Theodor W. Adorno riet seinen Frankfurter Studenten, den „bösen Blick“ zu entwickeln. Rückblickend merkt dazu sein ehemaliger Student, der jetzige Marxismusforscher Helmut Reichelt, an, sie sollten sich damit „für die Erfahrung von Gesellschaft sensibilisieren und dann das Erfahrene theoretisch verarbeiten, wie umgekehrt die Sensibilität für Erfahrung durch Aneignung kritischer Theorie schärfen. Nur so könne man dem Positivismus entkommen“
Der Positivismus, das habe ich noch von Adornos Assistent gelernt, ist etwas ganz besonders Verabscheuungswürdiges. Adorno hat in den Sechzigerjahren einen ganzen „Streit“ darüber vom Zaun gebrochen: den sogenannten „Positivismusstreit“, den man laut Wikipedia auch „Zweiten Methodenstreit“ nennt. Er begann zwischen Popper und Adorno: „Kritischer Rationalismus“ versus „psychoanalytisch angereichertem Marxismus“. Poppers „offene Gesellschaft“ wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion von seinem Schüler George Soros versuchsweise in Osteuropa durchgesetzt. Mit viel Geld aus Spekulationsgewinnen. Ironischerweise schätzte Adorno – gegen die (US-)Rationalisten – die (Erkenntnis-)Gewinne aus der „spekulativen Philosophie“ Europas hoch.
Zurück zum „Bösen Blick“: Der Schweizer Ethnologe David Signer hat diese und andere Zauber-Praktiken in Ostafrika studiert – sein kürzlich veröffentlichtes Buch darüber heißt: „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“. Für Signer sind die magischen Praktiken kein psychologisches, sondern ein soziologisches Phänomen. Wenn Frantz Fanon von eine „magischen Überbau“ sprach, dann könnte man nun mit David Signer von ein „magischen Unterbau“ reden. Er lernte in Ostafrika Medizinmänner und -frauen kennen (eine heiratete er sogar), die Fetische herstellen, um Angreifer und Gewehrkugeln abzuwehren, die Mittel zur Verwandlung in Bäume und Antilopen kennen, die Menschen den Mund verschließen und sie sogar mit Blicken und Worten töten können. Der Traum jedes Adornoschülers?
Der böse Blick ist der einzig produktive, deswegen schärfte Adorno seinen Studenten ein, ihn ja nicht zu vergessen. Denn anders sei unsere warenproduzierende Gesellschaft nicht zu begreifen. Zwar schwor Marx sich, dass die Bourgeoisie ihm seine Furunkel am Arsch, die er sich während der Abfassung seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ zugezogen hatte, noch einmal teuer bezahlen werde, aber eigentlich ist der böse Blick oder das tödliche Wort in einer Gesellschaft, die einzig durch das Wertgesetz zusammengehalten wird, wirkungslos geworden. In Gesellschaften, die dagegen noch auf den Gabentausch bestehen, hilft der böse Blick enorm.
Der Gabentausch basiert auf Reziprozität, d.h. auf Gegenseitigkeit, die nicht unbedingt prompt erfüllt werden muß. So dürfen Kinder billigerweise erwarten, von ihren Eltern versorgt zu werden, und die umgekehrt das selbe dann im Alter von ihren Kindern. Im Geltungsbereich des Wertgesetzes hingegen wird die „Versorgung“ käuflich. Und das muß sie auch notgedrungen, denn wir sind alles „Privatarbeiter“ geworden und damit in einem konsumistischen Universum gelandet. Unsere Gesellschaft stellt sich erst über den Tauschzusammenhang her – über ihre Arbeitswerte, die quasi rückwirkend alle produktiven Tätigkeiten zu „abstrakter“ Arbeit herabwürdigen. Wohl sieht man – in der U-Bahn z.B. – noch jede Menge Leute (Baaliner), die den „bösen Blick“ praktizieren (drauf haben), und es dabei bis zu kleinen Mörderaugen gebracht haben, aber das ist sozusagen prä-adornitisch – und damit eher bedauernswert als zum Fürchten. Das heißt allerdings nicht, dass die Magie auf den afrikanischen Kontinent oder den Gabentausch reduziert ist, im Gegenteil, auch hier ist sie die Basis der Ökonomie. Die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft mißt der „Psychologie“ im Wirtschaftsgeschehen, der „Stimmung“ an der (Wirtschafts-)“Klima“-Börse z.B.), die allergrößte Bedeutung zu. Und das gilt auch für die Politik derzeit, die jetzt mit allen möglichen Steuererleichterungen und Geldgeschenken den bösen Blick der Leute (der „Multitude“) auf die Verursacher der Krise abmildern will.
Die Amis geben dabei eher den „Philosophen“ die Schuld. „Das Böse denken“ nennt die US-Philosophin und Direktorin des Potsdamer „Einstein-Forums“ Susan Neiman ihre „andere Geschichte der Philosophie“. In der NZZ schrieb dazu Ludger Heidbrink: „Es scheint grosse Schwierigkeiten zu bereiten, die Schrecken der Moderne ohne Absicherung zu denken, seien sie moralischer oder ästhetischer Art“. Das kreidet der Rezensent auch Susan Neiman an. Ihre Studie, so Heidbrink, lasse die Beschäftigung der Philosophie mit dem Bösen – ihr zufolge die „treibende Kraft des modernen Denkens“ – Revue passieren und stoße dabei auf folgende Konstante: Das Böse markierte von Bayle bis Hegel immer die „Grenzen des Sinns“, das Gegenteil des Vernünftigen, das aber deshalb keineswegs in Frage gestellt, sondern im Gegenteil: neu beglaubigt wurde. Seit Voltaire dominierte „die Rede vom Guten als metaphysische Täuschung, die es durch die Anerkennung eines irrationalen Weltengrundes zu überwinden gelte“. Gerade deshalb aber wurmt es Heidkamp, dass Neiman sich einreiht „in die Tradition der säkularen Theodizeen, mit deren Hilfe der Mensch dem Übel in der Welt einen Namen gibt“. Dabei spannt die Autorin den Bogen des Bösen empirisch vom Erdbeben in Lissabon bis zu den deutschen Vernichtungslagern. Das Böse ist bei ihr nicht bloßes Phänomen, sondern immer noch ein metaphysisches Problem, das es zu verstehen gilt. Es bleibt also dabei: „Nicht das Böse ist treibende Kraft des Denkens, sondern der Versuch, ihm einen Platz in der prekären Ordnung der Dinge zu geben.“
Das hat auch der französische Philosoph Jean Baudrillard versucht: In seiner Habilitationsschrift Mitte der Achtzigerjahre sprach er von der „Kunst des Verschwindens“ – verstanden als ein „Tarnverfahren zum Überleben“ – also als eine Subjektstrategie, die auf Verführung basiert. Zuletzt, kurz vor seinem Tod, hat er diese „Kunst des Verschwindens“ noch einmal thematisiert: Diesmal als Objektstrategie eines umfassenden „digital processing“, das den Menschen qua Technologie zum Verschwinden bringt – damit aber auch das Böse sowie alle Radikalität: „Wenn sie sich vom mit sich selbst versöhnten und dank des Digitalen homogenisierten Individuum trennt, wenn alles kritische Denken verschwunden ist, dann geht die Radikalität in die Dinge über. Und das Bauchreden des Bösen wechselt zur Technik selbst hinüber…Wenn die subjektive Ironie verschwindet – und sie verschwindet im Spiel des Digitalen – dann wird die Ironie objektiv. Oder sie verstummt.“ Ja, dank des „Klonens, der Digitalisierung und der Netze,“ so Baudrillard, sind wir eigentlich schon so gut wie verschwunen: „Es ist ein wenig wie im Falle der Cheshire-Katze bei Lewis Carroll, deren Lächeln immer noch im Raum schwebt, nachdem ihre Gestalt entschwunden ist.“
Halten wir fest: Nicht das Böse in uns verschwindet, sondern wir – weil oder währenddessen das Böse sich in unsere Artefakte hinüberrettet. Demgegenüber behauptet der Pariser Wissenssoziologe Bruno Latour – besonders im Hinblick auf seinen eigenen (neuen) Personalcomputer: „Trotz des steten Unbehagens von Moralisten ist kein Mensch so unerbittlich moralisch wie es eine Maschine ist“.
Also quasi nie böse. Wenn man den Hirnforschern glauben darf, dann kann man bei uns deswegen nicht so sicher sein, weil wir maschinell gesehen äußerst fehlerhaft (moralisch unzuverlässig) sind. In seinem Buch „Das ganz normale Böse“ hat der Gerichtspsychiater Reinhard Haller laut der österreichischen „Presse“ einen „Blick in die Gehirne von Verbrechern geworfen.“
„Mein Hirn hat falsch getickt“, „In mir muss etwas Krankes abgelaufen sein“ – Begründungen wie diese hat Haller oft gehört. „Böse? Oder einfach krank? Der Fall von Joseph Whitman, der 1966 an der Universität von Austin, Texas, 17 Menschen erschossen und 66 verletzt hat, lässt eben diese Frage offen. Bei seiner Obduktion wurde zwar ein Tumor in genau jenem Bereich des Gehirns gefunden, der bei starken Hassgefühlen aktiv wird, doch, so Haller: ‚Andere, die denselben Tumor haben, rasten nicht aus‘. Letztlich ist ein Begriff entscheidend – der freie Wille. Und doch gibt es Situationen, in denen selbst der Gesetzgeber diese Konvention aussetzen lässt – im Vollrausch, im Affekt, bei Schwachsinn…“
Es sind also irgendwelche chemophysikalischen Verdrahtungen im Gehirn, die unser Verhalten bestimmen, aber letztlich werden wir nicht von einem Mörder-Gen oder Ähnlichem ferngesteuert, sondern können mit unserem Ich da durchaus gegen halten – um in aller Regel z.B. Schlimmstes zu vermeiden.
Der amerikanische Staat will sich darauf nicht länger verlassen. Das Magazin „Focus“ meldet unter dem Stichwort „Gedankenforschung“, eigentlich müßte es -kontrolle heißen, aber das klang ihnen zu kritisch: „Ungefähr 400 Millionen Menschen reisen jedes Jahr in die USA ein – wenn es nach der Sicherheitsbehörde Department of Homeland Security (DHS) geht, sollen sie alle ab 2012 überprüft werden. An jedem Flughafen, jeder Zollstation, jedem Grenzübergang soll es Roboter geben, die quasi per Ferndiagnose feststellen, ob ein Mensch böse Absichten hat. Im Rahmen des Project Hostile Intent (PHI) sollen nichtinvasive Sensoren und Software entwickelt werden, die alles aufnehmen, was verdächtig ist oder auf Feindseligkeit hinweist. Nach der Forschungsagentur des Pentagons könnten das Blutdruck, Herzschlag, Schwitzen, der Gesichtsausdruck oder Gang sein.
Das klingt zunächst, als hätte jemand zu viel ferngesehen. Schließlich sind schon die Ergebnisse fragwürdig, die ein Lügendetektor liefert. Und dabei werden bei der betroffenen Person immerhin direkt körperliche Parameter wie Blutdruck, Puls und Atmung gemessen, während es ’nur‘ darum geht, eine Lüge, die in just diesem Moment erzählt wird, zu entlarven. Wer einen terroristischen Akt plant, wird aber unter Umständen schon lange vorher in das Land einreisen.“
Der von Adorno einst gelehrte „böse Blick“ (auf die Verhältnisse) wird damit als das Böse (schlechthin) dekonstruiert (entlarvt).
Die FAZ druckte am 7.8. einen langen Artikel über den geistigen Zustand der durch öffentliche Pädophilie-, Alkohol- und Homosexualitäts-Debatten geschwächten katholischen Kirche: „Im Land der Mutlosen“ übertitelt. Gleich drei Mal geben die darauf angesprochenen Würdenträger „68“ die Schuld dafür: D.h. die um „1968“ gesellschaftlich wirksam gewordenen Impulse der „antiautoritären Bewegung“ werden von dieser Kirche als das eigentlich Böse erkannt. (**) Baudrillard hat das ähnlich gesehen: Der böse Blick der linken Studenten war und ist das Böse (aus christlicher Sicht). Mit dem Ergebnis: „Die Kirche steht [nun] auf wackeligen Beinen,“ wie die FAZ schreibt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an das Marxsche Diktum: „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“.
Es gibt noch einen weiteren Gerichtspsychiater, der sich wegen seines langen Umgangs mit den scheußlichsten Verbrechern berufen fühlt, sich über das Böse so seine Gedanken zu machen: Hans-Ludwig Kröber. „Die Zeit“ bezeichnete ihn als „Deutschlands bekanntesten Gerichtspsychiater“ – und interviewte ihn prompt: „Für mich ist das Böse eine Wahrnehmungskategorie,“ meinte Kröber gleich vorweg. Das hört sich interessant an, aber er meint damit etwas Saudummes: „So wie wir spontan etwas als schön oder eklig empfinden, so erleben wir auch ein bestimmtes Handeln – ob wir es wollen oder nicht – als böse.“ Aber wir doch nicht! Für uns „86er“ sind doch z.B. „Sex & Drugs & Rock n’Roll“ (High sein, Frei sein, Terror muß dabei sein) absolut nichts Böses.
„Was ist die Signatur des Bösen?“ fragt „Die Zeit“ den Gerichtspsychiater vornehm weiter. Antwort: „Wir reden vor allem dann vom Bösen, wenn wir das Gefühl haben, der Täter hätte die Freiheit gehabt, sich auch anders zu entscheiden…Das Böse ist umso augenfälliger, je eindeutiger es darauf abzielt, ganz bewußt das Schöne, das Heile, das Kindliche, die Zukunft zu zerstören.“
Es gibt nun sone (Psychologen), die das Böse „aus den Umständen heraus erklären“, und solche (Psychologen), die den „Schlüssel“ zur Tat im Täter selbst suchen (in seinen Gehirnwindungen und Genen) – in seiner „intrinsischen Bosheit“, wie „Die Zeit“ das nennt. Hans-Ludwig Kröber versucht „zwischen beiden Positionen“ zu lavieren: „Die meisten Täter sind nicht a priori böse. Nur in bestimmten Situationen lassen sie sich zu entsprechenden Taten hinreißen. Anders gesagt: Das Böse lebt in der Tat. Und man muß kein böser Mensch sein, um böse Taten zu begehen.“
Wieder eine interessante These: das Böse ist weder in mir, noch macht mich eine scheußliche Umwelt böse. Es entsteht (lebt) genau dazwischen – in und mit der Tat. Davor und danach gibt es kein Böses. Mit Ausnahmen allerdings, die jedoch sehr selten sind: Das sind die quasi von Grund auf „bösen Menschen“ – so Kröber. Es würde sie viel häufiger geben, ja, ein ganzes Volk könnte sogar zur Gewalt bereit sein, „wenn es legitimiert würde“. Also wenn die Leute von Staats wegen loslegen dürften und ihnen Straffreiheit versprochen würde. Dann bekommen wir u.U. ein komplett böses Volk. Aber auch so kriegen wir „das Böse“ da nie ganz raus: Eine „gewaltfreie Gesellschaft“ hält Kröber für eine „Illusion“. Die (deutschen) Politiker trauen sich bloß nicht zu sagen, „dass in einem Volk von 80 Millionen immer eine gewisse Gewaltbereitschaft und damit ein Lebensrisiko besteht.“ Der Gerichtspsychiater stimmt dem „Zeit“-Journalisten zu, dass „wir vielleicht die Bedrohung des Bösen sogar brauchen, um unsere guten Seiten zu aktivieren…“. Ja, „das könnte sein,“ sagt er. Denn „selbst in Krimis siegen am Ende ja meist Werte wie Courage, Mut, Stehvermögen, Mitmenschlichkeit über das Böse. Und auch in der Realität zeigen viele Menschen diese positiven Eigenschaften, selbst wenn sie es gar nicht müssen.“
Dass das Gute am Ende oft triumphiert (im Krimi eher aus Kitschgründen), hat aber nichts damit zu tun, dass das Böse sich wie eine Art Kontaktgift an Einzelne oder Gruppen haftet. Das meint jedenfalls der Strafverteidiger und Autor über das Böse: Ferdinand von Schirach. In einem FAZ-Interview führte er dazu aus: „Der Richter erkennt den Begriff des Bösen nicht. Er benennt es, indem er die strafbare Seite an ihm fasst, und dadurch kann er es bannen. In einem Prozeß wird aus dem Bösen eine Straftat. Für die Gesellschaft bleibt das Böse immer das Unfassbare, das Unbegreifliche, das Dunkle. Wer das einmal hatte, wird es nicht mehr los.“ Für diejenigen, die beruflich mit solcherart Bösem zu tun haben, Strafverteidiger, Richter und Gerichtspsychiater, stellt sich die Frage „Wie hält man das persönlich aus?“ Wo von Schirach sich mit einer spröden Prosa ohne Nebensätze wappnet, zieht sich der Gerichtspsychiater Kröger „eine Art inneren Arztkittel an und konzentriert sich auf die handwerkliche Sorgfalt, versucht Lebensgeschichten zu rekonstruieren und schafft es so im Allgemeinen ganz gut, sich von Wertungen frei zu halten.“
Wenn der „Philosoph des Bösen“ Marquis de Sade war, dann kann man Arthur Schopenhauer vielleicht als den „Philosophen des Guten“ bezeichnen. Er hat viel Arbeit darauf verwendet – u.a. indem er lange Zeit Berichte in- und ausländischer Zeitungen auswertete, um die „Grausamkeiten“, die die Menschen sich antun, zu verstehen, und um dem moralphilosophisch etwas entgegen zu setzen“. Dabei trat erst einmal laut Henning Ritter eine „vielartige Physiognomie des Bösen“ hervor, „das sich der Bekämpfung und Eindämmung mit Hilfe des Strafrechts, vor allem aber der moralischen Einflußnahme entzog“. Schopenhauer „durchmusterte also die Szenen und Bilder der Grausamkeit nach einer Lücke, die sich etwa für ein Gegenmittel auftun könnte. Schließlich fiel ihm bei diesem Studium die völlige Abwesenheit des Mitleids auf. Erst sie, meinte er, drücke ‚einer Tat den Stempel der tiefsten moralischen Verworfenheit und Abscheulichkeit‘ auf.“
Und das Mitleid, die Empathie (das Einfühlungsvermögen), war es dann auch, das ihm in der Lage zu sein schien, um „in der Wirklichkeit eine vernachlässigte ethische Kraft zu mobilisieren“, die gegen die „Grausamkeit als Exzess des Egoismus“ wirksam werden könnte. Schopenhauers „Mitleidsethik“ richtete sich auch gegen die Tierquälerei und die Vivisektion (ein damals vieldiskutiertes Thema). „Das menschliche Verhalten zu den Tieren war für ihn sogar der genaueste Indikator der wahren Beschaffenheit der Moral, und auch Weltanschauungen und Religionen pflegte er danach zu beurteilen“, weswegen er dem christlichen und jüdischen Glauben natürlich nicht viel abgewinnen konnte. Er forderte ihnen gegenüber ein „grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen“. Die „Einengung des Mitleids auf das zwischenmenschliche Verhalten konnte so als der eigentliche Sündenfall der Menschheitsgeschichte erscheinen und war es für Schopenhauer auch.“ Wobei er insbesondere den modernen Egoismus dafür verantwortlich machte: „Wenn der Mensch sich vom Principium individuationis frei macht, erkennt er, dass der Wille zum Leben nicht nur in ihm ist“, sondern, so Schopenhauer „alle Leiden der Welt, in Vergangenheit und Zukunft die seinen sind, und er doch nichts ist als eben dieser Wille“. In der Erfahrung des Mitleids sah er laut Henning Ritter einen „Akt der Bekehrung, eine Umkehr, eine ‚Wendung des Willens‘, ja sogar eine Veränderung im Dinge an sich“ und eine wesentliche Form der „Erkenntnis“ (während das Mitleiden für Jean-Jacques Rousseau z.B. noch eine „instinktive Handlung“ war).
Dies scheinen heutige Verhaltensforschungen zu bestätigen, wenn in ihnen festgehalten wird, wie u.a. Krähen und Affen sich rührend um ihre Artgenossen kümmern, die in einer Auseinandersetzung den kürzeren gezogen haben und verletzt oder tief deprimiert sind. Dieses (tierische) Mitleiden erstreckt sich mitunter sogar über die Artgrenzen hinweg. So wurde z.B. eine Schimpansin beobachtet, die einen Vogel, der irgendwo gegengeflogen war und auf der Erde lag, aufgehoben hatte und mit ihm auf einen Baum geklettert war, wo sie ihn sanft streichelte und dann in die Luft warf, damit er wieder Wind unter die Flügel bekam. „Das Phänomen tröstender Tiere hat in den vergangenen Jahren immer mehr Forscher in Bann gezogen“, schreibt die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel über dieses Thema (am 12.8.2010). „Überraschend für die Forscher war, dass auch Wölfe, Hunde und Bärenmakaken Trost spenden, obwohl sie nicht für außerordentliche Intelligenz bekannt sind. Wie Raben leisten auch die anderen Spezies auf zärtliche Weise Beistand.
Unter Forschern besteht kein Zweifel: Trösten ist alles andere als banal. Es gilt als hohe Form der Empathie. Die Tiere müssen zunächst die Emotionen des Verlierers – seine Niedergeschlagenheit – überhaupt spüren. Daraufhin müssen sie willens und fähig sein, diese Niedergeschlagenheit zu lindern. Dazu braucht es Intelligenz, um sich selbst als eigenständiges Wesen zu begreifen und den anderen als ein vom eigenen Selbst getrenntes Wesen zu erkennen; und schließlich das Talent zum Perspektivwechsel, um sich in den anderen hineinzuversetzen.
Erstaunlicherweise spielt Verwandtschaft selten eine Rolle. Am häufigsten tröstet der beste Gefährte des Verlierers. Derjenige, mit dem sie am meisten Zeit verbringen, oft das Futter teilen und am häufigsten gegenseitige Körperpflege betreiben. So greift bei den monogam lebenden Saatkrähen stets der Lebenspartner besänftigend ein. Und bei den promiskuösen Bonobos meist der Partner, der am häufigsten zur gegenseitigen Körperpflege ausgewählt wird. Insofern lässt sich auf das Trostverhalten die ‚Freundschafts-Hypothese‘ anwenden: Je besser die Bindung, desto höher die Trost-Wahrscheinlichkeit. Im Lichte dieser Forschungsergebnisse wird klar, wie tiefe Wurzeln das Mitgefühl des Menschen hat. Schon der gemeinsame Vorfahr von Schimpanse und Mensch vor fünf Millionen Jahren konnte wahrscheinlich den Kummer seiner Artgenossen erspüren und lindernd eingreifen.“
Die SZ-Autorin kommt zu dem Schluß: „Auf dieser Basis brachte der Mensch es nach und nach zum unangefochtenen Meister-Tröster. Während Tiere nur ihre besten Gefährten aufrichten, stehen Menschen gelegentlich auch Wildfremden zur Seite. ‚Das ist eine ganz neue Qualität des Mitgefühls‘, sagt Psychologin Amanda Seed. ‚Und evolutionär betrachtet ist es ein enormer Schritt nach vorn‘.“
Nur leider hat der Mensch gleichzeitig auch seine Grausamkeit enorm nach vorne gebracht – und z.B. selbst in den hochzivilisierten Ländern jüngst wieder die Folter eingeführt, von den immer neuen noch schrecklicheren Vernichtungswaffen ganz zu schweigen. „Früher standen sich die Menschen näher – die Schußwaffen trugen nicht so weit,“ wie Stanislaw Jerzy Lec einmal bemerkte.
Neben Arthur Schopenhauer haßte auch Friedrich Nietzsche das Christentum, aber nicht, weil es im Gegensatz zum Buddhismus und Hinduismus die Tiere unseres Mitleids für unwürdig hält, sondern weil er generell „im Mitleiden“ unsere „größte Gefahr“ sah. Dazu heißt es auf „nietzsche online“: „Er sieht jedoch das Mitleid in scharfem Kontrast zum Mitgefühl. Mitleid (das nicht auf Mitgefühl basiert), erregt – vor allem, wo es als „Religion des Mitleids“ gepredigt wird – seinen Verdacht. Dieses „Mitleid“ ist ein christlich sanktioniertes Überlegenheitsgefühl, und die Forderung nach Mitleid eine Forderung nach dem Primat der Moral als der zentralen Lebensaufgabe des Menschen. Es ist verwandt mit dem Ressentiment: ein Selbstgenuss der Schwachen, der Kranken, der ‚Schlechtweggekommenen‘ und es verrät sich durch das Fehlen von ‚Mitfreude‘. Da Nietzsche das Leiden in der Welt nicht als etwas sieht, das zu eliminieren ist oder eliminiert werden kann, sieht er im ‚Mitleiden‘ eher eine ‚Verdoppelung des Leids‘ als dessen Reduzierung.“ Persönlich war er im übrigen voller „Mitleid“. So umarmte er einmal in Turin tränenüberströmt ein Kutschpferd, weil es geschlagen worden war. Und das geht vielen Menschen so: Dass sie keine leidenden Menschen und Tiere sehen können. Selbst in Auschwitz konnten viele Häftlinge den Anblick leidender oder zugrunde gehender Häftlinge nicht ertragen: Sie mußten wegsehen. Primo Levi hielt es deswegen für eines der obersten humanistischen Gebote: Nicht weg zu sehen!
Die engagierten Tierschützer ernten heute immer wieder Empörung, wenn sie z.B. von einem „Hühner-KZ“ sprechen oder keinen Unterschied machen wollen zwischen der Grausamkeit gegenüber (Mast- bzw. Schlacht-) Tieren und Menschen (sagen wir Fabrikarbeitern oder Gefangenen). In einem „Zeit“-Interview mit Claude Lévy-Strauss ging gerade noch sein Satz durch: „So lange es KZs für Wale gibt, wird es auch welche für Menschen geben“. Das kam Schopenhauers Idee nahe, dass die moralische Erziehung zum Mitleid beim Verhalten gegenüber Tieren anzufangen habe.
Mitunter wird diese ganze „Problematik“ an dem einen oder anderen Ort auch ganz praktisch ausgelotet. In Haßleben, einem Dorf in der Uckermark, z.B.. Dort gibt es zwei Bürgerinitiativen. Ein Investor will dort eine riesige Schweinemastanlage (SA) als Kommerzielles Zentrum (KZ) bauen. Die einen versprechen sich dort Arbeitsplätze für sich und die anderen wollen nicht, dass der Lärm und Dreck der riesigen für 52.000 Schweine geplanten Anlage das ganze Dorf versaut.
Erstere nennt sich „Pro-Schwein-Hassleben“, auf ihrer Webpage heißt es:
„Eine überwiegend unsachliche Argumentation zur geplanten Investition der Schweinemastanlage in Haßleben und des öfteren negative Stimmen von Außerhalb in der Öffentlichkeit bewogen uns, den Vorschlag des Investor Herrn Harry van Gennip aufzunehmen und seine seit 1997 betriebene Schweinemast und Zuchtanlage in Sandbeiendorf zu besichtigen. Im Ergebnis der Besichtigung und Vorstellung der Anlage äußerten heutige Mitglieder der Interessengruppe den Standpunkt, dass die Realisierung des Investitionsvorhabens unterstützt werden muss.
Die Interessengruppe gründete sich, um mit gezielter Öffentlichkeitsarbeit Informationen zur geplanten Investition Schweinezucht und -mast in Haßleben geben zu können. Dabei sind durch die langjährige Tätigkeit in der Landwirtschaft und Arbeit im Arbeitskreis sachliche Kompetenz gegeben.
Zum Einen ist eine moderne effiziente landwirtschaftliche Produktionsweise mit den Anforderungen einer umweltverträglichen Wirtschaftsweise in Einklang zu bringen. Zum Anderen ist der soziale und demographischen Niedergang Haßlebens und der Region zu stoppen. Infolge der Investition sind Synergien in anderen Wirtschaftszweigen zu erwarten, die bei einer Arbeitslosenquote von fast 28% eine wesentliche Wirtschaftsentwicklung ermöglichen.“
Über die gegen die Schweinemastanlage kämpfende Bürgerinitiative berichtete die taz zuletzt im Juni:
300 Menschen protestierten am Samstag gegen eine geplante Schweinemast in Haßleben. „Immer neue und industriell ausgebaute Tierhaltungsanlagen beeinträchtigen die Entwicklung des ländlichen Raums“, sagte Thomas Volperts von der Bürgerinitiative „Kontra Industrieschwein Haßleben“. Gemeinsam mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) nahmen die Veranstalter die „16. Brandenburger Landpartie“ an diesem Wochenende zum Anlass für ihre Demo.
Ein holländischer Investor will in dem Ort einen Großbetrieb mit mindestens 35.000 Tieren eröffnen. Kritiker befürchten Tierquälerei und negative Folgen für den ländlichen Raum. Unterstützung erhalten die Brandenburger von Umwelt- und Tierschutzverbänden sowie rund 70 Bürgerinitiativen. In Sachsen-Anhalt liegt bereits die Genehmigung für eine ähnliche Anlage des Investors vor. Auch dort stoßen die Pläne auf heftigen Widerstand.
Zu den Rednern gehörten u. a. die Grünen-Bundestagsabgeordnete Cornelia Behm und ihr Brandenburger Landtagskollege Axel Vogel sowie der Umweltbeauftragte der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Reinhard Dalchow.
Das Genehmigungsverfahren für diese Schweinemastanlage zieht sich hin. Die Zeitschrift „topagrar“ schrieb im Januar 2010:
Fünf Jahre nach der Antragstellung und vier Jahre nach der öffentlichen Anhörung zur geplanten Schweinemastanlage in Haßleben (Uckermark) ist noch immer keine Entscheidung des Landesumweltamtes in Sicht. Auch im nächsten Jahr sei so schnell damit nicht zu rechnen, sagte Sebastian Dorn von der Genehmigungsverfahrensstelle im Landesumweltamt laut einem Bericht in der Märkischen Oderzeitung. „Faktoren wie die Gülleproblematik, Abwasserfragen und Naturschutzauflagen müssen Berücksichtigung finden.“
Gemäß Antrag soll der geplante Tierbestand bei der Schweinemastanlage von 52 000 auf 35 000 reduziert werden. Dazu soll eine verbesserte Abluft-Reinigungseinrichtung installiert und ein Schallschutzwall zwischen der Anlage und geschützten Gebäudeteilen errichtet werden, um die Lärmbelästigung zu reduzieren. Auch eine Pflanzen-Kläranlage ist neu vorgesehen. Weitere technische Einrichtungen zur Regenwasserbehandlung sollen hinzugefügt werden.
Der holländische Investor Harry van Gennip hat vor acht Jahren die 1991 stillgelegte Schweinemast erworben. Er will 25 Mio. Euro investieren. Über 50 Arbeitsplätze sind geplant. Der beauftragte Unternehmensberater, der frühere Agrarminister Sachsen-Anhalts, Helmut Rehhahn, zeigt ebenfalls Unverständnis für den langen Behördenweg. „Wir können uns diese Verzögerung nicht erklären.“ Alle Unterlagen seien eingereicht, bis ins kleinste Detail. „Wir gehen weiter von einer Genehmigung der Anlage aus“, bestätigte der Berater der Zeitung. Naturschutzverbände drohen dagegen mit rechtlichen Schritten, sollte die Anlage grünes Licht erhalten.
Ende 2006 war das Pro und Contra Schweinemastanlage in Haßleben derart an die Öffentlichkeit gedrungen, dass die Kuratoren von Schloß Neuhardenberg im Oderbruch den sich oft und gerne mit Tierproblemen befassenden Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho um ein „Statement“ baten. Heraus kam dabei eine Ausstellung mit dem Titel „Arme Schweine“. Nach einem Besuch der selben schrieb ich in der taz:
„Präsident sollte nur jemand werden, der auch Schweine versteht!“ (Harry S. Truman) Am Sonntag unternahmen wir einen Überlandausflug – zur Ausstellung „Arme Schweine“ im Schloss Neuhardenberg. Auf dem Weg dahin nahmen wir noch das Brechthaus in Buckow inklusive Freibad, das Pflanzenzüchtungsinstitut in Müncheberg, das sowjetische Ehrenmal auf der Seelower Höhe und etliche Apfelbäume am Straßenrand mit. Es war also ein ausgefüllter Tag. Die Schweine-Ausstellung hatte der HU-Kulturwissenschaftler Thomas Macho zusammengestellt. Da ich während meiner Arbeit in der Landwirtschaft auch immer wieder mit Schweinen zu tun hatte, allerdings gar nicht gerne, erhoffte ich mir von Macho insbesondere Aufklärung über die von einem holländischen Investor im uckermärkischen Haßleben geplante „industrielle Schweinemastanlage“ für 52.000 Schweine. Und zweitens über das gesunde Schwein als „Ersatzteillager“ für Menschen mit kaputtem Körperteilen. Zu diesem letzten Punkt fand ich einen Text der Journalistin Annette Wunschel über Schweineorgane als Ersatzteile für Menschen im Ausstellungskatalog, der in der Nicolaischen Verlagsanstalt erschien. Er gehört zu den längsten Beiträgen. „Wir rechnen im Jahr 2010 mit ersten klinischen Versuchen zur Transplantation von Schweineherzen auf den Menschen“, verkündete Christopher McGregor von der Mayo Clinic in Rochester, New York, kürzlich. Dazu muss man die Tiere zuvor „genetisch manipulieren“. Die Autorin Wunschel ist da weniger optimistisch: Ausführlich erklärt sie, warum selbst robuste Paviane bisher nur einige Wochen mit Schweineherzen leben können.
Der gigantischen neuen Mastanlage in Haßleben hat Macho eine ganze Ausstellungswand gewidmet – im Schloss Neuhardenberg, das selbst wie eine riesige Schweinemastanlage aussieht. Zu dem 20 Fußballfelder großen Haßlebener Objekt hatte auch schon die überregionalen Zeitungen bereits Erhellendes beigesteuert: „Ja zur Schweinemastanlage! Für Arbeitsplätze und sozialen Ausgleich!“ steht auf dem selbst gemalten Plakat am Ortseingang von Haßleben. Daneben hat jemand zwei lebensgroße Pappschweine aufgestellt, die den Autofahrern fröhlich zuwinken. Auch zu DDR-Zeiten wurden hier schon Schweine gemästet: 146.000 Tiere jährlich – mit 800 Mitarbeitern. Im Dorf gibt es nun für die neue Anlage – für 52.000 Schweine, mit 54 Mitarbeitern – eine Bürgerinitiative, die sich „Pro Schwein“ nennt und eine, die „Kontra Industrieschwein“ heißt, in ihr ist auch ein Veterinär aktiv, er sagt: Die frühere Anlage war „katastrophal, da wollte keiner gerne als Tierarzt arbeiten“. Dies galt auch für unsere mit 8.000 Schweinen kleine Anlage in der LPG „Florian Geyer“, Saarmund, wo ich zuletzt arbeitete: Es war laut und stank, jeden Morgen musste man einige tote Tiere rauskarren und eigentlich waren alle froh, als eine winzige Dorfinitiative eine Demonstration mit 12 Leuten vor dem Tor organisierte – woraufhin die Ämter in Potsdam die sofortige Schließung der Schweinemast verfügten – und 15 Leute ihren Arbeitsplatz verloren. 1990 konnte sich noch niemand vorstellen, dass sie vielleicht nie wieder eine Anstellung finden würden. In Haßleben geht dagegen der „Schweinekrieg“ (Bild) nun schon ins dritte Jahr – und ein Ende ist nicht abzusehen. Aber ob so oder so – gestern wie heute gilt: „Wer Countrymusic spielen will, muss eine Menge Mist gerochen haben!“ (Hank Williams)
Anfang August 2010 erhielt die taz eine Art Bekennerschreiben. Es betraf nicht die Schweinemastanlage in der Uckermark bzw. in Sachsen-Anhalt (vom selben Investor), sondern eine im Bau befindliche Hühnermastanlage (HA) in Sprötze – eine von 420 geplanten HA im Umkreis von 150 Kilometern um einen ebenfalls erst geplanten Riesenschlachthof in Wietze bei Celle, den sie und die ganzen anderen HAs beliefern sollten. Die noch nicht fertig gestellte Hühnermastanlage in Sprötze wurde kürzlich von „militanten Tierschützern“ in Brand gesteckt. Sie hätten mit dieser „feigen Tat“ die Existenz der Besitzer, der Familie Eickhoff, zerstört, schrieb die Lokalpresse. Ihre veröffentlichten Reaktionen von Politikern, Landwirten und Anwohnern Sprötzes auf den Brandanschlag gehen alle in die gleiche Richtung: Es herrscht „Entsetzen und Wut“ über den Terroranschlag und „Mitleid“ für die Familie Eickhoff. In dem Brief an die taz nun, von einem nicht-beteiligten Tierschützer geschrieben, ist eher vom „Mitleid“ mit den Hühnern in diesem zukünftigen Industriekomplex die Rede:
In „Europas größtem Geflügelschlachthof“ in Wietze, so er gebaut wird, sollen stündlich 27.000 Tiere getötet werden: 7,5 Hühner pro Sekunde! Der Briefschreiber nennt das: „Mord am Fließband“. Damit dieses ununterbrochen funktioniert braucht es die 420 Zulieferbetriebe im Umkreis von 150 Kilometer (ursprünglich hatte der Investor Rothkötter gehofft, genug im Umkreis von 100 Kilometern zu finden bzw. zu initiieren). Und nun ist auch noch der Zulieferbetrieb von Familie Eickhoff abgebrannt. „Somit ist durchaus möglich, dass als Folge des Brandanschlags indirekt das sinnlose Ermorden von Milliarden Individuen jährlich verhindert wird,“ heißt es in dem Sympathisantenbrief an die taz. Sinnlos deswegen, so wird darin erklärt, weil es keine Notwendigkeit für den Superschlachthof in Wietze gibt: „Der Bedarf an Geflügelfleisch ist in Deutschland zu 102% gedeckt, es herrscht also bereits eine Überproduktion“ beim Geflügeltöten. Die geplante Großanlage wird mithin einen Preiskampf auslösen, der die Hühner überall noch mehr in die Effektivität quälen wird.
„Des weiteren bleibt noch die Frage offen, wer denn hier überhaupt wirklich ‚die Bösen‘ sind. Die Medien sind sich da einig: Böswillige Tierschützer mit kriminellem Hintergrund, deren Ziel es ist, der Familie Eickhoff ihre Existenz zu zerstören.“ Der Briefschreiber steht bei der Frage, wer ist in diesem Fall der oder das „Böse“, auf Seiten der militanten Tierschützer, die mit ihrer Brandstiftung das unsinnige Morden von Millionen Tieren präventiv verhindert und damit auch noch eventuell ein industrielles Großprojekt gekippt haben. Diese (idealistischen) Tierschützer, das sind somit „die Guten“, während die (geldgierigen) Investoren der Zulieferbetriebe (u.a. die Familie Eickhoff) und erst recht der Großinvestor Rothkötter, die allesamt aus „reinen Profitgründen“ millionenfach Lebewesen töten wollen, die wirklich „Bösen“ sind.
Man sieht an dieser einfachen Umdrehung der Zuschreibung „böse“ bereits, was für ein Stuß die o.e. Gerichtspsychiater und der schreibende Rechtsanwalt reden, wenn sie sich über „das Böse“ (schlechthin) auslassen. Der Briefschreiber kommt abschließend auf die Frage: „Ist das Leben von nicht-menschlichen Wesen weniger Wert als das von menschlichen?“ In seiner Antwort bewegt er sich relativ streng auf der Linie, die der Moralphilosoph Schopenhauer bereits mit seiner „Mitleids“-Theorie vorgezeichnet hat. Noch einmal: Die Bösen – das sind eher die mitleidslosen Tier-Massenmörder im Celler Umland als die nächtens angereisten und in Sprötze kriminell gewordenen Tierschützer. Diese sind im übrigen Teil einer breiten Protestbewegung in der Region, die sich speziell gegen den geplanten Geflügelschlachthof in Wietzen und generell gegen die „Massentierhaltung“ richtet. Am 29.7. berichtete die taz-Nord:
Bei Uelzen sind 40.000 Hühner verendet, nachdem bei hochsommerlichen Temperaturen die Lüftungsanlage in dem Maststall ausgefallen war. Der Vorfall ereignete sich bereits am 10. Juli im Flecken Holthusen II westlich der Kreisstadt Uelzen, war aber zunächst nicht publik geworden. Nach Angaben des Kreisveterinäramtes sollen die Tiere bei einem Kontrollgang des Betreibers am Nachmittag noch am Leben gewesen sein. Um 19 Uhr habe dieser dann alle Hühner leblos vorgefunden, berichtete der Kreissprecher. Die Veterinärmediziner stellten keine Verstöße gegen geltende Auflagen fest. Zu dem Unglück könnte ein nicht funktionierender Alarm auf das Handy des Landwirts beigetragen haben. Der wirtschaftliche Schaden soll bei 50.000 Euro liegen. Die Betreiberfamilie hat ein Gutachten in Auftrag gegeben. „Solche industriellen Massentierhaltungen dürfen nicht mehr genehmigt werden“, forderte der agrarpolitische Sprecher der Grünen im niedersächsischen Landtag, Christian Meyer. „Das Land muss für bessere Haltungsbedingungen und mehr Kontrollen sorgen.“ Vom „Fluch der Massentierhaltung“ sprach Marianne König, Agrar-Expertin der Linksfraktion. Derartige Anlagen seien nicht tiergerecht, sondern Tierquälerei, so König: „Dieser Vorfall ist auch ein Warnschuss für die vielen Mastanlagen, die im Umkreis des Schlachthofs Wietze entstehen.“ Trotz monatelanger Proteste von Anwohnern soll in Wietze (Kreis Celle) ein Geflügelschlachthof gebaut werden, in dem pro Woche 2,59 Millionen Hähnchen geschlachtet werden können. „Da sieht man mal wieder, wie riskant die Agrarindustrie ist“, hatte Eckehard Niemann von der „Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft“ (AbL) bereits am Dienstag erklärt. „Bei bäuerlicher Auslaufhaltung wäre das nicht passiert.“
Im März 2010 hatte sich in Wietze eine Bürgerinitiative gegen den Schlachthof gegründet, die im Mai eine „Feldbesetzung“ initiierte und im Juni ein „Bürgerbegehren“. Als das abgelehnt wurde, erhob die BI Klage gegen das Baugenehmigungsverfahren. Zugleich entwickelte sich aus der „Feldbesetzung“ ein Protest-„Hüttendorf“. Die taz-Nord berichtete am 10.8. von dort:
Am westliche Ortsrand von Wietze haben junge Aktivisten vor zwei Monaten Stellung bezogen. Mit Zelten und Holzhütten haben sie sich auf einem Gerstenfeld eingerichtet, um den Bau des größten Geflügel-Schlachthofs Europas zu blockieren. 135 Millionen Hühner sollen hier pro Jahr im Schichtbetrieb geschlachtet werden – das sind 27.000 Tiere in der Stunde, siebeneinhalb jede Sekunde.
In Wietze brach um 1900 das Ölfieber aus und als es in den 60er Jahren wieder verebbte, blieben der Gemeinde nur eine Abraumhalde, ein Lagerplatz und das Erdölmuseum. Der Investor Rothkötter will das mit seinem Mega-Schlachthof ändern und verspricht 1.000 neue Arbeitsplätze. Der Bürgermeister ist begeistert, die Bürger nur bedingt. Um den Schlachthunger der neuen Anlage zu decken, müssten in der Region 420 neue Mastanlagen gebaut werden. Durch zusätzliche 1.000 Lastwagen pro Woche würde die angrenzende Bundesstraße 214 zum „Hühner-Highway“, befürchtet die Bürgerinitiative, die das Camp im Gerstenfeld unterstützt. Kürzlich begrüßte sie das 777. Mitglied. „Die bringen Care-Pakete vorbei und bieten uns ihre Duschen an“, erzählt der Besetzer Tim, während er tassenweise Käfer aus dem selbst gegrabenen Brunnen schöpft und vor dem Ertrinken rettet. Tim ist 19. Bis zum Camp hat er für VW gearbeitet. Eigentlich wollte er nur ein paar Tage in Wietze bleiben, doch mittlerweile hat er Job und Wohnung gekündigt. „Nach dem Camp ist vor dem Camp“, sagt er über seine Zukunft und lacht. Hinter ihm wird schon wieder das Mädchen über den Platz getragen. Diesmal in die andere Richtung. Das mit der Unterstützung aus Wietze war nicht immer so. Als die ersten Besetzer vor zwei Monaten barfüßig und mit erdigen Händen im Dorf Einkaufen gingen, konnte sich kaum ein Bewohner vorstellen, mit ihnen für eine gemeinsame Sache zu streiten. „Die haben uns für Hobbits gehalten“, erinnert sich Tim und kletterte aus dem Brunnen. Die ersten Käfer beginnen schon wieder mit dem Abstieg Richtung Grundwasser. Einige Meter vom Brunnen entfernt, vorbei am Infoladen und der Bretterhütte, die sie Wohnzimmer nennen, rammen drei Besetzer mit braun gebranntem Oberkörper Bretter in den Boden. Am Wochenende kommt „Alarmsignal“, Punk aus Celle. Dafür zimmern die drei eine Bar. Das Camp ist ein kleines Dorf: Was fehlt, wird gebaut.
Jede Entscheidung wird im Konsens getroffen. Abends ist Plenum. Jeden Tag. „Das kann schon sehr anstrengend sein“, gibt Tim zu. Wichtig sei eine straffe Organisation. „Es wurden schon Camps totgeredet, das darf hier nicht passieren“, sagt Tim. Er wirkt aufgeräumt, das ist nicht seine erste Besetzung. Dreimal am Tag klettert er auf eine zehn Meter hohe Holzplattform. Sie wird getragen von einem Tripod, einer Dreibein-Konstruktion aus bis zu vierzehn Meter langen Baumstämmen, aufgestellt in nächtlicher Handarbeit. Wie Öko-Ufos ragen diese Plattformen aus dem Gerstenfeld. Bei einer Räumung verschanzen sich zwei Aktivisten auf jeder Plattform. Nur ausgebildete Polizei-Kletterer können sie von dort entfernen. Auf dem Weg zur Küche des Camps entspannen sich Tims ernste Züge. Kurz unterhält er sich mit dem Mädchen, das wieder mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzt und darauf wartet, davon getragen zu werden. Heute proben sie am Rande des Camps kreative Protestformen für Gerichtsverhandlungen. Titus kauert währenddessen vor einem Ofen und beobachtet eine Pizza beim Backen. Seine braunen Dreadlocks hängen auf die schwarzen Füße. Er ist Schüler und erst seit einer Woche hier. Den Ofen ist selbst gebaut, mit ein paar Backsteinen und Zement. „Wir backen hier unser eigenes Brot“, schwärmt Titus. Auf den Regalbrettern türmen sich Aufstriche, Gemüse, Obst und Brot. Gekocht wird ausschließlich vegan. Koch ist, wer gerade Lust dazu hat. Zu essen gibt es immer genug. Viele Besucher informieren sich über vegane Ernährung und holen sich Einkaufstipps bei den Besetzern. „Einige sind in den zwei Monaten sogar zu Vegetariern geworden“, behauptet Titus. Samstags geben die Besetzer vegane Kochkurse, sonntags backen sie Kuchen für alle. Obwohl das besetzte Feld am Ortsrand liegt, scheint es das geheime Zentrum für viele Wietzer geworden zu sein.
Doch es ist längst nicht alles Friede-Freude-Eierkuchen: Einen Steinwurf entfernt hat ein rumänischer Zirkus sein Zelt aufgeschlagen und seit ein nächtlicher Besucher Tierrechts-Parolen an den Wohnwagen eines Artisten gesprüht hat, ist das Nachbarschaftsverhältnis gestört: Sollte so etwas noch einmal vorkommen, zerlegen die Rumänen das Camp. Bisher hat die Drohung gereicht.
Eine weitere Front ist die Dorfjugend. Mit Hup-Konzerten und „Sieg Heil“-Rufen locken die „Dorfnasen“ die Besetzer nachts zur Straße, fahren aber davon, bevor es zur Konfrontation kommt. „Das gehört schon zur Routine – von Null bis Drei ist eben Atzen-Time“, sagt Tim und zuckt mit den Schultern.
Hinzugefügt sei: Bei dem gelernten Müller „Franz Rothkötter“ (Jahrgang 1933) handelt es sich um einen Futtermittel-Händler. Ihm gehören anscheinend bereits einige Geflügel- und Schweinemastbetriebe und vor allem die 1959 gegründete „Rothkötter Kraftfutterwerke GmbH“ in Meppen. Seine „Philosophie“ lautet: „Unser Handeln ist geprägt von der Verantwortung gegenüber den Tieren“.
Bei Harry van Gennip weiß man nur, dass er eine „Van Gennip Tierzuchtanlagen GmbH & Co. Handels-Kommanditgesellschaft“ hat und dass es sich um einen „Großinvestor“ handelt, der gerne Leute bezahlt, die für ihn handeln. „Seit 1994 betreibt Harry van Gennip die 65 000-Schweine-Anlage in Sandbeiendorf in der Altmark,“ schreibt der Spiegel. Einer seiner Berater „Helmut Rehhahn war früher SPD-Landwirtschaftsminister in Sachsen-Anhalt und noch früher Leiter einer Bullenprüfstation in der DDR. ’10 000 Mastschweine. Alles andere ist Spielerei.‘ Bisschen kleiner als Haßleben, und Haßleben wird noch moderner. Haßleben, sagt er, das kommt. Das kriegen wir hin. Im Büro von Sandbeiendorf wartet van Gennips Betriebsleiter, ebenfalls Holländer, bereitwillig gibt er Auskunft über Abläufe, über Zahlen, 65 000 Schweine, 50 Arbeitsplätze, mehr als die Hälfte der Belegschaft besteht aus Frauen…“
Der „Freitag“ veröffentlichte kürzlich eine Reportage über weitere Schweinemäster aus Holland – vor allem in Sachsen-Anhalt:
Pelapro Farm steht auf dem Schild am Betonplattenweg in Wellaune, der zu einem umzäunten Geviert mit Ställen und Futtersilo führt.“ Hier befindet sich der Hauptsitz der „PELAPRO Schweineproduktion Deutschland GmbH & Co. KG“. Im Büro sitzt der Chef: „Jan Van Genugten, Schweinezüchter aus Passion und aus Holland. In Wannewitz, acht Kilometer hinter Wellaune, hält er noch einmal 13.000 Ferkel in einem komplett neuen Stall. Außerdem werden – zur Probe – 800 Schweine in Kloster Neudorf streng nach biologischen Methoden gemästet. „Ich bin Unternehmer und kein Bauer. Ein Bauer ist jemand, der auf seinem Hof mit seinen Tieren und von diesen Tieren lebt. Eine solche Landwirtschaft verlangt eine bestimmte Lebensart – jedes Wochenende in die Ställe rein und auf Urlaub verzichten. Ich bin Geschäftsmann und fahre am Wochenende nach Holland, um mich mit meinen Sportwagen zu beschäftigen.“ Dass er sich wegen der Riesenmast viel Kritik anhören muss, stört Van Genugten nicht weiter. „Die Deutschen profitieren von meinem Betrieb. Ich zahle Gewerbesteuer und sorge für Arbeitsplätze. Und der Geruch – mein Gott, eine Pferdemanege im Zirkus stinkt auch.“
Van Genugten gehört zu den niederländischen Viehzüchtern, die es seit der Wende nach Ostdeutschland verschlagen hat, wo sie von vielen Gemeinden mit offenen Armen empfangen und mit Fördermitteln von bis zu 40 Prozent der Baukosten für ihre Ställe bedacht wurden. Manchmal gab es Bauland, soviel sie wollten. Unter anderem durch den Zug nach Osten ist in den Niederlanden der Tierbestand seit Ende der neunziger Jahre um ein Drittel auf elf Millionen Schweine gesunken und der Boden sehr viel weniger durch Gülle belastet.
Die Fördermittel ließen auch den Investor Adriaan Straathof nicht unbeeindruckt, der im mecklenburgischen Medow 15.000 Schweine hält und im nahe gelegenen Alt-Tellin noch einen riesigen Mastbetrieb für die Zucht von bis zu 250.000 Ferkeln pro Jahr dazu bauen will. Europaweit soll es die größte Anlage überhaupt werden.
Mit den Vorschriften scheint es Straathof dabei in Medow nicht so genau zu nehmen. Die Anwohner erzählen, es würden unnatürlich viele Tiere sterben in seinem Betrieb. Er lasse die Kadaver einfach vor den Ställen liegen, was zu entsetzlichem Gestank und erhöhtem Krankheitsrisiko führe. Im August 2007 habe ein Inspektion ergeben, dass Straathof statt der genehmigten 15.000 in seinen Ställen etwa 22.000 Schweine zusammengepfercht liegen hatte.
Wie gesagt, außer Van Genugten und Straathof haben sich noch andere Niederländer zwischen Ostsee und Werra niedergelassen, auch Frank de Groot, im Moment Betriebsleiter einer Schweinezüchterei mit 3.000 Tieren in einem Kaff in der Nähe von Ludwigslust (Mecklenburg-Vorpommern). Einer von denen, die genau wissen, wie man mit Personal umgehen sollte. „Jedes Jahr mindestens einen feuern. Da wissen die anderen, worum es geht.“
Es ist die Größe der Mastbetriebe niederländischer Züchter, die Gemeinden im Osten trotz aller wirtschaftlichen Vorteile stört. In einigen Orten sind deshalb Bürgerinitiativen unterwegs. So in Cobbel, einem Dorf in Sachsen-Anhalt, wo Harry Van Gennip auf dem einstigen Flugfeld der Sowjetarmee eine gigantische Masterei betreiben will. Quasi ergänzend zu seinem Betrieb im zehn Kilometer entfernten Sandbeiendorf, wo 65.000 Tiere, hermetisch von der Außenwelt abgeschottet, dem Schlachthof entgegen dämmern.
In Cobbel führt Familie Keller den vereinten Widerstand gegen die unerwünschte Landnahme. Man sammelt Unterschriften, alarmiert Politiker und hält Tiergottesdienste ab, bei denen örtliche Pfarrer über das Recht der Tiere und überhaupt meditieren. In ganz Cobbel stehen rosarote Kreuze, um vor den Plänen des Harry Van Gennip zu warnen. Die Protestzeichen der Unbeirrbaren bleiben nicht unbemerkt. Laut Beate Keller – sie ist die stellvertretende Bürgermeisterin von Cobbel – versucht der Gemeinderat alles Mögliche, um eine Schweinemast auf dem ehemaligen Flugplatz des ehemaligen Bruderlandes zu verhindern. „Van Gennip hat vor, hier etwa 97.000 Ferkel zu züchten“, erzählt Ehemann Tilman Keller, „also werden wir dann täglich Dutzende von Transportern mit Tierfutter, Ferkeln und Schweinen durch unser Dorf fahren sehen. Wer bezahlt den Schaden? Eine solche Mast belastet die Umwelt, das heißt, in einem wertvollen Naturschutzgebiet wird Wald mit Ammoniak verseucht, der Grundwasserspiegel sinken und der Boden sauer.“
Etwa 50 Kilometer von Protest und Empörung der Kellers weg wohnt Kees Klaassen, Verwalter für die Mastkojen eines weiteren Niederländers. Berend van der Velde kam vor einem Jahrzent nach Ostdeutschland und unterhält mittlerweile ein Schweine-Imperium, das bis nach Tschechien und in die Ukraine reicht.
Seitdem das „Reich des Bösen“ (die Sowjetunion) zusammengebrochen ist, breitet sich das Böse dort im Osten nun mit Investoren aus dem Westen aus. Statt das Böse – den Kommunismus – engagiert in alle Welt zu exportieren, wird es nun – als Kapitalinvestition – freudig importiert.
Der Streit um die industriellen Mastbetriebe in Niedersachsen geht weiter:
Die in der Nähe des geplanten Geflügelschlachthofs lebende Schafzüchterin und Autorin des historischen Kriminalromans „Der Tod des Maßschneiders“, Hilal Sezgin, fuhr nach Wietze und erstattete am 11.8. in der taz Bericht:
Die Polizei hat das von Tierschützern besetzte Baugelände für Europas größten Geflügelschlachthof geräumt. Etwa 200 Polizisten rückten am Dienstagmorgen auf das Grundstück im niedersächsischen Wietze bei Celle vor. Spezialeinheiten brauchten rund 10 Stunden, um 10 Aktivisten zu entfernen, die sich unter anderem an Betonblöcken festgekettet hatten. Vor allem jüngere Tierrechtler hatten das Gelände seit Ende Mai besetzt gehalten. Bei voller Auslastung der Anlage sollen hier 130 Millionen Tiere im Jahr geschlachtet werden – das wären umgerechnet 356.000 Hühner pro Tag. Die Schlachttiere sollen nach Angaben des Investors, der Firma Emsland Frischgeflügel, aus 400 neuen Mastställen für je 40.000 Hähne kommen.
„Das ist ein Millionenmord an sämtlichen Lebewesen. Es geht ja nicht nur um die Tiere, da ist auch die Belastung der Umgebung durch die ganzen Lastwagen und die Abholzung des Regenwaldes für das Futter“, erläuterte einer der Besetzer. Mit der Anlage und den Mastbetrieben gingen, so die Befürchtung mehrerer Bürgerinitiativen, Lärm- und Geruchsbelästigung, die Gefahr von Tierseuchen sowie Feinstaubemissionen einher. Der Investor wollte sich dazu am Dienstag nicht äußern. Befürworter werben für das Projekt besonders mit den etwa 250 Arbeitsplätzen, die der Schlachthof in der ersten Ausbaustufe bieten soll. Alle tierschutz- und umweltrechtlichen Vorschriften würden eingehalten. Trotz der Einwände hatte das Gewerbeaufsichtsamt Lüneburg am 16. Juli die Baugenehmigung erteilt. Der Landkreis Celle ordnete daraufhin die Räumung an. Sie war schwierig, weil die Besetzer sich außergewöhnlich trickreich verschanzt hatten. Zwei hatten sich sogar an einen Betonblock in einem Wohnwagen festgekettet, den sie in der Erde vergruben. Andere hatten sich auf zehn Meter hohen Holzgestellen festgebunden, so dass die Polizei mit einer Drehleiter und einer Hebebühne arbeiten musste. „So was wie das hier haben wir noch nie gesehen“, sagte ein Polizist. Alles sei friedlich verlaufen. Irritierend war nur die Bemerkung eines Rettungssanitäters: „Schaufel Erde drauf und gut ist.“ Die Blockierer wurden der Polizei zufolge zur Aufnahme der Personalien auf die Wache gebracht und konnten dann gehen. Gegen sie werde wegen Hausfriedensbruchs und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz ermittelt. Der Investor kündigte nach der Räumung an, dass die Bauarbeiten noch im August beginnen würden. Bereits am Dienstag wurde ein Zaun um das Gelände gezogen.
Einer der künftigen Zulieferbetriebe für den geplanten Schlachthof ist am 30. Juli in Flammen aufgegangen. In einem Gebäude in Sprötze sollten dort bis zu 36.000 Hähnchen gemästet werden, sagte Angela Eickhoff von der Betreiberfamilie. Medienberichten zufolge begründete die militante Tierschützergruppe „Animal Liberation Front“ diesen „Brandanschlag“ mit dem Protest gegen Mastanlagen.
In einem weiteren taz-Artikel geht es um eine moralisch gemeingefährliche Geflügelmästerin:
Ausgerechnet mit einer Pute als Maskottchen zog Astrid Grotelüschen in den vergangenen Bundestagswahlkampf. „Siegurt“ nannte die damalige Geflügelunternehmerin und jetzige Agrarministerin Niedersachsens das Stofftierchen. Tatsächlich heimste sie einen Sieg für die CDU ein. Kritiker wie die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft hätten den Namen „Qualfried“ passender gefunden. Schließlich seien Puten überzüchtet, ihre Leiber nähmen so rasant und stark zu, dass sie ständig Schmerzen erlitten.
Aber das sieht Grotelüschen anders. Immerhin lebte sie bis zu ihrer Ernennung zur unter anderem für den Tierschutz zuständigen Ministerin Ende April auch von der Putenhaltung: Sie war Geschäftsführerin der Mastputen-Brüterei Ahlhorn, die nach eigenen Angaben die Nummer zwei unter den Putenküken-Lieferanten in Deutschland ist und fünf Millionen Tiere pro Jahr „produziert“. Ihr Mann führt den Betrieb jetzt allein. Ihren Gegnern ist das dennoch zu viel Nähe einer Landwirtschaftsministerin zur Putenindustrie. Denn auch im Amt setzt sich die diplomierte Ernährungswissenschaftlerin klar für die Massentierhaltung ein, zum Beispiel für den Bau von Europas größtem Geflügelschlachthof in Wietze bei Celle.
Die Linke und die Tierrechtsorganisation Peta fordern nun, dass die 45-Jährige zurücktritt. Die Mastputen-Brüterei Ahlhorn profitiere finanziell von der tierquälerischen Haltung in zwei Farmen einer Erzeugergemeinschaft in Mecklenburg-Vorpommern, so der Vorwurf. Als Beleg zeigte Peta Bilder unter anderem von qualvoll sterbenden Puten mit offenen Wunden. Die Grotelüschensche Firma ist Gesellschafter der beschuldigten Putenerzeugergemeinschaft. Grotelüschens Ministerium bezweifelt aber, dass die brutalen Bilder wirklich aus den Betrieben stammen. Peta antwortet darauf, dass die Kamera bei dem Gang durch die Unternehmen ununterbrochen gelaufen sei, also zu erkennen sei, woher die Bilder kämen.
Egal wie stichhaltig die Vorwürfe sind – sie haben Grotelüschen unter Druck gesetzt. Am Freitag muss sie sich im Agrarausschuss des Landtags in Hannover verteidigen.
Der niedersächsische „Schweinekönig“ (eine seltenes Photo)
Den Tierschützern und Vivisektionsgegnern kommt dieser Tage die Kapitalpresse gelegen/entgegen: Ein Ami hat ein Buch über ihr Anliegen geschrieben: „Tiere essen“. Wäre der Autor, Jonathan Safran Foer, ein Asiate, Lateinamerikaner oder Afrikaner kein Hahn würde danach krähen, schon allein, weil niemand das Buch ins Deutsche übersetzen würde, nun überschlägt sich aber das deutsche Feuilleton in Lobeshymnen über diesen „Günter Wallraff der Mastbetriebe und US-Philosophen“ (FAZ), dessen Buch hierzulande noch gar nicht auf dem Markt ist. „Foer setzt weniger auf den Schock-Effekt, die die Berichte aus den Ställen der Massentierhaltung auslösen, sondern auf die allmähliche Verfertigung einer anderen Perspektive, eines anderen Vokabulars, in dem es nicht länger ‚Fleisch essen‘, sondern ‚Tiere essen‘ heißt. Eine Perspektive und ein Vokabular, in dem die Verbindung zwischen der Kreatur im Mastbetrieb und dem Stück Steak auf dem Teller sinnfällig wird, statt sich in der Abstraktion einer globalen Verwertungskette zu verlieren.
‚Ich bin der Typ, der mitten in der Nacht in eine Farm einsteigt‘: Vielleicht sollte man diesen Bericht eines anonymen Tierrechtlers, den Foer in seinem Buch dokumentiert, als Einführung lesen. In diesem Bericht eines ehemaligen ‚Nachschneiders‘ – ‚das heißt, ich musste den Tieren, die den Halsschnittautomaten überlebt hatten, die Kehle durchschneiden‘ – wird das Geschäftsmodell der Massentierhaltung auf zwei lapidare Sätze gebracht: ‚Massentierbetriebe berechnen genau, wie dicht am Tode sie die Tiere halten können, ohne sie umzubringen. Wie rasant man ihr Wachstum beschleunigen, wie eng man sie packen kann, wie viel oder wenig sie fressen, wie krank sie sein können, ohne zu sterben.‘
Und hunderttausende von Wissenschaftler, Ingenieure, Politiker und Agrarkonzerne arbeiten diesen verfluchten Landwirtschaftsunternehmern dabei zu. „Die Zeit“ interviewte Foer, der gegen diese ganzen verrohten Serienverbrecher vorgehen möchte, indem er – ähnlich wie die Bürger Gents per Volksabstimmung – sich wenigstens einmal in der Woche vegetarisch ernährt:
Die Zeit: Aber wir reden hier übers Töten. Möglicherweise über Mord. Kann man sagen: Jeweils Donnerstags morde ich nicht? Es geht um Leben und Tod…
Foer: Ja, aber im Sudan oder im Kongo geht es auch um Leben und Tod. Trotzdem kündigen die allerwenigsten ihren Job und fliegen hin, um zu helfen. Das wäre auch unrealistisch. Beim Fleischessen geht es auch nicht hauptsächlich um Leben und Tod, sondern um Quälen oder Nichtquälen. Ob wir es grundsätzlich in Ordnung finden, Fleisch zu essen, ist eine beinahe hypothetische Frage angesichts der Tatsache, dass 99 Prozent unseres Fleisches aus Massentierhaltung stammen, in der die Tiere auf eine Weise dahinvegetieren, die viele von uns verwerflich finden. Wenn sie mich also fragen, ob ich das Töten von Tieren falsch oder richtig finde, wüsste ich nicht mal, was antworten. Was ich aber genau weiß, ist, dass es falsch ist, was wir derzeit machen. Dass es für die Umwelt schlimm ist und für die Tiere. Dazu braucht man kein Experte zu sein, kein Tierarzt oder Philosoph oder Theologe. Man zeigt einem Bürger einen dieser modernen Ställe, und er erkennt sofort: So können wir nicht weitermachen.
Die FAZ ergänzt an dieser Stelle Foer:
„Mit den Worten des deutschen Vegetarierbundes, der sein Buch mit den hiesigen Daten ergänzt hat: Allein in Deutschland werden jährlich etwa 40 Millionen für die Eierproduktion unbrauchbare Hahnenküken vergast oder bei lebendigem Leib geschreddert. Die beklemmendste Vignette des Buches trägt den Titel ‚Die Erlösung‘ und berichtet vom Besuch einer mit Futterautomaten, Ventilatoren und Wärmelampen ausgestatteten Truthahnmast, deren Personal ein zitterndes, verkrustetes, starr die Beine streckendes Küken mit einem Schnitt durch die Kehle ‚erlöst‘. Es ist das durch und durch klinische Setting dieser mit Sägemehl ausgelegten Intensivstation, das den Autor in seinen Bann zieht: ‚Außer den Tieren selbst gibt es nichts, was auch nur ansatzweise natürlich wäre – kein Fleckchen Erde, kein Fenster, durch das Mondlicht hereinfiele. Ich bin überrascht, wie einfach es ist, das anonyme Leben rundherum auszublenden und die Harmonie der Technik zu bewundern, die diese kleine, in sich geschlossene Welt so präzise reguliert, die Effizienz und Perfektion der Maschine zu sehen und die Vögel als Erweiterung oder Zahnrad dieser Maschine zu begreifen – nicht als Lebewesen, sondern als Teile. Sie anders zu sehen fällt schwer.‘ Sie anders zu sehen ist indessen das Ziel des Buches.“
Schon im nächsten Moment rammte er seinem Pferd die Sporen in die Flanken. (Mitteilung des Photographen)
Zu den hier nachgezeichneten Achsen über „Das Böse“ gibt es auch zwei herausragende Regionalkrimis:
Zum Einen „Alles Fleisch ist Gras“ von dem Voralberger Imker und Chemiker Christian Mähr. Ein wunderbares Soziogramm einer im Ansatz steckengebliebenen Verschwörung zur Ausrottung der Bösen in einer Kleinstadt im Voralberg, die Dornbirn heißt. Der Leiter einer Kläranlage hat diese Einrichtung so weit verbessert, dass er zur Freude der Gemeinde den Klärschlamm zuletzt als hochwertigen Dünger verkaufen kann. Er kauft sogar in Größenordnungen biologische Abfälle auf, um den Produktionsausstoß zu erhöhen. Als ihn einer seiner Mitarbeiter, ein Neonazi, erpressen will, weil er ein Verhältnis mit einer jungen Mitarbeiterin hat, bringt er ihn – mehr aus Versehen – um und läßt ihn rückstandslos im riesigen Häcksler seiner „Abwasserreinigungsanlage“ verschwinden. Der ermittelnde Chefinspektor, ein ehemaliger Klassenkamerad des Ingenieurs, kommt ihm dennoch auf die Schliche. Aber er verhaftet ihn nicht, sondern sieht in der mit dem Häcksler ausgerüsteten Anlage (die einem „monströsen Fleischwolf“ ähnelt) die Möglichkeit, seinerseits irgendwelche unangenehmen Bürger von Dornbirn bzw. deren Leichen darin zu entsorgen. Er „glaubte, dass die Menschen böse waren“. Und einige ganz besonders. „Sonst hatte er keine religiöse Überzeugung. Aber er glaubte an das Böse im Menschen.“ Mit der Aussicht, sie praktisch zu eliminieren, versuchte er sogleich, sie in seiner Umgebung zu identifizieren. Er erkannte sie schließlich am „bösen Blick“. Vielleicht handelte es sich dabei um „etwas Angeborenes, also Ererbtes, das man in Zukunft sogar im genetischen Code würde festmachen können; irgendein Steuerungsprotein ließ die Menschen böse sein im Grunde ihres Herzens.“ Zunächst spielte auch – notgedrungen – der Leiter der Kläranlage mit sowie eine Frau, die nicht davor zurückschreckte, von der Idee eines Mordes zur Mordtat zu schreiten. Die meisten Männer und Frauen hinderte „eine geheime Sperre, eingebaut im Kopf,“ an solchen „Taten. Bei ihr hatte man den Einbau dieses Sperrmechanismus vergessen. Oder war es eine Mutation, ein genetischer Zufall.“ Schließlich stieß noch ein „Provinzjournalist“ zur Gruppe, die damit bereits eine Art Mörderclub „zur Verbesserung Dornbirns durch Elimination schädlicher Elemente“ darstellte. Auch dieser Journalist war der Überzeugung: „Das Böse steckte von Geburt an in allen Menschen, also auch in ihm selber, und es bedurfte keiner komplizierten psychologischen Erklärungen, warum ihm, der als Kind nie verprügelt und nie missbraucht worden war, solche Dinge einfielen, lange bevor er sie auf schlecht belichteten Videos aus Afrika sah.“
Der Voralberger Mörderclub mit seiner Kläranlage hat zunächst auch einige Erfolge, es mehren sich in der Bevölkerung die Vermißten, die allerdings niemand vermißt, aber die Motivationen und Ängste der Akteure ändern sich und schließlich arbeiten sie gegeneinander. Der Autor entwickelt dabei ihre Gedankengänge und Auseinandersetzungen äußerst einfühlsam (empathisch).
Der zweite in diesem Zusammenhang erwähnenswerte Regionalkrimi gehört zu dem in Deutschland seltenen Genre „Wissenschaftskrimi“, Unterabteilung „Medical Thriller“. Autor ist der Berliner Ökonom Jens Johler, sein Roman heißt: „Kritik der mörderischen Vernunft“. Und vorangestellt ist diesem als Motto ein Zitat von Immanuel Kant: „Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Verteidigung, d.i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben und darum die Freiheit dreist für unmöglich erklären.“
In dem Buch geht es um den „Freien Willen“ des Menschen versus seiner „Determiniertheit“: eine wissenschaftliche Kontroverse, die Jens Johler handlungsmäßig mit einem Serienmörder – der sich in seinen Bekennerschreiben „Kant“ nennt – auffaltet. Dieser „Kant“, ein militanter US-Tierschützer und, ähnlich wie der UNA-Bomber (***), ein ausgestiegener Wissenschaftler, hat es auf „Deutschlands führende Hirnforscher“ abgesehen, die den „Freien Willen“ als „Illusion“ abtun und zusammen mit Konzernen wie Siemens, General Electric und Braintech sowie mit der CIA und wahren Schreckensgestalten wie Richard Dawkins und Peter Sloterdijk an der möglichst frühen Erfassung und Aussonderung von bösen, d.h. „fehlgesteuerten Menschen“ arbeiten, also von all jenen, die ihrer Meinung nach eine Hirnanomalie haben und deswegen unter Umständen gefährlich werden können. Sie sehen „von außen aus wie normale Menschen“, erst die Entwicklung eines „Hirnscanners“ ermöglichte es den Wissenschaftlern, ihre Anomalie zu erkennen. (****)
Die Konzernmanager, CIA-Mitarbeiter und Wissenschaftler bildeten einen weitvernetzten mächtigen „Club“, nachdem George Bush Senior die Dekade nach 1990 zum „Jahrzehnt des Gehirns“ erklärt und dementsprechend die Forschungsgelder umgeleitet hatte, während ihr Mörder alleine ist. Zwar will er einen Spiegel-Journalisten als Bündnispartner gewinnen, weil der einmal ein Buch mit dem Titel „Terror der Wissenschaft“ über diese Art von verbrecherischer Forschung und Entwicklung geschrieben hat, das „Kant“ wie die Theorie zu seiner mörderischen Praxis las, aber dieser Journalist, namens Troller, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, will ihn stattdessen zusammen mit seiner Journalistenkollegin und Freundin des Mordes überführen, um „Kants“ verbrecherisches Tun zu stoppen. Ausführlich wird in dem Roman die Hirnforschung in einer Mischung aus amerikanischer Wissenschaft (ein Pleonasmus?) und, sagen wir, Berliner Literatur (ein Oxymoron?) dargestellt – ihre Experimente an Tieren (an Affen, wie an der Bremer Universität) und Gefangenen, letztere angeblich als „Freiwillige“. Es geht dabei auch um „Empathie“, wobei das Einfühlungsvermögen von diesem elitären „Club“ aber auch nur wieder dumpf-materialistisch im Gehirn lokalisiert wird: „Die neuronale Basis für unser Mitgefühl“, das sind die „Spiegelzellen: der letzte Schrei der Hirnforschung“ (und damit natürlich auch für das immer reaktionärer werdende Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, siehe die Ausgabe vom 6.3.2006.)
Zur Freiwilligkeit, mit der Gefängnisinsassen sich Hirnforschungsexperimenten ausliefern, hat der Anthropologe Kaushik Sunder Rajan bereits in seinem Buch „Biokapitalismus“ ausgeführt, dass es absolut böse ist, wenn westliche Pharmakonzerne ihre neuen Medikamente in der Dritten Welt testen, in Bombay vor allem – und zwar an arbeitslosen Textilarbeitern, für die das die einzige Einkommensquelle ist. Hierbei von „freiwilligen Versuchsteilnehmern“ zu sprechen, hält Rajan für „ethisch äußerst fragwürdig“, sie sind eher von „Opfern zu bloßen Objekten geworden“. In Berliner U-Bahnen umwirbt inzwischen ein Pharmakonzern ebenfalls die Arbeitslosen und sonstwie Klammen – mit dem fortschrittsoptimistischen Spruch: „Testen Sie schon heute die Medikamente von morgen.“Und im „Aachen-Krimi“ von Markus Vieten ‚“Nebenwirkung“ geht es um Ärzte, die sich von einem Pharmahersteller bezahlen ließen, um an ihren Patienten Medikamente zu testen, „die noch nicht zur klinischen Erprobung freigegeben worden waren“. Der Autor ist Nervenarzt, und Lektor sowie Übersetzer medizinischer Fachliteratur.
Um einen der „führenden Hirnforscher Deutschlands“ zu töten, gibt sich „Kant“ als den gegen ihn ermittelnden Spiegel-Journalisten Troller aus. Der Wissenschaftler erklärt ihm: „Wir untersuchen das Gehirn von Gewalttätern, von Soziopathen, und unsere bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass bei allen Soziopathen eine stark verminderte Aktivität der Amygdala zu beobachten ist, also in dem Teil des Hirns, der zum limbischen System gehört…“ Sein Interviewer fragt zurück: „Ihre Theorie lautet doch, es gibt keinen freien Willen. Wie können Sie dann behaupten, die Gewaltverbrecher hätten sich freiwillig an den Versuchen beteiligt?“
In einem der Bekennerschreiben von „Kant“, nachdem er bei dem mit Affen experimentierenden deutschen Wissenschaftler die Spiegelzellen in seinem Gehirn freigelegt hat, heißt es schopenhauerisch: „In den Tierversuchen zeigt die Hirnforschung ihr wahres Gesicht. Die Beherrschung des Affenhirns ist nur die Vorstufe zur Beherrschung des Menschengehirns.“
Ein anderes Bekennerschreiben, das auf ein Paketbombenattentat auf einen Bremer Hirnforscher folgte, in dessen Institut mit Katzen experimentiert wurde, lautet: „Ted Kaczynski hat uns gezeigt: Es gibt ein Widerstandsrecht gegen den Terror der Wissenschaft. – Kant“ (***)
Die Polizei und die Presse erhielten nach den ersten ermordeten Hirnforschern auch eine Reihe von „sogenannten Bekennerschreiben“ sowie E-Mails „von Tierliebhabern, die ihre klammheimliche Freude ausdrückten. Zum Beispiel vom stellvertretenden Vorsitzenden der Autonomen Tierbefreier,“ der „Mitleid“ mit den armen, von den Hirnforschern gefolterten Tieren forderte. (*****)
Die Vorsitzende dieses Tierschützer-Vereins erklärt später dem Spiegel-Journalisten Troller: „Glauben Sie wirklich, dass derjenige, der morgens eine Vivisektion am Tier durchführt und es entsetzliche Qualen leiden läßt, am Nachmittag seine Patienten mit Feingefühl behandelt? Wissen Sie, was Mahatma Gandhi sagte? ‚Die Vivisektion ist das schwärzeste aller schwarzen Verbrechen‘. Aber ich bin nicht Tierfreundin, um Menschenhasserin zu sein….“ Deswegen distanziert sie sich von der E-.Mail ihres Stellvertreters.
Die führenden deutschen Hirnforscher und ihre Ehefrauen auf einem Ausfllug, um mal auf andere Gedanken zu kommen.
In Johlers „Science-Thriller“ werden nebenbei auch noch zwei Beziehungs-Geschichten erzählt, in denen es ebenfalls um determiniertes Verhalten versus freier Wille geht. Einer der Hirnforscher hat sich, zu Ruhm und Ehren gekommen, von seiner alten Frau getrennt und eine junge geheiratet. Der ersten erklärte er, dass er nichts dafür könne, sich neu verliebt zu haben, es sei „eben passiert – es sind die Gene“, er sei dafür quasi nicht verantwortlich. Auch dieser Quark wird inzwischen bildzeitungsmäßig breit getreten. So heißt es z.B. auf der Webpage „seitensprung-fibel.de“: „Die Untreue bei Männern, um Gene zu streuen, ist nicht gerade eine brandneue Entdeckung. Aber Frauen bergen ebenso die uralte, genetisch verankerte Fähigkeit zur Untreue in ihrem Wesen, und zwar um möglichst schöne, gesunde Kinder zu bekommen. Natürlich nicht bewußt. Hier führen allein Instinkt und Trieb die Regie.“ Auch diese „Grausamkeit“ fädelt Johler noch in die Romanhandlung ein, indem er die Arbeitskollegin und Freundin von Troller sich in einen Schönling von der englischen Bildzeitung „Sun“ verlieben läßt, dem sie daraufhin nach London folgt. Allerdings redet sie sich im Unterschied zum Hirnforscher nicht mit ihren „egoistischen Genen“ raus, praktisch läuft es jedoch auf das selbe hinaus.
Es bleibt die Frage: „wie soll man in einer Welt leben, in der beide nichts dafür können, weder der Täter noch das Opfer, so daß eigentlich alle beide Opfer sind und diese Unterscheidung vollkommen sinnlos wird? In einer Welt, in der das Opfer am Ende noch mit dem Täter Mitleid haben muß.“ Troller – das ist Jens Johler, der zusammen mit zwei Ko-Autoren bereits mehrere ähnliche „Science-Thriller“ schrieb (******), und der dieses Beziehungsdrama, das hier nur ein Nebenstrang im Buch ausmacht, 1994 sogar in die Achse eines Romans stellte, dem er den Titel „Der Falsche“ gab. Damals schrieb ich darüber:
Es geht in dem Buch um die Redaktion der „Schwarzen Protokolle“, die Anfang der siebziger Jahre von einigen anarchistisch-rätekommunistisch orientierten Genossen in Westberlin gegründet wurde. Die letzte Ausgabe erschien 1983. Dem Autor, Jahrgang 1944, geht es jedoch vor allem um seine damalige Liebesbeziehung zu „Antonia“, der Schriftstellerin Barbara Sichtermann. Das ist gewissermaßen sein Stoff, und der Titel „Der Falsche“ bezieht sich dabei auf ihn selbst. Aus Eifersucht schlägt er bei der Zusammenstellung der dritten Ausgabe der „Schwarzen Protokolle“, an der sich auch Barbara Sichtermann beteiligte, auf einen schwäbischen Theoretiker namens „Hieronymus“ ein: den heute in Charlottenburg lebenden Widerstandsforscher Hans-Dieter Heilmann, der tatsächlich damals „mit Barbara rumgemacht hatte“, wie sich ein jetzt nur noch buchhändlerisch tätiger Genosse aus der Redaktion erinnert. Inhaltlich, wie man so sagt, ging es Jens Johler in der Auseinandersetzung mit Heilmann damals um den Abdruck einer rätekommunistischen Auseinandersetzung mit den damaligen aktionistischen Vorläufern der Grünen: der PL/PI (Proletarische Linke/Parteiinitiative), die – wie der Name schon sagt – eine praktisch-politische Aufhebung des Widerspruchs zwischen Bewegung und Partei zu etablieren versuchte (und daran scheiterte). In seinem Roman erinnert sich Johler jedoch vor allem an seinen damaligen Eifersuchtsschmerz, den der Ich-Erzähler dann beim Hannoveraner Psychologie-Professor Peter Brückner, der später ebenfalls in den „Schwarzen Protokollen“ veröffentlichte, zu kurieren versuchte. Dadurch wurde es aber bald noch komplizierter für ihn, denn Antonia verliebte sich in Brückner, zog nach Hannover und lebte bis zu dessen Tod mit ihm zusammen. Johler brach endgültig die Beziehung zu ihr ab: Er war eben „der Falsche“ gewesen, was er schon gleich zu Beginn des Romans, der Beziehung, irgendwie geahnt hatte. (*******)
Damals habe ich seine Schreiberei „nicht wirklich“ ernst genommen, so wie Romane generell, erst recht solche über Beziehungen. Aber um zum Schluß zu kommen: In einem Interview mit dem Internetforum „kaliber38.de“ (ein Kaliber übrigens, das oft zur Lösung verwickelter Beziehungsprobleme angewendet wird) wurde Johler gefragt, ob es eine wissenschaftliche Disziplin gäbe, deren Erkenntnisse oder auch Möglichkeiten ihn bei den Recherchen für seine „Science-Thriller“ besonders erschreckten?
J.J.: Ja, natürlich: Die Genetik.
k.38: Ist der Mensch bloß ein „Upgrade des Schimpansen“, wie eine Figur in Ihrem Roman behauptet?
J.J.: Aus neurophysiologischer Sicht auf alle Fälle. Aus der Sicht der Genetiker auch. Deren Erkenntnisse sollten uns vielleicht von unserem „humanen“ Hochmut herunter bringen. Es ist wirklich absurd, dass wir uns den Kopf über die „Würde“ von Embryonen zerbrechen und zugleich Menschenaffen, die die Intelligenz von kleinen Kindern haben, ausrotten, fressen oder ihnen die Schädel aufsägen, um mal zu schauen, wie es darin aussieht.
k.38: In Ihrem Roman sprechen Sie vom Terror der Wissenschaft, der den Terror der Ökonomie als Kennzeichen zumindest der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ablösen könne. Seit dem 11. September assoziieren wir mit dem Begriff natürlich andere Bilder. Aber sehen Sie dennoch in der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung eine Herausforderung, vielleicht sogar eine Gefahr für die Gesellschaft und ihre demokratischen Prinzipien?
J.J.: Wir haben diesen Dreischritt gesehen: Primat der Politik (Hitler, Stalin) – Primat der Ökonomie (Globalisierung) – Primat der Wissenschaft (Genetik, Künstliche Intelligenz). Das Wort „Terror“ diente natürlich der Dramatisierung. Das Neue an unserer Situation in Bezug auf die Wissenschaften ist die Beschleunigung des Fortschritts und die spektakuläre Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft z.B. durch Craig Venter, die natürlich an sich nichts Neues ist. Bedrohlich scheint mir zu sein, dass die Wissenschaft in rasantem Tempo neue Fakten schafft, und Politik und Gesellschaft davon so in Atem gehalten werden, dass sie immer zu spät reagieren. Die Sozialwissenschaften, speziell die Philosophie, haben hier ohnehin versagt.
k.38: Wie kann die Gesellschaft der Herausforderung begegnen?
J.J.: Erstens, indem man sich rechtzeitig um das kümmert, was in den Laboren gedacht, geplant, gemacht wird. Zweitens, indem man sich ernsthaft mit der Frage beschäftigt, was „der Mensch“ ist, dessen Würde unantastbar sein soll. (Was ist mit der Würde des Menschenaffen? Oder des künstlich-intelligenten Wesens? Über das letztere sollte man heute nachdenken und nicht erst in zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren, wenn es dieses Wesen gibt). Man kann m.E. die Forschung nicht kontrollieren oder gar verbieten, aber man könnte eine Gesetzeslage schaffen, die bestimmte Forschungen sinnlos macht. Man könnte z.B. verhindern, dass Gene patentiert werden; oder ein Recht auf gen-informationelle Selbstbestimmung ins Grundgesetz aufnehmen. Normale Gesetze nützen ja nicht viel, die werden sowieso wieder geändert.
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Anmerkungen:
(*) Achse: althochdeutsch für Drehpunkt
(**) Als der Genosse Massimo Carlotto, Mitglied der linksradikalen Gruppe „Lotta Continua“ (Der Kampf geht weiter) in Padua die übel zugerichtete Leiche einer jungen Frau findet, erstattet er Anzeige bei der Polizei – und wird prompt verhaftet und des Mordes angeklagt. Es folgt ein Prozess, der sich über 20 Jahre erstreckt. Darüber hat er nun ein Buch geschrieben „Der Flüchtling“, das soeben auf Deutsch erschien und in der „Jungle World“ (32/2010) besprochen wird. In einem Interview mit ihm – „Wir radikalen Linken wurden als Verbrecherbande denunziert“ – heißt es:
JW: Sie betonen immer wieder, dass es Ihnen bei Ihrem Buch nicht darum ging, ein Kapitel Justizgeschichte zu erzählen, das heute den italienischen Jurastudenten als »Extremfall« zur Übung vorgelegt wird. Worum ging es Ihnen dann?
M.C.: Ich wollte mit Hilfe einer sehr persönlichen Geschichte eine generationenspezifische Erfahrung weitergeben. Wichtig war mir, von der Erfahrung des Exils zu erzählen, von der Flucht von einem Kontinent zum anderen, vor allem aber von einer Generation, die einer unvorstellbar harten Repression ausgesetzt war.
JW: Sie wurden im Januar 1976 eines schweren, aber gewöhnlichen Verbrechens beschuldigt dennoch nach Ihrer Festnahme wie ein politischer Häftling behandelt und in ein Hochsicherheitsgefängnis überführt.
M.C.: Ich war ein politischer Aktivist der linksradikalen Gruppe »Lotta Continua«, und die Anklage gegen mich war grundsätzlich politisch motiviert. An mir hat man ein Exempel statuiert. Meinem Beispiel folgend wurden dann all die anderen Prozesse in meiner Region, dem italienischen Nordosten, initiiert.
JW: Drei Jahre nach Ihrer Verhaftung wurden am 7. April 1979 in Ihrer Heimatstadt Padua Hunderte von politischen Aktivisten festgenommen und mit dem Vorwurf, sie hätten den gewaltsamen Umsturz der Staatsordnung geplant, vor Gericht gestellt. Was bedeutete dieser »Sette Aprile« für die linksradikale Bewegung in Italien?
M.C.: An diesem 7. April wurde die gesamte außerparlamentarische linke Bewegung kriminalisiert. Viele Aktivisten wurden aufgrund sehr fragwürdiger Anschuldigungen festgenommen. Mein Prozess hatte dazu gedient, uns Linke als böse und gemeingefährlich darzustellen. Der 7. April war ein Akt der Repression, er beendete eine große und siegreiche Phase der linken Bewegung, die weite Teile des Nordostens kontrolliert hatte. Das war nur möglich aufgrund einer Allianz zwischen der ehemaligen Kommunistischen Partei und dem Staatsapparat. Die KPI lieferte damals die Namen der Aktivisten, die verhaftet werden sollten. Es wurden sehr viele in Haft genommen, deren Unschuld erst Jahre später anerkannt wurde, Universitätsprofessoren, Angestellte, Arbeiter, es war ein brutaler Rundumschlag. Dass so viele wahllos ins Gefängnis gebracht und vor Gericht gestellt wurden, hat in der Gesellschaft Angst erzeugt.
JW: Die Staatsanwaltschaft hat sich damals als verlängerter Arm der politischen Repression gegen die linke Bewegung erwiesen. Heute erscheint sie dagegen weiten Teilen der italienischen Opposition als Verbündete im Kampf gegen das korrupte Machtsystem der Mitte-Rechts-Regierung.
M.C.: Die Linken, die damals die Repression miterlebt haben, machen sich auch heute nichts vor. Wir haben eine extrem kritische Haltung gegenüber dieser justizhörigen Oppositionsbewegung. Vor allem gehen wir davon aus, dass man gesellschaftspolitische Problem nicht mit der Staatsanwaltschaft lösen kann.
(***) Näheres zum linken „UNA-Bomber“ Ted Kaczynskie und zum rechten „Oklahoma-Bomber“ Timothy McVeigh. Die ersten drei Teile des Textes stammen von Anjana Shrivastava:
„Lupus lupi homo est“ (alte Rudelweisheit)
1. Die Pornografie des Todes
Über die Opferschau der Druiden: „….sie weihen einen Menschen und stoßen ihn mit einem Schwertstrich oberhalb des Zwerchfells nieder, und während des Zusammenbruchs des Opfers, aus der Art des Falles und der Zuckungen der Glieder, und dazu aus dem Strömen des Blutes wollen sie die Zukunft erkennen, im Vertrauen auf die alte und vielgepflogene Beobachtung dieser Vorzeichen.“ Poseidonios von Apameia (135-51/50 v. Chr.)
Die Angst vor dem Volkszorn und Ahnungen von einer öffentlichen Hinrichtung gingen Timothy McVeigh bereits durch den Kopf, als man ihn vor dem Gerichtsgebäude in Oklahoma erstmalig einer erregten Menschenmenge vorführte. Dem „Time-Magazine“ erzählte er später: „Ich bemerkte, dass die Menge zu weit abgedrängt war, um mich mit einem Pistolenschuss bedrohen zu können. Also nahm ich sofort die Bäume und die umliegenden Gebäuden in Augenschein. Und unwillkürlich schaltete ich einen starren Panoramablick an, mit dem man einen 1000-Meter-Sicherheitsbereich überblicken kann. Das einzige, was ich bei Gefahr hätte tun können, war ein kleiner Sprung zur Seite. Im Grunde genommen wirft man Dich den Löwen vor“. „Dem Löwen vorgeworfen zu werden“ erscheint als eher archaisches Bild, da die öffentlichen Torturen der Vormoderne doch längst durch humanistische Methoden der Beweisführung und Bestrafung ersetzt wurden. Schon die Einführung der Guillotine zielte darauf ab, unter den Zuschauern keine Sympathie mehr für die Verurteilten aufkommen zu lassen. Denn die Königsmörder des Ancien Regime wurden stundenlang gestreckt und gevierteilt und litten oft noch zusätzlich unter der Überforderung von Henkern und Zugpferden. Die Justiz des 19. Jahrhunderts wandte sich daher von der körperlichen Bestrafung ab und widmete sich der Disziplinierung und Überwachung der Gefangenen. Mit der Übertragung des Todes des rechtsextremen Terroristen McVeigh für die Angehörige enstand mitten im blassen bürokratischen Akt wieder ein Moment von Märtyrertum. Schließlich ist McVeigh ebenfalls ein Königsmörder, nämlich der Mörder des demokratischen Souveräns in Gestalt der Bundesbeamten von Oklahoma. Das Volk als Souverän, zumindest wie es durch die Opfer des Bomben-Attentats von Oklahoma repräsentiert wird, ist allerdings schwer zu befriedigen. Das Zuschauen befriedigt nur im Ansatz die Sehnsucht nach der Selbstjustiz des letzten Jahrhunderts. Besonders in einem Staat wie Oklahoma, im Westen der USA, wo weiße Männer ihre strittigen Ansprüche auf indianisches Land noch lange unter sich austragen mussten. Diese Rückkehr zum archaischen Schauspiel der Hinrichtung entlastet die heutigen Gefangenen im Todestrakt jedoch nicht von der Bürde einer allgegenwärtigen hochmodernen Überwachungsmaschinerie. In dem Supermax Gefängnis in Colorado wurde McVeigh 24 Stunden täglich überwacht, davon 20 mit einer Videokamera. Wenn er schlief, war die Kamera kaum einen Meter von ihm entfernt. Damit sie funktionierte, musste immer eine Lampe brennen. Die Internetfirma, die das Spektakel seines Tod für das Internetpublikum verkaufen wollte, besitzt die Website „voyeur.com“, auf der man über 55 Webcams rund um die Uhr eine Studentinnen-WG beobachten kann. McVeigh hat zugegeben, sich jeden Monat auf die ihm erlaubte Lieferung von Playboy und Hustler zu freuen. Die Nacktfotos hingegen, die fremde Frauen ihm aus Orten wie Tennessee zuschicken, bekommt er nicht ausgehändigt.
2. Pieta eines Milizen
McVeigh war selbst einmal – zusammen mit der ganzen amerikanischen Rechten – Zeuge einer Opferschau gewesen: Nämlich der von Rosemary Weaver – mit einem Baby im Arm und einer Kugel im Kopf. Im April dieses Jahres verkaufte der Mann von Rosemary Weaver, der weisse Separatist Randy Weaver, ein Buch über seine Lebensgeschichte auf einer Waffenmesse in Lincoln, Nebraska. Das Weaver- Martyrium wollte Timothy McVeigh mit seinem Attentat im April 1995 in Oklahoma-City rächen. Weaver hatte einige Jahre zuvor seine Familie nach Idaho, in eine Gebirgsgegend namens Ruby Ridge, evakuiert und sich dort mit einem ganzen Waffenarsenal verschanzt. Als das FBI kam, um ihn wegen illegalem Waffenhandel festzunehmen, starben seine Frau und sein Sohn im Schußwechsel. Weaver wurde dadurch zu einem Volkshelden der Rechten. Auf der Waffenmesse überreichte ein Indianer ihm zeremonielle Geschenke. Der Indianer war der einzige Nicht-Weisse im Saal, er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: „Der Geist von Crazy Horse lebt.“ Weaver sagte zu ihm: „Ich schätze, wenn man ähnlich wie ich von den Stiefeln der Bundesregierung getreten wurde, weiß man eben, wie sich das anfühlt.“ Auch Weavers Rächer Timothy McVeigh hätte dieses Prädikat „Unter dem Stiefel der Bundesregierung gelitten zu haben“ gerne für sich in Anspruch genommen. Doch obwohl die amerikanische Öffentlichkeit über die Belagerung von Ruby Ridge schockiert war, zeigte sie wenig Bereitschaft, für die Argumente McVeighs in seinem eigenen Fall ein ähnliches Verständnis aufzubringen. Das Vorgehen des FBI, seit dem Attentat in Oklahoma solche gewalttätigen Erstürmungen von Waffenburgen wie die bei Ruby Ridge und Waco, Texas zu vermeiden, hatte die Öffentlichkeit beschwichtigt. In einem Punkt aber gab es immer eine seltsame Einigkeit zwischen McVeigh und der US Regierung. Sowohl der Angeklagte, als auch die Staatsanwaltschaft bestanden darauf, dass das Attentat von einer einzigen Person ausgeführt wurde: McVeigh war der Kopf der Aktion, wobei er seine zwei Komplizen unter massiven Druck setzte. Doch verschiedene Prozeßbeobachter, von den Verteidigern bis hin zu Angehörigen der Opfer, haben mehr als genug Anhaltspunkte dafür gefunden, daß hinter diesem Einzeltäter, der so offensichtlich ein Martyrium für sich sucht, noch ganz andere an der Tat beteiligte Kreise existieren. War es blosser Zufall, dass ein gewisser Richard Snell, der selber einst angeklagt war, das Gebäude in Oklahoma City 1982 in die Luft jagen zu wollen, genau am Tag des Attentats von Mc Veigh in Arkansas wegen Mordes hingerichtet wurde? Hatte der Rechtsextremist Snell nur geprahlt, als er Racheaktionen am Tag seiner Hinrichtung ankündigte? War McVeigh wirklich immer nur ein „einsamer Wolf“ gewesen?
Je mehr man über die amerikanische rechte Bewegung weiß, desto weniger kann man zwischen einem Einsamer Wolf-Szenario und Verschwörungsszenarien unterscheiden. Die weißen Rassisten haben es im multiethnischen Amerika aufgegeben, Wählerschichten für sich gewinnen zu wollen oder öffentliche Ämter anzustreben. Weil sie sich damit von allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen haben, so behauptet wenigstens Thomas Grumke in seiner sehr gründlichen Studie über den „Rechtsextremismus in den USA,“ bleiben ihnen fast nur terroristische Gewaltakte als Handlungsmöglichkeit. Einer der Hauptstrategen der extremen US-Rechten, das ehemalige Ku-Klux-Klan-Mitglied Louis Beam, hat dazu eine Strategie entwickelt, die eine Adaptation und Zuspitzung klandestiner kommunistischer Organisationsmodelle – eine Reihe untereinander isolierter Zellen unter einem Zentralkommando – darstellt. Beam sieht für seine Bewegung die Schaffung von lauter „Phantomzellen“ vor, die aus nur einem Mann, ohne eine lenkende Zentralinstanz bestehen und so aktiv werden sollen. In diesem Konzept eines „führungslosen Widerstands“ nimmt die Rechte zwar ideologischen Einfluss auf gewaltbereite Männer wie McVeigh, doch beteiligt sie sich nicht direkt an deren Taten. Auf einer Waffenmesse in Tulsa Oklahoma hatte McVeigh 1994 erstmalig ein Mitglied aus der rechtsradikalen Gruppe „Elohim City“ getroffen. In den Monaten vor dem Attentat besuchte mehrmals McVeigh diese separatistische Gemeinschaft, mit der auch Richard Snell kurz vor seinem Tod in Verbindung stand. Amerikas Waffenmessen sind für die extreme Rechte ungefähr dass, was Grosstadt Busdepots für die Prostitution ist: Hier verwirrte, von zu Hause weggelaufene Mädchen, die zu einer leichten Beute für Zuhälter werden, dort vereinsamte Menschen wie McVeigh, die sich nur mit Waffen sicher fühlen. Die Liebe zu Waffen gehört auf intimste Weise zur amerikanischen Tradition. Für viele weisse Männer, die in den dahinsiechenden agrarischen und industriellen Regionen der USA leben, besitzen Waffen eine eigene Magie. Sie erweitern die Macht und Potenz eines Menschen fast ebenso wie das Geld, das die meisten dieser Männer nicht haben. Timothy McVeigh, zum Beispiel, ist Enkel eines Bauern aus dem Norden des Bundesstaates New York, der seinen Hof aufgeben musste. Sein Vater war Arbeiter in einer Autofabrik bei Buffalo, die ab den frühen neunzigerjahren keine Leute mehr einstellte. McVeighs Helfer bei der Vorbereitung des Attentats, Terry Nichols, war ebenfalls ein Bauer, der in den Achtzigerjahren seinen Hof in Michigan verlor. In diesen Milieus ist die Waffe statt der Farm, das einzige, was von den Pioniertagen übrig blieb – das letzte, zudem immer mehr symbolischer werdende Mittel zur Verteidigung und Selbstversorgung.
In der Person von McVeigh vereinigen sich für die extreme Rechte mehrere positive Eigenschaften: Er war ein hochdekorierter Soldat, den seine Kampferfahrungen im Golfkrieg jedoch enttäuscht, wenn nicht traumatisiert hatten und der anschließend nur noch eine Anstellung als unterbezahlter Wachmann bei verschiedenen Firmen in Buffalo fand. Wie ein gefangener Wolf im Zoo drehte er fortan seine nächtlichen Runden auf Betriebsgeländen – zu deren Sicherheit. Dazu gehörte auch der Zoo von Buffalo, wo er sich während seiner Arbeit mit einem der Raubtiere näher anfreundete. Als er anfing, regelmäßig Waffenmessen zu besuchen, war er schon mit rechtsradikalem Gedankengut vertraut. Besonders beeinflußt hat ihn der Roman „Die Turner Tagebücher“, den er sich über die Waffen- und Militärzeitschrift „Soldiers of Fortune“ bestellte. Der Autor ist ein amerikanische Nationalsozialist namens William Pierce. Seinen 1976 veröffentlichten Text betrachtete später das FBI als direkte Handlungsanleitung für McVeighs Oklahoma-Attentat. Der Roman beginnt halbwegs realistisch – mit einer Razzia bei Waffenbesitzern. Die Handlung spielt in der Zukunft: Waffen in Privatbesitz sind inzwischen streng verboten. Der Romanheld Turner sieht sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gezwungen, in den Untergrund zu gehen, wo er sich einer rechten, gegen die Regierung kämpfenden Organisation anschließt. Diese finanziert sich zunächst durch einen tödlichen Überfall auf einen jüdischen Lebensmittelhändler. Trotz verschiedener Rückschläge gelingt es ihren autonom agierenden Kampfzellen, sich auszubreiten – konkret: innerhalb sechs Jahren, erst Los Angeles, dann Washington und schließlich die ganze Welt zu beherrschen. Ein schwindelerregendes Szenario für einen jungen Waffennarren wie McVeigh. Als Kind flüchtete er sich vor der unglücklichen Ehe seiner Eltern in Comic-Geschichten von Superhelden. Mit 20 ging er zur Armee, ihm gefielen besonders ihre Werbeslogans: „Lerne die Welt kennen“ und „Leiste schon vor 9 Uhr morgens mehr als die meisten Menschen den ganzen Tag“.
Die „Turner Tagebücher“ bieten gerade für solch gute amerikanische Patrioten wie McVeigh eine Perspektive: Mit Einsatzfreude und technischer Versiertheit können sie selbst „Caesar und Napoleon“ überflügeln. Der Autor, Pierce, will damit sagen, daß die moralische und rassische „Degeneration“ des ursprünglichen Weißen Amerikas immer noch rückgängig zu machen ist. Seine Vorstellung von einer weißen Vorherrschaft ist zugleich ein paranoischer Widerhall der Hoffnungen amerikanischer Indianer im später 19.Jahrhundert, deren Erweckungsbewegung vom Verschwinden aller Weißen und der Rückkehr der Bisonherden ausging. Diese Heilslehre breitete sich wie ein Feuer über die trockenen Ebenen der ihnen noch verbliebenen Territorien aus. Die indianische Euphorie drückte sich in sogenannten Geister-Tänzen aus, die Männer und Frauen bis zur Erschöpfung veranstalteten. Eine solche Tanz-Zeremonie – auf dem Pine Ridge, South Dakota- war es dann auch, aus der sich 1890 die Schlacht am Wounded Knee entwickelte, die den Endsieg der Weißen über die Indianer bedeutete. Bei ihren Tänzen trugen die Siuox Baumwollhemden, die sie mit Symbolen der Erweckungsbewegung bemalt und deren Ränder sie ausgefranst hatten, damit sie ihrer traditionellen Lederkleidung ähnelte, die sie nicht mehr besaßen.
Auch Timothy McVeigh trug ein Baumwollhemd, als ihn die Polizei von Oklahoma bereits wenige Stunden nach dem Attentat in seinem Auto – wegen fehlender KFZ-Kennzeichen und illegalem Waffenbesitz – verhaftete. Bei der Vernehmung, so wunderte sich einer der Polizisten im Nachhinein, wirkte McVeigh merkwürdig ruhig, obwohl es seine erste Verhaftung war. Der Beamte bemerkte auch sofort das merkwürdige T-Sirt: vorne war ein Porträt des ermordeten Abraham Lincolns und hinten ein Baum draufgedruckt. Ihm entging jedoch der Revolutions-Spruch unter den Graphiken: „Der Baum der Freiheit muß immer wieder mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen getränkt werden“. Deswegen kam der Polizist, der immerhin wie alle seine Kollegen an dem Tag bei der Fahdnung nach den Beteiligten am Bombenüberfall eingesetzt war, auch nicht darauf, daß er den politischen Attentäter bereits gefaßt hatte. McVeighs politische Ideen über die Beziehungen zwischen dem Individuum und dem Staat, die er mit praktischen, aus den alten Pionierzeiten überkommenen Überlebens-Techniken, verband, waren einerseits zu intellektualistisch und andererseits zu asketisch, um vom Durchschnittsamerikaner ernst genommen zu werden. Randy Weaver, der Märtyrer von Ruby Ridge, der weniger zu Einsamkeit und politischer Reflexion neigt, ist aus seinem Idaho-Versteck in die amerikanische Zivilisation zurückgekehrt – mit einer neuen Frau und einer Harley-Davidson in der Garage. Die meisten Leute, die auf Waffenmessen sein Buch über seinen bewaffneten Zusammenstoß mit der Staatsgewalt kaufen, „wollen eher mit mir reden als ich mit ihnen“, erklärte er der Washington Post. Manchmal denkt Weaver noch an die Jahre auf Ruby Ridge zurück, wo seine dann erschossene und zur Opferikone gewordene Ehefrau im Sommer mit den Kindern eimerweise Blaubeeren gesammelte und für den Winter Lebensmittel eingekocht hatte. Aber ansonsten hat er all das hinter sich gelassen, behauptet er. Dennoch spielt Weaver gelegentlich wieder mit dem Gedanken, ein Stück Land in den Bergen von Arkansas zu kaufen, mit einem kleinen Haus an einem kalten Bach – „aber wer zum Teufel würde noch so leben wollen…“ sagt er zu niemandem bestimmten.
3. zwei amerikanische Terroristen
Unter der ständigen Überwachung im Gefängnis „Supermax“ in Colorado, entwickelte sich ein Freundschaft zwischen Timothy McVeigh und Theodore Kaczynski, dem sogenannten UNA-Bomber: ein Mathematiker und Ökoterrorist, der über 20 Jahre lang von seinem Versteck in der Montanawildnis Briefbomben an Personen schickte, die er als verantwortlich für die Zerstörung der Natur durch die fortschreitende Technik erklärte. Die beiden Häftlinge lernten sich während der täglichen Freistunde, die sie außerhalb ihrer Einzelzelle verbringen dürfen, kennen. McVeigh meint: „Ich bin sehr rechts, während er sehr weit links steht, aber sonst sind wir uns ziemlich ähnlich. Alles, was wir jemals wollten, was wir von diesem Leben wollten, war die Freiheit, unser Leben genau so zu leben, wie es uns vorschwebte“. Kaczynski erzählt: „Er war sicherlich kein gemeiner oder feindseliger Mensch, und nichts deutete darauf hin, daß er solch ein Superpatriot war. Ich vermute, er ist eigentlich ein Abenteurer, aber seit dem Ende der Pionierzeit hat Amerika wenig Platz für Abenteurer“. Sowohl McVeigh als auch Kaczinski, wenn man ihren Spuren folgt, die sie ins Supermax führten, wirken weniger wie zwei Terroristen mit unterschiedlichen Ideologien, sondern wie zwei amerikanische Trapper mit umgekehrten Vorstellungen.
Man kann sagen, daß beide eine Hochachtung für die Natur haben und beiden eine hohe Wertschätzung von Waffen eigen ist. Doch für den UNA-Bomber stellt die Natur die Große Ordnung dar, in der man am Besten mit einem Jagdgewehr klar kommt. Für den Oklahoma-Bomber sind dagegen die Waffen vor allem ein rhetorisches Werkzeug des Bürgers, sie haben nur zufällig ihre wahre Bestimmung im Wald. Kaczynski Weg in den Terrorismus begann, als er sich – wie viele Intellektuelle in den Siebzigerjahren – entschied, seine bürgerliche Existenz aufzugeben und in den Bergen zu leben. Doch was als Interesse am Erlernen der Techniken, die ein autonomes Leben im Wald ermöglichen, begann, wandelte sich eines Tages, als er aus seiner Hütte in der Nähe von Lincoln Montana, flüchtete, um den Sommertouristen zu entkommen. Er trekkte zwei Tage, um zu seinem Lieblingsort zu gelangen: ein uralter Tafelberg, der wie eine Festung von Felsen und Wasserfällen geschützt war. Doch als er ankam, hatte man dort eine Autostraße quer durchs Gebirge gebaut. McVeigh wurde Terrorist, als er endgültig davon überzeugt war, daß die Regierung den Bürgern das Grundrecht streitig macht, Waffen zu tragen. Ausschlaggebend dafür waren seine Erfahrungen im Golfkrieg, wo er als MG-Schütze auf einem Aufklärungspanzer eingesetzt war. Noch auf Distanzen von über 1000 Meter- das entspricht ungefähr zwei Fußballfeldern – verwandelte ein Schuß aus seiner Waffe irakische Soldaten in eine Art roten Nebel. Die hoffnungslose Unterlegenheit der mit „normalen Waffen“ ausgerüsteten Gegner sah er dann erneut bei der Belagerung von Waco, Texas, wo die Verteidiger in einem Feuersturm untergingen.
Einige Jahre vor der Amerikanischen Revolution schlug das reale Vorbild für „Lederstrumpf“, Daniel Boone, einen Trapperpfad quer durch die Wildnis der Apalachen, der später zur Hauptstraße in den Westen wurde. Indem Boone dies tat, wurde er zum ersten Vertreter einer neuen Klasse von professionellen Indianer-Bekämpfern. Aber eigentlich ging es ihm dabei um die Jagdgründe der Blue-Grass-Ebenen von Kentucky, deren saftige Weiden Herden von Hirschen, Bisons und Elchen anlockte, so wie sie schon in uralten Zeiten Mastodons und Mammuts angelockt hatten. In den Augen des Trappers Boone kamen die Ebenen von Kentucky dem Paradies gleich, die aristokratischen Jäger Europas konnten sich Derartiges nicht einmal vorstellen: „Diese Vielfalt an Blumen und Früchten, alle in wunderbaren Farben, wohl gestaltet und verführerisch im Geschmack. Immerwährend wurden wir jedoch von ihnen abgelenkt, weil vor uns unzählige Tiere auftauchten“.
Amerika wurde aufgebaut mit einer optimistischen Idee, mit der Idee der Aufklärung: Wenn eine Mehrheit in der Gesellschaft ihre Geschicke selbst bestimmt, wird daraus eine bessere Gesellschaft als jemals zuvor werden. Die ideale Bürgergesellschaft ist sozusagen das komplement zu Amerikas paradiesischer Natur. Es kam dabei jedoch auch eine eher pessimistische Idee zum Tragen: Demnach hatten die europäischen Zivilisationen und Monarchien alles Gesellschaftliche derart mißgestaltet, daß es geboten war, in der Wildnis, in einer unbekannten Natur, einen Neuanfang zu machen – völlig unabhängig von der Zivilisation. Dies ist die dunkle, puritanische Seite des Amerikanischen Traums, wie sie von D.H.Lawrence in einer kleinen, meisterhaften Skizze über den amerikanischen Geist beschrieben wurde. Was Lawrence darin als „Anti-Humanismus“ begreift, findet sich wieder in dem Wunsch von McVeigh und Kaczynski, fernab von der optimistischen Gesellschaft der Mehrheit ihr Leben führen zu wollen.
Bis jetzt gab es immer reichlich Raum auf dem Kontinent, um die meisten Versionen des amerikanischen Traums auszuleben: Die Freiheiten in Utah oder Arizona waren andere als die in Washington D.C. oder New York. Gewährleistet wurden sie einmal durch die Größe des Raumesund zum anderen durch die Verfassung, deren erste zehn Grundrechte dem Bürger, zumindestens den weißen Männern, ein für Nationalstaaten ungewöhnliches Maß an Widerstand gegen die staatliche Ordnung einräumten. Natürlich kam es dabei immer wieder zu Einschränkungen: Zuerst verlor der Süden gewaltsam das Recht, Sklaven zu halten. Dann verloren die Bauern im Mittleren Westen, die sich bis dahin für das Herz der Nation gehalten hatten, ihr Freiheitsgefühl – und fanden sich trotz ihres organisierten Widerstands in den Fängen der Gesetze wieder, die Banken, Eisenbahnen und Handel begünstigten. Die Angst vor dem schrumpfenden Raum und dem Verschwinden der Rechte oder vielmehr der Bedeutungsverlust dieser beiden Faktoren wird von McVeigh und Kaczinsky ausgedrückt, die von sich behaupten, daß sie eigentlich nur friedliche Bürger sein wollten und zutiefst unpolitisch sind. Sie sprechen von der „Omnipräsenz“ der Macht, und meinen, daß die Überwachung der Bürger schlimmer geworden sei als alle altstaatlichen Repressionen. Alles in allem ist es eine Klage über den Verlust des Westens, über einen vor allem seelischen Verlust. Wenn es heute ein gesellschaftliches Gegenstück zur paradiesischen Fülle der Kentucky Blue-Grass-Ebenen gibt, dann könnten dies die Wal-Mart-Billigkaufhäuser sein. Diese Kette ist inzwischen der weltgrößte Privatarbeitgeber, und rangiert in Amerika gleich hinter der Bundesregierung. Dabei entwickelte der Konzern sich zum einem wahren Leibhaftigen – für Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten, u.a. wegen seiner Hyper-Überwachung der Beschäftigten, für Stadtplaner und Bürgerinitiativen, weil Wal-Mart mit seinen Filialen, die mitunter die Größe von vier Fußballfeldern einehmen, das kommerzielle und gesellige Leben in ländlichen und kleinstädtischen Gebieten buchstäblich ausradiert.
Nebenbeibemerkt weigerte sich Wal-Mart, wo fast nur die unteren Schichten einkaufen, als einzige große Verkaufskette, McVeighs Biographie „American Terrorist“ zu verkaufen. Für McVeigh, der sich für die Überlebenstechniken der Pioniere begeisterte, war es aber sicher weitaus bitterer, daß so vielen seiner Landsleute im wesentlichen nur dieser schäbige Konsumismus geblieben ist. Während für Kaczinski dabei eher die Vernichtung der Natur zu Schleuderpreisen das Tragische ist. Beide sind jedoch gegen die Omnipräsenz von Wal-Mart und FBI nicht im sozialistischen Sinne, sondern aus Mißtrauen gegenüber der Mehrheit. Ihre Terrorakte verstehen sie auch als „Gnadenakte“ – in dem pessimistischen Bewußtsein, daß die meisten Amerikaner weder begreifen, was in ihrem Land vor sich geht, noch Widerstand dagegen leisten wollen. Deswegen ist beider amerikanisches Ziel, unabhängig zu leben, geprägt von puritanischer Misanthropie. Schon die alten Trapper in Kentucky hatten viele Feinde: schwer zu überwindende Berge, die Bären, die britische Krone, die Regierung in Washington, wilde Indianer. – Allerhand Feinde bei der Verteidigung des Paradieses.
4. Ist Timothy McVeigh ein rechter und Theodore Kaczynski ein linker Terrorist – wie das ihre jeweiligen Sympathisantenkreise nahelegen? Und lohnt sich die Unterscheidung überhaupt noch?
Vor einiger Zeit fand in Graz ein Symposion über Kriminelle statt, dort war man sich bald einig, z.B. in dem rechtsradikalen Österreicher Franz Fuchs, der im Namen einer „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ Briefbomben an linksliberale Prominente verschickte, einen bösen – und in dem Berliner Kaufhauserpresser Arno Funke, dessen Rohrbomben nie einen Menschen gefährdeten, einen guten Verbrecher zu sehen. McVeigh und Kaczynski diskutierten im Gefängnis eine ähnliche Differenz zwischen ihren Taten: Der UNA-Bomber warf dabei dem Oklahoma-Bomber vor, daß er Unschuldige (Kinder) tötete, während Kaczynski gezielt die seiner Meinung nach Schuldigen (Verantwortlichen) angriff.
Der demokratische Staat fühlt sich von Links- und Rechtsradikalen gleichermaßen herausgefordert, deren Bedrohungspotential u.a. der Verfassungsschutz alle Jahre wieder einschätzt. Hier hat sich dennoch die Ansicht erhalten, daß die Linke sich auf die Organisierung des Widerstands bis zum Aufstand konzentriert, während die Rechte eher zum Staatsstreich neigt. „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift,“ so sagte es Karl Marx – und seitdem ist der unblutige Generalstreik gewissermaßen das Meisterstück für die Linke. Von Adolf Hitler stammt dagegen die Überzeugung: „Männer machen Geschichte, nicht die Massen!“ In diesen unterschiedlichen Machtübernahme-Konzepten geht es auf der einen Seite um die Verschärfung der sozialen Kämpfe und auf der anderen um die Eroberung von Schlüsselpositionen, wobei dem Attentat eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Die Rechte neigt darüberhinaus aufgrund ihres Krieger-Ideals generell zu waffentechnischen „Lösungen“, während die Linke zunächst die Überredungskunst forciert – bis hin zu den schönen Künsten. Wer den Aufstand, mindestens einen Massenprotest, nicht organisieren kann, dem bleibt nur das Attentat – als Fanal mit einem möglichst hohen Symbolwert. Daneben kann man ganz allgemein bei den heutigen Partisanen einen starken Hang zu nichtsozialistischen oder sogar antikommunistischen Ideen feststellen. Auch bei den Einzelkämpfern McVeigh und Kaczynski: Dieser, insofern er einen vorindustriellen Zustand anstrebte und jener wegen seiner Neigung zum Herrenmenschentum.
Bereits 1930 verfaßte der italienische Schriftsteller Curzius Malaparte eine „Technik“ des Staatsstreichs und des Aufstands, wobei beides für ihn identisch war. Leo Trotzki hat ihn deswegen als einen „faschistischen Theoretiker – so etwas gibt es“ angegriffen, der uns Märchen über die Macht erzählen will – es geht dabei um ihr „Ergreifen“, das bei den Kommunisten wesentlich ein Schüren und Kanalisieren des Unmuts ist. Für Malaparte ist dagegen die Machtübernahme ein Problem planerischer Putsch- „Intelligenz“. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion avancierte er schon fast zu einem Vordenker der bürgerlichen Widerstandsforschung. So unterscheidet z.B. der Jerusalemer Kriegsforscher Martin van Creveld, dessen Schriften hierzulande von einem Versicherungskonzern verlegt werden, nicht mehr zwischen linken, kommunistischen und rechten, nationalistischen Partisanen- bzw. Guerillabewegungen. Er sieht überall nur noch „low intensity conflicts“, die jedoch für die davon betroffenen Staaten gefährlicher als reguläre Kriege seien.
An dieser Malaparteschen Differenz – zwischen den Staaten und ihren Herausforderern – hakt auch der Berliner Politologe Herfried Münkler an – in einer Studie über die neuen „privatisierten Kriege“. Er meint darin, daß der Bürgerkrieg nunmehr die Fortsetzung der Ökonomie mit anderen Mitteln ist. Van Creveld begreift den Krieg dagegen eher als Fortsetzung des Sports. Konkret könnte er dabei an die jüngste Verwandlung des Fanclubs von Roter Stern Belgrad in eine Tschetnik-Einheit gedacht haben. Direkt auf Malapartes Machtübernahme-„Analyse“ beruft sich ein französisches Autorenkollektiv, das sich mit der „Ökonomie in Bürgerkriegen“ befaßt hat, wobei Widerstandsbewegungen rund um den Globus analysiert wurden: Egal ob rechte oder linke – seit dem Ende des Kalten Krieges sind sie alle mehr oder weniger korrupt geworden und statt dem Volke zu dienen, wirtschaften sie nur noch in die eigene Tasche: Das ist der Tenor ihres gesamten Buches. Einige der Autoren arbeiten im französischen Verteidigungsministerium, andere in NGOs oder an Universitäten.
In Deutschland gibt es eine Theorie und Philosophie gebliebene Entfaltung des Partisanenkriegs – angefangen von Stein, Gneisenau, Clausewitz und Fichte, darüberhinaus jedoch vor allem eine lange Tradition der Vernichtung von Partisanen – als Verbrecher. Die Verfasser zweier berühmt gewordener Partisanen-Schriften – Ernst Jünger und Rolf Schroers – sahen ihren Widerstand nach dem verlorenen Krieg denn auch höchstens noch im „Privatpartisan“ – im einsamen „Wolf“ – aufgehoben, der sich u.a. gegen die Popkultur stemmt – als eine Art intellektueller Maschinenstürmer. In der westlichen Studentenbewegung orientierte man sich zunächst an existentialistischen Individualrevolten – wie die der Beatniks, dann an den siegreichen algerischen, kubanischen und vietnamesischen Partisanen-Konzepten. Einigkeit bestand außerdem darüber, daß die Linke sich stets gegen die da oben organisiert, während die Rechten eher nach unten treten. Neuerdings wird jedoch wieder der vergrübelte Einzelkämpfer favorisiert. Für Alexander Kluge ist die intellektuelle Tätigkeit schon fast automatisch Partisanentum und Paul Parin sowie Jacques Derrida sehen ihn heute in den Computer-Hackern verkörpert. Tatsächlich riefen neulich schon zwei große rotchinesische Hacker-Verbände landesweit dazu auf, den US-Imperialismus anzugreifen und in München trafen sich Vertreter aus Industrie, Politik und Militär, um Strategien gegen den „Cyberterrorismus“ zu diskutieren. In Jerusalem diskutierte jetzt der selbe Kreis das selbe Problem mit israelischen Experten. Dort wird inzwischen jedoch auch schon praktisch via Internet gekämpft. Die palästinensischen Hacker-Gruppen haben in ihrem Cyberwar, „E-Jihad“ genannt, bereits mehr als 80 Internet-Attentate durchgeführt, sie werden unterstützt vom „Pakistan Hackerz-Club“ sowie von Hackern im Libanon, in Ägypten, Großbritanien, Brasilien und den USA. Außerdem bahnt sich ein „ideologisches Zusammenrücken von Islamisten und Neonazis“ an, wobei letztere ihre „Cyber-Attentate“ ebenfalls forcieren wollen. Auf der anderen Seite gelang den israelischen Hackern jedoch ebenfalls schon die eine oder andere Attacke gegen Websites der Palästinenser. Hilfe bekommen sie vom „Institute for Counter-Terrorism“, das von den israelischen Geheimdiensten Mossad und Schabak geleitet wird. Und nun eben auch von offiziellen deutschen Stellen – die damit zwar ihren überwundenen Antisemitismus beweisen, aber nach wie vor ihre Tradition der Partisanen-Vernichtung unterstreichen.
Desungeachtet nehmen weltweit die Internet-unabhängigen Partisanen-Verbände zu und immer mehr Staaten geraten nicht nur von oben durch das internationale Kapital, sondern zusätzlich auch von unten infolge ihrer Bürgerkriege in die Krise. Für die o.e. französischen Kriegsökonomie-Forscher besteht das Beunruhigende vor allem darin, daß die heutigen Partisanenformationen, egal ob rechts, links, religiös oder ethnisch identifiziert, oftmals so lange kämpfen, bis alle wirtschaftlichen Mittel in ihren „befreiten Gebieten“ erschöpft sind, einschließlich der humanitären Hilfslieferungen. Und daß sie sich – nicht zuletzt über ihre Sympathisanten im Ausland – „in der Diaspora“ – zu multinationalen Banden-Geflechten, wenn nicht gar Konzernen, entwickeln – seitdem die Unterstützung ihrer Kämpfe aus dem Osten oder aus dem Westen weggefallen ist.
Zur Begründung ihrer Staatsgefährdung führt Martin van Creveld eine weitere Unterscheidung an: Auf der einen Seite die Irregulären, die wirklich kämpfen wollen – bis zum Tod, und auf der anderen Seite die regulären Soldaten, die zunehmend weniger motiviert sind: „Entweder ist man stark oder man hat das Recht, beides geht nicht,“ meint er. Diese Unterscheidung kann man noch einmal bei den Befreiungsbewegungen selbst treffen. Der Frankfurter Widerstandsforscher Hans Grünberger sagt deswegen „Der Partisan ist eine Kippfigur“: Scheitert der Aufstand – wird er zum Kriminellen, gelingt der Aufstand wird er Offizier oder Staatsbeamter. Die Partisanen sind also nicht nur beweglich im Raum, sondern auch flüchtig in der Zeit. Die Psychologie attestiert ihnen gerne mangelnde Reife – bis hin zu Neurosen und Psychosen, während die Politikforschung ihren Hang zu Fanatismus und Despotismus herausstreicht. Der Psychoanalytiker Paul Parin entdeckte 1945 in Jugoslawien sogar eine regelrechte „Partisanenkrankheit“. Sie besteht kurz gesagt darin, nicht mehr mit dem Kämpfen aufhören zu können. Und ist somit das genaue Gegenteil von einer „Kriegsneurose“, mit der Soldaten sich vor weiteren Fronteinsätzen schützen.
„Es ist eine schwierige Klientel,“ so charakterisierte gerade ein kolumbianischer Rechtsanwalt die Partisanen. Die deutsche Terroristin Inge Viett äußerte sich in ihrer Biographie ganz ähnlich – über einige ihrer ehemaligen männlichen Mitkämpfer. In einer Diskussion bestritt sie neulich jedoch, daß es so etwas wie rechte Partisanen überhaupt geben könne: Weil das Partisanentum die Form einer Volkserhebung ist – während die Rechte diese genau (technisch) verhindern will. Exakt andersherum argumentieren dagegen der Widerstandsforscher und Mitbegründer der Künstlersozialkasse Rolf Schroers sowie der faschistische Staatstheoretiker Carl Schmitt: Für sie kämpfen Partisanen immer und überall für die Wiederherstellung eines alten Rechts- und Autonomie-Raumes, wohingegen alle die, die für etwas noch nie Dagewesenes Partei ergreifen, bloß Revolutionäre sind. So gesehen wären die beiden US-Terroristen wenn schon nicht die letzten so doch echte Partisanen. Für uns deuten sie damit eher, auch ohne es zu wollen, auf echten sozialen Sprengstoff hin, d.h. auf einen fortschreitenden Zerfall von Gesellschaft.
(****) Wer Johlers „Science-Thriller“ partout nicht lesen will, der entnimmt das Nötigste wahrscheinlich der Schweinepresse des Springerstiefelkonzerns – z.B. der BZ vom 11.8.2010: Da geht es auf Seite 11 um einen neuen, zwölf Tonnen schweren „Tomographen“, den die Hirnforscher der Charité sich gerade für 4 Millionen Euro (vom Bund!) anschafften. Auf zwei großen Fotos vom Innern des menschlichen Gehirns wird mit einem roten Punkt die erhöhte Aktivität eines bestimmten Gehirn-Areals angezeigt, der als Steuerungszentrale der „Eß-Sucht“ (Bulimie) gedeutet wird. Im Text da drunter erklärt der Hirnforscher, er heißt John-Dylan Haynes, dass sie damit „sozusagen Gedanken lesen können“. Z.B. „welche Pläne Probanden schmiedeten, welches Auto sie kaufen wollten. Medizinisch wegweisend ist der Einsatz der Geräte für die Erforschung psychiatrischer Leiden – Süchte, Depression, Alzheimer.“
(*****) Den Brief zum Brandanschlag auf den im Bau befindlichen Hühneraufzuchtbetrieb in Sprötze, den die taz bekam und aus dem oben zitiert wurde, stufte der Polizeisprecher Jan Krüger von der „Soko Broiler“ nicht als Bekennerschreiben ein, sondern nur als eine „Sympathiebekundung“: „Darin wird kein Täterwissen deutlich.“ Es werde weiterhin in alle Richtungen ermittelt.
(******) 1995: „Bye, bye Ronstein“ – zusammen mit Olaf-Axel Burow
2001: „Gottes Gehirn“ – ebenfalls mit Olaf-Axel Burow
2004: „Das falsche Rot der Rose“ – zusammen mit Christian Stahl.
(*******) Um die „Falschheit“ von Beziehungen geht es auch in dem Regionalkrimi der Münchner Journalistin Christa von Bernuth: „Die Stimmen“ (sic). Die Handlung spielt im wesentlichen in einem Elite-Internat. Es gibt viele Regionalkrimis, die in einem Internat spielen (auch eine Art von Dorf), sowie auf Klassenfahrten von Schülern und auf Klassentreffen (temporäre Dörfer, wenn man so will). Seit ein paar Jahren wird in diesen Romanen auch gerne das relativ neue Phänomen des Amoklaufs von Schülern abgehandelt. Christa von Bernuth hat bereits mehrere „Beziehungsthriller“ geschrieben, wie die Frauenzeitschrift „Brigitte“ ihre Romane nennt, in denen sie „die Tiefen der menschlichen Seele auslotete“. In ihrem Krimi „Die Stimmen“ geht es um einen Serienmörder. Er hinterläßt seiner Schulkameradin und Freundin einen Brief, in dem es heißt:
„Ich weiß, Berit, was du jetzt denkst. Du glaubst, ich hätte das eben nicht tun müssen. Du glaubst, jeder hat sein Leben in der Hand, jeder kann sein Schicksal in seinem Sinne beeinflussen. Aber das ist ein Irrtumm. Dein Wille ist nichts wert, deine Vernunft eine Illusion. Du, ich, wir alle sind von Gefühlen getrieben, deren Herkunft wir nicht kennen, und deren Geheimnisse wir nicht durchschauen…Wir haben keine Macht. Wir sind Marionetten, nur dazu da, unser spezielles Lebensskript zu erfüllen.“
Berit las den Brief und legte ihn wieder zurück. „Ihr Freund ist ein Mörder. Und vielleicht ist er jetzt wieder dabei, jemanden zu töten. Morgen früh wird sie die Kriminalkommissarin anrufen. Sie wird den verraten, den sie liebt. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, dass in ihr etwas zerbrochen ist, und zwar unwiderruflich. Vor ein paar Wochen noch war ihr Leben belanglos, aber angenehm und sorglos. Jetzt ist es düster und verworren, und das Urvertrauen in Dinge und Menschen ist für immer verschwunden. Wir konnte er so zärtlich sein und dennoch all diese Dinge tun? Wenn das möglich ist, gibt es keine Sicherheiten mehr, nie und nirgendwo.“ Es ist das alte „Dr.Jekyll und Mr. Hyde“-Thema, das hier anklingt. Und das im Falle der „führenden Hirnforscher“ und ihrer Ermordung in Jens Johlers Krimi „Kritik der mörderischen Vernunft“ auf eine widersprüchliche Beschreibung – von außen und von innen – transformiert wird: Die Hirnforscher und Genetiker sehen sich als die guten Dr.Jekylls und ihre Kritiker begreifen diese Wissenschaftler als die bösen Mr.Hydes.
Der Wissenssoziologe Bruno Latour, kein Krimiautor, sieht als Möglichkeit, sie in gewisser Weise wieder in einer Person zu vereinigen, unsere aktive Teilnahme an ihren Forschungen, als „Betroffene“ (denn längst haben ihre Experimente das Labor verlassen und uns alle mit einbezogen). Deswegen müssen wir auch darauf drängen, so sagt er, „Mitforscher“ zu werden (mit „wir“ meint Latour auch die Affen, Katzen und anderen (Versuchs-)Tiere, denen er ebenfalls das Wort geben will). Genau das tun bereits die militanten Tierschützer, die gegen den Bau von immer schrecklicheren Mastanlagen und Schlachthöfen vorgehen. Mit diesem Vorschlag, der aus seiner „Akteur-Netzwerk-Theorie“ (ANT) resultiert, will Latour im übrigen nur die Theorie ihrer „Politischen Ökologie“ auf die Höhe ihrer Praxis bringen. Sein Vorhaben ist erheblich komplexer als die aus Johlers Kritik der mörderischen Vernunft sich für ihn ergebenden Forderungen, wie er sie oben im Interview mit dem Krimiforum „kaliber38“ erhob.
Hier drunter haben wir Leons Goldhamster beerdigt. Willi will ihm demnächst noch ein Holzkreuz schnitzen.
Und es geht weiter:
Auf der neuen Ausgabe von „Tip“ (Westberlin) posiert die Autorin Karen Duve mit ihrem Huhn Rudi, im Innenteil ist dann von ihrem neuen Buch die Rede und im neuen „Freitag“ (Ostberlin) wird sie zu ihrem neuen Buch „Anständig essen“ interviewt. Auf der Doppelseite geht es ferner um Foers Buch „Tiere essen“ und zwei weitere Bücher über Ernährung. Vorneweg ist natürlich von dem Dioxin-in-Tierfutter-Skandal die Rede.
Das kann heiter werden. Jetzt kann es sich nur noch um Stunden handeln, bis die taz mit einer Doppelseite nachzieht.