vonHelmut Höge 06.02.2011

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Brennende Poller in Kairo.

Der Kairo-Virus, auch Kairo-Infekt genannt, ist eigentlich ein Tunis-Effekt, der seinerseits ein großes Tunix-Déjavu ist – im „Herbst der Potentaten“. Die hiesige Handy-Generation betont dabei gerne die Wichtigkeit des Internets, ferner SMS, Twitter, Facebook… Andere, dass die Studenten wieder mal den Anfang machten. Wieder andere, dass die Armen, die Massen, aber den Ausschlag gaben. Die Ansteckung breitete sich auf alle Fälle aus – über das Land hinaus: nach Jemen, Jordanien, und im Maghreb von Tunis nach Algerien…Manche Araber waren sogar schneller als der Kairo-Virus. Der Spiegel meldete: „Ein Aufruf der syrischen Opposition zu einem ‚Tag des Zorns‘ hat zunächst keine Resonanz gefunden. In der Nähe des Parlamentsgebäudes in der Hauptstadt Damaskus waren am Freitag Nachmittag statt Demonstranten nur kleine Gruppen von Sicherheitskräften in Zivil zu sehen.“

Dafür gelangte der Virus innerhalb von neun Tagen bis nach Berlin, wo aus Protest gegen die Räumung eines besetzten Hauses überraschenderweise mehrere tausend Linke demonstrierten, wobei die Karl-Marx-Allee erheblich entglast wurde. Am nächsten Tag traf man sich vor der Ägyptischen Botschaft! „Ägyptische AktivistInnen bitten uns um unsere Solidarität angesichts der Brutalität des Staates und seiner Polizei- und Geheimdienstkräfte gegenüber den Demonstranten in Kairo,“ hieß es dazu. Dem Aufruf folgten ebenfalls mehr Leute als erwartet. Am darauffolgenden Freitag fand erneut eine Demonstration statt sowie eine Veranstaltung im Mehringhof über die Vorgänge im Maghreb (Tunesien und Algerien). Und für den darauffolgenden Tag wurde ein weiteres Mal zu einer Solidaritäts-Demonstration mit den Aufständischen in Kairo  aufgerufen. Derweil kam es auch in Wien zu einer Solidaritäts-Demonstration mit den Ägyptern und aus der Türkei wurde gemeldet: „Mehrere tausend Menschen haben in Istanbul nach dem Freitagsgebet bei einer islamistischen Demonstration den Rücktritt Mubaraks gefordert. ‚Ein Gruß aus Istanbul an den Widerstand in Ägypten‘, rief die Menge in Sprechchören. Aus anderen Städten der Türkei wurden ähnliche Kundgebungen gemeldet.“ Der in Marburg lehrende Arabist Atef Botros versicherte in der Frankfurter Allgemeinen am Sonntag, dass all diese Solidaritätsbekundungen und Politiker-Statements von den jungen Leuten auf dem Tahrir-Platz aufmerksam registriert werden – per Facebook. Auch die von Intellektuellen (so warnte z.B. Günter Grass am Sonntag in Hamburg den „Westen vor Überheblichkeit“)

Deutscher Dichter auf Poller.

Englische Dichterin auf Poller.

Schweizer Dichter am Poller.


Nicht alle sind hierzulande erpicht auf Demos, aber auch sie ließen sich in den letzten Tagen vom Kairo-Virus infizieren – indem sie u.a. beschlossen, ihr Leben zu ändern, aus einem eingefahrenen Gleis heraus zu kommen. Sie strichen ihre Wohnung neu oder strolchten unruhig, aber aufmerksam durch ihr Viertel, was sie schon lange nicht mehr gemacht hatten. Andere schlugen mehrmals ihren alten Schulatlas auf, um zu kucken wo Kairo überhaupt liegt und was es da um Ägypten noch alles gibt.

In der taz bildete sich eine Kairo-Taskforce. Überhaupt schickten die Redaktionen und Sender jeden noch halbwegs munteren Mitarbeiter nach Kairo und in den Feuilletons begann man langsam auf die ägyptische Hauptstadt zu schimpfen – weil die Seitenbeschränkung wegen der arabischen Aufstände „ja noch ewig dauern kann“. Als die Kämpfe mit den Mubarak-Anhängern in Kairo zunahmen und immer mehr Journalisten verletzt und verhaftet wurden, überlegte man sich, die „Frontschweine“ wieder zurückzuziehen, war jedoch gerade darauf erpicht, darüber mehr zu wissen. Ein Gewissenskonflikt.

Lebende Poller in Kairo.


Bei den hiesigen Linken war das anders, schon googelte ein harter Kern nach günstigen Ägypten-Flügen (u.a. bei „flug.de“). Andere kauften sich sofort eine neue CD – mit arabischer Musik. In Kreuzberg fingen einige Frauen wie aus heiterem Himmel an, ihre Kleider zu reparieren. In einer Prenzlauer Berg Anarcho-Kneipe wurde gefeiert. In den Kneipen, die Ägyptern gehören oder in denen sie verkehren, lief ununterbrochen der Sender „Al Dschasira“, der ebenso ununterbrochen Neuigkeiten aus Kairo sendete. Alles sendete! Jeder so gut er konnte. Draußen wurde es merklich wärmer. Die ersten Vögel machten sich bemerkbar. Die theoretischsten aller Tiere, wie Hegel meinte, denn sie „schweben frei in der Luft, als ihrem Element; von der objektiven Schwere der Erde getrennt, erfüllen sie die Luft mit sich und äußern ihr Selbstgefühl im besonderen Element“, also singen. Wer sie sah und hörte, wußte augenblicklich, worauf es eigentlich ankommt: Wind unter die Flügel zu bekommen – dazu muß es einem leicht werden. Wer wüßte das nicht? Man vergißt es nur manchmal. Manche sogar für immer. Für sie kam der Aufstand in Kairo quasi wie gerufen. Er war ihr „Genius“ – Schutzengel, der sich noch einmal aufschwang.

„Gravitation nein Danke“

Die linksliberale brasilianische Zeitung „Globo“ interviewte ebenso wie die FAZ und die Berliner „Jungle World“ den in Kairo seit einer Woche mitdemonstrierenden deutsch-ägyptischen Politologen Hamed Abdel-Samad. Bei ihm war – ebenso bei einigen anderen Berliner Politologen – von der „Generation Facebook“ die Rede. Samad verglich den Kairoer Aufstand mit dem in der DDR 1989. Dazu wurde ein Foto von den  Leuten, die damals auf der Berliner Mauer tanzten, abgebildet. Aus Honduras und Bogota kam die noch vage Vermutung, dass der Virus „Kairo“ dahinkommen könnte, dass auch dort der Bürgerkrieg sich elaboriert – und den „Drogenkrieg“ überwindet. In Südamerika sei man sowieso schwer am Kämpfen, jeden Tag würden linke Aktivisten ermordet. In Mexiko herrsche praktisch Krieg.

Poller am Tag nach D-Day.

Bertolt Brecht meinte einmal: Im Grunde gäbe es nichts Neues mehr zu sagen, zu singen. In den altägyptischen Sklavenliedern sei bereits alles enthalten.

Aber es gibt immer wieder zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen: eine von unten und eine von oben. Von oben heißt es z.B.: Die Sorgen um die Lage in Ägypten und im Nahen Osten haben den Auftakt der Münchner Sicherheitskonferenz überlagert. Der NATO-Generalsekretär sieht bereits die ganze „Weltordnung in Gefahr“. „Die Unruhen kosten Ägypten täglich 230 Millionen Euro.“ Der ägyptische  Armee-Kommandeur Hassan al-Roweni sagte am Sonntag auf dem Tahrir-Platz in Kairo: „Wir wollen, dass die Leute wieder zur Arbeit gehen und wieder Geld verdienen, und dass das Leben zur Normalität zurückkehrt“. Die Agentur Reuters fügte hinzu: „Doch viele Demonstranten harrten aus. Gepeinigt von Armut, Repression und Korruption ist das ’normale Leben‘ für sie keine Option mehr. Die junge Bevölkerung Ägyptens hatte zuletzt bei in- und ausländischen Investoren Hoffnungen genährt, die Wirtschaft des Landes stehe vor einem kräftigem Wachstum.“

Und während hier der Bundesverteidigungsminister „ein stärkeres Engagement Europas in Ägypten“ fordert, lehnt der Außenminister jede „Einmischung in den ägyptischen Reformprozess“ ab . Die US-Außenministerin Hillary Clinton warnte hingegen auf der Münchner Sicherheitskonferenz, es bestehe die Gefahr, dass der Übergang „chaotisch“ verlaufe. „Andere Big-Shots, wie Berlusconi, machen sich derweil noch „für Mubarak stark“, während die USA „an Einfluss auf Kairo verlieren,“ wie das „Handelsblatt“ meldet. Die „New York Times“ berichtete, dass „die US-Regierung sowie hohe ägyptische Politiker und Militärvertreter überlegten, Mubarak einen ‚verlängerten‘ Aufenthalt zur ärztlichen Behandlung in Deutschland vorzuschlagen – um so den Übergang in seiner Heimat organisieren zu können.“ Der US-Sonderbeauftragte für Ägypten, Frank Wisner, ist jedoch dagegen: „Der Präsident muss im Amt bleiben, um den Wandel zu steuern.“ Das Nachrichtenmagazin „Der  Spiegel“ weist daraufhin: „Der Markt sorgt sich, dass sich die politischen Unruhen in Ägypten auf die Ölversorgung auswirken könnten. Der Ölpreis verharrt auf hohem Niveau.“ „Aljazeera“ veröffentlicht einen Aufruf aus Kairo – an alle Aufstandsbeobachter: „We don’t ask for much, just broadcast what is happening.“ Die Kairo-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung bezeichnet die Demonstranten als „Mop“ – der plündert, mordet und Häuser anzündet. Die Stadt versinke in Chaos, Gewalt und Anarchie. Der teilnehmende deutsch-ägyptische Beobachter erklärt einem Redakteur am Telefon, wer oder was diese „mobile people“ in „Wirklichkeit“ sind: „Die Räuberbanden, die jetzt überall unterwegs sind“, die aus den „Gefängnissen freigelassenen Verbrecher“ …“Das ist alles systematisch angeordnet worden, um die Bevölkerung Ägyptens mit sich selbst zu beschäftigen, so dass die Menschen nicht mehr auf die Straße gehen und Angst haben, ihre Häuser zu verlassen, weil diese sonst geplündert werden. Und damit der Westen denkt: Ach, unser Mann Mubarak ist der beste Garant für Stabilität, Ruhe und Ordnung, halten wir an ihm fest. Was hier in Ägypten seit Tagen geschieht – die Abschaltung von Internet und Facebook, von Telefonverbindungen, das Kappen der ausländischen Nachrichtensender -, das zeigt, dass Mubarak das, was er tat, tun wollte, ohne dass die Welt davon etwas mitbekommt, und dass nur seine Sicht der Ereignisse nach außen dringen sollte.“

Dichtergrab mit Pollern (work in progress).


Grabmal des unbekannten Fellachen mit Pollern (in Kairo)



Bei den Medizinern an der Humboldt-Universität will man bereits am 4. Februar herausbekommen haben, dass das sogenannte Glücks- und Liebeshormon Oxytocin bei den hiesigen Aufstandsbefürwortern in den letzten neun Tagen in erheblichen Mengen ausgeschüttet wurde, während es bei den Kairo-Verächtern eher zurückgegangen sei. Die Untersuchung war eilends an 112  Studenten vorgenommen worden.

Die Verwirrung zwischen der Geschichte von oben und einer von unten, ihre Umdrehung, kann auch Begriffe erfassen. Das passierte zuletzt mit dem Manifest der linken Pariser Gruppe „Tiqqun“: „Der kommende Aufstand“ und ihrem Pamphlet „Einführung in den Bürgerkrieg“. Die taz tat sie als rechte Elaborate ab, weil es darin um den Begriff  „Ausnahmezustand“ des Nazi-Staatsrechtlers Carl Schmitt gehe. Cord Riechelmann stellte daraufhin in der Jungle World richtig: Es handelt sich dabei um den von Walter Benjamin von oben nach unten entwendeten Begriff: „War für Schmitt der Ausnahmezustand allein auf den Staat bezogen, auf eben den Moment, in dem der Staat droht unterzugehen (und ihm deswegen alles erlaubt ist, um Ruhe und Ordnund aufrechtzuerhalten), ist er für Benjamin die Regel der Unterdrückten, nämlich rechtloses Ausgeliefertsein an die Willkür der Herrschenden. “

Im Ägyptischen Staatsfernsehen hieß es dazu: „Der seit 1981 in Ägypten geltende Ausnahmezustand soll bald beendet werden. Darauf einigten sich Vizepräsident Omar Suleiman und Vertreter der Opposition bei ihren ersten Gesprächen am Sonntag. Voraussetzung ist allerdings, dass die Sicherheitslage ein Ende des Ausnahmezustands erlaubt.“

„Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“ fragte sich der französische Philosoph Michel Foucault. Sein Freund und Kollege Gilles Deleuze hätte da eingestimmt, für ihn war die Revolution jedoch keine Geschichte, sondern ein „Werden – was die Historiker nie begreifen. Und dass sie – die Revolution – noch jedesmal übel endete, das weiß man doch! Schon die englischen Romantiker redeten über Cromwell genauso wie die heutigen Ex-Linken über Stalin.“ Das ändere jedoch nichts daran, dass die Unterdrückten und Unzufriedenen früher oder später den Aufstand wagen.

Kairoer Demonstrant mit Pylon. Photo: jiggle.de


Und ferner, dass der Untergang der Sowjetunion nur ein weiterer Sieg des Kommunismus ist, der ja im Kern aus der Überwindung aller Partikularismen und bornierten (Klassen-) Interessen besteht. Heiner Müller sagte es einmal – mit dem französischen Soziologen Jean Baudrillard – so: „Der Kommunismus ist jetzt ortlos. Er hat keinen Ort mehr, ist nicht mehr lokalisierbar, d.h. er ist ein Virus, wir wissen alle, wie gefährlich Viren sind. Und diesen Virus wird man nicht mehr los. Man wird die Fragen nicht mehr los, die der Kommunismus gestellt hat, oder die Marx gestellt hat.“

Die Gruppe „Tiqqun“ hat schon mal die Frage beantwortet, was das überhaupt ist – der Kommunismus?

„Kommunismus nenne ich die reale Bewegung, die überall und jederzeit den Bürgerkrieg zu zunehmend elaborierter Beschaffenheit vorantreibt,“ heißt es da. An anderer Stelle schreiben sie: „Ich spreche vom Bürgerkrieg, um ihn auf mich zu nehmen, um ihn in Richtung seiner erhabensten Erscheinungsweisen auf mich zu nehmen. Das heisst: meinem Geschmack entsprechend.“

Und dem entsprechend läßt man einstweilen hier auch den Kairo-Virus auf sich wirken.

Pylon aus der Luft schnappend. Photos: Peter Grosse


„Je später man uns entdeckt, desto stärker werden wir sein.“ (Tiqqun). Photo: Daenel.twoday.net

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2011/02/06/der_kairo-virus/

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kommentare

  • Das Trendgetränk der Handy-Generation ist „Red Bull“ (mit irgendwas Alkoholischem gemixt), denn Red Bull „verleiht Flühügel“ und veranstaltet sogar „Flugtage“. Ängstlich fragen blogger, twitter und simser in den entsprechenden „foren“:

    „Red Bull verleiht Flügel. Und da in Energy Drinks überall nahezu das gleiche Zeug drin ist, kann man sicher auch gut mit anderen Marken abheben. Nur was sagt unser Körper dazu? Fängt er irgendwann an zu streiken, wenn er täglich Koffein in Verbindung mit Taurin verarbeiten muss?“

    Die Antworten lauten meist: „Ja, aber…“

    Wahre Flügel und das ohn schädliche Nebenwirkungen verleiht indes nur der Aufstand, die Revolution:

    Wenn es z.B. heißt, von einem Beobachter der Französischen Revolution: „Die Revolution läßt die Herzen aufblühen“ oder wenn John Reed in seinem Buch über die Februarrevolution in St. Petersburg das Gespräch zweier demonstrierender alter Bauern wieder gibt, die plötzlich wieder jung sind und sich fühlen, als hätten sie Flügel. Oder wenn heute ein in Kairo demonstrierender Fellache von der SZ zitiert wird: „Diesen Augenblick habe ich mein ganzes Leben herbeigesehnt.“ Oder wenn die große jugoslawische Dichterin Desanka Maksimovic auf der ersten großen Versammlung der Studenten auf dem Hof der Zagreber Universität 1968 diesen riet: „Merkt euch diesen Augenblick gut, ihr werdet ein Leben lang an ihn zurückdenken.“

    So etwas gab es in der Studentenbewegung ebenfalls – massenhaft sogar. Nicht ohne Grund wurden die Studentenführer auch als „Highfligher“ bezeichnet.

  • Eine interessante Flug-These vertritt der Schriftsteller Leszek Libera aus Raziborc (Ratibor, Oberschlesien) in seinem neuen Roman „Der Utopek“:

    „Ich wunderte mich immer, dass aus den Menschen keine Vögel werden wollten…Die Frauen sangen das wehmütige polnische Lied ‚Gdybym to ja miala skrzydelka jak gaska, polecialabym za Jaskiem do
    Slaska‘, welches unter den meisten Deutschen bei uns gern gesungen, zumal es die Sehnsucht nach dem Vogelwerden ausspricht und auf das Vogelwerden waren die Deutschen immer erpicht.“

    Übersetzt ohne Reim heißt das Lied auf Deutsch: „Hätte ich doch Flügel wie ein Gänschen, flöge ich mit Jan nach Schlesien“

  • Der neue Schutzengel

    Über den Begriff der Geschichte These IX – von Walter Benjamin:

    Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.

    Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

    Ronald Voullié fiel in diesem Zusammenhang die Repetition Nietzsches ein: die Ewige Wiederkehr des Gleichen ist die Wiederholung der Möglichkeiten, die in der Vergangenheit nicht realisiert wurden, des „non-arrivé“, des „Ungeschehenen,“ sagt Freud.

  • Wenn es darum geht, Wind unter die Flügel zu bekommen, dann ist die Liebe natürlich auch nicht zu verachten. Bereits im russischen Bürgerkrieg hat die Bolschewikin Alexandra Kollontai sich darüber Gedanken gemacht. Sie sprach von einem „beflügelten Eros“ – und meinte damit eine durch die Frauenemanzipation veränderte Erotik, die von der „Persönlichkeit“ ausgeht, nicht mehr von Männer-Frauen-Bildern, und in „freien Beziehungen“ ausgelebt wird.

  • „Leute, die über Revolution reden, oder über Klassenkampf, ohne sich dabei explizit auf das alltägliche Leben zu beziehen, die nicht verstehen, was subversiv an der Liebe ist und was positiv ist an der Zurückweisung von Zwängen, solche Leute haben eine Leichnam in ihrem Mund.“
    (Raoul Vaneigem: „Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen“, 1967)

    In seinem 1917 in der Zeitschrift Neue Jugend erschienenen Essay „Der neue Mensch“ gibt der Dadaist Richard Huelsenbeck eine detailliertere Beschreibung von Reisekadern ohne Leichnam im Mund: „Der neue Mensch muß die Flügel seiner Seele weit ausspannen, seine inneren Ohren müssen gerichtet sein auf die kommenden Dinge und seine Knie müssen sich einen Altar erfinden, vor dem sie sich beugen können. Ahoi….“

  • Der Kairo-Virus arbeitet sich durch die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien:

    Im autoritär regierten Aserbaidschan verlangt die Opposition den Abriss eines Mubarak-Denkmals in einem Park der Hauptstadt Baku. „In einer Zeit, in der das ägyptische Volk einen Diktator loswerden will, stellen wir ein Denkmal für ihn auf“, kritisierte der Politiker Igbal Agasade von der Partei Hoffnung heute morgen.

  • Die Ortlosigkeit des Kommunismus hat – noch zu Sowjetzeiten – der Philosoph des Judentums Emanuel Lévinas – gepriesen:

    Nach dem geglückten sowjetischen Weltraumflug meinte er: “Mit Gagarin wurde endgültig das Privileg der Verwurzelung und des Exils beseitigt”.

    Seitdem gibt es keine “Heimat” mehr. Nach Auflösung der Sowjetunion gab einer der letzten MIR-Kosmonauten jedoch zu bedenken:

    “Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen.”

  • Zu dem deleuzianischen „Werden“ sei noch angemerkt:

    Es gehört “immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Es kommt durch Bündnisse zustande…Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrespondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren.

    Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‘zu scheinen’ noch ‘zu sein’.” Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt.

    Für Deleuze/Guattari “gibt es ebensoviele Geschlechter wie Terme in der Symbiose, ebensoviele Differenzen wie Elemente, die bei einem Ansteckungsprozeß mitwirken.” In diesem Zusammenhang betonen sie, dass es sich beim Werden immer um ein Plural handelt – also um Gruppen, Schwärme, Meuten, Banden… Und diese bilden sich eben durch Ansteckung.

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