zugleich Veranstalter – hätte sich tags zuvor bereits aufs Festland abgesetzt. Über das Warum gäbe es jedoch nur Gerüchte und solche werde er nicht verbreiten. Beim Hinausgehen erfuhren wir vom Bademeister wenigstens noch den Inhalt des Gerüchts: “Über 200 “Rache für Sylt-Punks” und fast ebensoviele “Wackersdorfer ‘Tote Hosen’-Fans” hätten auf dem Festland Konzertkarten gekauft, da aber keine Übernachtungen von ihnen auf der Insel gebucht worden seien, befürchte man im Rathaus, daß diese Chaotentruppe wild auf der Insel zu kampieren gedenke, wobei es, wohl auch wegen des hier billig zu kaufenden Alkohols, dann erwartungsgemäß zu Ausschreitungen in der Nacht kommen würde, was ja im übrigen bereits die “Tote Hosen”-Tourneeankündigung in den diversen Printmedien – “Ficken/Bumsen/Blasen” – evoziere, dies letztere deutete der Bademeister aber nur an, wobei er sich verlegen unter seinem Bademantel am Bauch kratzte.

Kurz und gut: Die Toten Hosen samt ihren Fans hätten Inselverbot. Zur Sicherheit stünde auf dem Festland noch eine Hundertschaft Polizisten mit Hubschraubern bereit. Ob dies rechtlich äußerst bedenklich sei, wisse er – der bloß saisonal Bademeister hier auf der Insel wäre – allerdings nicht.

Dazu befragten wir anschließend noch den Inselpolizisten Knauß, dem unser Erscheinen kein Überraschung war. Wie er freimütig zugab, hatten wir bereits von Beginn unserer Anlandung an unter seiner Beobachtung gestanden. Und dann erzählte er erst einmal von seiner Arbeit: Er hätte hier alle seine Schäfchen unter Kontrolle, im Prinzip gäbe es sowieso keine Kriminalität auf der Insel, nur gelegentliches Über-die-Strenge-Schlagen, das man unter sich regele. Wie denn? wollten wir wissen. Als Beispiel erwähnte er seinen “Stadtsheriff-Helgoland”-Stempel, den er auf seinen Patrouillen den Kindern und Jugendlichen auf die Handrücken drücke. Dieser Stempel sei sehr beliebt, deswegen könne er ihn im Bedarfsfalle auch jemandem verweigern, was einen nicht zu unterschätzenden erzieherischen Wert habe.

Knauß hatte sich sämtliche Polizeiberichte von den bisherigen Tote-HosenKonzerten schicken lassen und genauestens studiert, er wußte z.B. in welcher Stadt Bierdosen geworfen wurden und in welcher nur Pappbecher, und ob sie jeweils mit Bier oder mit Urin gefüllt waren, ferner wußte er die jeder Veranstaltung eigene Wurf-Treffer-Relation auswendig. Das Helgoland-Konzert finde definitiv nicht statt, sagte er uns, wobei er diese Ungeheuerlichkeit so darstellte, als hätte es sich dabei um eine gütliche Einigung zwischen der Konzertagentur (”Totenkopf”) und dem Bürgermeister (Degendorf) gehandelt. Sodann kam er auf den besonderen Charakter des Helgoländers an sich zu sprechen, den er – als eingeheirateter Festländer, mit dem nötigen Quentchen Distanz also, besonders gut einschätzen könne und somit kenne. Nicht zuletzt aus diesem Grund gebe er, Knauß, zusammen mit seiner Frau (aus steuerrechtlichen Gründen) eine eigene Buchreihe über die Insel – Helgolandia – heraus.

Der Helgoländer, so sagte er, habe sich seit Jahrhunderten in seinem Wesen nahezu erhalten, er, der Helgoländer, trachte danach, seinen Besitzstand zu wahren und sei im wesentlichen “pekuniär eingestellt”. Es sei dabei mittlerweile gelungen, das Extreme und Exzessive in diesem rauhen aber gutherzigen Menschenschlag erheblich zu mildern…usw. usw. Als wir uns endlich von ihm verabschiedeten, um uns wenigstens auf die Schnelle in der “Haifisch-Bar” am Yachthafen noch ein paar Runden “Küstennebel” zu genehmigen, war es schon fast wieder Zeit, aufs Schiff zurückzukehren. Dort war es kalt und wir gingen unter Deck. Unser Erstaunen war groß, als uns aus dem “Tanzsaal” vertraute Klänge entgegenschlugen: das unvergessliche “Tote Hosen”-Lied “Bis zum bitteren Ende” – mit dem Refrain

“Die Nordsee schlägt dir ins Gesicht

“Und trotzdem hast du verloren

Du bist nicht weit gekommen

Du läufst weiter nach vorn…”

Beim Näherkommen wurden wir indes gewahr, daß es nicht unsere Düsseldorfer Combo war, die dort aufspielte, sondern Ahrend Tönnies, der Zahlmeister der “M.S.Helgoland” – ganz allein und nur um uns, die Passagiere, über das ausgefallene Helgoland-Konzert hinwegzutrösten, versuchte er mit dem Bord-Equipment die perfekte Simulation des “Bis zum bitteren Ende”-Hits hinzukriegen. Es klang schaurig. Aber hätte es im Original besser geklungen? Zudem war Tönnies auch ein Tote-Hosen-Fan, wie er uns anschließend verriet, und den Ausfall gerade des Helgoland-Konzerts fand er besonders bitter. Wieso besonders? “Weil die Insel, wenigstens so lange dort die liberalen englischen Gesetze galten, immer ein Zufluchtsort für die kritische Intelligenz gewesen ist, Heinrich Heine war sogar zwei mal hier”.

Später erfuhren wir, schon lange wieder auf dem Festland zurück, daß die Insel sich auf ihre 100-Jahrfeier vorbereite – und das da etwas ganz Großes steigen werde: “1890 – 1990 – Helgoland 100 Jahre deutsch” lautete das Motto. Aber just zur selben Zeit passierte die Wiedervereinigung – und kein Schwein interessierte sich mehr für den roten Felsen. Die Zahl der Tages- und der Dauergäste halbierte sich glatt, Nordseehalle und Kurhotel standen ungenutzt da und wurden schnell immer baufälliger, selbst das Kurhaus blieb im Sommer geschlossen. Das Besorgniserregendste aber war: Immer mehr Helgoländer fingen an, ihr Geld auf dem Festland zu investieren.

Eine Studie des Braunschweiger Büros für Sozial- und Freizeitforschung (BSF) kam zu dem Ergebnis: “Für die gebotene Leistung ist Helgoland konkurrenzlos teuer!” Dabei sei es bereits “auf einer Abwärtsspirale ziemlich weit unten angekommen”. Die Braunschweiger empfahlen den Hollunern, wie sich die friesischen Inselbewohner selber nennen, aus ihrem roten Felsen ein “Naturerlebnis” zu machen. Erst einmal startete man eine große “Aufräumaktion”, dann wurden Gold- und Silbermedaillen in Auftrag gegeben – mit dem Spruch “Rüm hart, kloar kimmen” (Offenes Herz, klarer Verstand), und eine “Miß Helgoland” gewählt. Auch Boris Becker konnte man kurzfristig für Helgoland mobilisieren. In der Besuchergunst gewannen jedoch immer mehr die weißen Felsen auf Rügen.

Nur mit Millioneninvestitionen versprach man sich eine Wiederankurbelung des Tourismusgeschäfts – aber woher nehmen? 1995 ist von einer “Steuer- und Lottofreiheit” die Rede. Und statt Zigaretten und Alkohol will man zukünftig “Anspruchsvolleres” verkaufen. Außerdem verspricht man sich einiges von einer neuen Schnellfähre “Helgoland” – aber diese wird zunächst vom Bund verboten. Stattdessen soll 1998 eine Stiftung den roten Felsen “retten”.

1999 naht das Ende der zollfreien Einkäufe in der Nord- und Ostsee, was Helgoland laut der taz eine “Sinnkrise” beschert, obwohl man diesbezüglich auf langfristige Verträge pochen kann und die Befreiung von der Mehrwertsteuer erhalten bleiben soll. Darüberhinaus versuchen sich die Helgoländer schon mal mit Kunst, vor allem mit Konzerten anzufreunden, gleich kommt es jedoch erneut zu einem kleinen “Kunstkonflikt”.

Besser funktioniert es dann mit der Betonung der “pollenfreien Luft”, um neben den skandalerpichten Kulturtouristen auch noch die dankbar durchatmenden Allergiker anzulocken. 1999 eröffnet ein neues “Designhotel” auf der Insel – anstelle des Kurhauses. Außerdem soll die Meeresforschung ausgebaut werden – das bringt Studenten.

Tatsächlich steigt die Besucherzahl im darauffolgenden Jahr wieder – um 12%, und eine Speedfähre von Bremen aus nimmt ihren Betrieb auf. Außerdem scheint sich für die zunehmende Zahl von Seebestattungen bald ein Trauercenter auf Helgoland zu lohnen.

Wie schon kurz vor Wende und Wiedervereinigung setzt dann jedoch erneut ein massenhaftes Seehundsterben ein: Allein auf der Düne vor Helgoland wurden bereits 79 tote Tiere gefunden. “Das fehlte uns gerade noch,” meint der Helgoländer Enno Boje, der jedoch längst in Berlin lebt – und deswegen die ganze Sache “nicht so verkrampft wie die op Lunn gebliebenen sieht”.

Und dann kam es auch noch zu einem Verbrechen auf der Insel, wo der letzte Mord vor 300 Jahren passierte: Drei Juwelendiebe, die mit dem Seebäderschiff auf der Insel anlandeten, erbeuteten bei einem Helgoländer Juwelier Schmuck im Wert von 98.000 Euro. Ihre Freude an der Beute währte jedoch nur wenige Stunden. Die Gangster hatten vor ihrem Coup nicht bedacht, dass sie für die 70 Kilometer zurück zum Festland auch wieder das Bäderschiff brauchten. Der Kapitän des Dampfers lichtete jedoch die Anker erst, nachdem die Polizei das Trio festgenommen hatte. “In unserer kleinen Gemeinschaft gibt es keine Anonymität: Die Menschen passen gegenseitig auf sich auf”, meinte Helgolands Kurdirektor Christian Lackner, “also man muss schon ziemlich dumm sein, wenn man auf einer so kleinen Insel mitten im Meer etwas anstellt.”

Anfang 2006 kam eine neue Hiobsbotschaft von der Insel: Der niederländische Energieversorger Essent plante dort einen riesigen Windkraft-Park:  “Mit einem Projekt nahe der Insel Helgoland leiste man Pionierarbeit in Deutschland”, sagte Essentchef van Son. Für diesen mit einer Leistung von mindestens 400 Megawatt konzipierten Windpark sei freilich noch einiges an Forschung und Erprobung erforderlich.

Auch die “Vogelgrippe” ließ die Helgoländer zittern, die dortige Vogelwarte hielt sich jedoch in alarmistischer Hinsicht zurück. Und dann kamen auch noch gute Nachrichten aus Brüssel: Die Helgoländer dürfen weiterhin zollfreie Zigaretten verkaufen, damit ist der Einkaufstourismus erst einmal gerettet. Die taz sprach von einer “letzten Bastion der Butterfahrten”. Zwar hatte die EU diese in einem Beschluß schleifen wollen, die “robuste Umsetzung” jedoch der Landesregierung anheim gestellt – und diese gab nun – im März 2006 – Entwarnung:

Schleswig-Holsteins Europaminister Uwe Döring (SPD) teilte mit, dass Deutschland den EU-Plan nicht umsetzen werde. Ministeriumssprecher Herbert Schnelle sagte auf Anfrage: “Wir haben da mal vorgefühlt: Der Bundesrat wird ihn nur zur Kenntnis nehmen.” Nicht zum Wohle der Raucher und Trinker, sondern aus rein finanziellen Erwägungen: Denn eine Neuregelung würde aus der heute wohlhabenden 1400-Gemeinde Helgoland eine bedürftige Kommune machen: “Die Insel wäre dann abhängig von anderen Töpfen”, bestätigte Schnelle. Vom alten Image des “Fuselfelsens” ist Helgoland inzwischen dennoch weit entfernt, sagt der Chef der Kurverwaltung, Christian Lackner: “Nur 15 Prozent der Gäste kommen wegen des zollfreien Einkaufs. Allerdings nehmen 85 Prozent auf dem Rückweg zum Schiff etwas mit. Aber Fusel gibt es bei Aldi billiger.” Die Inselhändler setzen auf hochpreisige Spirituosen: “Wir haben 850 Whiskysorten”, sagt Lackner stolz. Für viele Touristen – immerhin 400.000 Tagesgäste kommen jährlich – bedeute die Fahrt nach Helgoland eine kleine Kreuzfahrt, sagt der Kurdirektor. Eine Kreuzfahrt für Arme (Raucher und Trinker).

Es kam noch besser:  “Nach drastischen Rückgängen bei den Gästezahlen einigten sich Vertreter von Politik, Wirtschaft und Verwaltung gestern auf Eckpunkte. Demnach soll Helgoland wieder Fördermittel des Landes Schleswig-Holstein erhalten, um seine Infrastruktur zu verbessern. Zudem soll die Insel ihr touristisches Profil schärfen. Im Gespräch ist unter anderem der Ausbau des Wellnesstourismus.” (dpa) Als erstes wurde schon mal das alte Schwimmbad abgerissen.

Dann stand wieder eine Kulturveranstaltung an – diesmal ohne Skandal: Helgoland ehrte seinen Schriftsteller James Krüss:  “Mein Urgroßvater und ich”, “Der Leuchtturm auf den Hummerklippen”, “Timm Thaler”: die Bücher von James Krüss (1926 bis 1997) gehören zu den Klassikern der deutschen Jugendliteratur. Die meisten schildern liebevoll das Leben auf der deutschen Hochseeinsel Helgoland zwischen Hummerbuden und Badestrand. Krüss’ Heimat wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Krüss ließ sich nach dem Krieg im Süden nieder. Seine Schwester Erni Rickmers, Jahrgang 1928, kehrte auf die Insel zurück und lebt dort noch heute. Die FAZ interviewte sie aus diesem Anlaß:

Frage: Was wollte Hitler auf Helgoland?

“Ihn interessierte der Ausbau der Insel zur Festung, der U-Boot-Bunker.”

Ihre Familie stand sogar in geschäftlicher Beziehung mit ihm, wenn auch nur kurz.

“Ja, nach seinem Besuch 1938 hat Hitler bei meinem Onkel Leo Friedrichs ein paar Kilo Hummer bestellt. Mein Onkel sah keine Veranlassung, sie ihm zu schenken, aber er hat ihm einen Spezialpreis gemacht. Das kann man in dem alten Kontorbuch sehen, das wir aus den Trümmern gerettet haben. Da steht aber auch, daß Hitler die Hummer nie bezahlt hat.” (Der Führer hat also nicht nur das deutsche Volk betrogen, sondern auch noch einen Helgoländer Hummerhändler.)

Letzte Meldung: 2009 wurde Helgoland an das Festland-Stromnetz angeschlossen. „Damit können die Diesel-Aggregate auf auf der Insel abgestellt werden,“ meldet der NDR erleichtert.

Soll ich es ihr übersetzen, dass sie auch mehr Zähne zeigen soll?

10.
„Die äußere Enge hinderte mich nicht, innerlich ins Weite zu gehen!“ (Theodor Storm)

Im Sommer 1985 fuhren wir nach Husum – zu einer Theodor-Storm-Tagung. „Bei diesem Autor war es mittlerweile notwendig geworden, hinter dem zum Schulbuchautor zurechtgestutzten und von den Nazis als Repräsentant einer Blut- und Boden-Literatur vereinnahmten Schriftsteller den „ersten deutschen Naturrealisten“ und „kritischen Realisten“ ebenso wiederzuentdecken wie den antimilitaristischen Demokraten Theodor Storm,“ hatte uns die Kulturredaktion der taz mit auf den Weg gegeben. Theodor Storm war eine „stark sinnliche, leidenschaftliche Natur“ (Th. Storm, „Des Amtschirurgus Heimkehr „). Seine überstürzte Verlobung und baldige Entlobung mit Emma Kühl von der Insel Föhr bestätigt das: „Ich wußte damals noch nichts von Liebe; es war alles damals heißes Blut“, gestand er später.  (Vgl. Gertrud Storm, „Jugendzeit I“). In Husum besuchten wir das „Theodor-Storm-Haus“, „das von Storm-Forschern und -Verehrern aus der ganzen Welt besucht wird, “ wie es bei K.E. Laage: „Ein Führer durch die Storm-Stätten“ heißt. Im „Hademarschen-Zimmer“ finden sich in einer Vitrine neuere Storm-Adaptionen, darunter der Photoroman „Immensee“ aus der ‚Hamburger Morgenpost‘: „Von Storms Novelle ist in diesem modernen Photoroman nicht viel mehr als der Titel und der Heldenname Reinhard übriggeblieben; vor dem Hintergrund der späten 1960er Jahre (Studentenbewegung und außerparlamentarische Opposition) scheint diese Trivialisierung des Originals um so bedenklicher.“ (Aus: „Th. Storm – Immensee, Erläuterungen und Dokumente“) .

Ab Mitte der Achtzigerjahrer fanden in Husum alljährlich „Nordische Filmtage“ statt. Zwischen den Filmen ging man ans „graue Meer“, löffelte einen Eisbecher „Deichgraf“ im „Theodor-Storm-Café“ oder beschäftigte sich mit friesischer Deichbaukunst und kollektiver Eigensinnigkeit. Mit dem  „Schimmelreiter-Syndrom“, wie es der Wattenexperte vom  Bund für Naturschutz nannte.

„Nicht mehr ganz Meer, noch nicht ganz Land, das ist das doppelte Gesicht der Landschaft Wattenmeer“, lasen wir auf einer Tafel im Husumer Heimatmuseum, dem Nissenhaus, vor dem ein Klabautermann in Bronze steht. Der Geschichte der Kultivierung des Saumes zwischen Meer und Marsch ist denn auch eine weite Abteilung von hohem Erlebniswert gewidmet. „Durch die Jahrhunderte hindurch ist die Geschichte des Deichbaus immer wieder belastet gewesen mit dramatisch verlaufenen Deichschließungen – der Geburtsstunde eines neuen Koogs.“ Die friesische Landgewinnungspraxis hat über die Jahrhunderte hinweg eigene Begriffe geprägt. „Schöpfwerke“ der Deichgeschichte sind die Regulationssysteme, die Schleusen zwischen Kultur und Natur. Mit einem solchen wurde „zum ersten Mal, 1955, beim Deichschluß des Lübke-Koogs nacktes Watt mit Erfolg in landschaftliche Kultur genommen.“

Bei der Eroberung der nackten Watten spielt der „Wattenpionier-Queller'“, eine Art Salzgras, eine bedeutende Rolle. Die „Schotten im Deichkern  -unsichtbare Dokumente der Deichgeschichte“ sind unter „Faschinen“ (Buschmatten) und der (bei „örtlicher Gefährdung durch Wellenschlag mit Schadwirkung“ nötigen) „Bestickung“ mit Reet/Stroh befestigt. Neuerdings gilt: „Wenn das Watt einen ausreichend hohen Schlick-Ton-Gehalt besitzt, kann es nach jüngsten Erkenntnissen eingedeicht werden, bevor es biogen (durch Salzpflanzen) verlandet; der über 900 Jahre praktizierte Grundsatz von der Deichreife hat damit für Schlickwatten seine Bedeutung verloren!“

Der aus Friesland stammende und an der Düsseldorfer Kunstakademie lehrende Maler Raimer Jochims schreibt: „Die Schlickbildung ist schon in meiner Kindheit ein unmittelbares Erlebnis gewesen: das schwarze formlose Chaos, mit dem chaotischen Hintergrund der Sturmfluten und Deichbrüche, also die Doppelqualität des Aufbauens und Zerstörens der Elemente. Das Land, das hier gewonnen wird, ist rechtwinklig strukturiert, alles ist flach, die einzige Vertikale ist der Mensch. Das ist eine Landschaftserfahrung, die durch die Horizontale geprägt ist und durch die Elemente des Feuchten und Chaotischen.“

Nach wie vor gibt es auch noch die Institution des Deichgrafen und Oberdeichgrafen, der heute meist die rechte Hand des oft konservativen Landrats ist. Anfänglich baute man die Deiche mit steilen Wänden „wie Festungen“. Der Deichgraf Hauke Haien versuchte gegen den Willen der am Deichbau beteiligten Bauern die moderne Bauweise durchzusetzen, die den Angriff der Wellen nicht parierte, sondern sanft ausrollen ließ. Während Hauke Haien als Held in Theodor Storms „Schimmelreiter“-Novelle an Aberglauben und Fortschrittsfeindlichkeit scheiterte, ist seine „Erfindung“ inzwischen durchgesetzt – und  ein wichtiger Koog nach ihm benannt.

Sie können mir nicht sagen, wann dieser Koog entstanden ist – obwohl das in ihren Aufgabenbereich fällt?

11.
1988 unternahmen wir einen ersten Ausflug zur zehn Kilometer von Husum entfernten Insel „Nordstrand“: In der „Nordstrander Bucht“ befindet sich die derzeit umfangreichste friesische Küstenschutz-Maßnahme: der Beltrigharderkoog. Auch eine Katastrophe. „Der Grund liegt darin, daß man im Süden begonnen hat, den Generalplan Küstenschutz, der nach der schweren Sturmflut 1962 aufgestellt worden war, zu realisieren. Deswegen waren wir hier im Norden die letzten, und inzwischen haben sich die politischen Zustände geändert“, so der Ingenieur des Küsten -Bauabschnitts C. Michael Mäurer vom BUND für Naturschutz. „Zehn Jahre wurde gegen diese Eindeichung gekämpft. Das hat viele Leute verschlissen und Feindschaften entstehen lassen. Auch unter den Naturschützern gab es Kompromißbereite. Am Anfang ging es noch um eine große Lösung: ein Deich vom Hauke-Haien-Koog bis zu den Halligen. Aber auch die kleine Lösung jetzt, die Eindeichung der Nordstrander Bucht zerstört immer noch 3.400 Hektar Naturlandschaft, die in Kunstlandschaft verwandelt werden. Nun müssen wir erstmal sehen, was daraus wird. In der Zwischenzeit wird man über die Problematik Küstenschutz neu nachdenken müssen.“

Der gigantischen Baustelle sieht man schon von weitem an, daß hier ein absurder Kompromiß entsteht: die martialisch eingedeichte „kleine Lösung“ wird nicht etwa landwirtschaftlich genutzt werden, das wäre bei der derzeitigen Agrar-Überproduktion nicht sinnvoll, man wird dort statt dessen Süß- und Salzwasserbiotope anlegen. Die Dame vom Informationspavillon berichtet froh, daß sich im südlichen Abschnitt schon vier Seehunde tummeln. Mit dem Salzwasser-Naturreservat soll das Wattenmeer „nachempfunden“, mittels Sielen und Pumpen sogar eine Gezeitenbewegung im Biotop simuliert werden. Diese vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Ausgleichsmaßnahmen werden von den Planern als „Paradies aus Menschenhand“ gepriesen.  Viele Touristen schreiben allerdings wütende Briefe an die ‚Husumer Nachrichten‘ und fragen, was dieser ganze Quatsch soll. Zwar hatte es schon 500.000 Protest-Unterschriften gegen die Sicherungsmaßnahme Nordstrander Bucht gegeben, ein Hearing und eine Einstweilige Verfügung des Verwaltungsgerichts Lüneburg, die einen vorübergehenden Baustopp bewirkte. Ein Lehrer aus Nordstrandischmoor hatte eine bedrohliche Erhöhung der Flut für die Halligen aufgrund des neuen Deiches befürchtet. Seit Deichschluß geben ihm einige ältere Halligbewohner recht.

Aber ein Redakteur der Husumer Nachrichten hielt dagegen: „Wir haben das mal geprüft, das ist alles gelenkt worden.“ Von wem oder was, will er nicht sagen. Er räumt jedoch ein, daß das Projekt Nordstrander Bucht die „große Zäsur in der Deichbaugeschichte ist: der Rubikon ist überschritten.“  11O Millionen Mark wird der umstrittene „Puffer zwischen Meer und Siedlungsland“ kosten und den naturhungrigen Urlauber abschrecken. Zwar verhandeln derzeit der BUND und der World Wildlife Fund, Geschäftstelle Husum, mit den Anliegergemeinden über die Nutzung der Bucht für den „sanften Tourismus“, aber attraktiver wird das „Ingenierbauwerk“ auch durch zwei Badestellen an den Sielen und einem Surfer-Treffpunkt „Fanatic“ nicht.

Dennoch signalisiert dieser Versuch, neuen Ökowein in alte Schleusen zu gießen, ein Umdenken. Als Beispiele für kulturelle Küstenbefrachtung könnten das schleswig-holsteinische Musikfestival, die Husumer Filmtage, die zwei von Naturschützern angebotenen mehrtägigen Wattenbildungs-Turns („Die Teilnehmer sind unfallversichert“) und die Beobachtung der „Flying Five“ genannt werden, mit letzteren sind die „fünf typischen Vogelarten des Nationalparks Wattenmeer – Alpenstrandläufer, Brandgans, Austernfischer, Silbermöwe und Ringelgans“ – gemeint.

Das ist das wichtigste Teil unseres AT-Getriebes für Windkraftanlagen, damit liegen wir weit vorne.

12.

Der Deichbruch als Reizüberflutung – Bericht von den Husumer Filmtagen:

Einem schleswig-holsteinischen Bonmot zufolge soll man an den Brüsten der Friesinnen selbst im Landesinneren noch das Rauschen des Meeres hören, wenn man sich die Warzen an die Ohrmuschel hält. In Husum hat man ihnen auf dem Marktplatz ein Denkmal gesetzt: „Tine“, ist eine junge Friesin in Bronze mit einem Paddel in der Hand – eine Fischersfrau.  Die einzigartige Kulturleistung der küstenbewohnenden Friesen zwischen Holland und Dänemark, liegt aber weder in der Seefahrt noch im Ackerbau, sondern in der Landgewinnung, im Deichbau, mit dem sie seit über 900 Jahren dem Wattenmeer Siedlungsland abringen. „Trutz blanker Hans!

In der Schimmelreiter -Verfilmung des DDR-Regisseurs Klaus Gendries von 1984 wird die Sturheit des gebildeten Deichgrafen Haien, die ihn daran hinderte, Verbündete zu gewinnen, als Grund seines Strandens kritisch beleuchtet.  Nach wie vor begibt man sich bei Sturmflut auf den Deich, um etwaige „Schwachstellen“ rechtzeitig auszumachen und gegebenenfalls das Vieh im Koog dahinter in Sicherheit bringen zu können. „Hier stand ich oft, wenn in Novembernacht,/Aufgor das Meer zu gischtbetäubten Hügeln,/Wenn in den Lüften war der Sturm erwacht,/Die Deiche peitschend mit den Geisterflügeln“, reimte der vor 100 Jahren gestorbene Theodor Storm in seinem Gedicht „Ostern“. In den Storm-Verfilmungen, vornehmlich aus der DDR, die 1988 den Schwerpunkt der Husumer Filmtage bildeten, geht man auch bei ruhiger See auf den Deich – wenn man innerlich aufgewühlt ist – und blickt stumm über das meist graue Meer.

„Am grauen Strand, am grauen Meer“ ebenfalls von Gendries und seinem Szenisten Gerhardt Rentzsch, DDR-TV 1980, nach der Storm-Novelle „Hans und Heinz Kirch“ wird mit C.D.Friedrich nachempfundenen Landschaftsmelancholien in Grau und gedämpftem Rotgold das „Schicksalhafte, das bei Storm nicht ganz so definiert wird, näher ins gesellschaftliche Umfeld geschoben. Sozialökonomische Tatbestände sind eingeflochten“ (Programmheft), das heißt die fatalistischen Patriarchalstrukturen erscheinen psychologisch angemenschelt.

In Wolfgang Hübners Verfilmung „Es steht der Wald so schweigend“, 1985, wird vorsichtig ökologische Kritik am Umgang der DDR mit ihren letzten Naturreserven und den Neurosen ihrer Bewohner geübt. Storms zugrundeliegende Novelle „Schweigen“ entstand im Heiligenstädter Exil (der Husumer Rechtsanwalt und Landvogt hatte 1852 gegen die dänische Herrschaft opponiert), und thematisiert das Eheproblem eines Försters, den die Umwandlung „eines letzten Stücks Naturwaldes“ in Kulturlandschaft seelisch verwirrt hat. „Er wirkt zuweilen weibisch, Herr Deichgraf“ bemerkt die knitterne Deichgräfin spitzmäulig, aber treffend. Die romantischen Environments stehen für die Trauer des Neuen Sensiblen über eine zerstörte Lebensheile. Und im Schlußsatz droht gar „die Versetzung in den Staatsdienst“ mit subversivem Zwinkern.

Um eine radikale ökologische Kritik geht es dem schleswig -holsteinisch-berlinischen Rainer Boldt in seinem Film Im Zeichen des Kreuzes“ (1982 im Auftrag der ARD produziert, aber nicht ARD-weit ausgestrahlt): Durch den Unfall eines Atommüll-Transporters kommt es zur Kontamination mehrerer Dörfer und der staatliche Katastrophenschutz versucht, die verstrahlte Region militärisch einzudeichen, statt den verseuchten Menschen Hilfe zu leisten. Ein „Nuclear -Thriller“ als Kritik am „Prinzip Deichschluß“ im Fall einer Strahlenflut?

Im Stummfilm von 1924, in Anwesenheit der lokalen Prominenz mit live Klavierbegleitung vorgeführt, tobt der Bruderkampf um die Erbfolge der „Chronik von Grieshuus“, einem nordgermanischen Landsitz in modisch organischer Kulissenarchitektur (die Babelsberger Studios biegen sich expressionistisch vor unseliger Liebe und qualvoller Sühne). Dazu dichtete Storm „Für meine Söhne“: „Was immer du kannst, zu werden,/Arbeit scheue nicht und Wachen;/Aber hüte deine Seele/Vor dem Karriere machen.“

Eine Katastrophe größeren Ausmaßes ist Ausgangspunkt in Rudolf Jugerts 1948 gedrehten Film ohne Titel, der die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in der Grunewald-Villa eines Antiquitätenhändlers schildert. Als die schließlich ausgebombt wird, macht sich der Hausherr auf nach Westen, wo er im friesischen Bauernhaus seiner ehemaligen Hausgehilfin einläuft, sich als Knecht verdingt, sie heiratet und Tischler wird. Daß dabei „auf dem traurigen Hintergrund dieser Zeit“ eher eine Komödie als eine Katastrophe verhandelt wird, ist nicht der zentralen Geschichte oder ihren Darstellern (Hans Söhnker, Hildegard Knef, Willy Fritsch und Helmut Käutner/auch Buch) zu verdanken, sondern der Rahmenhandlung. Die besteht in einem sonnig selbstironischen Filmteam, „in einer ebenso befreienden wie orientierungslosen Nachkriegs-Situation, auf dem Punkt stehend, wo man es sich leistet, in den Startlöchern herumzufaulenzen, Perspektiven entwerfend und wieder verwerfend, die eigene Ziellosigkeit genießend, ehe dann wieder der alte Ernst und die neue Zielbewußtheit überhand gewinnen und man entschlossen Tritt faßt“. Ein Film aus dem glücklichen Zeitraum zwischen den Katastrophen. Der Regisseur Jugert kreierte in den Fünfzigerjahren das Genre des westdeutschen Arztfilms.

Anders als bei den üblichen Filmfestivals wurden in Husum täglich nur zwei (am Sonntag drei) Vorstellungen gegeben. So bekam man gezwungenermaßen viel von Husum und Umgebung mit: Deich-Kino-Teestube – Hafen-Kino-Braukeller. Watt, Fußgängerzone, Schloßpark. Stormcafe, Museum, Piets Frittenkajüte. Die Intervalle zwischen den Filmen sind ebenso lang wie sie selbst, etwas über 90 Minuten. Die Geschwindigkeit verhusumert sich.

Die Filmtage finden im Kino-Center des Mitorganisators und Husumer Kinomonopolisten Hartung statt. In seinen Kinos darf man rauchen und auf Schalterdruck werden einem Kaffee und Erfrischungsgetränke auch während der Vorstellung serviert. Unter den vornehmlich jüngeren Husumern hat dies bereits eine Veränderung der wenn nicht Seh-, so doch Kinogewohnheiten bewirkt: man trifft sich bereits eine Stunde vor Filmbeginn im Vorführsaal. Das Wohnzimmer hat hier zum Film gefunden. Links neben der Leinwand hängt ein großes Schild „Kino im Trend der neuen Zeit: Dienstag Nichtrauchertag.“

Eigentlich hatte man für die Besucher der Filmtage einen „Stammtisch im historischen Braukeller im Schloßgang“ reserviert, aber weil die drei Kinos „Tahiti“, „Clou“ und „Oldie“ (der große Saal, in dem Crocodile Dundee gezeigt wurde – bei Publikumsrennern wie Schimmelreiter wurde allerdings gewechselt) je mit einer Bar gerüstet waren, blieb der harte Festivalkern samt Presse (‚Husumer Nachrichten‘ und taz) gleich im Vorraum des Kino-Centers, locker um die DDR-Delegation gruppiert, und der Kinobesitzer gab eine Runde nach der anderen aus. Besonders nach der Special Night mit Lotti Huber und zwei Praunheim-Filmen war der Damm gebrochen, oder mit den Worten der geborenen Schleswig-Holsteinerin Huber: „If I can make it here in Husum, I can make it everywhere!“

Im Gegensatz zu den übrigen vier cinematographischen Mitorganisatoren der Filmtage beurteilte der Kinobetreiber und Gastgeber Hartung die derzeitige Entwicklung auf dem Filmmarkt positiv: „Je mehr TV-Verkabelungen und Video -Verleihe es gibt, desto weniger schlechte Filme muß ich zeigen.“ Zu den nächsten Filmtagen will er noch zwei weitere Kinos anbauen mit einem größeren Foyer, „wo man gemütlicher zusammensitzen kann“. Die Verlandung geht ihren Gang. „So reiht sich Spatenstich an Spatenstich als Ausdruck eines großen und beständigen Fleißes der Küstenbewohner!“ (Leitsatz im Nissen-Museum Husum zur „Landgewinnung“)

Zunge zeigen beim alljährlichen Fest des Wattwandervereins „De Schlickrutschers e.V.“ in Fedderwardensiel.

13.

Otto Waalkes ist vielleicht der letzte  Ostfriesenphilosoph, zudem ein großer Mäzen seiner Heimatstadt Emden, wo am Delft das „Otto-Huus“ steht und alljährlich zum Filmfestival sein „Ottifant“ in Bronze vergeben wird. Der Oberbuchhalter der dortigen Sparkasse gibt jedoch zu bedenken: „Früher, als er noch in der Scheune hinten am Deich spielte, war er viel besser.“ Mag sein, aber irgendwann in den Siebzigerjahren begann er deutschlandweit zu agieren – und seitdem ist er nicht schlechter geworden. Das konnte man jetzt gerade wieder im nahezu vollbesetzten Berliner Tempodrom erleben. Vorab liefen schon mal einige seiner Wortwitze über die Leinwand. Dann kam er – pünktlich um acht, mit ein paar Takten „Bin ein kleiner Friesenjunge“, und hörte nicht auf herumzuzappeln bis zur vierten Zugabe: Ein Lied, ein Gag, ein Sketch nach dem anderen – und zum Schluß noch ein guter Abbremser.

Dazwischen einige Mitsing-Nummern, die Rede eines besoffenen Bundestagsabgeordneten, das Lied „Mein kleiner grüner Kaktus“ mit seiner Mimik auf Großleinwand und seine berühmte Hecheltanzeinlage – heuer  zusammen mit einer großen echt-russischen Ballerina. Außerdem hatte er diesmal noch seine Flaggennummer auf Berlin – Altglienicke, Klein-Machnow etc. – gemünzt und seinen Englischkurs auf das ganze Internet-Email-Gequatsche sowie auf die  0190-Nummernwerbung updated. Sogar ein bißchen Klassenkampf war dabei: Nämlich immer dann, wenn die teure erste Reihe hämisch mit Flüssigkeiten, Fruchtstückchen oder Schlagsahne in Mitleidenschaft gezogen wurde. Mehr kann man nicht verlangen! Das dachte auch wohl die Mehrheit der Zuschauer. Viele hatten sich für den Abend extra aufgebrezelt. Sie standen dann in der Pause vor den Theken und dem „Ottifanten“-Stand wie auf einer  Bühne und sahen aus wie die gestylten,  geschminkten Rock- und Popsänger, die dort von den  Vorankündigungsplakaten grinsten: leblos. Während Otto in seiner ganzen Hässlichkeit wie ein aufgeputschter Derwisch herumpeeste.

Die meisten seiner Lieder bestanden aus Parodien – Verballhornungen bekannter  Songs  von Reinhard May, Freddy Quinn, Peter Maffay, Bob Dylan… Und alle und alles wurde gewissermaßen nur angerissen oder bloß  gestreift – zitiert. Harald Schmidt z.B. mit einem Schluck aus einem Wasserglas und der Bemerkung „Das neue Kultgetränk:  WOG – Wasser ohne Geschmack“… „Scheußlich!“ Und weiter geht es mit dem Evergreen „Fallin‘ in Love“ – dazu eine Stelltafel, die zwei Pferde und ein Herz zeigt: „Fohlen in Love“. Englische Phrasen verquatscht er immer noch am Liebsten: Sie sind ja auch aus dem Plattdeutsch der Angeln und Sachsen entstanden – das Angloamerikanische ist sozusagen bloß breitverquastes Friesisch. Aber: Die Friesen singen nicht! Weil Freie nicht singen.

Ostfriesland verlor seine jahrhundertelange Selbständigkeit erst durch die Preußen. Das in Emden vorm Delft aufgestellte Preußendenkmal wurde deswegen 1918 sofort wütend hinter den Deich geschafft – wo es noch immer steht. Und bis heute wissen die Friesen Deutschland und Friesland sauber zu unterscheiden.

Das was Otto macht und ebenso einst die friesische Gruppe „Trio“ ( „DaDaDa“) ist dagegen mitnichten eine Kapitulation nach Noten, sondern aktiver Widerstand auf der Bühne: Da wird sich über die ganzen Gesänge der Ostseeanrainer und der Geestbewohner gehögt, ihre Lieder werden zerpflückt, verblödelt, auf einen – möglichst zotigen – Witz reduziert. Otto Waalkes ist heute der einzige, der gegen den täglich anschwellenden Bocksgesang, aus allen Kanälen, anstinkt. Wobei er sich nicht entblödet, dies auch noch ganz unfriesisch schnell und hektisch durchzuexerzieren, aber nie würde er ein Lied bis zu Ende singen – oder gar Ernst damit machen.

Kommen Sie ruhig rein, hier kriegen Sie auch Ihren Ostfriesentee.

14.

1994 besuchten wir erstmalig das Filmfest in Emden –  wo wir uns bei Enno und Gisela Kempe im nahen  Groothusen einquartierten, dem am tiefsten gelegenen Ort Deutschlands: Null Meter über Normal Null. Der Hof des Ehepaars Kempe hieß Osterburg und war ein ostfriesisches Häuptlingsschloß, von einem Wassergraben umgeben, in denen ein Schwanenpärchen schwamm. Das Langwurtendorf hatte einmal drei Burgen, die Oster-, Middel- und Westerburg. Nur die Osterburg um 1490 neu errichtet – blieb bis heute erhalten, die beiden anderen wurden in Fehden 1400 und 1432 von den Hamburgern zerstört. Die Osterburg hatte Hero Mauritz von Closter, Häuptling zu Dornum und Petkum wiederaufbauen lassen, viele seiner Nachkommen waren berühmte ostfriesische Persönlichkeiten. Das möchte ich auch von ihrem letzten Sproß, den jetzigen Osterburg-Bewohnern Kempe, behaupten – Nachfahren der Häuptlingsfamilie Beninga.

Enno Kempe hatte seine Landwirtschaft in den Sechzigerjahren verpachtet und sich vornehmlich dem Studium seiner Familie und ihres Hauses gewidmet, dazu gehörten u.a. die darin über die Jahrhunderte angesammelten Kunstwerke, z.B. eine nahezu lückenlose Porträtgalerie seiner Ahnen, sowie Briefwechsel eines seiner Vorfahren mit Alexander von Humboldt. Aber auch die kenntnisreiche Restauration des Hofes selbst – bis hin zur goldledernen Tapete und dem Kamin im Rokkokozimmer sowie der Parkanlage aus dem späten 18.Jahrhundert. Wozu er erst einmal überall wegen Fördergelder anfragen mußte. Daneben ersteigerte er einige von seinen Vorfahren einst verschleuderte Möbel wieder zurück, aber auch eine ganze Bibliothek über die Geschichte Frieslands – mit allem was dazu gehört. Seine Frau, Gisela Kempe, hat drei Kinder großgezogen und nun versorgte sie ihre Gäste sehr liebevoll – u.a. mit selbstgemachter Marmelade und Butter.  Für 28 DM pro Person und Tag bezogen wir in der Osterburg drei Zimmer, wovon eines eine kleine Küche war, in der wir uns stündlich frischen Ostfriesentee zubereiten konnten.

Wegen des schlechten Wetters machten wir nur selten einen Spaziergang – auf dem Deich z.B.. Weil wir das  Filmfest mitbekommen wollten, waren wir aber auch sowieso die meiste Zeit in Emden, wo wir höchstens  zwischen zwei Filmen kurz durch die Stadt streiften – und z.B. Henri Nannens Museum für moderne Kunst, zu der auch noch eine Kunstschule gehört, besuchten. Oder wir aßen im Burgrestaurant von Pewsum Kohl und Pinkel (siehe dazu den blog-eintrag v. 24.12.09), was mich zu einem taz-Artikel mit dem Titel „Cogito Pewsum“ inspirierte:

Pewsum ist die größte Gemeinde in Emdens Vorland Krummhörn: ostfriesisches Kerngebiet. Die friesische Besonderheit besteht in der Landgewinnung: im Deichbau. Damit konnten immer wieder neue Siedlungen und Existenzen gegründet werden. Auch die sozialen Konflikte wurden lange Zeit über die Landgewinnung geregelt, dergestalt, daß man Neubürgern für ihr obligatorisches Kleinvieh neues „Polderland“ zuwies. Die sozialdemokratischen Evolutionsstufen heißen hier: Landarbeiter, Hafenarbeiter, Werftarbeiter, VW-Arbeiter. „Schauen Sie sich Pewsum und die Dörfern drum herum an“, rät der Oberbürgermeister in Emden, „alles sieht tipptopp aus, da würde niemand drauf kommen, daß dort eine so hohe Arbeitslosigkeit herrscht, und zwar nicht erst seit gestern.“

Selbst Emdens „sozialer Brennpunkt“ (wo fast 40 Prozent arbeitslos sind) würde in Berlin glatt noch als Gartensiedlung für den gehobenen Mittelstand durchgehen. Die letzte Eindeichung wird nicht mehr landwirtschaftlich genutzt: nur noch „ökologisch“ – als Brutgebiet. Und plötzlich gilt der Ostfriese als „unflexibel“, weil er zum Beispiel bei der Verlagerung von fünfhundert VW-Arbeitsplätzen nach Hannover nicht mitziehen will. Allein in diesem Jahr haben fünf Geschäfte in der Fußgängerzone dichtgemacht, gerade meldete der größte ostfriesische Buchhändler Lübben Konkurs an: 45 Arbeitsplätze in sieben Filialen sind gefährdet. Tag und Nacht sitzt Lübben nun mit seinen Leuten zusammen und sinnt über Rettungsmaßnahmen, abends in der Kneipe gibt jeder eine Runde „Sauren“ aus.

Man sagt, der Ostfriese bekomme schon bei der Geburt seinen ersten Bausparvertrag. Was später seine Frau bei der Inneneinrichtung leistet, drückt sich bei ihm dann draußen in der Rasen- und Heckenpflege aus. „Langsam gibt es aber ein Umdenken“, meint eine Frau, die in der Tagesmütter-Betreuung arbeitet: „Am Anfang gab es dafür überhaupt kein Interesse, jetzt wollen jedoch immer mehr Frauen ihren Arbeitsplatz behalten.“ Die Volkshochschule entwickelte sich zum „Hauptkulturträger“ und hat im calvinistischen Emden schon architektonisch dieselbe Bedeutung wie in Berlin das Europa-Center inklusive Kaiser-Wilhelm-Gedächtnislücke.

In den angesagten Emder Kneipen und Cafés, die fast alle einem Besitzer gehören, sitzen nachts mehr (blonde) Frauen als Männer. Ich treffe zwei Iraner, die 1968 zur Ausbildung auf der Werft hierherkamen und von einer Revolution daheim überrascht wurden, weswegen sie blieben: Sie leben inzwischen gerne in Ostfriesland. Ein Araber aus den Emiraten fühlt sich dagegen manchmal fremd hier. Er veranstaltet Butterfahrten. Dazu muß er aus Steuergründen jedesmal kurz Holland „anticken“. Wenn er in Jeans an der Reling steht, fragen ihn die Passagiere: „Wann fahren ab?“ Erst wenn er sich oben seine blitzblanke Uniform angezogen und „Leinen los!“ gerufen hat, finden sie langsam zu normalem – mitunter sogar devotem – Verhalten ihm gegenüber zurück: „Das ist doch nicht normal!“

Einige Rußlanddeutsche finden sich als „Russen“ mißverstanden. Immerhin stellte ihnen die Stadt ein Schrebergarten-Gebiet zur Verfügung: „Die brauchen einfach Gartenarbeit.“ Der Kellner bringt uns einen Tee: „Er ist fertig gezogen, Sie können so anfangen“, sagt er.

Bitte, der fährt Sie direkt nach oben. Von da haben Sie einen herrlichen Ausblick auf das Wattenmeer.

15.

Komisch, auf Kunst- und Kulturveranstaltungen sieht man immer besonders viele schöne Frauen. Da schwingt noch mit, was bereits Herodot und Levi-Strauss bemerkten: Geschichte beginnt stets mit einem Frauenraub (zu erinnern sei an das WK-Zwo-Victoryzeichen, aus dem das Playboy- Bunnylogo wurde), und Kultur entsteht über den Austausch von Frauen. Dementsprechend bestand dann auch der einzige heftige Streit auf dem internationalen „Publikumsfest im Nordwesten“ aus einer altbackenen Eifersuchtsszene zwischen zwei süddeutschen Blutjung-Schauspielern. Nicht gerade viel für die angereisten 40 Streitkulturschaffenden aus 41 Film-Ländern. Die Emder Öffentlichkeit, vor 400 Jahren mit einer äußerst militanten Revolution entstanden, liebt es heuer jedoch eher harmonisch.

Auf einem der „Mitternachtstalks“ im zentral gelegenen Café am Stadtgarten wurde es plötzlich für zwei Minuten etwas kritisch, weil die Kamerafrau des DFFB-SFB-Films über die Karriereskrupel Berliner WG- Freiberufler „Glück Wünsche“, Gruscha Rode, dem Hauptdarsteller der Münchner Yuppie-Klamotte „Japaner sind die besseren Liebhaber“, Thomas Heinze, üblen „Rassismus“ vorwarf: nachdem dieser allen Ernstes erklärt hatte, daß die deutschen Männer die besseren Liebhaber seien – „in Wirklichkeit“. Die Emder Zeitung berichtete anderntags vierspaltig über diese „gereizte Stimmung“: „Manche Zuschauer waren von dem Schaukampf peinlich berührt.“

Desungeachtet scheint die Mehrheit der Filminteressierten in der seit ewigen Zeiten sozialdemokratisch regierten Arbeiterstadt Emden gerade das politisch korrekte Kino zu bevorzugen – und lehnt deswegen z.B. die ästhetische Verherrlichung von Anarchisten, Arbeitslosen und Animierdamen eher ab. Die von mir favorisierte Fein-Komödie über die Karriere eines Hellersdorfer Abiturienten mit Astronomie-Ambitionen (Fabian Busch) als Schlafwagenschaffner bei der Bundesbahn: „Unter der Milchstraße“ (von M. X. Oberg), wird vom lokalen Festival-Kritiker zum Beispiel als „Verfilmung eines absoluten Alptraums“ bezeichnet, in dem der Hauptdarsteller „in einen Strudel von zwielichtigen Nachtbars, Drogen, Kriminalität und menschlicher Kälte gerät“. Das ist vielleicht nicht falsch, aber so kann ich den in Vilnius billig produzierten Film, mit Detlev Buck in einer Nebenrolle, überhaupt nicht sehen.

Der mit 15.000 Mark dotierte „Preis des Emder Filmpublikums“, ein vom Emder Spaß-Philosophen Otto Waalkes entworfener Keramik-„Ottifant“, wurde dann von Bernhard Wicki an den Regisseur des Gaukler-Films „Funny Bones“ übergeben. Es geht in dieser vom Amüsier-Konzern Walt Disney mit 9 Millionen Dollar finanzierten „kinematographischen Höchstleistung“ (Holighaus) um die verschlungene Versöhnung der guten aber bösen englischen Workingclass-Komik mit dem schlechten aber lernfähigen US-Entertainment – im Arbeiter- Vergnügungsort Blackpool, wo der Regisseur Peter Chelsom aufwuchs: Wieder der Hang zur Harmonie, verbunden mit einer romantisch-herben Atmosphäre. In seiner ostfriesischsten Variante kehrte diese Atmo im Kurzfilm der Bremer Regisseurin Catharina Hübner „Zwischen Grün und Blau“ wieder. Der Film spielt in Pewsum bei Emden um die Jahrhundertwende: Eine junge Frau, Edda, interessiert sich hingebungsvoll für Medizin, als „nervenkrank“ sperrt man sie schließlich in eine Dachkammer, wo sie weiter studiert („meine Bücher geben mir neue Kraft“), gelegentlich kümmert sich ihre Schwester um sie.

Roland Barthes bezeichnete das Kino einmal als „die Couch der Armen“. Dazu will nun gar nicht die Tatsache passen, daß der Filmklub in der streng calvinistisch geprägten 50.000-Einwohner-Stadt Emden 2.500 Mitglieder hat. Von diesem Verein ging 1989 auch das Filmfest aus, das dann die Emder Volkshochschule organisatorisch in Angriff nahm, mit Mitteln der Stadt, des Landes, einer Stiftung der „Ostfriesischen Landschaft“ und einer Reihe städtischer Unternehmen als Sponsoren. Nahezu jedes zweite Geschäft in einer der vielen Fußgängerzonen hat das Schaufenster filmfestmäßig dekoriert. Über 10.000 Besucher zählten diesmal die drei Kinos, von denen zwei die VHS betreibt.

Als Motiv für das Plakat, den Katalog und den Trailer des Filmfests stellte man als Silhouette heuer 22 Cineasten auf einen Deich – neben den Pilsumer Leuchtturm, in dem Otto Waalkes den Leuchtturmwärter, für seinen Film „Otto – der Außerfriesische“, spielte. Außerdem geht schon die Idee eines Publikumsfestivals genaugenommen auf den Deichrichter Freerksen zurück: Dieser begründete 1873 im Ostfriesischen Monatsblatt das „gedeihliche Zusammenwirken“ von Bürgertum und Arbeiterklasse durch eine Art VHS-Impuls – damals freilich noch, um die revolutionäre Sozialdemokratie in Emden nicht hochkommen zu lassen: Die „ehrenhaften Persönlichkeiten, besonders in den niederen Volksclassen, können keinen Einfluß gewinnen, wenn sie nicht an die besser situierten Classen einigen Anschluß und von diesen Unterstützung erlangen“. Dazu wurden sogar Bekleidungsvorschläge für Besuche in Arbeiterhaushalten gegeben. „Der Arbeiter, welcher spart, ist mäßiger, charakterfester, zufriedener und sozialen Umwälzungen abhold“, schrieb er im Ostfriesischen Monatsblatt. An anderer Stelle führte er dazu aus: „Wenn man die Arbeiterclasse in ihrer gegenwärtigen Verfassung mit unbefangenen Augen betrachtet, kann man sich nicht verhehlen, daß ihr Wohlstand am allermeisten durch ein unregelmäßiges Leben gefährdet ist. Abgesehen von einer Anzahl günstiger Ausnahmen, wird, wie man sich gewöhnlich auszudrücken pflegt, ‚von der Hand in den Mund‘ gelebt, das heißt der tägliche Verdienst, ohne Rücksicht darauf, ob er groß oder gering ist, möglichst bald verzehrt. Namentlich bietet die Neigung zum Genuß von Berauschungsmitteln dazu die allergrößte Veranlassung.“

Es gab also viel zu tun, wollte man die da unten nicht sich selbst überlassen. Erfolgreichster Organisator  dieses praktischen auf die Gesamtharmonie gerichteten Calvinismus war dann der Emder Oberbürgermeister Fürbringer, der die revolutionären Arbeiter unterstützte, aber auch bespitzelte, wo er nur konnte, so lange er sie damit von sozialdemokratischen Umtrieben abhalten konnte. Das ging schon damals bis hin zu „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“, wobei jedoch noch ein „Bewußtsein eigener Verschuldung“ bei den betroffenen Arbeitslosen vorausgesetzt wurde. Wenn es den Anschein hatte, dass genau das fehlte – z.B. bei „liederlichen Frauenzimmern“ – schob man sie auch schon mal mit einem Einwegticket nach Amerika ab. Andererseits gab die 1833 aus Wohltätigkeit und Pädagogik gegründete Stadtsparkasse auch armen Leuten Not-Kredite.

Heute steht vor dem Café am Stadtgarten der „Fürbringer- Brunnen“ und die SPD kommt auf über 60 Prozent, sogar die Grünen haben in Emden mehr Einfluß als die CDU. Es gibt so gut wie kein Graffiti in der Stadt, außer in der Diskothek „Madison“ – als Wanddekoration, und dort nicht einmal eine einzige Klo-Inschrift. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 17 Prozent, zum Teil deswegen, wie bereits Fürbringer, aber auch der heutige Oberbürgermeister Alwin Brinkmann unisono erklären: weil der ostfriesische Arbeiter „an der heimischen Scholle klebt“ – so daß zum Beispiel viele die gerade anstehende Umsetzung von 500 Arbeitsplätzen bei VW, vom Passat- Leitwerk Emden nach Hannover, nicht mitmachen.

Zu Fürbringers Zeiten wurde die Verbesserung der Arbeiterexistenzen noch durch fortwährende „neue Einpolderungen“, das heißt Eindeichungen, mit denen die Pachtländereien vermehrt wurden, erreicht. Heute bewirken die vor allen Toren der Stadt entstandenen Möbel- und Heimwerkermärkte ähnliches, einige befinden sich im übrigen auf und am „Kaiser-Wilhelm-Polder“, einem neuen Gewerbegebiet, das am „Tag der offenen Tür“ ebenfalls 10.000 Leute besuchten: „Der Ostfriese krallt sich heute in den Teppichboden und in seine Schrankwand,“ so sagt es einer der Filmfest-Macher. Ein Gymnasiallehrer erzählt, daß jetzt auch die 68er in seinem Kollegium mehr und mehr dazu neigen, mit ihrem „Niveau“ runterzugehen und sich dafür dem Hausbau und dem Windsurfen zu widmen. Dafür gibt es keine Sammelunterkünfte für Rußlanddeutsche oder Asylbewerber: Sie sind fast alle in normalen Wohnungen untergebracht. Vor zwei Jahren hatte die Stadt noch einige Millionen auf ihren Konten – dann wälzte „Bonn“ aber die Soziallasten auf die Kommunen ab, so daß OB Brinkmann demnächst „wohl auch vermehrt auf ABM zurückgreifen muß“. Den Filmpreis sponsort neben VW die Stadtsparkasse. Auch der örtliche Buchhändler Lübben gibt noch was dazu. Mit einem Teil seines 60-Mitarbeiter-„Teams“ beteiligte er sich an der großen Preisverleihungsparty, die im Restaurant Saray stattfand, das einem Türken aus Celle gehört: Um das Bedienen zu forcieren, übernahmen Lübbens Azubis wie selbstverständlich das Kellnern, seine Geschäftsführerin stellte sich an den Zapfhahn, und schließlich heizte sein Filialleiter die Stimmung noch mit einem Bauchtanz auf den Tischen an. Das beeindruckte uns derart, daß wir diese Episode seitdem in Berlin immer zuerst zum Besten geben.

Auch der Oberbürgermeister, Alwin Brinkmann, lud zu einer Party ein – in den „Friesenhof“, wo er seine Rede mit den Worten beendete: „Im übrigen halten wir es hier in Emden so – für das Wetter ist der Rat verantwortlich, alles andere liegt in der Hand der Institutionen.“  Als „Hauptkulturträger“ gilt in Emden heute die VHS, sie residiert im größten Gebäudekomplex der Innenstadt. Eine Fußgängerbrücke verbindet diesen neuerdings mit der „Malschule“, an die sich „Dat Nannen Huus“ anschließt. Kunstsammler Henri Nannen, hinter Otto der zweitberühmteste Alleinunterhalter der Stadt, hatte sich die Brücke zu seinem 80. Geburtstag gewünscht – und auch bekommen. Die Festival-Leitung, der stellvertretende VHS-Leiter, Rolf Eckart, und der VHS-Fachbereichsleiter Zweiter Bildungsweg, Thorsten Hecht, konzentrieren sich bei ihrer Auswahl auf Filme aus dem nordwesteuropäischen Raum.

Der – quasi politisch doppelt korrekte – Eröffnungsbeitrag „Priest“ von Antonia Bird spielt im Liverpooler Arbeiterviertel, die Hauptrollen teilen sich darin ein schwuler Priester und ein mißbrauchtes Mädchen. Gleichzeitig ist der Film ein Plädoyer für die überwunden geglaubte Labour-Theologie. Ähnlich sauber ist „Mein unbekannter Ehemann“, in dem ein abgelehnter Ghanaischer Asylbewerber zwischen seine Pro- forma-Ehefrau und seine verheiratete Freundin gerät. Alle Mitwirkenden sind grundsympathisch, bis hin zum Defa-Regisseur Andreas Dresen. Der Hauptdarsteller Ade Sapara ist darüberhinaus so gutaussehend, daß eine von ihm besonders beeindruckte VHS-Mitarbeiterin später Billets von Kollegen zugespielt bekommt, die mit Sapara unterschrieben sind. Rundum korrekt kam auch die vom Berlinale-„Forum“ ausgeliehene Moderatorin der täglichen „Mitternachtstalks“, die Berliner Burma- Expertin Dorothee Wenner, an: Sie mußte sogar Autogrammwünsche erfüllen. In den Jahren davor hatte man einen Radio-Talker des Privatsenders „ffn“ dafür engagiert.

In der Reihe friesisch-herb, wie der mit dem Pilsumer Leuchtturm werbende Sponsor Jever-Brauerei das nennt, wäre „Branwen“ von Ceri Sherlock zu nennen: ein Film über den aktuellen irisch-walisischen Kampf gegen England, auf der Basis einer alten walisischen Sage. Der Film fand noch während des Festivals Eingang in den gymnasialen Englischunterricht. Ferner „Words upon the window pane“ von Mary McGuckian – über Séancen und Eifersucht um den irischen Schriftsteller Swift, mit Geraldine Chaplin in einer Hauptrolle, der alle Filme irgendwie gleich schwerwiegend geraten. Das Publikum empfand ihn jedoch zu undurchsichtig. Im Gegensatz zur feministischen englischen Jean-Genet-Verfilmung „Sister my Sister“ von Nancy Meckler, in der es um eine stille Revolte zweier Zofen gegen ihre Herrschaft geht. In einer Werkschau zeigte man Filme von Bill Forsyth. Nicht unbedingt zum nordwesteuropäischen Eingeborenen-Raum gehörten das Maori-Familiendrama „Once were Warriors“ aus Neuseeland und die Zürcher Boheme- Elegie „Jazz“ von Daniel Helfer. Auch das „Prinzenbad“ lag etwas abseits: eine Budapester Edelbad- Oper über männliche Aquaphilie, das aber vor allem dem Bademeister, Bernhard Wicki, geschuldet war, der das Filmfest von Anfang an mit stiller Anwesenheit (er hört immer schlechter) unterstützte.

Abschließend sei noch die These des Regionalforschers Hoefer aus dem Jahr 1881, daß Ostfriesen nicht singen, relativiert. Anders als die Filmfeste in Husum und Osnabrück etwa, ist das Emder ein Stadtfest und damit in gewisser Weise ein urbaner Ausnahmezustand, in dem das gesellige Beisammensein zum herangeschafften Kulturprogramm gehört. Zu fortgeschrittener Stunde huben jedesmal die Ausländer – natürlich die eingeladenen Iren zuerst, aber dann auch die Münchner, Belgier, Hannoveraner und Schweizer – zu singen an, schließlich sangen alle mit. Aber bereits um 2 Uhr verkündete die Antwerpener Schauspielerin Margot van Doorn: „Belgium is leaving!“ Danach verdrückten sich auch die anderen Mimen langsam. Gegen Morgengrauen feierten fast nur noch die Einheimischen – Buchhändler, Gymnasiallehrer und VHS-Mitarbeiter, die allesamt in der Frühe arbeiten mußten: Ein kolossales Standing! – Das muß man den Ostfriesen lassen. Deswegen wird es dort aller Wahrscheinlichkeit nach das alljährliche „Filmfest“, dem die noch enthemmteren „Emder Matjes-Tage“ folgen, auch dann noch geben, wenn sich die Charlottenburger Promi-„Berlinale“ längst als Brandenburger Torheit herausgestellt hat.

Am letzten Matjes-Tag traf ich meinen Mann am Fürbringer-Brunnen, er ist da die ganze Zeit drumherum gegangen, um wieder nüchtern zu werden – de ole Suffkopp.

16.

Vorbild Emden, wo die Unternehmervereinigungen im „Club zum guten Endzweck“ domizilieren und man noch jedem Asylanten eine anständige Wohnung zur Verfügung gestellt hat! Das Filmfest in Emden wird vom 2.500 Mitglieder starken Filmclub der Volkshochschule getragen und ist im besten Sinne des Wortes ein „Publikumsfestival“. Zu den Besonderheiten gehören die Eröffnungs- und Preisverleihungsreden des Emdener Oberbürgermeisters Alwin Brinkmann. Der ehemalige Werftarbeiter versäumt es dabei nicht, an die jeweils aktuelle Situation der arbeitenden Klasse beziehungsweise der Arbeitslosen in der Region zu erinnern und bei dieser Gelegenheit alle anwesenden Gewerkschaftsführer namentlich zu begrüßen. In diesem Jahr knüpfte seine Rede überdies bruchlos an die Thematik des englischen Eröffnungsfilms „Brassed-Off“ an, in dem es um die Existenzgefährdungen des Bergarbeiter-Blasorchesters einer Zeche in Yorkshire geht, die – globalisierungsbedingt – geschlossen werden soll. „Brassed- Off“ scheut dabei nicht vor einem Plädoyer für New Labour zurück – und bekam dafür in Emden, wo es eine Dauerarbeitslosigkeit von 20 Prozent gibt und die Sozialdemokraten seit dem Zweiten Weltkrieg satte 65 Prozent halten, den 1.Preis: eine vom Ostfriesen-Komiker Otto gestiftete Metallplastik plus 15.000 Mark.

Vom selben Produzenten wie „Brassed-Off“ stammte auch der in Emden gezeigte Film „Wilde Kreaturen“. Er wurde mit dem Komikerteam Monty Python gedreht und thematisierte ebenfalls die Folgen der Globalisierung – aus der Sicht der Werktätigen. Hier sind es die Tierpfleger eines privatisierten Zoos und ihre – allzu harmlosen – Lieblingstiere.  Fast zeitgleich mit dem Fall des Sozialismus als Staatsgrenze feierten sowohl die Metallgewerkschaften als auch der Film ihr hundertjähriges Bestehen. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß just da die Gewerkschaften nur noch krisenhaft mit sich selbst beschäftigt sind und die Künstler postmodern sich gänzlich von sozialen Bewegungen abgewandt haben, die Arbeiterklasse gezwungen wird, erneut – wenigstens für den Erhalt ihrer Arbeitsbedingungen – zu kämpfen. Die „Kommunikation“ – inzwischen zu einer eigenen „Branche“ geworden – hat sich vollends von der Produktions- in die Konsumptionssphäre verlagert – unter aktiver Beteiligung der Gewerkschaften.

In dieser merkwürdigen Situation zeigten die Freunde der deutschen Kinemathek in ihrem Berliner „Arsenal“ eine Reihe von Filmen über die „Arbeitswelt“. Beginnend mit dem 1925 gedrehten „Statschka“ (Streik), dem ersten – unvollendet gebliebenen – Film von Sergej Eisenstein: über die russische Arbeiterbewegung. Ferner den 1932 von Slatan Dudow gedrehten Spielfilm „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt“ mit Musik von Hanns Eisler, gesungen von Helene Weigel und Ernst Busch.  Bereits in dem 1947 entstandenen „Lehrstück“ des Neorealismus „La Terra Trema“, das vor allem den kollektiven Kampf sizilianischer Fischer gegen das Preisdiktat der Großhändler thematisiert, wird daneben der individuelle Versuch eines Fischers gezeigt, sich selbständig zu machen: Er scheitert – an denselben Machtverhältnissen. Anders als die Existenzgründungen, die 1996 in den finnischen Filmen „House of Full Service“ und „Wolken ziehen vorüber“ thematisiert wurden.  In letzterem, von Aki Kaurismäki in Cannes präsentiert, geht es um zwei Arbeitslose, die ein Restaurant mit dem sinnigen Namen „Zur Arbeit“ eröffnen. Wenn „die Wirtschaft“ vor allem mit der Psychologie operiert („Immer optimistisch bleiben!“), bleibt „der Arbeiterbewegung“ nur die Argumentation mit den ökonomischen Fakten („Und die sehen finster aus!“). Deswegen bangt man mit den beiden Protagonisten/Wirten: Werden sie es – trotz alledem – schaffen? Historisch – am Beispiel der Kneipen in den deutschen Gewerkschaftshäusern – betrachtet: ja – immer wenn sie an Arbeitslose verpachtet wurden, brummten die Läden, wenn sie jedoch wieder die stets auf Mäßigung bedachten Funktionäre „in eigener Regie“ übernahmen, erwirtschafteten sie „nur Miese“!

Die Berlinale-Erfolge des französischen Films über eine arbeitslos gewordene Fischfabrikarbeiterin – „Haben oder Nichthaben“ – und des amerikanischen Films „Roger and Me“ – über den Zerfall der Stadt Flint, nachdem dort die Autofabrik geschlossen wurde – ermutigten die Forum-Sektion, im darauffolgenden Jahr das Programm mit der dreistündigen aktuellen Wiederaufbereitung eines zwölfminütigen Streikfilms aus dem Pariser Mai 1968 zu beginnen: „Réprise“ – von Hervé le Roux, der jüngst auch von arte ausgestrahlt wurde.  Einige Kopien von „Roger and Me“ wurden 1995 von der IG Metall zu Schulungszwecken aufgekauft: Bei den Vorführungen bleibt stets ein Platz für den Chrysler-Präsidenten Roger Smith frei, der die Betriebsschließung in Flint verfügte. Von „Réprise“ erwarben die französischen Gewerkschaften sogar siebzig Kopien. Die darin von den damaligen Protagonisten heute noch einmal diskutierte Streikaktion richtete sich 1968 gegen die Arbeitsbedingungen in der Batteriefabrik „Wonder“, die 1985 nach mehreren „Entlassungswellen“ ebenfalls stillgelegt wurde – von Bernhard Tapie, einem ehemaligen „Manager des Jahres“.

Die Bauern nicht zu vergessen! In Emden gab es jetzt erstmalig einen „Workshop“: In ihm beschäftigte man sich mit den antiimperialistisch-anklagenden Dokumentarfilmen von Gordian Troeller. Dazu gehörte auch ein Film über das agrarindustrielle „Bauernlegen“ unter den US-amerikanischen Farmern. Im Jahr zuvor gab es darüber bereits eine Langzeitdokumentation von Sophie Kotany – aus optimistisch-unternehmerischer Sicht jedoch: „Lieber nach Osten als nach Kanada“. Zwei verheiratete Diplomlandwirte, „weichende Erben“ aus Schleswig-Holstein, pachten ein kirchliches Gut in Vorpommern und bauen sich als „Neueinrichter“ eine eigene Existenz auf. Der Film wurde zunächst mit einem Videobus auf Dörfern Mecklenburg-Vorpommerns gezeigt.  Eine wunderschöne Treue zu seinen Protagonisten, die früher einmal sogar seine Arbeitskollegen gewesen waren, zeichnet auch den letzten Film von Alain Tanner aus: „L’Hommes du Port“. Es ist eine Hommage an die Genueser Hafenarbeiter und ihre schon seit über achtzig Jahren existierende syndikalistische Gewerkschaftsorganisation, die immer einflußreicher in der Stadt wird und über die sie demnächst sogar ihren Hafen selbst privatisieren.  Um Hafenarbeiter geht es auch im gerade von „arte“ ausgestrahlten Film von Ken Loach: „Die Docker von Liverpool“. Dort wurde der Hafen vor anderthalb Jahren von einer Firma privatisiert, die sofort alle 2.500 Docker entließ.  Seitdem belagern sie den Hafen, wobei insbesondere ihre Frauen, die „Women of the Waterfront“, sehr aktiv sind: Bis jetzt bestritten sie 5.000 Veranstaltungen in fast allen Hafenstädten Europas. Ihre Liverpooler Gewerkschaft versagte dagegen kläglich. Wie so oft – mindestens seit 1933, als ironischerweise der 1. Mai zum offiziellen „Tag der nationalen Arbeit“ erklärt wurde und die Gewerkschaften sofort ihre Ziele aufgaben, um wenigstens ihre Organisation zu retten. „Wir Gewerkschafter sind (wieder einmal) weit über unseren Schatten gesprungen“, so sagte es der DGB-Vorsitzende Schulte grad neulich, nachdem er sich in einem „Beschäftigungspakt“ mit der Regierung über eine gewerkschaftliche Duldung des „Lohndumpings“ – zuförderst im Osten – verständigt hatte.

Ähnlich eng, mit einer fast tagesaktuellen Bewegung verknüpft wie die zwei Docker-Filme waren auch zwei auf der diesjährigen Berlinale von der IG Metall vorgeführte südkoreanische Streikfilme, die von der dortigen illegalen Gewerkschafts-Dachorganisation produziert worden waren: Als das Forum sie Anfang 1997 ins Programm nahm, waren sie noch nicht einmal gedreht, weil die Streikbewegung sich gerade erst auszudehnen begann. Der koreanische Geheimdienst war dann auch mehr als verblüfft über diese für ihn unerklärlich schnelle internationale Zusammenarbeit.

Noch schneller war nur der „Kurzschluß“ bei Jean Rouchs Film „Madame L’Eau“, in dem es um den Bau einiger holländischer Windmühlen am Niger ging, wo einige Bauern wegen eines veränderten Flußverlaufs dringend solche stromunabhängigen Anlagen zum Wasserhochpumpen benötigten. Jean Rouch stellte für sie einen Kontakt zum niederländischen Entwicklungshilfeministerium her und filmte dann alles, was sich daraus „entwickelte“. Als die erste (holländische) Windmühle am Niger in Betrieb genommen wurde, war auch sein Film fertig – und umgekehrt. Bei einem solchen ebenso nützlichen wie dauerhaften Drehkosteneinsatz wird nicht nur der Unterschied zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, sondern auch der zwischen einer Inszenierung von oben und einer Initiierung von unten elegant suspendiert.

Das ist also die neue Überlandleitung zwischen Groningen und Papenburg…Toll!

17.

Seit auch schon wieder fast einem Vierteljahrhundert besuchen wir nun regelmäßig das ostfriesische Filmfest in Emden. Zu den calvinistischen Hauptsponsoren zählt die lokale Buchhandlung, deren Besitzer nach den langen Filmnächten immer auch noch eine Party im „Saray“ schmeißt.  Das Filmfest-Fest geht langsam an. Dann kommt aber auch schon das erste Freibier, flankiert von lüttjen Lagen des Vertreters der Landesregierung und Bohnen mit Hammelfleisch. Der Buchhändler wünscht guten Appetit. Die Kapelle beginnt mit leiser arabischer Verdauungsmusik.  Noch sitzen die eingeladenen Filmer mit ihren Crews nach ihren nordwesteuropäischen Heimatregionen getrennt an den Tischen. Und wie immer sind die blonden Schauspielerinnen aus Dublin, die alle kein Fleisch essen, dann wieder die Ersten, die zurück ins Hotel wollen: Eine von ihnen klopft mit einem Löffel an ihr leeres Apfelsaftglas und verkündet mit lauter schöner Stimme aufrecht stehend: „Ireland is leaving now. Have a nice party!“ Die Iren werden zügig durch Einheimische ersetzt: Die meisten sind ebenfalls blond – und studieren an der Emder Fachhochschule für Sozialmanagement. Der SPD-Bürgermeister erklärt der Berliner Moderatorin, dass sie sich in Emden auf „Event-Kultur“ spezialisieren – was Sinn ergebe, hier zum Beispiel folge auf das Filmfest das noch viel größere Matjesfest, dann das Erntedankfest der Fischer, die Tee-Tage, der Hideaway-Grogtourismus, und zwischendrin dieser ganze Watt-Wander-Wahnsinn immer noch.

Plötzlich stehen wie im vergangenen Jahr alle Belgier auf, und eine sagt für alle: „Belgique says also goodbye!“ Der Wirt eilt an ihren Tisch und entschuldigt sich: „Wenn ich früher von der Party gewusst hätte, hätte ich noch mehr Bauchtänzerinnen engagiert!“ Gegen drei singt Meret Becker stehend freihändig zwei romantische Lieder. Um sechs verlassen die letzten Buchhändlerinnen das Lokal. Aber pünktlich um 9 stehen sie alle wieder auf ihrem Posten – auch die eigentlich fürs Filmfest Verantwortlichen. „Das ist das Geheimnis ihres Erfolgs – die Ostfriesen haben ein kolossales Standing“, erklärt dazu anderntags der englische Filmkritiker Lawrence, der – wie wir – jedes Jahr da antanzt.

Genau. Wenn Du auch für eine Abtrennung Frieslands von Deutschland bist, dann mußt Du da Dein Kreuz machen.

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2009/12/29/friesland_zeigen_lassen_18/

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kommentare

  • Ende Mai 2011 veröffentlichte die taz mal wieder ein bißchen Friesenforschung – in diesem Fall über Helgoland:

    Diese Insel ist das totale Paradies. Und sie ist die Hölle. Ein Platz, an dem sich Militaristen und Ornithologen treffen. Robben-Freaks und Alkoholiker. Wie, das geht nicht? Aber ja geht es, und der Ort des Geschehens hat sogar einen heiligen Namen: Helgoland, früher „Hilligland“ (Heilig Land) heißt sie, und etliche Männer heißen dort Helgo, bis heute.

    Doch davon ein ander Mal. Denn eigentlich geht es ja um die Frage, wie es ums Image Helgolands steht, das aus zwei Inseln eine machen will – falls die Bewohner am 26. 6. der Landaufschüttung zur „Düne“ zustimmen. Wie kann es sein, dass dort eine so absurde Mixtur aus Ökologen und Suchtkranken existiert? Wie ertragen sie einander?

    Man könnte sichs natürlich leicht machen: Ornitho- und Ökologen ins Ober-, Alkoholiker und Raucher ins Unterland. Aber das funktioniert nicht. Denn die Ökologen müssen durchs Unterland, und die Süchtigen wollen zu den Vogelfelsen, und da begegnen sie sich dann wieder, auf kaum meterbreiten Pfaden.

    Dabei war die Insel während des Zweiten Weltkriegs ja mehrfach aufgegeben, erst von den Nazis, dann von den Briten, die sie zu sprengen versuchten. Erst 1950 haben dann irgendwelche Revoluzzer-Studenten die deutsche Flagge gehisst und die Rückgabe des britischen Sperrgebiets an Deutschland und dessen Wiederbesiedlung mit erzwungen.

    Die fand statt, im 50er-Jahre-Stil, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch ästhetisch nicht: Trostlos wirken die breiten schmucklosen Betonwege am Hafen, verrostet der Anleger der „Düne“. Am Strand alte Reifen, verrottetes Werkzeug.

    Ein Bagger rast geräuschvoll längs der Robben-Kolonie. Fast könnte man, derlei bemängelnd, selbst zum Spießer werden. Aber diese Insel heißt eben nicht „Isle of Trash“ sondern setzt so ausdrücklich auf Tourismus, dass ein paar liebevolle Details schon zu erwarten wären …

    Aber so sind die Helgoländer nicht. Sie machen es dem Touristen nicht gemütlich. Sie hämmern und bohren fröhlich ab sieben und über Mittag – Fremdenzimmer hin oder her. Und pflegen dabei nimmermüde den Mythos vom Seebären.

    Dabei fährt der heute auch bloß noch ein Börteboot, um die Touristen vom Schiff in den angeblich zu flachen Hafen zu holen. Überdacht sind weder Boote noch Stege, soll der Tourist doch selbst sehen.

    Ein bisschen wundert es einen und dann auch wieder nicht, wenn man bedenkt, dass die Helgoländer – wie Meta Schoepp in ihrem Helgoland-Roman schrieb -, noch im 19. Jahrhundert keinen Leuchtturm aufstellten, damit Schiffe an den Klippen zerschellten und man vom Strandraub leben konnte.

    Ein bisschen, scheints, ist von jener Mentalität geblieben, von der Idee, zu nehmen, aber wenig zu geben. War ja auch lange der zollfreie „Fuselfelsen“, zu dem man auf Kaffee- oder Butterfahrt fuhr. Von der Schnäppchenjagd profitierten die Touristen, von den Erlösen die Helgoländer.

    Zollfreie Butter gibts inzwischen nicht mehr, aber dafür Alkoholika, Parfum, Schokolade. Und das nicht nur in einem Laden, sondern in fünfzehn. Alle hintereinander, dazwischen ein liebloses Fischbrötchen-Geschäft, ein muffiges Café.

    Die Preise: überall gleich, die Auslagen: lieblos. Kaufen und verschwinden soll man, aber dalli! Da kann die anfangs nette Dame schon mal grantig werden, wenn man nur zwei Postkarten kauft: Wie ein Gewehr hält sie das Etikettendruck-Gerät, bereit zuzuschlagen. Da sagt man „nein danke“ und geht. Es ist ihr egal.

    Und die Gästezimmer? Auch die haben sich seit 1952 nicht verändert: Auslegware, löchrige Bettvorleger und Käse zum Frühstück muss man selbst mitbringen, wofür hat man den Kühlschrank auf dem Zimmer.

    Andererseits kann man den Gastgebern schwer böse sein: Ist das Gesicht nicht ungesund gerötet? Zittern nicht die Hände beim Tee-Einschenken? War es nicht genauso bei den Vermietern im Jahr davor? „Wir feiern unser Abendmal mit Traubensaft!“ ist groß an die Nicolai-Kirche gepinnt. Gleich daneben der Aufruf zum Treffen der Selbsthilfegruppe „Blaues Kreuz“. Dass sie Alkoholabhängigen helfen, steht da nicht.

    Aber wohin man auch schaut, das Problem ist da. Ein Teufelspakt, denkt man, ein Fluch vielleicht, dass gerade die, die von der Sucht der Touristen leben, ihr selbst verfallen. Denn auch der Schiffskarten-Verkäufer, der Börteboot-Führer … alle mit diesen roten Köpfen.

    Die Geister, die man rief – die ist auch der Bürgermeister noch nicht losgeworden. Ob er weiß, was er sagt, wenn er sich über die steigenden Tagestouristen-Zahlen freut?

    Denn die kommen bestimmt nicht wegen des Lummensprungs, eines aufregenden ornithologischen Spektakels, mit dem immer geworben wird. Der einzige Erfolg: Die Ornithologen haben nicht mal mehr auf den Klippen ihre Ruhe, sondern werden auch dort heimgesucht vom Duty-Free-und-Jubel-Volk.

    Dabei ist Helgolands Fauna eine echte Rarität: An keiner andern Stelle in Deutschland brüten solche Mengen skandinavischer Wasservögel und im Juni springen die Lummen-Jungen hoch vom Fels ins Wasser, wo Vater wartet, damit man gemeinsam ins Nordmeer schwimmt.

    Dies ist die eigentliche Attraktion der Insel, die Massen an Fotografen lockt. Da wird man mit kamerabewehrtem Arm auch schon mal weggeboxt, wenn man unbequem im Blickfeld steht.

    Abgesehen davon ist es aber durchaus angenehm, Vögel mal von oben erleben zu können, ihre Lust am Fliegen, ihr archaisches Geschrei. Ein bisschen wie in Cornwall sieht es hier aus, und fast begänne man von Tintagel zu träumen, würde man nicht jäh zurückgerissen: „Dieser Krater stammt von einer Fünf-Tonnen-Bombe“ steht da in riesigen Lettern.

    Ohne das Schild hätte man vielleicht an eine Feenhöhle gedacht. Oder an eine hügelige Landschaft, einfach so. Aber es soll nicht sein: „Hier hatten die Nazis das Projekt Hummerschere geplant“, verkündet das nächste Schild am schönsten aller Aussichtspunkte.

    So geht das den ganzen Klippenwanderweg lang, als gönnten es einem die Helgoländer nicht, ihre Geschichte zu vergessen. „Wir sind Opfer, wir haben gelitten“, schreien sie – dabei haben sie die britischen Luftangriffe im Bunker überlebt. Führungen durch jenen Bunker werden natürlich heftigst beworben.

    Und der Buchladen informiert vor allem über Helgoland im Krieg. Eine merkwürdig antiquierte Nachkriegs-Mentalität, die inzwischen vor allem Ostdeutsche anzieht, die sich am ehesten noch vom Phänomen „Hamsterkauf“ beeindrucken lassen.

    Gesamttdeutsch dagegen der andere Teil der Klientel: Militaristen mit zackigem Gang, kantigen Gesichtern. Da kann es durchaus vorkommen, dass man unvermittelt angeblafft wird: „Möwen füttern verboten, sehen Sie das nicht“! Niemand im weiten Umkreis hatte derlei Anstalten gemacht. Aber zu streiten wagt man auch nicht, so nah an den Klippen …

    Später im Fanggarten der Vogelwarte trifft man sich wieder. „Die stehen wohl auch erst um 10 Uhr auf“,sagt der Kantige. Als er hört, dass die Ehrenamtlichen sommers zwölf Stunden arbeiten, um verirrte Lummenjunge zu retten, schweigt er. Vorerst.

    Dazu kam ein Leserbrief an den Geschäftsführer:

    Sehr geehrter Herr Ruch,
    nachdem ich seit Erscheinen des Artikels über Helgolands Alkoholproblem massiv von der Inselbevöllkerung sowie von Gästen und Freunden der Insel aus dem Bundesgebiet angegangen bin, damit ich was dagegen unternehme, habe ich mich dazu entschlossen bzw. fühle
    ich mich verpflichtet, mit Ihnen direkten Kontakt aufzunehmen.
    Wie Sie sicherlich nachvollziehen können und wohl auch beabsichtigt
    haben, sorgte og. Artikel doch für blankes Entsetzen auf der gesamten Insel
    und den vielen Freunden und Förderern Helgolands, mehr noch, die
    angesprochene schallende Ohrfeige gilt auch den jährlich über 310.000
    Gästen und jenen, die in absehbarer Zukunft einen Inselaufenthalt, sei
    es als Tagesgast oder Urlauber, in Erwägung ziehen.
    Die Ausführungen Ihrer Autorin werden als eine unqualifizierte
    Aneinanderreihung und Darstellung von abstrusen unwahren Um- und
    Zuständen empfunden, die dieses Kleinod im Meer und deren Bewohner und
    Gäste niedermacht, beschimpft und besudelt.
    Wenn sich die taz denn wirklich ihrem Redaktionsstatut, Die taz wendet sich gegen jede Form von Diskriminierung und Die Zeitung ist der wahrheitsgetreuen Berichterstattung verpflichtet – unterordnet, dann liegt hier schlicht und ergreifend eine Lüge in Reinstform vor, denn: Helgoland bzw. seine Bewohner haben kein Alkoholproblem. Und ebenso wenig gehen sie ihren Besuchern (…) mit den alten Kriegsgeschichten auf die Nerven. Auch können
    wir es nicht stehen lassen, dass die Diktion des Artikels (…Militaristen…Militarismus lt. Wikipedia: Dominanz
    militäischer Wertvorstellungen) die Inselbewohner in eine Ecke
    drängt, die der Ausrichtung Ihres Blattes diametral entgegenläuft.
    Mit dem Ausdruck irgendwelche Revoluzzer-Studenten besudelt die
    taz die wissenschaftlich einwandfrei erwiesenen Verdienste der Männer
    bzw. deren Hinterbliebenen, die mit ihrer friedlichen Revolution
    die Wiederfreigabe der Insel maßgeblich ermöglicht haben.
    Sie mögen bitte zur Kenntnis nehmen, dass vor allem in den letzten
    Jahren sowohl von der öffentlichen Hand als auch von der
    Inselwirtschaft erhebliche Investitionen in Infrastruktur und
    qualitätsverbessernde Maßnahmen getätigt wurden, die u.a. zur
    Konsequenz hatten, dass alleine in den letzten vier Jahren die Anzahl
    der urlaubenden Gäste um rund 30% (!) gesteigert werden konnte. Wir
    sind auch sehr optimistisch, diese Zahlen aufgrund des hohen
    Stammgästeanteils und des hohen Zufriedenheitsgrades der Gäste weiter
    steigern zu können.
    Zum Thema Tagestourismus ist es bedauerlich, dass Ihre Autorin
    (bewusst?) gerade die Anbieter in ihrem Artikel ausgeklammert hat, die
    sich mit viel Engagement und finanziellem Einsatz dem einstmaligen Image übrigens erfolgreich entgegenstemmen.
    Da Sie ja in Einklang mit Ihrem Redaktionsstatut eine Einladung
    von meiner Seite nicht annehmen dürfen, lege ich Ihnen nahe, ersuche
    ich Sie, fordere ich Sie auf, sich persönlich ein Bild von den
    tatsächlichen Gegebenheiten auf der Insel zu machen!
    Gottlob – um auch einmal etwas Positives zu sagen, gibt es andere
    Redakteure, die ihren Berufs-Kodex differenzierter verstehen oder
    interpretieren! Wie schön, die (Helgoland-)Artikel eines Roger
    Repplinger oder Thilo Schmidt gelesen zu haben!
    Ich erwarte nun von Ihnen eine sofortige Reaktion, eine Klar- sowie
    Gegendarstellung und auch eine Entschuldigung aus der Führungsetage
    Ihres Hauses (Anmerkung: dies natürlich auch von der Autorin!).
    Und selbstverständlich … aber das kennen Sie ja … behalten wir uns
    weitere rechtliche Schritte (Verleumdung? Den Ausdruck
    Rufmord kennt das Gesetz ja nicht) vor.
    Abschließend bitte ich um Verständnis dafür, dass ich vorliegende
    Mail über meinen gut sortierten Verteiler versende und damit auch Ihre
    Mailadressen preisgebe. Damit will ich auch anderen Personen Gelegenheit
    geben, ebenfalls mit Ihnen den direkten Kontakt zu suchen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Klaus Furtmeier
    – Tourismusdirektor Nordseeheilbad Helgoland –

    Kurverwaltung Helgoland
    Lung Wai 28
    27498 De Lun / Helgoland

  • In all den Werken über Meerjungfrauen, Nixen und Undinen vermisse ich den Hinweis über die vielen, vielen Mädchen, die sich in der Vergangenheit mit einem Mann einließen, schwanger wurden, und deswegen „ins Wasser“ gingen, also im Mühlbach oder im nächsten Fluß bzw. See Selbstmord begingen.

    Sind ihre Wasserleichen nicht der realgeschichtliche Hintergrund für all diese sehnsüchtigen Werke über im Wasser lebende Jungfrauen, die sich in einen Mann auf dem Trockenen verlieben und ihm dorthin folgen – wo sie dann nur unglücklich werden können?

  • Zu Text 6 – über das „Singen“. Bestätigt wird die darin vertretene Theorie von einem rumänischen Zigeuner namens Milan, der dem Schriftsteller Landolf Scherzer sagte:

    „Ich bringe das Geld, damit meine Familie leben kann. Viel Geld ist es nicht, aber wir Zigeuner sind wie die Afrikaner: Wir lachen und singen um so lauter, je schlechter es uns geht. Ein reicher Zigeuner lacht und singt nicht mehr.“

    „Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten,“ S. 198, von Landolf Scherzer, Aufbau-Verlag 2010

  • Oben im Text hieß es an einer Stelle:

    „Einen schönen Überblick über die ganzen Undine-Bearbeitungen – von Paracelsus über die Romantiker bis zu Joanna Russ – bietet die Dissertation von Gerlinde Roth: “Hydropsie des Imaginären. Mythos Undine”, erschienen im Centaurus-Verlag, Pfaffenweiler 1996“

    Nun hat der Frankfurter Literaturprofessor Andreas Kraß dieses „Thema“ noch einmal aufgegriffen – in einem dicken Buch, das im Fischer-Verlag Wissenschaft erschien:

    „Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe“. Dieses literarische Motiv reicht bei ihm laut Klappentext „von Homer über Andersen und Ingeborg Bachmann bis hin zu Disneys Arielle“.

  • Großartiger Beitrag, vielen Dank! Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, dass ich als Ethnologe nicht etwas ‚eingeschaltet‘ wurde, sondern dort aus ganz eigenen Stücken (bzw im Rahmen eines VW geförderten Uni- Projektes) geforscht habe. Keineswegs neutral? – nun ja, was immer das bedeutet. Mit dem Herzen bin ich als Ethnologe jeher auf der Seite der Bevölkerung, und ich stimme da Ihrer auffassung von plitischer Ökoplogie durchaus zu. Kann es sein, dass Sie meinen Beitrag nicht ganz zu Ende gelesen haben? Es ist zwar richtig, dass ich geschrieben habe, dass die Ringelganssache ein Erfolg für die Naturschützer war, aber im Verlauf des Artikels wird auch deutlich, um welchen Preis. Es kommen alle oder jedenfalls ziemlich viele zu Wort, der Bürgermeister, seine Frau, der Biologe, die Ringelgänse, und wenn schon Partei, dann ergreife ich die eher für die Landbewohner. Trotzdem, es freut mich zitiert zu werden, und Ihre Beiträge sind ganz wunderbar!

  • Elke Burmester (Hamburg):

    Ich will nur darauf hinweisen, dass die Undine von Joanna Russ „Russalka“ morgens lustlos „Meereskühe“ hütete. Das müssen die „Stellerschen“ Seekühe gewesen sein, die im Ochotskischen Meer lebten, wo am Rand auch das sibirische Volk der Niwchen lebt, das wie oben erwähnt eine Meer-Frau als Urahnin verehrt.

  • danke, danke, danke: ein weiteres denkmal, der aufklärung /-heiterung zugeneigt!
    spätestens nach diesem wunderbaren txten stellt sich verschärft die frage, wann sich ein befreiungskomitee h.höge gründet, um selbigen aus der taz hölle zu befreien.
    das umfeld dieser perlen ist doch, von seltnen ausnahmen abgesehen, schrecklich, schrecklich, schrecklich.
    ein reich erfülltes neues+lobpreisung aller wege

  • P.S.: Zu den teilweise schon einige Jahrzehnte alten Friesentexten oben sei gesagt: Das einzige was zählt ist der Augenblick, aber auch das Jahrhundert, wobei in diesem Fall auch noch Baudrillards Diktum gilt: Das Jahr 2000 fand nicht statt.

    Ich hebe das deswegen besonders hervor, weil mich gerade die taz-redaktionen mit ihrem sich immer mehr verschärfenden Aktualitätswahn stutzig machen.

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