vonHelmut Höge 23.08.2011

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Photo: zazzle.de

„Ihr nähert euch den Männern

lieber als den Frauen

um Eure Leidenschaften zu stillen.“

(Koran, Sure sieben, eine von vielen Übersetzungen)

Der „Kairo-Virus“ ist nicht erst seit diesem Jahr virulent. Berichte über Orientreisen – das ist seit dreihundert Jahren ein eigenes Genre, dem sich inzwischen ein weiteres zugesellt: feministische Doktorarbeiten über Berichte von orientreisenden Frauen.

„Der Orient fasziniert viele Frauen. Das Leben im Orient und Arabien ist stark von Sinnen und Sinnlichkeit geprägt,“ heißt es im Internet-Forum „Frauenreisen“. Von dieser Faszination leben inzwischen hunderte von Reiseveranstaltern in Europa und USA, die Frauenreisen in den Orient anbieten. Das Gros der Frauen aus dem Westen organisiert seine Reisen in den Orient allerdings selbst, d.h. fährt auf eigene Faust. Wobei z.B. die Amerikanerinnen zur Sicherheit stets einen Ehering tragen, auch wenn sie nicht verheiratet sind, und überdies auf ihre Rucksäcke und Jacken die kanadische Flagge genäht haben. Den alleinreisenden Japanerinnen genügt es dagegen zu behaupten, nirgendwo auf der Welt würden sie sich so sicher fühlen wie gerade in Arabien, weil hier alle Männer auf sie aufpassen. Diese können aber auch anders – falls gewünscht: Der „Sextourismus“ des reichen Okzidents in den armen Orient besteht vor allem aus homosexuellen Männern, die Marokko bereisen und heterosexuellen Frauen, die Tunesien, Marokko oder die Türkei buchen. Wobei es unter den letzteren sowohl eine zunehmende Freimütigkeit und -zügigkeit als auch ein Downgrading gibt, infolge des „Massentourismus“, der Billigflüge und der wachsenden Zahl alleinlebender älterer Frauen. (*)

Überdies gilt inzwischen: Nach dem Gottesglauben, dem Sozialismus, den kulturellen Entdeckungen und der Weltraumeroberung steht nun der „Körper“ im Zentrum aller Sehnsüchte. Der eigene und der fremde. Eine Redakteurin der Berliner Zeitung schrieb: Den Frauen bleibe gar nichts anderes übrig – als sich einen Afrikaner oder Araber zu suchen, denn nur für die seien diese Frauen, wozu sich die Autorin selbst zählt, noch attraktiv. Wikipedia weiß: An ihren Reiseorten „ist die Grenze schwer auszumachen zwischen sich prostituierenden Männern und solchen, die eine sexuelle Beziehung zu Urlauberinnen als eine Art ,Sport‘ ansehen, da Sex mit einheimischen Frauen und Mädchen außerhalb fester Beziehungen für sie oft kaum möglich ist. Zudem neigen Frauen eher als Männer dazu, ihre Urlaubsbeziehungen geheim zu halten oder sie nach außen als ,Beziehung‘ mit echten Gefühlen darzustellen. Auch suchen sie häufiger als Männer ,passende‘ Partner in Bezug auf das Alter und Aussehen. Die Bezahlung erfolgt in der Regel nicht so direkt wie bei männlichen Sextouristen üblich. Manchmal kaufen sie dem Partner ein Fahrzeug, verschaffen ihm ein Visum für Europa oder ermöglichen ihm mit Startkapital, ein Geschäft zu eröffnen“, wobei es für die Frauen teurer wird – wenn sie älter als der Mann sind oder behindert. In den islamischen Ländern, wo nur Heiratsbeziehungen zwischen Frauen und Männern erlaubt sind, gibt es für solche Beziehungen die Institution der „Zeitehe“ – für einige Tage oder sogar nur Stunden.

1964 unternimmt die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann eine Reise in den Orient – nach Ägypten. Sie sucht jedoch „nicht den Aufbruch zu neune Ufern in unbekannte Reiseräume, die von Europa möglichst unerschlossen sind, sondern in die von der Psyche unbesetzten Gebiete,“ schreibt der DAAD-Lektor Michael Fisch in seinem Marokko-Roman „Khamsa“. 1968 reist Hubert Fichte in den Orient – nach Marokko. Dort stößt ihn das koloniale Verhalten der Europäer auf: „Eine dünne Schicht von Strichern auf der ganzen Welt, durch den Tourismus entstanden, die den Schwulen und reichen Frauen eine Welt der erotischen Freeizügigkeit vortäuscht, die es weder in Rom, Stockholm noch in Marrakesch gibt.“ Fichte entwirft dort laut Fisch „ein Konzept für den erotischen Tourismus“. Dazu schreibt er: „Die Welle von miesen Strichern könnte Marokko erspart bleiben, wenn man Tourismus als etwas Erotisches auffassen würde.“

In vielen Internetforen werden inzwischen solche Orient-Probleme diskutiert: Die 48-jährige Gabi Renner z.B. ist leidenschaftliche Weltenbummlerin. Bereits vor 17 Jahren hatte sie ihre erste Ferienliebschaft: „Es ist in Asien oder Afrika viel einfacher, Männer kennen zu lernen, als etwa in einem Spanienurlaub“, sagt die Bernerin. „Als Frau habe ich die Wahl. Man wird so oft angesprochen: Da wählt man einfach den, der einem am besten gefällt“. Auf die Frage einer Frau „Ist Sex mit Arabern anders als mit Deutschen?“ lautet die Antwort in den Foren meist pragmatisch-amerikanisch: „Probier es aus!“ Wenn es jedoch um mehr als Sex geht, kommen jede Menge „schlechte Erfahrungen“ zur Sprache – so schreibt z.B. „Tanja38“ im Forum „holidaycheck.de“: „Man kann leicht betrogen werden. Die meisten merken den Betrug erst, wenn sie schon tief in dem Mist drinstecken. Und dann wird es richtig gefährlich! Hast Du schon mal einen wütenden Araber gesehen? Bei vielen geht es ja erst richtig los, wenn sie schon verheiraten sind. Und dann? … Selbst wenn die Frau alle Papiere und Urkunden hat, im Grundbuch vom Haus eingetragen ist, welches sie selber gekauft und bezahlt hat, bekommt sie vor keinem arabischen Gericht recht. Dort ist bis heute noch nie eine Frau zu ihrem Recht gekommen! Und das ist etwas, was man wissen muss… Also, Mädels, tut mir einen Gefallen und denkt nicht, die Frauen seien doch alle blauäugig und selber Schuld gewesen! Ihr geht von europäischen Maßstäben aus. Ihr habt aber keine Ahnung, wie das abläuft und was da alles passieren kann.“

Auf „Europas größter Plattform im Kampf gegen Bezness“ werden die Details von hunderten solcher Geschichten, in denen aus der Liebe zu einem Araber ein Alptraum wurde, veröffentlicht. „Bezness“ (zusammgensetzt aus Beziehung und Business) „steht in vielen, hauptsächlich orientalischen Urlaubsländern für das brutale Geschäft mit den Gefühlen und dem Vertrauen europäischer Frauen“. Aus einer der bisher 228 Leidensgeschichten sei hier zitiert: „Eine Ehekrise veranlaßt Sabrina eine Last Minute Reise nach Tunesien zu buchen. An der Rezeption ihres Hotels trifft sie auf einen schönen jungen Mann, der ihr ganzes Leben verändert. Zwei Wochen lang geniesst sie seine Gesellschaft…Wieder zu Hause trennt sie sich endgültig von ihrem Ehemann und fährt abermals nach Tunesien, um dort zunächst ein paar Monate zu leben. Sie erlebt den Himmel auf Erden und schon ein Jahr später hängt sie ihren Beruf als Chefredakteurin im Verlag ihres Mannes und damit ihre sichere Existenz an den Nagel und zieht mit Sack und Pack nach Tunesien, um ihre große Liebe zu heiraten. Sie bringt fast ihr ganzes Vermögen in dieses Land und verwirklicht ihre Träume vom weißen Haus am Meer. Weil sie ihren Beruf dort nicht ausüben kann, baut sie zusätzlich eine Ferienwohnung, die sie an Touristen vermietet. Sie erlebt die orientalische Welt pur, versucht mit der islamischen Kultur klarzukommen und fühlt sich in kürzester Zeit in diesem fremden Land zuhause. Dass sie ständig unter Beobachtung steht, keinen Schritt ohne ihren Mann oder einen seiner männlichen Verwandten tun kann, empfindet sie zunächst als angenehm, fühlt sie sich doch in dieser fremden Welt ,beschützt‘. Erst als sie anfängt, Kontakt zu anderen deutschen Frauen aufzunehmen, stößt sie auf massiven Widerstand. Ihr Mann zeigt sich nun von seiner wahren Seite. Er versucht, sie einzusperren, schlägt sie und verbietet ihr jeglichen Kontakt zu anderen Menschen…Weil Sabrina sich ihm verweigert, wird er nun zu einem Tyrannen…Zuletzt verlässt sie völlig mittellos, gedemütigt und traumatisiert das Land und beginnt ihre Erlebnisse aufzuarbeiten, in dem sie ein Buch darüber schreibt: ,Sand in der Seele‘.“ (Auf „1001geschichte.de“ werden noch weitere Bücher zum Thema „Bezness“ beworben. Daneben gibt es noch im Heyne-Verlag die Reihe „FrauenReiseBerichte“ und bei Promedia die „Edition Frauenfahrten“.)

Seitdem auch die russischen Frauen massenhaft in den Badeorten Ägyptens, Tunesiens und der Türkei Urlaub machen und sich dort einen Eingeborenen als Liebhaber nehmen, nutzen sie das soziale Netzwerk, um sich ebenfalls über deren Qualitäten, aber vor allem über deren Moralmängel (Geldgier, Brutalität, Lügen, islamische Verachtung der Ungläubigen, heimlich verheiratet, allzu eifersüchtig etc.) auszutauschen. Während die Männer in ihren „Schwarzen Listen“ – z.B. auf „dezy-house.ru“ und „kunstkamera.net – namentlich genannt und abgebildet werden, bleiben die korrespondierenden Frauen anonym. Es ist ein ethnologischer Schwesternservice, er soll sie nicht – wie die vielen ähnlichen Internetforen und -plattformen auf Deutsch – davon abhalten, sich mit den orientalischen „Beach-Boys“ einzulassen, sondern dazu beitragen, ihnen als russische Frau gewachsen zu sein, d.h. eben nicht das kurze Vergnügen unter ihnen mit einem „gebrochenen Herzen“ und einem leeren Konto zu bezahlen, wie es hunderten deutschen Frauen passiert ist, für die diese Internetforen damit so etwas wie Klagemauern sind.

Die Orientreisen von Frauen aus dem Westen interessieren die hiesige Öffentlichkeit bereits seit den Pilgerinnenreisen nach Jerusalem und dem Ägyptenfeldzug Napoleons, dem ein organisierter Ägypten-Tourismus auf den Fuß folgte. Schon bald gab es regelrechte „Orient-Knigge“. Bei den orientreisenden Frauen handelte sich anfänglich oft um Aristokratinnen und fast immer um privilegierte Frauen, die aus der Enge des für sie vorgesehenen Lebensplanes als Ehefrau und Mutter ausbrechen wollten, auch wenn dies dann nur dazu führte, dass sie schließlich einen reichen Orientalen heirateten. Damals galt der „Harem“ im Westen noch als eine positive Errungenschaft, die den Frauen Gemeinschaft und Schutz bot, erst später geriet diese Einrichtung der Vielweiberei im Zuge der Frauenemanzipation in die Kritik. Noch später holte Hagenbeck in seinen Völkerschauen die typischen arabischen Szenen nach Hamburg und Berlin – mit Original-Beduinen. Für 50 Pfennig bekam man dort „Einblicke in den Harem“ (sieh dazu Annette Deeken und Monika Bösel: „An den süßen Wassern Asiens. Frauenreisen in den Orient“.)

Unter den weiblichen Orientreisenden wurde insbesondere die um 1900 zum Islam übergetretene Russin Isabelle Eberhard mit ihrem Reiseberichten „Sandmeere“ berühmt. Nach einigen „Affären“ mit Algeriern heiratete sie einen Beduinen. Ihre „offenen Bekenntnisse zu ihrer Promiskuität wurden aus ihren Tagebüchern und den posthum veröffentlichten Erzählungen getilgt,“ schreibt Barbara Hodgson über die im Alter von 27 Jahren gestorbene Schriftstellerin, die in orientalischen Männergewändern durch Arabien reiste: „Im korrekten Kleid eines jungen europäischen Mädchens hätte ich nie etwas gesehen, die Welt wäre mir verschlossen geblieben, denn das Außenleben scheint für den Mann und nicht für die Frau gemacht zu sein,“ schreibt sie, die man als eine emanzipierte Antifeministin bezeichnen könnte.

Neuerdings haben sich gleich mehrere Wissenschaftlerinnen auf die arabophilen Frauen in Vergangenheit und Gegenwart gestürzt. Jüngst erschien: „Der Orient der Frauen: Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen im frühen 19. Jahrhundert“ – von Ulrike Stamm. „Unter Rückgriff auf feministische und postkoloniale Theorieansätze fragt die Autorin in ihrer Habilitationsschrift nach Legitimationsstrategien weiblichen Reisens und Schreibens und analysiert die Selbstdarstellung der Orientreisenden Frauen im Spannungsfeld von Heroismus und Sentimentalität.“ Zuvor war bereits die englische Studie von Barbara Hodgson „Die Wüste atmet Freiheit – Reisende Frauen im Orient 1717 bis 1930“ auf Deutsch veröffentlicht worden. Dabei handelt es sich um Montagen aus Tagebuchnotizen, Briefe und Fotos: „immer exotisch, manchmal erotisch“ – laut Verlagswerbung. Die Autorin ist in der Tat vor allem an der „Rebellion“ ihrer Heldinnen – „gegen Sitte und Anstand“ interessiert. In beiden Büchern werden die Berichte von rund einem Dutzend reiseschriftstellernder Frauen thematisch geordnet: Touristisches, Religiöses und archäologisches Interesse oder Gesundheitsgründe/Reiselogistik/ Reisekleidung/ Verhältnis zu einheimischen Dienern/ Führern/Dolmetschern/Begleitern/ „Liebe und Freundschaft“ etc..

Demgegenüber stehen die jeweils etwa 10 Porträts in dem Buch von Julia Keay: „Mehr Mut als Kleider im Gepäck – Frauen reisen im 19. Jahrhundert durch die Welt“ und von Edith Binderhofer in ihrem Interviewband: „Die Stunde Solomons – Europäische Frauen im Orient“. Dabei handelt es sich um noch lebende, die einen Orientalen geheiratet oder im Nahen Osten Arbeit gefunden haben, nicht selten, weil sie zuvor Arabistik studiert, also sich sozusagen gewissenhaft auf ihre Orientaufgaben vorbereitet hatten. Im Gegensatz etwa zu den Frauen, die in Europa z.B. einen Araber heirateten und ihm dann in sein Land folgten: „An mich selbst und daran, was ich in Marokko machen könnte, habe ich nie gedacht,“ sagt eine der Interviewten. Eine andere, die einem Iraner nach Teheran folgte: „Natürlich gibt es auch Dinge, die mich hier im Alltagsleben stören: Sobald ich zur Tür rausgehe, muß ich mir ein Kopftuch aufsetzen und einen Mantel anziehen…“ Aber: „…man hat als Ausländerin hier eine gewisse Narrenfreiheit“. Und dann verhalten sich die islamischen Männer seit ihrer Kolonisierung auch galanter gegenüber den europäischen Frauen als gegenüber „ihren“ einheimischen, wie man ihren Reiseberichten entnehmen kann. Aber bis heute werden die Frauen (vor allem die blonden) hierzulande noch gelegentlich davor gewarnt, auf einen Haremsschwindler reinzufallen. Und regelmäßig erscheinen Berichte europäischer Frauen, denen ihr orientalischer Ehemann die Kinder wegnahm und damit verschwand – was ihm nach islamischem Recht u.U. sogar erlaubt ist.

Die englische Dokumentaristin Julia Key schreibt im Vorwort ihres Buches über „sieben weibliche Reisende im 19.Jahrhundert: alle waren sie beseelt vom Drang nach Freiheit und vom Wunsch, den erstickenden Einschränkungen, denen Frauen ihrer Zeit in Europa unterworfen waren, zu entfliehen. Dafür nahmen sie Strapazen und Probleme auf sich, die heute kaum mehr vorstellbar sind. Aber: Sie alle erreichten ihr Ziel.“ Um solche Frauen geht es auch in den Essays: „Mit Kompass und Korsett – Reisende Entdeckerinnen“ von Bärbel Arenz. In ihrem Buch schildert sie die Erlebnisse von 16 weit- und weltgereisten Frauen, die zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert auf „Entdeckungsreise“ gingen.

Waren es am Anfang primär Kultur- und Natur-Ziele (die Wüste, die Pyramiden) von nicht selten reichen Adligen (die sich z.B. ein Gefolge von bis zu 30 Leuten für ihr Wohlbefinden unterwegs leisteten), so überwiegt heute die Beziehungssuche bzw. sexuelle Ziele – statistisch gesehen und im Internet. Auch die Ehen zwischen Frauen aus dem Westen und orientalischen Männern werden häufiger (mit der Zunahme von „Jobnomaden“) und seit dem „Arabischen Frühling“ (2011) ist selbst bei den jungen Frauen hierzulande ein gesteigertes Interesse an Arabern zu bemerken. So forderte z.B. eine Kolumnistin in der taz – nachdem die Menge auf dem Kairoer Tahrirplatz den Rücktritt von Mubarak erzwungen hatte – ihre Leser auf: „Losgehen und Ägypter küssen!“

Die Avantgarde der vom Orient nicht nur träumenden Frauen im Westen – zwischen 1717 und 1930 – setzte sich zusammen aus „240 Britinnen, 100 Amerikanerinnen, 58 Französinnen und 28 Frauen aus deutschsprachigen Ländern“, wie die kanadische Autorin Barbara Hodgson herausfand, die bereits mehrere Bücher über dieses Thema schrieb, sie schätzt: „Rund ein Drittel von ihnen hat Reiseberichte verfaßt“.

Kürzlich fuhr der Schriftsteller Navid Kermani recherchehalber nach Marokko. Am Strand dort traf er vier Männer, die es nicht mit „Bezness“ versuchten, sondern mit einem Schlauchboot, um damit aus Marokko und der Arbeitslosigkeit raus nach Spanien zu gelangen. Alle hatten es schon mehrmals versucht. Sie waren jedoch stets von der spanischen Polizei geschnappt und zurück nach Marokko geflogen worden. Dem in Deutschland lebenden persischen Orientalisten Kermani erzählten die vier: „Wir versuchen die Dinge realistisch zu sehen. Wir kennen das Risiko genau. Wenn wir ins Schlauchbott steigen, muß die Chance, daß wir durchkommen, groß genug sein im Verhältnis zu dem Risiko. ,Aber den Tod kalkuliert ihr schon ein?‘ frage ich. ,Gut, wir kalkulieren den Tod mit ein, aber der ist auch nicht schlimmer als das Leben hier.‘ Wir schweigen eine Weile.“ Schließlich meint einer der Männer grinsend: „Das sind eben ,amaliyyat istischhadiya‘, was wir tun, Selbstmordattentate. Die Europäer denken doch, dass alle Araber Selbstmordattentäter sind. Ja, sie haben recht, wir sind alle hier Selbstmordattentäter. Das Paradies, für das wir unser Leben lassen, heißt Schengen.“ Navid Kermani erzählte diese Geschichte in seiner Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Burgtheaters Wien, abschließend zitierte er noch eine marokkanische Umfrage, wonach 80% der Jugendlichen nach Europa wollen.

(*) Lieben die Menschen anders im modernen Kapitalismus? fragte Robert Misik die israelische Beziehungssoziologin Eva Illouz.

Illouz: Ein paar Empfindungen bleiben schon immer gleich – dass man Herzklopfen hat oder total verwirrt ist, wenn man mit jemanden zusammen ist, in den man sich verliebt hat, dass man kaum mehr schlafen kann oder nichts mehr essen will. Aber wie die Menschen ihr Leben rund um das Thema „Liebe“ organisieren, alle Institutionen, die damit in Zusammenhang stehen, das hat sich sehr verändert. Die sexuelle Freiheit hat viel verändert. In einer Gesellschaft, in der es als unmoralisch galt, viele Partner zu haben, gab es eine Kultur der Sublimierung. Heute leben wir eher in einer Ökonomie des Übermaßes, auch in der Liebe, und das verändert natürlich unser Empfinden von Liebe. Die Storys, die wir um die Liebe herum erzählen, haben sich fundamental verändert.

In Ihrem Buch, das Sie berühmt gemacht hat – „Der Konsum der Romantik“ – klang das aber noch deutlich optimistischer…

Illouz: Jetzt haben Sie mich erwischt. Ich habe meine Position verändert.

Inwiefern?

Illouz: Ich denke, man muss unterscheiden zwischen Konsumobjekten und Freiheit. Nun nimmt man im allgemeinen an, dass Konsumobjekte gefährlich sind für unsere Gefühle, die Freiheit aber sehr gut für unser Gefühlsleben, weil sie uns erlaubt, unsere „echten“ Wünsche zu realisieren. Ich glaube, das exakte Gegenteil ist der Fall.

Was die Frage nach den Konsumgütern betrifft, ist das ja noch keine große Differenz zu ihrer früheren Haltung: dass Waren unser Gefühlsleben nicht bedrohen, sondern der Konsum uns im Gegenteil erlaubt, unsere Sehnsüchte zum Ausdruck zu bringen…

Illouz: Ja, es gibt diese antimaterialistische Haltung, die glaubt, Objekte seien nur bedrohlich. Das sind sie nicht. Wenn wir eine rote Rose kaufen oder einen Wochenendtrip mit einem Geliebten oder einer Geliebten nach Paris oder Venedig buchen, dann konsumieren wir Waren, die mit „Romantik“ assoziiert sind, unser Leben aber bereichern. Dass Restaurants entstanden – also kommerzialisierte Orte – in denen man sich für Rendezvous verabreden kann, machte unser Liebesleben nicht ärmer, es erlaubte vielen Menschen im Gegenteil erst, sich privat zu begegnen. Also, dass es eine regelrechte Ökonomie des Romantischen gibt, hat die Emotionen nicht schlechter, schwächer oder instrumenteller gemacht.

Also, Konsumkritik ist Ihre Sache nicht?

Illouz: Diese Konsumobjekte hatten einen positiven Effekt auf Gleichberechtigung und sexuelle Freiheit und die Fülle an solchen Waren und kommerziellen Angeboten haben mehr Möglichkeiten geschaffen, romantische Momente zu erfahren. Also, daran ist nicht Schlechtes. Sie können auch helfen, die Mechanik des Genießens aufrecht zu halten. Klar, auch das kann sich entleeren nach einer gewissen Zeit, aber das ist noch kein Argument – ohne die Waren würde es sich wohl früher entleeren.

Selbst das Bild der „echten“ Liebe, das wir alle im Kopf haben, stammt nicht aus unserem Kopf, sondern ist oft kulturell erzeugt.

Illouz: Durch Filme, durch die Werbung, durch Literatur. Oft haben Liebende „ihren“ Song. Oder sie erinnern sich an einen bestimmten Moment in einer Bar, den sie gemeinsam erlebt haben. Aber schon dieser Moment war, in dem Augenblick, in dem sie ihn erlebten, eingefärbt von ihrem kulturellen Wissen, wie ein romantischer Moment in einer Bar aussehen muss.

Hier folgt ein romantisch-politisch eingefärbter Orient-Reisebericht aus dem Jahr 2006 – von Alexander Krohn. Er erschien zuerst in Kai Pohls Zeitschrift „Floppy Myriapodi“, die in diesem Fall eine Beilage der im Basisdruck-Verlag erscheinenden Zeitschrift „Gegner“ war:

Jericho

Um 7 Uhr verließen wir Amman, um Acht waren wir an der Grenze (Allenby-Brücke). Das Prozedere auf der israelischen Seite vollzog sich überraschend schnell – kaum Reisende, wenige Fragen, wohin und wieso: „Jerusalem… Tourismus“, logen wir ganz überzeugend; und schon hörte man die Stempel krachen. Ein Amerikaner, der angab, nach Ramallah zu wollen, durfte sich erstmal setzen – „Sie wissen, daß Sie das nicht dürfen …!?“ Vor dem Gebäude Frühstück. Statt ins Sammeltaxi nach Jerusalem stiegen wir in den 10-Schekel-Bus nach Jericho. Israelischer Checkpoint, Stacheldraht, Eintritt in die Westbank. Nach kurzer Fahrt ein zweiter Stop: Palästinensische Autonomiebehörde. Ein blaugekleideter Bulle sammelt alle Pässe ein, wir setzen uns auf die Bordsteinkante und warten.

Wir, das sind: Evi Haupt, Zentral- und Südostasien-Studentin, spricht 10 Sprachen, neben dem Üblichen Arabisch, Persisch, Burmesisch, Paschtu, Thai. Außerdem: Maddi Kraushaar, studierter Ökonom, genannt Der Neger, Betreiber eines Leipziger Journalisten-Büros – und ich. Jericho ist ein flaches und überschaubares Western-Kaff in einer der heißesten Regionen der Welt. Es leben hier 25.000 Einwohner, nach Ende des 6-Tage-Krieges 1967 flohen die meisten Flüchtlinge nach Jordanien. Es gibt ein Casino, das seit Beginn der Zweiten Intifada (2000) geschlossen ist, eine Privatklinik, eine Bullenstation und irgendwelche Sehenswürdigkeiten, z. B. ein Kloster, das in einen Berg gemeißelt wurde (fährt man aus Jericho raus, gibt es Berge). Die Israelis haben den Israelis 2000 verboten, Jericho zu betreten. Es gibt wenige Touristen. Jericho ist relativ verpennt. Wir fanden ein Hotel im Zentrum namens Hashem Palace, welches eine angenehme
Vorhalle mit mehreren Sesseln, Sofas und Ventilatoren hatte. Und ließen uns augenblicklich in diese fallen bzw. vom Luftstrom umnebeln. Unser Zimmer erwies sich mit einer Durchschnittstemperatur von 36 Grad als unbrauchbar. Als wir nachts einschliefen, hörten wir eine Schlägerei.

P.S.: Bevor wir einreisen durften, mußten wir durch ein Gerät laufen, das etwa 1m breit, 1m lang und 2 m hoch war. Innen wurden wir von den Füßen bis zum Kopf aus ca. 1 cm dicken Düsen mit kühler Luft oder Gas beblasen. Vorher sagte eine Stimme: PUSHING GAS, danach EXIT. Die in der Nähe stehende Grenzbeamtin konnte oder wollte einem nicht erklären, was das für eine Maschine ist. Es ist möglich, daß sie es selbst nicht wußte. Ein Spezialist für solche Fragen ist Olaf Arndt (1), welcher uns sagte, daß es eventuell ein Gerät war, das mittels Laser nach nicht-organischen Stoffen wie Drogen oder Sprengstoff sucht. Die ausgeblasene Luft diene lediglich der Kühlung der Strahlen. GEGNER-Redakteur Stefan Döring fand wiederum heraus, daß die ausgeblasene Luft erneut angesaugt und auf Sprengstoffpartikel hin untersucht wird.

(1) Siehe Olaf Arndt: „Demonen. Zur Mythologie der Inneren Sicherheit.“ Hamburg 2005.

Nablus

Am Morgen gingen Maddi und ich in eine Privatklinik und befragten einen Arzt, der als Dermatologe arbeitete. (Maddi schüttelte ihm zum Abschied die Hand!) Es gibt etwa 25 Dermatologen in der Westbank, also praktizierte er fast täglich in drei verschiedenen Städten: Jerusalem, Ramallah, Jericho. Da die EU nach der Hamas-Wahl 2006 die Zahlungen eingestellt hat, verarmen die Leute, denen es schon
schlecht genug ging, zunehmend. Medizin ist nicht knapp, aber wenn ein Arzt welche verschreibt, können die meisten Patienten es sich nicht leisten, die Rezepte in der Apotheke gegen Bares einzulösen. Wir haben auch wenig Geld. Das Ticket Frankfurt-Amman-Frankfurt ist abbezahlt und dann waren wir im Prinzip schon wieder pleite. Freundlicherweise hat die Köster/Hansen-Gruppe 300 Euro leihweise
vorgeschossen, ansonsten hat Maddi einen Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes mitgebracht. Deren Magazin will Fotos und ggf. einen Artikel über den Roten Halbmond in Palästina. Wir hoffen auf 1200 Euro und klappern jede Stätte ab, in der ein Weißkittel auszumachen ist. Mit einem Taxi fahren wir mittags nach Nablus. Kurz nachdem wir aus Jericho raus sind, kommt der erste Checkpoint. Wir stehen in einer Schlange von zehn Fahrzeugen, es geht also. Links überholt ein weißes UN-Fahrzeug. UN = Feine Pinkel in Fahrzeugen mit Vierradantrieb, bauen seit Beginn des Libanonkrieges 4 Wochen lang Scheiße und drängeln sich an den Checkpoints vor. Checkpoints gibt es zahlreiche, es ist müßig, sie zu zählen, da neben den fest installierten (die von einer Minute auf die andere geschlossen werden können) es auch kurzfristig wirksame gibt, die ihre Position regelmäßig verändern. An einem Checkpoint stehen israelische Soldaten bis an die
Zähne bewaffnet und kontrollieren Autos und Passagiere. Dabei lassen sie sich Zeit, in der Regel brütet man in der offenen Sonne. Es ist ratsam, genaustens auf die Befehle der Soldaten zu achten, wann anfahren, wann stoppen, wann aussteigen usw. – Nichtbeachtung, allein durch Unkenntnis des Hebräischen, kann fatal sein. Einfach aussteigen, weil man mal pissen muß, kann einen Schuß zur Folge haben. Neben den Checkpoints gibt es auch andere Straßensperren: Mauer, Zaun, Stacheldrahtrollen, 1 x 1 m große Betonwürfel (die sich immerhin in den Städten gewisser Beliebtheit erfreuen, da diese auch Israelis nicht mit Panzer oder Jeeps entern können), und das Perfideste: Schuttbarrieren. Die Straße wird vom Militär gesichert, ein Bulldozer (Firma Caterpillar) reißt die intakte Straße auf und schiebt Asphalt und irgendwelchen Sand zusammen, bis quer zur Fahrbahn ein 5m hoher Schutthaufen jeglichen Verkehr blockiert. All diese
Kontrollmethoden dienen offiziell der Terrorismus-Prophylaxe und der Erschwerung einer eventuellen Flucht. In Wirklichkeit dienen diese Maßnahmen dazu, Palästinenser zu demütigen und zu schikanieren, ihnen klarzumachen, wer der Herr ist, wer die Macht hat, wer machen kann, was er will, und wer nicht. Mitunter erlebt man auch, daß sich ein israelisches Kampffahrzeug mit 4 Personen quer auf die Straße
stellt und Fahrzeuge kontrolliert. Diese Form der Unterbrechung ist besonders unangenehm, da die Soldaten meistens gereizt und willkürlich vorgehen. Ein Soldat sitzt über dem Dach des Jeeps, das MG im Anschlag, die anderen legen auch gern mal an und zielen auf Araber mit Obsttüten zwischen den Beinen. Selbstverständlich, auch das könnte ein Terrorist sein. Der russische Künstler Alexander Brener sprühte mal an eine israelische Mauer: ISRAHELL. Jedenfalls kamen wir an mehreren eingezäunten jüdischen Siedlungen vorbei.

Unser Taxi fuhr riskant schnell. Die Taxen sind meist große, gelbe Mercedes-Limousinen mit zwei hinteren Sitzreihen und einer vorderen. Warum sie so beliebt sind, weiß ich nicht, sie sind schwer und klobig, haben einen scheiß Wenderadius und eine schlechte Kurvenlage, meines Erachtens nach sind sie für diese Gegend komplett untauglich, aber – vielleicht sind sie auch gar nicht so beliebt, das kann auch
sein. Siedler wiederum sind die Härtesten, sozusagen. Gerade hier, auf dieser Strecke (Jericho – Nablus) erschossen Siedler vor drei Tagen zwei Männer. Es ist Siedlern erlaubt, Waffen zu Verteidigungszwecken zu tragen. Auch wenn es friedfertige und harmlose geben mag, in der Regel findet man unter den Siedlern einen Haufen hochfanatischer, gewaltbereiter Fundamentalisten – rechtsradikale Juden, sozusagen.
Es gibt in der Westbank, also mitten in palästinensischem Gebiet, etwas mehr als 100 verschiedene Siedlungen. Sie gleichen Hochsicherheitstrakten, und viele dieser Siedler müssen so verbissen sein, so vernarrt in ihr VERDAMMTES HEILIGES LAND, DREIMAL VERFLUCHT SEI ES! DREIMAL VERFLUCHT SEIEN DIE DREI GROSSEN WELTRELIGIONEN!, daß sie gar nicht mehr wahrnehmen, daß eigentlich niemand, der bei Trost ist, in solch einen Knast freiwillig einziehen würde.

Eine Aktion des Künstlers Alexander Brener, der eine Zeitlang in Tel Aviv lebte, bestand darin, in Anspielung auf das sexuelle Gebaren der Alten, in einen Karton zu steigen und seinen jüdischen Pimmel durch ein Loch zu stecken. Es soll aber im Lärm der Straße untergegangen sein. (2) Vor Nablus passieren wir den Checkpoint Huwwara, benannt nach einem Dorf in der Nähe, das von vier israelischen Siedlungen umgeben ist – es stand zwei volle Jahre unter Ausgangssperre. Am Checkpoint Taschenkontrolle, aber keine dummen Fragen. Ein weiteres Taxi (man wechselt die Taxen und Kleinbusse jeweils vor und hinter den Checkpoints) fährt uns ins Stadtzentrum von Nablus. Vorbei an vollkommen zermatschten Polizei- und Verwaltungsgebäuden, die zwischen dem 19. und 22. Juli 2006 von Israelis gesprengt wurden. Im medialen Schatten des Libanonkrieges fallen solche Schweinereien nicht weiter auf. Unser Hotel ist spitze! Leider etwas teuer, ein Triple kostet 65 Dollar… Maddi fragt, ob sie auch ’ne Bude mit Balkon haben. Der Hotelfredi meint dienerhaft distinguiert, man hätte da lediglich noch die Suite … Maddi und ich tauschen lauernd Blicke aus: Könnte man sie sich ja mal ansehn, die S U I T E ! Und: Nehmen wir. Da wir eh pleite sind, ist auch egal, daß sie gleich 100 Dollar kostet. (Ich erwäge gedanklich, noch mal die Köster/Hansen-Gruppe anzuschreiben, aber Maddi meint, er zahle die eine Nacht einfach per Gräddit-Gadde! Die Suite hat 3 Räume, einen zum Rumhängen, zwei zum Schlafen und Fernsehn, außerdem ein paar Bäder und eine Dachterrasse. Als es dunkel wird, beginnt es ringsum zu knallen, Gewehrsalven und Einzelschüsse. Das Hotel Al Yasmeen befindet sich genau am Eingang zur Altstadt. Vor der Dämmerung sind wir dort nichtsahnend herumgelaufen und haben mehrmals junge (feindselig glotzende) Männer mit Kalaschnikows gesehen. Ein paar von ihnen saßen vor einer Art Zentrum, ein abgerissener, zerbombter Moschee-Eingang, die Typen paramilitärisch uniformiert, an den Seiten schwarze Transparente mit goldener Schrift: wir tippten auf Islamischer Jihad.

Später freunden wir uns im Hotel mit einem Angestellten an, sein Name ist Hamad und er erzählt uns ein bißchen was. Er selbst war noch nie in der Altstadt, nachts soll man nicht rausgehn. Die meisten Typen mit den
Knarren gehören zu den Al-Aksa-Brigaden, Hamas und Jihad halten sich eher im Hintergrund. Wir sollen seinen Namen nicht nennen, da er nicht erschossen werden will, aber von den Al-Aksa-Typen hält er nicht viel, sie behaupten zwar großspurig, sie gehören zur Resistance, aber warum, fragt er, warum sieht man sie nie, wenn die Israelis kommen? Immerhin kommen sie fast täglich (bzw. nächtlich) nach Nablus. Verhaften jemanden oder knallen ihn gleich ab. Nablus hat 130.000 Einwohner und bildet traditionell das Zentrum des Widerstands. Die Menschen sind religiöser und konservativer als z. B. in Ramallah oder Bethlehem. Nablus war einst das wirtschaftliche Zentrum der Westbank, nun ist es umzingelt von Militärstützpunkten, Siedlungen und Zäunen. Lediglich zwei durch Checkpoints gesicherte Zufahrtsstraßen regulieren die Ein- und Ausreise der Palästinenser seit Beginn der Zweiten Intifada. Die ehemalige Handelsstadt ist durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit an einem totalen Tiefpunkt angelangt, dementsprechend gereizt, zermürbt, gequält wirken einige Gesichter.

Die Altstadt mit ihren typisch arabischen Gängen und Gassen liegt in einem Tal, an den umschließenden Bergen (bis 800 m hoch) reihen sich über mehrere Kilometer Haus an Haus. Die hellsandigen Farben, die karge würfelförmige Bausubstanz und die ähnlichen
Größen der Häuser frönen einem beeindruckenden Architekturkommunismus, der einnehmend und abstoßend zugleich wirken kann. Die Lichter, die Hänge, die weite Sicht – die rohe Kargheit dieser steinigen Berge, all das mischt sich mit einer beklemmenden Atmosphäre aus Stille, Schüssen und Hundegebell. Gelegentlich hört man quietschende Reifen und aufheulende Motoren wie bei Verfolgungsjagden.
Wimmelte es um 18 Uhr noch auf den Straßen, sind um 20 Uhr die meisten Rolläden geschlossen, die Bürgersteige leer. Oben, am Hang, sollen sog. Ancient Jews leben, alte palästinensische Juden, die sich als Juden und Araber zugleich fühlen, mit niemandem Ärger haben und in ihrem Dorf (im Gegensatz zu Nablus, wo man nirgendwo offiziell Alkohol kaufen kann) Bier verkaufen. Wir beschließen, sie morgen mal unverbindlich aufzusuchen. Durstig, in Gedanken und Vorfreude an süffiges, selbstgebrautes Bier aus tönernen Krügen, schlafen wir, nachdem Hamad weg ist, ein.

(2) Diese Begebenheit wurde falsch kolportiert. Alexander Brener meinte später in Berlin, daß man durch die Löcher des Kartons lediglich Scham- und Achselhaar sehen konnte. Außerdem löste die Aktion großen Ärger aus und wurde schnell beendet.

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Da wir vorhaben, auf Grund der Preislage mittags sofort auszuchecken und nach Ramallah zu fahren, stehen wir um 7 auf, frühstücken und gehen um Acht zum Roten Kreuz. Dort interviewen wir eine für die Nord-Westbank hauptverantwortliche
Schweizerin namens Florence Anselmo und den Fieldassistent des Internationalen Roten Kreuzes Hussam Shakhshir. Beide machen einen zähen, ausdauernden, aber auch leicht angeschlagenen Eindruck. Sie scheinen versiert und, im Gegensatz zu unserem Gestammel, im Englischen eloquent. Ihre Arbeit erstreckt sich hauptsächlich auf die statistische Erfassung und Betreuung von Opfern durch Siedlerattacken. Beispiel: Ein arabischer Mann geht auf sein Feld, um zu arbeiten, Siedler versperren ihm den Weg, schlagen ihn zusammen oder tot. Fälle dieser Art gibt es wöchentlich. Außerdem organisieren sie Transporte zu israelischen Gefängnissen, damit Palästinenser ihre inhaftierten Angehörigen (ca. 10.000) besuchen können. Sie holen die entsprechenden Genehmigungen bei den israelischen Behörden ein usw.. Keine schöne Arbeit. Ansonsten bleiben sie dem Motto des Internationalen Roten Kreuzes (und auch Roten Halbmondes) treu und geben sich nach außen unpolitisch und unparteiisch. Was an sich unmöglich ist. Als wir eine Frage stellen, die eine Wertung erfordert, verweigern sie die Antwort.

Maddi fährt mit dem Mann zur Roten Halbmond-Filiale, fotografiert und befragt dort Mitarbeiter. Evi und ich treffen um 10 Uhr Hamad im Hotel, um mit ihm die Al-Najah-Universität zu besichtigen. Diese befindet sich 10min vom Zentrum an einem Hang und erinnert in ihrer Bauweise eher an ein iranisches Regierungsgebäude. Viel Stein, kein Grün, 95 Prozent der Frauen tragen Kopftücher. In ihrer Kleidung kann man sechs verschiedene Weisen unterscheiden: 1. Nicht klassifizierbare, aber Kopftuch tragende. 2. westlich gekleidete ohne Kopftuch, gelegentlich blonde Strähnen im Haar. 3. Frauen mit Kopftuch, ansonsten westlich gekleidet: Jeans etc. (mit anderen Worten: Frauen mit religiösem Bruder oder Vater). 4. Frauen mit dunklem (meist braunem) Kopftuch und hübschen, dezent bestickten, fußlangen schwarzen Kleidern. 5. Graue mantelartige Gewänder mit weißem Kopftuch (die Tauben-Variante, halten sich gern in Grüppchen auf). 6. und letztens: die scheinbar streng religiösen in dunklen, meist schwarzen Mänteln, die vorwiegend am Hamas-Stand anzutreffen sind. (Fatah und Hamas haben Informationsstände auf dem Hof aufgebaut.) Hamad meint, meine Aufzählung ergibt keinen Sinn, da sie keinen Sinn ergibt. Evi bestätigt das, indem sie daran erinnert, daß die Chefin vom Jericho-Hotel den einen Tag konservativ gekleidet kam, und tags drauf in einem orangenen Hippie-Gewand mit Lulle in der Hand erschien.

Im Dachgeschoß der Uni finden sich Vertretungen der PFLP, DFLP und Fatah – die Büros sind, bis auf das der Fatah, nicht besetzt, da das Semester offiziell erst in zwei Wochen beginnt. Das wesentlich größere Büro der Hamas liegt separat, da die Hamas bei der letzten Studentenwahl gewonnen hat. An den Wänden der politischen Büros hängen, wie auch in der Altstadt, dutzende Märtyrer-Plakate. Auf einem sieht man drei Angehörige der PFLP. Den mittleren beansprucht Hamad gekannt zu haben. Die beiden an der Seite verstarben in einem Haus, welches die Soldaten kurzerhand sprengten. Hamads Kumpel, dem es gelang, vorher zu entkommen, wurde mit 15 Schüssen in Kopf und Brust niedergestreckt. In Amman erzählte man mir, daß nach den drei Bombenattentaten im November 2005 viele behaupteten, einen Bekannten oder Verwandten dabei verloren zu haben – man muß also vorsichtig sein mit solchen Informationen. Wir kennen Hamad nicht lang genug, um seine Glaubwürdigkeit wenigstens grob einschätzen zu können. Einzig seine Verspanntheit, sein spürbares Abwägen und Zögern in dem, was er uns mitteilt und was nicht, sein Wille, die Kontrolle über seine Aussagen zu behalten, kurz: die Tatsache, daß er uns nur begrenzt traut – all dies spricht erstmal für ihn. (Er studiert irgendwas und ist Mitte 20.)

Gegen Mittag beschließen wir, noch einen Tag zu bleiben, schlafen eine Stunde und besuchen dann das Büro der PPP (Palestinian People‘s Party), welches zufällig in unserer Nachbarschaft liegt. Wir sprechen mit Herrn Abdalhati (oder so ähnlich), der in seiner olivgrünen Ganzkörpermontur wie ein kambodschanischer Dschungelkämpfer palästinensischer Abstammung erscheint. Er ist Mitglied des Politbüros seiner, ehemals prosowjetischen, aber wie er meint, stets unabhängigen, kommunistischen Partei und außerdem zuständig für internationale Angelegenheiten. Er spricht wie ein geschulter Redner in sicherem Englisch – nach zehn Minuten Monolog müssen wir uns das Lachen verkneifen. Sein einlullender Redestil erinnert an SED-Funktionäre. Obgleich: es ist ganz angenehm, sich diesem Schwall hinzugeben (wir sind beide übermüdet), sich in seinem Redestrom treiben zu lassen – wohin auch immer, ist man nach einer Weile geneigt, zu denken – dann reißt man sich abrupt heraus, man isja zum Arbeiten hier! Zwischenzeitlich versuchen wir, ein bißchen herumzusticheln, um die Sache aufzulockern, und zum Schluß wird der Mann auch zugänglich. Nachdem Evi später mühevoll seine Antworten abgetippt hat, und wir es noch mal lesen, stellen wir fest, daß er eigentlich recht vernünftige Ansichten an den Tag legte – und schämen uns ein bißchen.

Zum Abschluß klatschte er übrigens in die Hände und meinte: So – jetzt erzählt ihr doch mal, wie es um die linke Landschaft in Deutschland bestellt ist. Wir stotterten ein bißchen rum und ich erzählte, symbolisch sozusagen, die für die PDS der Neuen Mitte charakteristische Anekdote des Bush-Besuchs im Deutschen Bundestag. Ein Sprecher jeder Fraktion hatte eine Minute Zeit, um dem amerikanischen Präsidenten die Meinung zu sagen. Plötzlich hielten 2 oder 3 PDS-Abgeordnete ein Transparent hoch und schrieen kurz herum. Nachdem Ordner die Störer diskret entfernt hatten, nutzte der PDS-Sprecher seine Minute, um sich bei Bush für diesen Ausrutscher zu entschuldigen …

Abdalhadi schien sichtlich verstört und enttäuscht. Beinahe tat es mir leid und bereute ich es, ihm eine Illusion genommen zu haben, doch dachte dann: Da muß er durch, wir müssen es auch. Traurig murmelte er: Was ist das für eine Zeit? Wie kann es sein, daß sich ein deutscher Kommunist bei einem amerikanischen Präsidenten entschuldigt …? Er war 63 Jahre alt und trat mit 14 Jahren der Partei bei. Sein Büro wurde dreimal von israelischen Soldaten zerstört, Computer zerschlagen, Akten geklaut. 360 PPP-Mitglieder sitzen derzeit im Knast. In seiner müden, abgeklärten Art war er famoserweise auch noch eiskalter Optimist. Diese Kommunisten! Wir lieben sie! Sie sind die anthropologisch uns am nächsten stehende Spezies! Er meinte, es gäbe sowieso keine andere Alternative, man würde das schon irgendwann begreifen … Als wir gingen, fragte er noch, wo wir eigentlich wohnen. Im Hotel Yasmin, antworteten wir. Er runzelte die Stirn und meinte, das wäre doch zu teuer, wieviel wir denn zahlen müßten? 65 Dollar (Triple), logen wir schlechtgewissrig … Beim nächsten Mal, meinte er, sollen wir vorher Bescheid geben, die Kameraden würden Privatunterkünfte zur Verfügung stellen, kostenlos, versteht sich. LANG LEBE DER GENOSSE ASEM J. R. ABDALHADI!

Das Interview mit ihm wurde in Nablus von Eva-Maria Haupt und Alexander Krohn geführt. Asem Abdalhadi ist Mitglied des Politbüros der Palästinensischen Volkspartei (PPP) und Chef des Internationalen Departments der PPP. Er studierte in der 60er Jahren Ökonomie in Warschau. Die KPP (Kommunistische Partei Palästina) war die erste Partei in Palästina. Gegründet zu Beginn der 1920er Jahre, war sie niemals Teil eines freien Landes. Anfang der 1990er Jahre formierte sie sich um und heißt seitdem Palästinensische Volkspartei.

Können wir zunächst fragen, wie alt Sie sind und in welchem Alter Sie der Partei beigetreten sind?

Ich selbst bin 63 Jahre alt. Ich bin seit 49 Jahren in der Partei. Also bin ich wohl eines der ältesten Mitglieder, das immer noch arbeitet. Ehrenamtlich versteht sich, denn in unserer Partei zahlen wir keine Löhne. Ich wurde zum Mitglied des Politbüros gewählt und nehme Teil an allen Aktivitäten. Wir treffen uns offiziell einmal pro Woche im Hauptquartier in Ramallah. Aufgrund
der Erschwernisse, die durch die israelische Okkupation über uns gebracht worden sind, ist es aber oft unmöglich, für unsere Mitglieder, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Einige von ihnen werden von den Israelis gesucht.

Was denken Sie über den Zusammenbruch der sozialistischen Länder und was hat sich seitdem in Ihrer Partei verändert?

Ich als alter Kommunist glaube, daß wir durch diesen Zusammenbruch viel verloren haben, weil wir z. B. von der sowjetischen Politik inspiriert waren. Sie haben unseren Kampf um Unabhängigkeit unterstützt. Wir waren damals eine große
Partei. Allerdings waren wir sehr unabhängig und wurden niemals durch die Entscheidungen der Sowjets geleitet. Wir hatten immer unsere eigenen Pläne für die Entwicklung unserer nationalen Aufgabe. Heute haben wir Freunde in der internationalen Arena. Ich meine damit die kommunistischen, progressiven und linken Parteien. Da wir alle einen gemeinsamen Kampf führen, hoffe ich, daß wir in Zukunft eine breite Plattform bilden, um den Einflüssen der Amerikaner und deren Anschlägen gegen die armen Länder zu entkommen.

Welche Beziehungen haben Sie zu den anderen Parteien in Palästina? Zum Beispiel zur Hamas und der Fatah?

Wir unterscheiden uns in diesem Punkt von anderen Parteien. Wir selbst sagen, daß im Widerstand gegen die Okkupation alle Mittel legal sind, solange die Okkupation andauert. Das ist sicher. Aber innerhalb unserer Partei fühlen wir, daß der israelisch-palästinensische Konflikt nur durch direkte Verhandlungen mit den Israelis gelöst werden kann. Das heißt durch politische Mittel. Wir hoffen, daß die internationale Gemeinschaft eine bedeutende Rolle einnehmen wird, um die Israelis davon zu überzeugen, daß die Palästinenser einen eigenen Staat haben sollen. Wir haben dafür bereits die UN Resolutionen 242 und 338, die verdeutlichen, daß die Palästinenser das Recht auf einen eigenen Staat haben und die Okkupation unseres Landes illegal ist.

Wie stehen Sie zu Gruppierungen wie den Al-Aksa-Brigaden oder dem Islamischen Jihad?

Wir wenden keinen militärischen Widerstand gegen die Israelis an. Im letzten Jahrhundert waren die Kommunisten die ersten, die sich gegen die Briten, die Jordanier und die Israelis widersetzt haben. In dieser Zeit auch bewaffnet. Aber danach kamen wir zu der Schlußfolgerung, daß wir allein durch militärische Mittel unser Land nicht befreien können. Schon deshalb, weil am militärischen
Widerstand nur wenige Menschen teilnehmen. Militärische Mittel helfen vielleicht, aber der einzige Weg sind politische Verhandlungen.
In sozialen Angelegenheiten und bei Demonstrationen kooperieren wir aber mit anderen.

Welche Beziehungen hegen Sie zu anderen linken Parteien in Palästina, wie zum Beispiel der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas)?

Wir haben gute Beziehungen zu allen Parteien und treffen uns mit deren Mitgliedern. In Hinblick auf militante Gruppierungen können wir nur sagen: Wir respektieren sie und ihre Ansichten, aber all diese Aktionen schaffen nur neue Probleme für unser Volk. Wir zahlen einen sehr hohen Preis für diesen Widerstand. Im Moment ist es sehr schwer, Nablus zu verlassen oder zu betreten. Wenn man Demonstrationen oder Streiks organisiert, kann man einen gewissen Druck auf die Israelis ausüben. Das ist unsere Politik.

Ist das der Hauptunterschied zwischen Ihnen und der PFLP?

Sicherlich, aber wir unterscheiden uns auch in sozialen Belangen. Wir wollen eine sozialistische Gesellschaft in unserem Land aufbauen, in
der soziale Gerechtigkeit existiert. Deshalb sind wir sehr aktiv in den Handelsorganisationen und unterstützen Arbeiter, arme Bauern und
Arbeitslose. Das betrifft den gesellschaftlichen Kampf. Wir wollen keine kapitalistische Gesellschaft aufbauen, denn wir haben sehr gelitten
unter diesen Kapitalisten – den israelischen Besatzern, den USA und unter all den Gruppen, die nicht glauben, daß Palästinenser das gleiche
Recht haben wie alle anderen Menschen auf der Welt. Die Israelis konzentrieren sich derzeit auf den Widerstand in Palästina, ist Ihre Partei auch von Verhaftungen betroffen? Natürlich. Vor allem unsere jungen Kameraden sind im Gefängnis und zwar für viele Jahre. Wir haben keine Möglichkeiten, sie zu befreien. Mehr als 360 unserer jungen Mitglieder sind derzeit inhaftiert. Während der zweiten Intifada wurde unser Büro hier dreimal zerstört. Sie kommen in der Nacht, zerstören alle Türen und unsere Computer, aber unsere Akten bewahren wir
hier nicht mehr auf. Auch wenn wir nicht militärisch agieren, sind wir sozial sehr engagiert. Die Israelis schauen auf diese Form des Widerstandes sehr genau, denn das ist mehr, als wenn sie einen Militanten verhaften wollen. Wenn es uns gelingt, eine Demonstration zu organisieren, an der zwischen 10.000 und 50.000 Menschen teilnehmen, die von den Medien beachtet werden, dann ist das wichtig. Einen einzigen Militanten können sie als Terroristen bezeichnen, aber wenn mehr als 50.000 Menschen gegen Angriffe oder Massaker oder die Mauer der Israelis demonstrieren, können sie nicht sagen, daß diese 50.000 Demonstranten Terroristen sind.

Gibt es auch muslimische oder christliche Mitglieder in der PPP?

Ja, natürlich. Das ist nicht wie in der kommunistischen Zeit. Wir akzeptieren alle, egal was sie sind. Ob sie beten oder nicht, das interessiert uns nicht. Das wichtigste ist, daß sie von den Prinzipien unserer Partei überzeugt sind und dem palästinensischen Volk nützen wollen.

Arbeiten Sie mit israelischen Kommunisten zusammen?

Wir haben sehr gute Beziehungen zu der Israelischen Kommunistischen Partei. Manchmal organisieren wir Demonstrationen an der Grenze zwischen dem Westjordanland und Israel. Manchmal auch an den Grenzen von Jerusalem, denn wir betrachten Ostjerusalem als unsere
Hauptstadt. Natürlich mischen wir uns nicht gegenseitig in unsere Interna, aber wir haben gemeinsame Aktivitäten.

Gibt es Kontakte zu palästinensischen Anarchisten?

Nein, wir sind gegen solche Dinge. Wir sind gegen Anarchismus, denn das ist für die Zukunft einer Gesellschaft sehr gefährlich. Wir wollen, daß in unserer Gesellschaft eine Ordnung existiert. Die Zeit der Anarchie, welche die Israelis in unsere Gesellschaft gebracht haben, ist für uns schon schlimm genug. Wenn wir z. B. demonstrieren, zerstören wir nichts, keine Läden und gar nichts, denn es sind unsere Läden.
Gibt es für Sie, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, etwas an der Politik der ehemals sozialistischen Länder zu kritisieren?
Schauen Sie, wir glauben, daß die Zukunft denen gehört, die den Sozialismus annehmen. Da gibt es keinen Zweifel. Die Menschen haben
alle anderen Alternativen durchlebt. Keine von ihnen konnte Lösungen für die Probleme der Gesellschaft finden. Mit Ausnahme des Sozialismus. Ob Sie damit einverstanden sind oder nicht (lacht)! Das kapitalistische System wird niemals die Probleme der Menschen lösen. Vielleicht ist am Anfang der kapitalistischen Entwicklung alles wunderbar, aber danach leiden die Menschen. Zum Beispiel in Deutschland… wie war doch gleich der Name dieser neuen Dame?

Merkel, Angela.

Merkel. Ja. Von Willi Brandt bis Angela Merkel. Die Reformen, die angestrebt wurden, waren einfach nur „Reformpolitik“, aber dies ist
keine Politik, welche die wirklichen Bedürfnisse der armen Schichten der Bevölkerung bedient. Sie geben ihnen vielleicht ein paar Zuwendungen, aber den Großteil des Gewinns nutzen sie, um ihren eigenen Interessen zu genügen. Sie werden niemals in der Lage sein, eine progressive Gesellschaft aufzubauen. Das glauben wir zumindest hier in diesen Ländern. In Ordnung?
Ja, aber das hat nicht die Frage beantwortet.

Hören Sie. Während der sozialistischen Epoche in Europa habe ich in Polen studiert. Ich bin ein palästinensischer Kommunist. Mein Eindruck von der Situation in den sozialistischen Ländern war schlecht. Was sie in diesen Gesellschaften gemacht haben, war sehr weit entfernt von den sozialistischen Ideen. Das war die richtige Theorie mit den falschen Personen. Auch in den ehemals sozialistischen Ländern gibt es kommunistische und sozialistische Parteien. Aber sie benehmen sich nicht mehr wie in der Zeit vor 1990. Damals gab es ein großes Demokratiedefizit. Politische Opponenten wurden verhaftet. Es gab diesen Spirit des Stalinismus. Vielleicht war das damals akzeptabel, aber jetzt ist es das nicht mehr. Als Marxist muß man die Dinge in ihrer Veränderung verstehen. Sie können nicht sagen, daß das, was vor 100 Jahren gut war, heute noch funktioniert. Auch sozialistische Länder brauchen soziale Reformen. Denken Sie nur an die Bürokratie! Oder an die doppelte, dreifache und vierfache Besetzung von Arbeitsplätzen, nur damit es keine Arbeitslosen gibt. Ich habe das selbst gesehen. Wenn Sie ein Loch in einem Schuh hatten und in einen Laden gegangen sind, dann gab es da 4 oder 6 Leute. Der erste sagte: Hier ist das Papier. Da stand dann drauf, daß man ein Loch im Schuh hat. Der andere gab es dann dem dritten usw. Das war
kein Sozialismus. Das ist nicht das, was wir hier wollen. Ich habe noch etwas Wichtiges vergessen: Wir haben Beziehungen zu
242 Parteien und verschiedenen Menschenrechtsorganisationen weltweit. Wenn wir können, nehmen wir an internationalen Kongressen teil. Wir haben sehr gute Beziehungen zu Ländern wie Kuba, Bolivien und Venezuela. Manchmal haben wir nicht die Mittel dorthin zu reisen. Wir haben wenig im Vergleich zu anderen Parteien, aber wir sind uns sicher, daß die Zukunft uns gehört. Unsere jungen Mitglieder werden davon abgehalten, das Land zu verlassen,  vor allem wollen wir auch Rückkehrgenehmigungen für sie, wenn sie Palästina doch verlassen dürfen. Im übrigen haben wir keine Verbindung zu den israelischen Besatzern. Wir haben sie nie danach gefragt.

Nach einer kurzen Pause machen wir uns doch noch auf, um die Samaritaner (ancient jews) zu besuchen. Der Taxifahrer fährt uns die Berge rauf und setzt uns vor einem Checkpoint ab. Die Soldaten verweigern die Einreise in das Dorf, da wir auf keiner Liste stehn. Sie fragen, was wir überhaupt in Sichem (hebr. Nablus) machen. Wir: „have a look“, sie: „It’s dangerous. They’re all terrorists!“ Wir latschen wieder zurück und ein junger Mann (Samaritaner), der die meiste Zeit schweigt, nimmt uns nach Nablus im Auto mit. Wir witzeln, daß wir nun endgültig unten durch sind, da Maddi permanent knipst – der Fahrer hält freundlicherweise an besonders schönen Stellen – und unser Auto ein gelbes (israelisches) Nummernschild hat. In Gedanken bereite ich mich schon mal auf die knifflige Lage vor, das Zwischen-den-Fronten-Stehen. Obwohl meine Meinung hierzu klar ist, Evi ihre auch, und Maddi – ja Maddi … Maddi lernten wir August 2003 in Amman kennen, er kam gerade aus Bagdad zurück und erzählte was von einem dicken Chinesen, den er dort getroffen hätte. Wir fuhren
alle zusammen in die Wüste, freundeten uns an und trennten uns umgehend. Die kommenden Jahre blieben wir in fester E-Mail-Verbindung bzw. er schlief einmal bei uns, als er in Berlin war. In jener Nacht schlugen wir ihm vor, im August 2006 in die Westbank mitzukommen – und er sagte zu.

Er ist ein Schreiber, der an die Prinzipien des Journalismus glaubt, die ich anzweifle. Zum einen bedarf die Welt keiner „unparteiischen Berichterstattung“, sondern einer organisierten Stellungnahme gegen Unzumutbares. Es gibt bereits zu viele, die sich damit herausreden, lediglich ihre Arbeit zu machen, also sollten wenigstens die, die an den Quellen sitzen, werten. Statt dessen frönen sie einem über die Jahrhunderte mehr und mehr verkorksten Aufklärungsprinzip, das die Abspaltung der Gefühls- und Ahnungswelt mittlerweile derartig standardisiert, daß es kaum einer noch wahrnimmt. Ich finde die formalen Pseudogesetze peinlich, die fast alle Journalisten irgendwo aufgeschnappt haben und immer dann nachplappern (als wären es eigene Gedanken), wenn es darum geht, wie man einen Text zu verfassen hat. Eine Zeitung zu lesen, ist fast immer ein Krampf. Es strotzt vor Stumpfsinn, Konformismus, Wiederholungen und leblosem Geschwätz. Die Idee, mit den Katastrophen anderer Geld zu verdienen, ist schon mal unappetitlich und ihre dämlichen khaki-grünen Westen mit den vielen kleinen Taschen dran öden mich auch an; hinzu kommt – wir trafen einfach zu viele. Dutzende aus aller Herren Länder, die im Gespräch Dinge auf eine Art sagten, die sie später in ihren verklemmt-ambitionierten Artikeln 1. nie und 2. grundsätzlich auf eine andere Art kolportierten. Zyniker, gewissenlose! Noch wurde Maddi allerdings von der subtilen Maschinerie seiner eigenen Zunft nicht geschluckt.(3) Er ist ein zäher Fotograf, der draufhält, und er schloß seine ökonomische Laufbahn mit einer Arbeit
über Keynes und Gesell ab. Er ist nahost-erfahren, hier nun aber das erste Mal in Palästina, großzügig, synästhetisch offen und wie er sagt, mit einem sächsischen Urvertrauen und Unrechtsbewußtsein ausgerüstet – was wir schätzen und bewundern. Politisch steht er gemäßigt da, aber nach einigen Stunden/Tagen Westbank beobachten Evi und ich das, was wir bei anderen, die wir in ähnlicher Lage sahen, ebenfalls beobachteten: Wir befürchten allmählich, daß er dem nächsten Soldaten eins in die Fresse haut.

Abends tranken wir etwas Gin und schrieben. Später kam wieder Hamad und klärte uns über die Lage in Nablus auf. Die nächtlichen Schießereien hätten verschiedene Ursachen. Zum einen sind es Freudenschüsse von Hochzeitsfeiern (die vermutlich in der Minderheit sind, sonst müßte Nablus bei der Anzahl, rein mathematisch betrachtet, die höchste Scheidungsrate der Welt haben). Zum anderen probieren
viele ihre neuen Knarren aus. Ebenfalls gibt es Meinungsverschiedenheiten krimineller Natur sowie interne Rivalitäten. Ansonsten sind es Schüsse von Soldaten oder special forces in Zivil, die Leute verhaften oder gezielte Tötungen vornehmen – bzw. das entsprechende Echo der Resistance. Die Jugendlichen, die man rund um die Uhr mit Kalaschnikows rumlaufen oder -stehen sieht, gehören wie gesagt meist den
Al-Aksa-Brigaden an, die sich 2000 formierten, als Scharon den Tempelberg der Al-Aksa-Moschee betrat und damit die Zweite Intifada auslöste. Später lesen wir, daß während des Karikaturenstreits im Frühjahr 2006 in unserem Hotel ein Deutscher, der bereits zwei Monate in Nablus als Lehrer arbeitete, von den Al-Aksa-Brigaden entführt wurde. Zwei Typen haben ihn mit vorgehaltener Waffe aus dem Speiseraum abgeholt und – nach einer Stunde wieder freigelassen. Die Brigaden gaben sogar umgehend ein Kommuniqué heraus, in dem sie sich für die Unannehmlichkeiten entschuldigten, erklärten, daß es ein Versehen war und sie den Vorfall bedauerten. Wir beölten uns nicht schlecht. Jedenfalls, was die Schießerein anbelangt, scheint sich meine grobe Klassifizierung hier zu bestätigen: Dumme schießen, Kluge schießen zurück. Meine spezielle, Oberflächen-psychologisch motivierte Analyse; daß es sich in der Mehrheit schlicht um Fuck-you-Schüsse handelt, behalte ich für mich. Man muß sich immerhin vorstellen: Die Stadt ist umzingelt von einer der modernsten Armeen der Welt, trotzdem werden jede Nacht hunderte von Schüssen aus dem Herzen der Altstadt abgegeben. Schon leicht meschugge enden wir auf der Terrasse, halten gut Maulaffen und Zielscheibe feil, und setzen wie immer auf den Idioten-Bonus.

Macgyver

Dafür, daß nur Maddi beruflich Journalist ist und wir alle wenig Geld haben, sind wir ganz gut ausgerüstet. Unser Prunkstück ist eine über 1000 Euro teure, semiprofessionelle Digital-Fotokamera der Marke Canon, die sich Maddis Agentur Ginzel, Kraushaar und Datt geleistet hat. Desweiteren hat er eine kleine handliche Casio-Kamera, mit der man zur Not auch Klangaufnahmen machen kann. Um Interviews radiotauglich mitzuschneiden, nutzen wir ein MD-Gerät. Das dazugehörige Mikro habe ich mit Tesafilm an einem Bleistift (= Griff) befestigt und mit Watte umwickelt, die ich mir aus dem Medizinschrank borgte. Dann hab ich einen Stofffetzen (Socke) rübergestülpt und alles mit einem Haargummi von Evi festgezurrt – sah aus wie eine Eiskugel. Somit hatten wir einen Popp- und Windschutz für Außenaufnahmen, der auch halbwegs funktionierte. Evi hat noch einen Fotoapparat, außerdem haben wir uns, als potentielle Beweismittelaufnahme, eine klapprige, aber funktionierende Videokamera geborgt. Desweiteren gibt es einen Psion-Taschencomputer, auf dem man Texte im Word-Format schreiben kann, die sich jederzeit überspielen lassen. Und zwar mitten in den Kopf unserer technischen Zentrale: ein mittelaltes Pentium-II-Laptop, das Evi von ihrer Schwester bekommen hat, da der Rowohlt-Verlag es zwecks Modernisierung billig abstieß. Wir sind also arbeitsfähig. Und so führe ich vormittags zwei Interviews mit je einem Vertreter der Fatah (Hassan) und
der DFLP (Osama Yaseen). Die DFLP ist ein Splitterprodukt der PFLP (= Volksfront zur Befreiung Palästinas), welche wiederum 1968 die Flugzeugentführung erfunden hat. Der 22jährige Mann war sympathisch, er hatte eine ruhige, angenehme Stimme und war voller Hoffnung und Glaubenskraft. Evi arbeitete derweil im Hotel und transkribierte das 6 Seiten lange PPP-Interview. Maddi wiederum konzentrierte sich erstmal auf die Kleiner-Mann-was-nun-Masche und sammelte Impressionen im Volk. Auf diesem Wege lernte er einen Ladenbesitzer namens Badir kennen, der ihm ausführlich die Meinung geigte und nebenbei ein Jugendzentrum betrieb. Außerdem lernte er auf seinen Erkundungsgängen einen Kaffeehaus-Chef namens Jemal kennen, der uns abends zum illegalen Arak-Trinken (Anisschnaps) einlud.

Abends fraßen wir drei Sandwiches und entschieden uns, noch einen Tag zu bleiben. Um 21 Uhr gingen Maddi und ich zu Jemal. Jemal hatte das Kaffeehaus von seinem Vater übernommen. Da Glücksspiel (Karten) betrieben wurde, sicherte es ihm einen guten Nebenverdienst. Er meinte, er wäre der König des Viertels, jeder würde ihn mögen usw. Später, nach diversen Gläsern Arak, wurde er dann der König der Westbank. Wir fraßen zum Arak Oliven und Frischkäse und kamen erst gegen 23 Uhr ins Hotel. Dort wartete Evi bereits sauer, da sie sich Sorgen gemacht hatte. „Wann immer es um Alkohol geht, bist du dabei, hä?“ Im Bett dachte ich über Jemal und die Al-Aksa-Brigaden nach, die auf mich einen kontrollierend-mafiösen Eindruck machten. Das mag ich an Arabern nicht: sie sind sehr auf das Starke fixiert. Ein starker, mächtiger, durchsetzungsfähiger Mann ist ein guter Mann. Zu ihm schaut man auf und bewundert ihn. Das dürfte in etwa auch Jemals dunstig-verschwommenes Selbstverständnis ausmachen: der gutmütige und großherzige – aber mächtige Mann. Hinzu kommen die üblichen Vernetzungen: Familie, Großfamilie, Clan, die in der arabischen Welt wichtig sind, bis hin zum Nationsdenken – dieser ganze aufgeplusterte, auf verschiedene Menschengruppen angewandte Abgrenzungs-Egoismus.

(3) Siehe: Absahnen im Osten. Wie Thyssen und Elf beim Raffineriebau zu Unrecht Hunderte Millionen Mark Subventionen kassierten. Von Arndt Ginzel und Martin Kraushaar. In: Die Zeit. Nr. 46, 9.11.06.

Interview mit Osama Yaseen (DFLP) Das Interview wurde am im Büro der Fatah in der Universität Al Najah in Nablus geführt. Osama
Yaseen (22) vertritt die Belange der Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas innerhalb der Studentenschaft, er studiert Recht und erscheint in einem wüstenfarbenen Che-Guevara-T-Shirt.

Was läßt sich zur Geschichte der DFLP sagen? Wie viele Mitglieder hat die Partei?
28.000 bis 30.000 Wähler. Die DFLP spaltete sich 1969 von der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) ab, da es zu grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten kam. Die PFLP orientierte sich unter der Führung George Habash’ am arabischen Sozialismus Nasser’zscher Prägung, der Opponent Niaf Hawatmeh dagegen wollte die Organisation streng marxistisch-leninistisch ausrichten und leitete die Spaltung ein. 1974 kehrte die PFLP zu marxistisch-leninistischer Ideologie zurück, aber die Trennung blieb bestehen.
Seid ihr Kommunisten?
Nein, nicht unbedingt. In erster Linie ist die Partei offen für Gegner des Kapitalismus. Wir fokussieren uns auf die Probleme von Arbeitern und Armen und versuchen deren Lebensverhältnisse zu verbessern.
Spielt Religion innerhalb der Partei eine Rolle?
Nein. Aber es ist jedem freigestellt zu beten.

Wie verstehen sich PFLP und DFLP heute?
Sie kämpfen für dieselbe Sache und haben gemeinsame Gedanken, sie verstehen sich als zwei Teile eines Körpers. Zur Wahl bildeten beide
zusammen die größten linken Organisationen Palästinas.

Hatten die Schriften französischer Philosophen wie Foucault oder Derrida Einfluß auf die DFLP?
Nein, aber wir versuchen zeitgemäß und flexibel marxistische Ideen auf die Realität anzuwenden.

Wodurch unterscheidet sich die PPP von euch, die sich doch ebenfalls an Marx orientiert?
Die DFLP glaubt an militärischen Widerstand und an die Revolution, die PPP nicht. Die DFLP verfügt über einen militanten Flügel.

Bist du Teil des militärischen Flügels? Wie viele Mitglieder gehören dazu?
Das weiß ich nicht. Der militärische Zweig versteht sich in erster Linie als Widerstand gegen die israelische Armee. Wir leben schließlich unter Besatzung.

Gibt es Kontakte zu Anarchisten?
Die, die nicht an Führer glauben, sind einfach eitel und egozentrisch. Sie sehen, meiner Meinung nach, nicht, was in der Region wirklich los ist. Aber ich verstehe, was Du meinst. In der DFLP werden Probleme in der Basis diskutiert und entsprechende Resultate werden nach oben weitergegeben, die Führung diskutiert und analysiert diese erneut mit der Basis und gemeinsam wird eine Entscheidung gefällt.
Kennst du die EZLN?
Nein.
Gibt es Märtyrer in der DFLP?
Ja, viele. Diejenigen von uns, die nicht durch die Checkpoints gelassen werden, versuchen oft über die Berge zu kommen – allein dabei wurden viele erschossen. Abgesehen davon wurden bereits 13 Führer der DFLP bei ihrer Arbeit ermordet.

Es folgt ein Interview mit Hassan Sanaqreh (Fatah). Er war Chef des Studentenrates der Universität Al Najah Nablus 2004/2005 und
ist jetzt dort Repräsentant der Fatah.

Was hat sich für Sie geändert, seit die Hamas die Wahlen gewonnen hat? Und inwiefern wirkt sich der Libanonkrieg auf die Politik der Fatah aus?
Zur ersten Frage: Eigentlich hat die Fatah mehr Anhänger als die Hamas. Die Uneinigkeit in der Parteiführung hatte leider die Wahlniederlage zur Folge. Dies war ein schwerer Schlag. Wir versuchen nun, uns neu zu organisieren, zu sehen, wo Schwachpunkte liegen und diese zu beseitigen. Zu zweitens: Der Libanon ist ein arabisches Land. Man verteidigt dort nicht nur die eigenen Rechte, sondern auch die Rechte der Palästinenser. Die Fatah unterstützt den Libanon und alle anderen Völker auf der Welt, die gegen Besatzungsmächte
kämpfen. Eigentlich verstanden wir die EU als Unterstützer der Palästinenser, seit Beginn des Krieges ergreift die EU aber bei jedem Zusammenprall von Israelis und Palästinensern wieder Partei für die Israelis, die Palästinenser wären Terroristen usw. – das verstehen wir nicht. Will die EU etwa ein Ende des palästinensischen Widerstandes, damit die Israelis unser Land besetzen, morden und machen können, was sie wollen? Ebenfalls ist das Verhalten der USA unzumutbar: Ich befürchte, daß sie sich ihre arabischen Staatsbürger zum Feind machen. Sie wissen ja: Jeder Aktion folgt eine Reaktion.
Was denken Sie über bewaffneten Kampf als Widerstandsform? Was halten Sie von den Al-Aksa-Brigaden?
Die Fatah befindet sich in einem Übergangsstadium vom militärischen zum politischen Widerstand. Beides zusammen funktioniert nicht.
Als die Al-Aksa-Truppen den Kampf aufnahmen, schenkte die Weltgemeinschaft der palästinensischen Sache immerhin Beachtung und bemühte sich, eine Lösung zu finden. Die Fatah versuchte anfänglich eine militärische Lösung zu finden, als wir 1996 das Recht zur Schaffung einer Palästinensischen Autonomiebehörde erkämpften, strebten wir eine friedliche Lösung mit Hilfe der USA, der EU und Israels an. Während dieses Friedensprozesses wurden den Palästinensern erneut alle Rechte genommen. Der militärische Flügel wurde also wieder installiert, um das Interesse der Welt auf das Geschehen hier zu lenken.
Wie wichtig ist Religion innerhalb der Fatah?

Ich z. B. bete, faste während des Ramadans und befolge alle Regeln des Islams. Aber Sie können innerhalb der Fatah einige finden, die freie Gedanken haben. Im Gegensatz zur Hamas betont die Fatah, daß sie Freiheit und ein Ende der Besatzung als Hauptziele hat, die Hamas dagegen kämpft aus religiösen Gründen. Deren Mitglieder verstecken ihre Gesichter hinter der Religion, dabei gibt es dort Leute, die sich schlechter benehmen als wir.
Was heißt das?
Sie machen schlechte Sachen.
Was heißt „schlechte Sachen“?
Wenn Sie sich als Mitglied der Hamas ansehen, ständig verkünden, Sie müssen dies so machen und das so, weil es die Regeln des Islam vorgeben – also beten oder fasten oder keinen Sex haben mit Minderjährigen oder keinen Alkohol trinken – einige dieser Leute machen das trotzdem! Ich will noch was über die Ziele der Fatah an der Universität sagen: Unsere Aufgabe ist es, allen Studenten hier zu helfen, egal welcher Organisation sie angehören. Wir verteilen Broschüren und versuchen Lösungen für akademische oder administrative Probleme zu finden. Ebenfalls kümmern wir uns um religiöse Belange, indem wir z. B. die Mahlzeiten während des Ramadans organisieren, einige Studenten haben einen weiten Weg. Wir kümmern uns um neue Studenten, diskutieren die Lage in Palästina oder die Möglichkeiten der
Studenten nach dem Studium.

Was denken Sie über kleinere Parteien wie die PPP?
Die Fatah hat gute Beziehungen zu allen Organisationen, nicht nur zu großen. Die kleinen Parteien sind mitunter der Schlüssel zum Sieg. Z. B. um die Wahlen des Studentenrates zu gewinnen, brauchen Sie 42 Prozent. Sollten Sie nur 40 Prozent haben, können Sie mit kleineren Parteien koalieren.

Was halten Sie von marxistisch-leninistisch ausgerichteten Gruppen?
Ich beurteile die Menschen nicht auf religiöse oder politische Art. In erster Linie sind es für mich Palästinenser, die die Besatzung beenden
wollen. Der Islam lehrt uns, mit allen Menschen zusammenzuleben, egal ob sie jüdisch oder christlich sind z. B., ich sehe also in diesen Leuten nur das gemeinsame Ziel.

Do

Heute mache ich mich auf nach Jenin. Evi wollte eigentlich mitkommen, stellte aber, als wir runterkamen, fest, daß in einem Raum des Hotels Frauen aus verschiedenen Städträten der Umgebung eine politische Schulung erhielten. Also verabredeten wir, daß sie diese für die Feminismus-Seite der jungen Welt befragt. Ich bringe sie vorher zum Buchladen, wo sie den Vater von Basem Khandakji treffen will. Basem ist zu 250 Jahren Gefängnis verurteilt worden, da er einem 16jährigen Selbstmordattentäter half, Geld und Sprengstoff zu besorgen. Außerdem lieh er ihm seine ID – die man später fand. Basem ist jetzt 23 Jahre alt und hat fast zwei Jahre abgesessen. (4)

Um von Nablus nach Jenin (Norden) zu kommen, muß man den Checkpoint Al Bait Iba passieren. Ich erreiche ihn gegen 11.15 und komme relativ schnell durch. Später lesen wir im Internet, daß einige Tage vorher Internationalisten, Aktivisten des ISM (= International Solidarity Movement), reichlich Senge von den Israelis bezogen haben; warum, weiß ich nicht. (5) Auf der anderen Seite findet sich das übliche Chaos. Dreck und Staub und Wüstensand. Abgasgestank, herumfliegende Plastiktüten, Taxen, die versuchen, aneinander vorbeizukommen. Ich stelle mich bei einem Wagen an, zwei, drei Leute fehlen noch, ehe es losgeht. Ein Teenager vom Vordersitz meint, daß der Checkpoint gegen Eins heute zumacht. Ich will aber unbedingt abends wieder in Nablus sein, also schicke ich mich an, zu gehen. Ein typischer Dialog entspinnt sich:
Er: They close around 1.
Ich: So – then I better go back.
(Ich mache mich auf.)
Er: Where you go …?
Ich: I go back – because they close at 1!
Er: No, no, not close …

Ich steige wieder ein und wir fahren bald darauf los. Nach ein, zwei Kilometern biegt der Wagen von der Straße ab und fährt praktisch in die bergige Wüste. Der Fahrer folgt den Wagenspuren der Vorgänger, es geht über Stock und Stein und Hügel. Die Israelis halten die Hauptstraße seit Beginn der Zweiten Intifada geschlossen. Nach einer halben Stunde Paris – Dakar gelangen wir auf eine kleine asphaltierte
Straße, später auf eine größere, wo uns ein flying checkpoint erwartet. Vier Soldaten sperren mit ihrem Jeep die Straße quer ab. Auch das geht vorbei …

(4) S.a. Evamaria Haupt. 250 Jahre Haft mit 21. In: junge Welt, 26.8.06, S.12.
(5) Aufschluß unter: http://www.scoop.co.nz/stories/WO0302/S00070.htm

Jenin

Einige Kilometer vor dem Ortseingang passieren wir Felder, auf denen Kohl, Gurken, Tomaten und andere Gemüsearten auf bewässerten, voneinander abgetrennten Parzellen angepflanzt werden. Allmählich erscheinen ein paar flache Häuser, rostige Garagen, Tankstellen und Autoreparaturwerkstätten; die Straße wird zweispurig und bekommt einen Mittelstreifen, auf dem Tafeln mit Märtyrer-Plakaten angebracht sind. Bus- und Taxibahnhof befinden sich im Zentrum, welches sich überschaubar in einigen Straßenzügen hält. Händler haben ihre Waren vor den Läden ausgebreitet, einige Bürgersteige sind überdacht, was Schatten spendet und dem heißen Klima angemessen scheint. Es herrscht eine aufgewühlte Stimmung, die Menschen rennen herum, man fragt sich, wohin. Nach ein paar hundert Metern läßt man die Altstadt hinter sich und befindet sich bereits wieder in den Ausläufern der Stadt, die sich hinzieht. Ich bin auf der Suche nach einem Krankenhaus oder einer Roten Halbmond-Filiale und habe Glück. In der Alamal-Klinik, einem Hospital der Patient’s Friends Society, erklärt mir ein älterer Arzt den Weg zum Roten Halbmond. Der Junge aus dem Taxi begleitet mich die ganze Zeit, er spricht schlecht Englisch, läßt es sich aber nicht nehmen, mir behilflich zu sein. Gemeinsam gehen wir durch ein Tor auf ein Gelände, das im Vordergrund ein verlassenes Haus zeigt. Weiter hinten sieht man ein langgestrecktes, zu einem Viertel total zerbombtes Gebäude – das Polizeirevier. Im Gegensatz zu Nablus ist es der Palästinensischen Autonomiebehörde hier nicht verboten zu arbeiten. Als ich stehenbleibe, um ein Foto zu machen, höre ich, wie über mir jemand sein Gewehr durchlädt – es ist ein palästinensischer Bulle, der in der ersten Etage einer Neubauruine Wache zu schieben scheint. Wir gehen besser weiter, es ist ein beklemmender Anblick.

Etwas weiter links finden wir die Ambulanz des Roten Halbmondes. Ein Arzt, der kaum Englisch spricht, schickt mich in eine nahe gelegene Baracke. Dort darf ich Rasha Jarrat befragen, eine junge Muslimin, die als Volontärin arbeitet und ein Foto verweigert. Sie kümmert sich in erster Linie um traumatisierte Kinder. 2002 fand im Flüchtlingslager Jenins ein Massaker statt. Den entsprechenden Film, eine Dokumentation von Mohammed Bakri, einem israelischen Palästinenser aus Nazareth, betitelt: „Jenin Jenin“, sehen wir erst später in Ramallah. Der Film ist über www.arabfilm.com erhältlich und in Israel verboten, obwohl der Staat Israel selten Filme verbietet. Das Camp wurde mehrere Tage von Hubschraubern, Scharfschützen und Panzern beschossen, es starben ca. 60 Palästinenser. Die junge Frau erwähnte einen gewissen Dr. Khalil Suliman, der während der militärischen Operation per Emergency-Telefon ins Camp gerufen wurde, um medizinische Hilfe zu leisten. Die Ambulanz fuhr hin und wurde von einem Hubschrauber bombardiert, Dr. Khalil starb. Die drei Sanitäter Taher Al-Sanore, Hamad Al-Jamar und Machmud Assadi überlebten schwer verletzt. Taher Al-Sanore treffe ich kurze Zeit später, nachdem sein Onkel Mosadak Taher, ein Arzt aus dem bereits erwähnten Alamal Hospital, den Kontakt vermittelte.

Ihr Name ist Taher Al-Sanore?
Taher Sanore.
Sie arbeiten als Ambulanz-Fahrer?
Nicht Ambulanzfahrer, EMT [Emergency Medical Technician].
Was heißt das?
Ich bin Sanitäter.
Ich hatte ein Interview mit Rasha Jerrat, die sagte, 2002, als im Muchaijam-Camp in Jenin ein Angriff der Israelischen Armee stattfand, arbeiteten Sie dort mit Khalil Suliman …
Dr. Khalil, ja. Wir fuhren in das Camp, da die israelische Armee dort Leute erschoß, Zivilisten. Es gab viele Verletzte. Ein junges Mädchen
wurde am Herz verletzt und wir erhielten einen Anruf über das Emergency-Telefon …
Ist das Camp weit von hier?
Nein, es liegt neben dem Stadtzentrum … Wir fuhren also zum Camp und die israelischen Soldaten sagten, daß wir da nicht reinkämen. Wir bräuchten eine Erlaubnis des DCO*. Also rief Dr. Khalil das DCO und das Rote Kreuz an und das Rote Kreuz gab schließlich die Erlaubnis. Nachdem wir in das Camp gefahren waren, wurden wir durch israelische Panzer und Hubschrauber beschossen, sie beschossen unser Fahrzeug.

Waren Sie der Fahrer?

Nein. Zu der Zeit arbeitete ich als Volontär. Der Ambulanz-Wagen explodierte jedenfalls und Dr. Khalil starb. Wie Sie an meinem Arm sehen können, trug ich Verbrennungen davon. Die anderen beiden – der Fahrer Hamad Al-Jamar und der Sanitäter Machmud Assadi – wurden ebenfalls verletzt. Dr. Khalil starb im Wagen. Mein Freund Hamad Al-Jamar ist immer noch in Jordanien, um seine Verletzungen zu behandeln.
Wie kam es zu den Verbrennungen? Ist Benzin explodiert?
Ja, Benzin und die Sauerstoffflaschen. Sie warfen eine Bombe auf das Ambulanzauto.
Wie sind Sie raus gekommen?
Ich wurde durch die Explosion der Sauerstoffflaschen aus dem Auto geschleudert. Die Leute aus dem Camp haben dann den EMS [Emergency Medical Service] angerufen und Bescheid gegeben, daß unser Wagen explodiert ist, und daß das Team umgebracht wurde. Der EMS schickte einen zweiten Rettungswagen und die israelische Armee beschoß dieses Fahrzeug mit M-16-Maschinengewehren. Sie beschossen das Fahrzeug und drei Mitarbeiter wurden verletzt. Danach, gegen drei Uhr, ging ein Freund von mir aus dem EMS zu Fuß in das Camp, über eine kleine Straße, ohne Auto, ohne daß  es die Soldaten merkten – und der holte mich da raus.
Was haben Sie seitdem unternommen? Haben Sie sich beim Roten Kreuz beschwert?
Danach kam ich für 70 Tage in das Jerusalem-Hospital, dann weitere 40 Tage nach Jordanien ins Al-Baschir-Hospital [Amman], um die Behandlung zu beenden. Dann ging ich wieder nach Jenin.
Haben Sie sich bei den Israelis beschwert oder haben Sie geklagt?
Die Israelis sagen, im Ambulanz-Wagen war eine Waffe. Die Israelis sagen das, aber wir hatten keine Waffe.
Also konnten Sie nichts weiter machen?
Nein.

(*) District Coordination Office. Ein israelisches Amt, bei dem Palästinenser und Ausländer Genehmigungen
einholen müssen.

Uschi

Bevor es dunkelt, komme ich wieder in Nablus an. Maddi hat über Badir oder Jemal von einer 75jährigen Österreicherin erfahren, die seit 38 Jahren in Nablus lebt und die er prompt aufsuchte. Er verbrachte mehrere Stunden in ihrem Haus und sie schlug ihm vor, ihr beim Schreiben ihrer Autobiographie behilflich zu sein. Maddi denkt darüber nach. Abends treffen wir wieder Hamad und beschließen, noch
einen Tag zu bleiben, es ist nun auch egal … Wir trinken mit ihm von dem Arak, den uns Jemal in seiner großzügigen Art mitgeschickt hat.

Camps

Maddi fährt morgens ins Al-Askar-Camp, eins von drei Refugee-Camps in Nablus. Wie sieht so ein Lager aus? Als 1948 Israelis ganze Dörfer vertrieben, mußten diese Leute irgendwohin. Eine zweite große Flüchtlingswelle gab es nach dem 6-Tage-Krieg 1967, den Israel gewann und Grenzen neu zog. Radikale Palästinenser fordern ihr gesamtes Land zurück. Ob bei Haifa oder Tel Aviv – überall haben dort
Palästinenser zusammen mit Juden gewohnt und – wurden vertrieben. Israel ist die Besatzungsmacht und diese wird bekämpft. Da Israel aber bereits 58 Jahre existiert, fordern weniger radikale Palästinenser zumindest ein Territorium in den Grenzen von 1967, mit Ostjerusalem als Hauptstadt, dem Abzug aller jüdischen Siedler und einem Rückkehrrecht für Flüchtlinge. Allein dies erscheint angesichts der allgemeinen Situation bereits utopisch. Wie oft hören wir den Satz: Israel will keinen Frieden, Israel will Sicherheit. So lange man
sicher und preiswert ohne Bombenattentate leben kann, interessiert man sich im Prinzip einen Scheißdreck für die Belange der Palästinenser (falls man sie nicht von Hause aus als Menschen zweiter Klasse ansieht). Auf palästinensischem Boden werden immer mehr israelische Enklaven (Siedlungen) errichtet, Menschen in Ostjerusalem werden durch Mietschwindel und Wucher vertrieben, das Land wird von Mauern (die die Grenzen wiederum zugunsten Israels verschieben), Wällen und Zäunen zerfurcht, Straßen blockiert, Dörfer und Städte voneinander isoliert, Felder und Olivenhaine werden zerstört oder die Bewohner werden von der Wasserzufuhr abgeschnitten, kurz: es passiert das genaue Gegenteil von dem, was Grund zur Hoffnung geben könnte. Zumal die Welt dazu schweigt, zum einen aus bigotter
Schuldverstrickung (2. Weltkrieg); zum anderen aus geopolitischen, strategischen Interessen (Nahost-Basis, Öl) oder lobbyistischen Verpflichtungen und zum dritten, weil es einfach langweilig wird: jeden Tag gedemütigte Palästinenser.

Bereits an der Grenze spürt man, daß der eigentliche Konflikt nichts mit Religion oder Antiarabismus oder Antisemitismus zu tun hat, sondern daß die 1. Welt in Form von Israel auf die sog. 3. Welt prallt. Der westliche Mensch mit Disko/Club im Kopf und Spiegelglassonnenbrille möchte sich die Armut der Araber weder ansehen müssen noch sonst irgendwie damit auseinandersetzen. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina, den konservative Politiker (gibt es auch nonkonservative Politiker?) gern als religiös motiviert interpretieren, ist lediglich das Resultat der Politik einer mächtigen Nation, die mehr Land und Macht will und die Bewohner im Prinzip wie lästige Fliegen betrachtet. Das regelmäßig von den entsprechenden Medien aufgebauschte Giftverspritzen muslimischer Fanatiker, die Forderung, alle Israelis ins Meer zu treiben, findet auch umgekehrt seine Entsprechung in der israelischen Gesellschaft, wo jüdische Fundamentalisten die Deportation aller Palästinenser fordern.(6) Man findet kaum einen Muslim, der ein Problem mit der jüdischen oder christlichen Religion hat, meistens beharren sie auf den selben Gott mit seinen verschiedenen Propheten etc. Jedenfalls sind Flüchtlingscamps in Palästina (oder Libanon, Syrien etc.) keine Aneinanderreihung von Rot-Kreuz-Zelten, sondern ghettoähnliche Viertel an Stadträndern gelegen, mit schmalen Gassen und schlechter Bausubstanz, die obendrein überfüllt sind. Da für das Flüchtlingsproblem seit 58 Jahren keine Lösung gefunden wurde (abgesehen von den „neuen Juden“, die weltweit verstreut in der Diaspora leben), züchtet sich Israel hier seine Selbstmordattentäter heran, die den machthabenden Politikern sehr zupaß kommen, um Angst in der Bevölkerung zu schüren und ihre Apartheidspolitik zu rechtfertigen.
Maddi forschte nun in dem Al-Askar-Camp, da am 15. 8. ein Haus durch einen Bulldozer zerstört wurde. Er interviewte zwei Brüder einer 38köpfigen Großfamilie und fotografierte die Ruine. Die beiden Männer arbeiteten als Taxifahrer, die Taxen wurden aber ebenfalls zerstört, die gesamte Familie wurde im Prinzip ihrer Grundlage beraubt. In Nablus gibt es ebenfalls das Al-Balata-Camp, das Evi und ich beabsichtigten, zu besuchen – Hamads Freund, der dort wohnt und vorschlug, uns herumzuführen, konnte sich aber nicht freimachen und so warteten wir vergeblich auf den Anruf. Maddi besuchte noch den Sportverein des Camps, der kürzlich im Fußball 8:1 gegen Taiwanesen gewonnen und 0:3 gegen Irakis verloren hatte. Dies sei aber nicht so schlimm, denn die Irakis, so wurde ihm gesagt, seien Freunde. Stolz berichtete man von einer Frauenmannschaft. Abends ging Maddi zu Jemal, der eine halbes Fläschchen Arak und für die Dame eine Dose Starkbier mitschickte – mit den allerbesten Grüßen … Der König der Westbank. Dann rief Hamad an und meinte, er hätte eine Überraschung. Nachdem er sich mehrmals geweigert hatte, mit mir zu den Kalaschnikow-Typen zu gehen und einen Kontakt mit den
Al-Aksa-Brigaden herzustellen, meinte er nun, wir könnten morgen nachmittag eventuell den Führer der Al-Aksa-Brigaden Nablus und am Abend ein Mitglied des Islamischen Jihads treffen. Wir gießen uns einen Schluck ein und beschließen, einen weiteren Tag zu bleiben.

(6) Siehe Michael Warschawaski. Mit Höllentempo. Die Krise der israelischen Gesellschaft. Hamburg 2003. Auf Seite 37-38 werden Bespiele für Slogans auf israelischen Plakaten gebracht: Jordanien ist der palästinensische Staat – Transfer jetzt! / Den arabischen Feind ausweisen / Die Araber besiegen – die Araber zerschlagen / Entweder wir oder sie – Transfer / Ich kaufe nur bei Juden usw.

Jihad

Morgens steht die Stadt bereits in dichtem Nebel. Die Berge verschwinden in den Wolken und die Atmosphäre ist noch drückender. Es ist 20.30 Uhr und wir warten. Maddi ist vormittags zum dritten Mal ins Askar Camp gefahren, um weiter zu forschen. Evi ging in den Buchladen, um neue Informationen, die sie gestern von Hamad bekommen hat, mit dem Vater von Basem abzugleichen und zu überprüfen.
Es sind meist mehrere Versionen in Umlauf. Ich fuhr erneut in die Universität, machte aber den Fehler, den Security-Eingang zu benutzen, was zur Folge hatte, daß mich ein Wachmann bis ins Public-Relations-Büro brachte – ich wollte eigentlich auf eigene Faust zu den Büros der politischen Organisationen. Da ich nun mal da war, fragte ich den zuständigen Sachbearbeiter, warum meine E-Mail, mit der Bitte um Interviews, nicht beantwortet wurde – woraufhin ich eine Stunde warten und die Interviewfragen notieren mußte. Der Mann faselte was von „sensitive subjects“ und „very political“, jedenfalls packten sie mir letztlich einen Funktionär an die Seite, der alles vorbereitet hatte. Er
führte mich in einen Raum, in dem 5 oder 6 Bärtige saßen und gespannt meine Fragen zum Universitätsalltag erwarteten. Da ich aber Repräsentanten der PFLP zum Beispiel sprechen wollte, brach ich unser Treffen sofort ab, worauf alle (außer mir) etwas enttäuscht wirkten. Der Funktionär meinte, es gäbe an der Uni keine Repräsentanten, ich fragte: Wieso haben sie dann ihre Büros hier? Es war zwecklos. Sie wollten mir noch einen mitschicken, der mich zum Ausgang brachte, es gelang mir aber, den abzuwimmeln. Ich ging dann
allein zu den Büros, wo aber niemand war.

Anschließend fuhr ich mit dem Taxi zum PPP-Büro und bat um einen Kontakt zur PFLP. Nach einigem Zögern und einer Viertelstunde Telefonate schickte mich Abdalhadi mit einem Kameraden (der zufällig der Onkel von Basem war) los, und nach einem kurzen Fußmarsch kamen wir zu einem Obsthändler, der Mitglied der PFLP war und gerade Pfirsiche säuberte. Wir
verabredeten uns für Sonntag 11 Uhr. Viele sagen hier, die meisten Kader der linken Parteien kann man vergessen, da die guten Leute einsitzen. Um 14.30 war ich wie verabredet im Hotel, wo alle warteten. Der Neger schlief. Um 15 Uhr rief Hamad seinen Verbindungsmann an, der meinte, er käme gleich vorbei. Wir saßen unten vor der Rezeption. Der Mann trug Jeans und T-Shirt, war etwa Mitte Dreißig und trug einen kurzen Vollbart. Er machte einen derart gehetzten, paranoiden Eindruck, daß wir kurz überlegten, die Sache auf der Stelle abzublasen. Seine Augen spähten permanent die Umgebung ab, er sprach gut Englisch und gab sich distanziert. Er garantierte einen Kontakt mit dem Islamischen Jihad gegen 21 Uhr oder 21.30 Uhr und meinte, eventuell könne er nachmittags den Führer der Al-Aksa-Brigaden beschaffen. Bedingung: Keine Fotos, keine Waffen. Da dieser nicht zu erreichen wäre, da er kurzfristig seine Telefonnummer gewechselt hatte, schlug unser Mann vor, den Rundgang durch die Altstadt – den er uns als Service mit angeboten hatte – sofort zu machen.
Sightseeing

Der Vordereingang des Hotels bildet das Ende der Altstadt, der Hinterausgang, welchen wir benutzten, bildet den Eingang. Wir liefen durch ein paar Gänge und ich bemerkte, wie zwei Gestalten um die Ecke sahen und ihre Köpfe zurückzogen. Wir kamen am Haus eines kleineren Al-Aksa-Führers vorbei, den wir vom Sehen kannten, er hatte nur noch einen Handstumpf und irgendein anderes Körperteil fehlte ebenfalls, da sein Haus bereits Ziel einer Rakete wurde – es gelang ihm aber, da noch rauszukommen. Weiter ging es durch noch engere Gassen in eine der Hauptadern – eine beruhigende, leicht stinkende Einkaufsmeile, 2 m eng, vollgestopft mit chinesischem Mist u.a. Wir waren hier bereits gewesen. Es war nicht ganz einfach, unseren Reiseführer zu verstehen in dem Gewühl. Die gesamte Altstadt, um das hier einzuschieben, schätze ich auf 800 mal 1000 Meter, es gibt bereits erwähnte Geschäftsstraßen, die an normale arabische Souqs (7) denken lassen, und einen Haufen kleiner überwölbter Gassen, ein, zwei Meter breit – ein Labyrinth. Einige Teile sind grundsätzlich, mit oder ohne Verbindungsmann, für Leute wie uns nicht zu betreten. Unser Mann machte noch immer einen hochnervösen Eindruck. An einigen Läden hielt er kurz, um Leute zu begrüßen, ansonsten schauten uns Vorbeilaufende oft mit aufgerissenen Augen an, als ob sie bestürzt wären, mit wem wir hier herumliefen. Auf meine Frage, ob die Kollegen Informationen über uns eingeholt hätten, antwortete
er, man kenne uns besser als wir uns selbst. Was wir für übertrieben hielten.

Es wurde ein bluttriefender Gang. Wir hielten an jedem Märtyrer-Plakat und er erklärte uns, wer wieso auf welche Art vernichtet wurde. Mitunter hielt er an Ecken oder kleinen Plätzen, um zu erzählen: Hier wären 8 Leute einem Kommando zum Opfer gefallen, welches sich durch ein Wohnhaus Zugang in die Altstadt gesprengt hatte, eigentlich 9, da eine Frau schwanger war. Hier rollte ein Kopf von einem Mann über den Platz, der mit einem Handy telefonierte, in dem ein Sprengsatz versteckt war. Hier wurde Sheikh Ibrahim, der Führer des Islamischen Jihads Nablus, erschossen und in Einzelteilen – Hände, Füße, Unterarme, Waden, Oberarme, Geschlechtsteile, Torso, Kopf – zurückgegeben. Hier fanden sie einen Kämpfer mit 8 cm langen Spiralkugeln im Kopf, ein anderer wurde eigentlich nicht lebensgefährlich am Arm verwundet und – verstarb. Niemand verstand das, Gas schien das Gehirn zerstört zu haben. Hier kam es zu einem Gefecht, bei dem laut israelischen Medien ein Soldat sein Leben ließ – aber man fand 3 Arme, 4 Beine usw. … wie konnte das sein? Die Israelis forderten die Autonomiebehörde auf, die Reste innerhalb einer Stunde am Checkpoint zu übergeben und drohten im Falle der Mißachtung mit totaler Invasion. Die Kämpfer übergaben die Körperteile der zitternden Behörde mit den Worten: No problem – we dont need it! Ob wir gestern Nacht Schüsse gehört hätten – in der Tat, wir hatten. Maddi grunzte bereits, aber Evi und ich saßen aufrecht im Zimmer: 39 dumpfe Schüsse von schweren Geschützen – dies wäre die Art, wie sie hier ihren „Freunden“, den Soldaten, „Guten Tag“ sagen würden. Er hob dabei Zeige- und Ringfinger in die Luft, um Anführungsstriche zu imitieren; er schien überhaupt ein Freund der Anführungsstriche zu sein. Er entschuldigte sich bei uns, daß er uns mit „politischen Dingen“ überhäufen würde, er würde viel lieber … es täte ihm leid.

Uns war unwohl: einerseits waren wir uns bewußt, mit einem target durch die Gegend zu laufen – dementsprechend vermuteten wir hinter jedem Zweiten ein Zivilkommando, diese schienen oft ebenso mißtrauisch, da sich Sondereinheiten auch als Touristen tarnen; Männer, Frauen usw. Und Abu Islam hatte immer noch diesen unruhigen Blick. Hinzu kam, daß wir Evi wegen des plötzlichen Aufbruchs mit dabei hatten, obwohl wir verabredet hatten, daß sie im Hotel bleibt. Einerseits damit mir Gabi, Evis Mutti, im Falle einer Entführung nicht den Kopf abrisse, andererseits um den Kontakt zur Außenwelt zu halten. Womit wir nicht auf die Trottel von der Botschaft oder vom Auswärtigen Amt setzten – sondern auf Jemal! Zwar wünschte uns selbst Hamad, bevor wir gingen, viel Glück mit den sich reinwaschenden Worten, er könne für nichts garantieren, aber auf Jemal, den Mann für alle Fälle, den Strippenzieher, den „König des Viertels“ oder wie sich die alte Schnapsdrossel auch nennen mochte – auf ihn bauten wir. Zugegeben kein hieb- und stichfester Plan, aber erstmal der beste, wie wir fanden. Maddi wurde nun auch langsam übel, nach all dem Blut, und wir waren froh, daß Abu Islam vorschlug, Kinafa essen zu gehn. Kinafa – unsere Lieblingsspezialität: ein Süßgebäck aus Ziegenkäse, Streuselzeug, mit heißem Zuckerhonigwasser getränkt. Wiir befanden uns in der Stadt, in der die Kinafa erfunden wurde!

Vorher gingen wir noch zu einer medizinischen Notfallversorgung. Im Falle einer israelischen Attacke würde man hier Dutzende freiwillige Ärzte und Helfer aus ganz Nablus innerhalb von Minuten mobilisieren und eine Anlaufstelle für anfallende Verletzte zur Verfügung stellen. Man sah eigentlich nur eine Steinwand, ein Zeichen, und eine Stahltür – da natürlich auch dieses Haus oft attakiert wurde. Danach gingen wir in ein über 1000 Jahre altes Dampfbad mit großem rundem Gewölbe und verwinkelten kleinen Wegen. Nachdem wir durch immer engere Gänge, mit skurrilen Kommentaren wie: Hier kleidet man sich aus, hier duscht man usw., in Räume geschleust wurden, in denen Straßengeräusche gar nicht mehr wahrzunehmen waren, rechneten wir zunehmend mit dem plötzlichen Anblick von zehn vermummten Islamisten und bereiteten uns darauf vor, erstmal in der Patsche zu sitzen. Abu Islam erinnerte an das Bild eines kranken Tieres, welches gesunde Tiere instinktiv meiden. Alles an ihm strömte eine Aura von Bedrohung und Gefahr aus, von der man ebenfalls instinktiv Abstand haben wollte. Abgesehen davon hatte er Diabetes, Probleme mit den Zähnen und steckte seine rechten Finger oft in die Magengrube, vielleicht ein Geschwür oder eine Reizung. Dennoch wirkte er auf keinen Fall nur abstoßend, er hatte auch eine verantwortungsvolle, komplex-denkende Ausstrahlung. Freundlicherweise lockerte er, nachdem er uns in einen weiteren kleinen Raum hineinwinkte, mit den
Worten: Don’t worry, we will not kidnapping you!, die Stimmung etwas auf. Verstohlen soffen wir drei Tee. Die Frage, ob nicht jeder, der hier wohne, so schnell wie möglich raus wolle, aus diesem Kessel, verneinte er und entschuldigte sich abermals für die Politisierung seiner Sightseeing-Tour, aber die Inschriften der Verstorbenen, die in die Wände gemeißelt wurden, die Plakate, all das wäre die einzige Möglichkeit, Identität zu wahren, und Identität ist etwas, das man, wenn man keine Vorstellung von ihrer existentiellen Notwendigkeit habe, nicht unterschätzen dürfe. Wir vergessen nicht …Die Kinafa, die ich und Evi reinschaufelten, schmeckte leider zu animalisch, Maddi, der ’ne Käseallergie hat, ging derweil mit Abu Islam in ein Geschäft, die weltberühmte Nabluser Olivenseife kaufen. –

(7) arab. Bezeichnung für Verkaufsbude, Markt; oft überdacht.

Balata

Unerwartet rief Hamads Freund Mohammed aus dem Balata-Camp am frühen Abend im Hotel an, wir könnten ihn jetzt sofort besuchen. Evi und ich machten uns auf den Weg. Obwohl der Taxifahrer einen Zettel mit genauen Instruktionen hatte, setzte er uns an einem falschen Eingang ab. Irgendwie klappt das nie. Nach einer Weile fanden wir mit Hilfe zweier Jungen Mohammeds Wohnung. Das Camp ist
etwa 1 x 1 Kilometer groß und beherbergt mindst. 22.000 Flüchtlinge. 50 Prozent aller Einwohner sind unter 15 Jahre alt. Die Armee kommt fast jede Nacht. Mohammed darf als Ex-Prisoner Nablus nicht verlassen. Er hatte vor einigen Jahren einem Freund Unterkunft gewährt, daraufhin steckte man ihn wegen Kontakts zum militanten Widerstand zwei Jahre ins Gefängnis. Er führte uns zusammen mit einem Chikagoer und einem Fotografen aus England durch die engen Betongassen. Kleine Kinder spielten mit Waffen, es war trist
und deprimierend – wir waren übermüdet, hungrig, durstig und hatten von diesen Bildern erstmal genug. Mohammed studierte Internationale Beziehungen und war etwa 25 Jahre alt. Er bezeichnete sich als Anarchist. Als wir wieder ins Hotel kamen, hatte Maddi schlechte Laune und von allem die Nase voll. Kurze Zeit vorher waren zwei Männer mit Kalaschnikows ins Hotel gekommen. Sie sind zu einem Tisch gegangen, an dem sich zwei junge Paare unterhielten und Kaffee tranken. Da in den Augen der beiden Männer die Frauen zu jung waren, legten sie mit dem Gewehr an. Da man ihren Forderungen nicht nachkam, luden sie durch – dann gingen die Mädchen weg.

Frühe Nacht

Jetzt ist es 20.59 und wir warten. Ich sitze in der Badewanne, Evi ist unten im Foyer, die Lage peilen, Maddi holt Arak – wir haben noch schnell einen gekippt und könnten uns mit dem Gedanken an Nachschub ganz gut anfreunden. Den Mann von den Al-Aksa-Brigaden haben wir erstmal abgeschrieben – es war ihm vermutlich zu riskant.(8) Gegen 22 Uhr klingelte das Telefon, Hamad war dran und meinte, der Mann vom Islamischen Jihad wäre da. Ich ging runter und im Büro saß unser Mann vom Stadtrundgang. Er fragte, ob wir nun bereit
wären, ich bejahte und er meinte, der Mann vom Islamischen Jihad wäre ebenfalls bereit – er wäre der Mann. Er amüsierte sich sichtlich, entschuldigte sich aber sogleich, er habe schließlich erst klarstellen müssen, woran er mit uns sei. Ich rief Evi an und sie kam runter. Maddi war scheinbar bei Jemal hängengeblieben. Wir befragten den Mann etwa eine Stunde lang. Sein großes Ziel war es, als Märtyrer aus dem Leben zu gehen und er wurde zunehmend sympathischer, offener, herzlicher. Wenngleich sämtliche Themen religiöser Natur mit dem Heiligen Koran beantwortet wurden. Gott ist eine faustgrobe Antwort (Nietzsche). Für das Interview zeichnete er mit dem Namen Abu Islam. Am Ende waren wir guter Laune und traurig zugleich. Wir hatten die Schnauze von allem hier gestrichen voll und wir wollten nicht, daß er stirbt. Wir verabschiedeten uns und gingen aufs Zimmer. Ein Stündchen später kam Maddi relativ besoffen reingewankt und verkündete, er wäre der Master der Westbank! Jemal hätte die Türen zugesperrt, da Soldaten in der Nebenstraße schossen. Herein schneiten noch zwei Schwule, meinte Martin. Jemal war bereits derart zurechtgemacht, daß sein Kinn sich die meiste Zeit auf der Brust abstützte. Maddi saß aber wegen der Israelis fest und mußte weiter Arak trinken. Es war wohl eine obskure Runde. Als Jemal vorschlug, Maddi solle nachher mit zu ihm kommen und seine Frau beglücken, wurde es Maddi zu bunt und er schlug sich trotz Rausch und Soldaten ins Hotel durch. So wurde er der Master der Westbank, so oder so ähnlich – der Zusammenhang wurde mir nicht ganz klar. Nachdem Maddi verhalten ins Klo reiherte und zu Bett ging, rief Jemal an, der scheinbar etwas traurig war. Hamad wimmelte ihn aber ab.

(8) Laut www.zajel.org, einer Informationsseite der Al-Najah-Universität Nablus, sowie laut Palestine News Network, einer unabhängigen Nachrichtenagentur, wurde am 31.8.2006 Fadi Kafisha, der 27jährige Führer der Al-Aksa-Brigaden Nablus am frühen Morgen von israelischen Soldaten erschossen.

Rückzug

Um 11 Uhr ging ich ins Büro der PPP und traf zwei Vertreter der PFLP, Zaher al Shashtare und Ghassan Abu Hneish. Ich befragte sie 45 Minuten lang und war halbwegs zufrieden. Was bedeutet, daß meine Erwartungshaltung, die in der Regel mit dem Schlimmsten rechnet, enttäuscht wird. Der eine schien die eine oder andere Kleinigkeit lieber für sich behalten zu wollen.

Interviews mit Zaher Al Shashtare und Ghassan Abu Hneish (PFLP). Das Interview wurde in Nablus geführt
und von Tamer Fahed übersetzt.

Seit wann sind Sie Mitglieder der PFLP?
Seit 20 oder 25 Jahren …
Wie viele Mitglieder hat die Volksfront?
Viele. Wo immer Sie in der Welt Palästinenser treffen, finden Sie Mitglieder der PFLP. Wir stehen allerdings unter Besatzung – es ist also
nicht gut, über Zahlen zu reden.
Wie sind Ihre Beziehungen zur PPP [= Palestinians People’s Party]?
Wie arbeiten alle zusammen als Einheit. Wir kämpfen für die Rechte der Palästinenser. Unter den linken Parteien herrschen gute Beziehungen.
Bezeichnen Sie sich als Kommunisten?
Oh nein.
Was sind Ihre grundlegenden Ziele?
Wir glauben an Marx, Demokratie und Freiheit.
Aber Marx war Kommunist … er wollte die kommunistische Gesellschaft!?
Es gibt Unterschiede in der Auslegung. Wir stimmen im Prinzip mit den Kommunisten [= PPP] überein, aber sie nicht mit uns.

Befürworten Sie bewaffneten Widerstand?
Absolut, ja. Alle Formen des Widerstands sind angemessen. Die Palästinenser müssen für ihre Freiheit kämpfen.

Gab es Kontakte der PFLP zu sozialistischen Ländern vor 1990?
Wir hatten sehr gute Beziehungen, wir wurden unterstützt. Abgesehen davon bildeten wir verschiedene Gruppen und Personen militärisch aus: Deutsche, Kurden, Lateinamerikaner … In den 70er Jahren standen wir mit allen Befreiungsorganisationen in Verbindung. Es kam auch zur Kooperation bei militärischen Operationen.
Bilden Sie immer noch aus?
Nach 1982 so gut wie nicht mehr. Wir haben nur noch vereinzelte Kontakte. Wir bemühen uns eher um Kontakte zur UNO …
Gab es Beziehungen zur IRA?
Ja. Heute aber nicht mehr.

Was für Beziehungen?
Wir glauben, daß alle Völker, die vertrieben werden oder besetzt sind, das Recht haben, zu kämpfen und Widerstand zu leisten.
Möchten Sie den „Gegner“-Lesern noch etwas sagen?
Wir respektieren Deutsche. Wir laden sie ein, aktiver zu werden und mitzuhelfen, die Besatzung zu beenden. Palästinenser leiden seit
mehr als 50 Jahren. Aber wir lernen viel von anderen Ländern. Z. B. von Deutschland, als es Polen besetzte. Von Italien, als es Libyen besetzte oder von den Franzosen, die Algerien besetzten – es starben dort mehr als 1 Million Menschen – aber irgendwann verschwanden sie, irgendwann ist die Besatzung vorbei. Wir werden unseren Widerstand fortsetzen, selbst wenn wir für die nächste Generation kämpfen.

Parallel dazu

Evi interviewte noch eine der Frauen, die im Hotel tagten. Die entpuppte sich wohl als mißtrauische Kuh. Danach verabschiedete Evi sich im Buchladen. Wir alle sagten Hamad Goodbye und fühlten uns schlecht und traurig, da wir gehen konnten, er aber, wie wir immer sagten, im „Kessel von Nablus“ hocken blieb. Hamad gab sich aber keiner Schwäche hin. Am Huwwara-Checkpoint standen wir etwa eine Stunde. Maddi und ich erst in der Männerschlange, da regte sich aber nicht viel. In der Nacht zuvor hatten vier Palästinenser versucht, die Grenze auf eigene Faust zu überqueren, einer wurde erschossen, drei verletzt. Dementsprechend angespannt war die Stimmung. Hin und wieder wurde ein Mann durch das Drehkreuz gerufen, auf dem Rücken gefesselt und von einem Israeli durchsucht. Ein zweiter Soldat
zielte derweil mit seiner Knarre auf den Kopf. Wenn die etwa 60 Schlange Stehenden unruhig wurden und manchmal
dazu ein durch Mark und Bein gehendes sirrendes Geräusch trällerten, kam ein Soldat, legte an, schlug gegen die Eisengitter und scheuchte die Männer etwas zurück. Nach 15 Minuten wechselten wir in die Frauenschlange, wie uns von den Palästinensern empfohlen wurde. Dort standen an die hundert Frauen, eng aneinander gedrängt, auf den Armen oder zwischen den Beinen die schreienden, weinenden Kinder – Nerventerror. Auch hier legten die Soldaten gern mal an und luden durch, um sich Respekt zu verschaffen. Ansonsten
amüsierten sie sich sichtlich …

Nachdem wir durch waren, stiegen wir in ein Sammeltaxi nach Ramallah. Es folgten drei weitere Checkpoints – irgendwann waren wir da. Ramallah, hügelig und belebt, war eine angenehme Abwechslung. Wir gingen ins Al-Kasaba-Theater, wo wir George Ibrahim trafen, den wir bereits kannten. George ist Direktor dieses Theaters und Schauspieler. Er ist wohlhabend, relativ berühmt und ein guter Mann. Nach
sechs Monaten EU-Boykott pfiff er auf dem letzten Loch. Wir hatten ihn aus Nablus angerufen und um eine Übernachtung gebeten, zur Not auf dem Fußboden einer Umkleidekabine. Er wirkte nun mißmutig, fast übellaunig. Seine Truppe war in der ganzen Welt zu Gast, nur in Deutschland würde man sie, weil sie Palästinenser sind, nicht wollen. Nichtsdestotrotz lächelte er gelegentlich, nur schien es, als müsse er sich Mühe geben. Selbst uns gegenüber verhielt er sich im Gespräch aggressiv und lastete uns indirekt das ignorante Verhalten deutscher Scheuklappenpoltik an. Ich war froh, als er uns endlich in einer Wohnung, 5 Minuten vom Zentrum, absetzte, die er uns freundlicherweise zur Verfügung stellte. In der Wohnung lebte eine nette junge Frau namens Samira. Sie war deutsch-arabischer Abstammung und arbeitete fürs Goethe-Institut Ramallah, was sie auf Grund dessen post- oder neokolonialen Gebarens nicht sonderlich mochte. Ich sprach sie auf den ehemaligen Leiter an, einen gewissen Dr. Wüst, über den ich gelesen hatte. Sie bestätigte meine Informationen: Auf die Frage einer Journalistin, wie er es in einer Stadt aushielte, an deren Wänden Plakate von Terroristen hingen, antwortete er, diese wären in seinen Augen keine Terroristen, sondern Freiheitskämpfer. Nachdem sich die Journalistin durch nochmaliges Nachfragen davon überzeugt hatte, richtig gehört zu haben, kam es zum Eklat. Jener Dr. Wüst, laut Samira ein ausgezeichneter Mann, Nahostexperte, flüssig des Arabischen und Hebräischen mächtig, wurde im Anschluß nach Indien versetzt. Abends tranken wir Bier, Wein und Wodka.

Interview mit Sari Orabi (Hamas). Das Interview wurde in Ramallah geführt. Sari Orabi ist der Chefredakteur
des Journals Al Islah Forum*, dem Parteimagazin der Hamas.

Seit die Hamas die Wahl gewonnen hat, was ist seitdem passiert?
Ich war im Gefängnis, als die Wahl stattfand …
Wieso waren Sie im Gefängnis?
Wegen Mitgliedschaft in der Hamas – dies ist per Gesetz in Israel verboten.
Wie war die Situation nach der Wahl?
Vor der Wahl wurden fast alle Mitglieder der Hamas durch die israelische Besatzung verfolgt und ins Gefängnis gesteckt. Die politischen Führer waren alle im Gefängnis. Alle, die in den Hamas-Medien gearbeitet haben, wurden inhaftiert. Alle diejenigen, die während des Wahlkampfs aktiv waren, wurden eingesperrt und diese Situation hält bis jetzt an. Diejenigen, die inhaftiert wurden, waren nicht Teil einer militärischen Bewegung, sondern vor allem in sozialen und kulturellen Einrichtungen aktiv. Die Hamas hat für die Wahl zwei Dinge versucht zu erreichen: Einmal, daß wir als eine Bewegung oder Widerstandsbewegung von der gesamten Gesellschaft unterstützt werden.
Zweitens wollten wir zeigen, daß diese Besatzung unmoralisch ist. Diese Okkupation arbeitet gegen die gesamte palästinensische Gesellschaft und nicht nur gegen militante Aktionen. Obwohl die israelische Kampagne sehr massiv war, haben wir geglaubt, daß die Maßnahmen der Israelis nicht der Hamas und ihrem Wahlergebnis schaden wird, denn die Bevölkerung unterstützt immer diejenigen, die gegen die unmoralische Besatzung kämpfen. Wir hatten damit gerechnet die Wahl zu gewinnen, aber nicht mit dieser Mehrheit. Wir sind froh darüber, daß wir gewonnen haben. Es ging uns nicht ums Gewinnen, sondern darum, daß die Lügen, welche Israelis und einige Teile des Westens erzählt haben – wir seien Terroristen und so weiter – daß diese Lügen entlarvt werden. Die Wahl wird klarmachen, daß die Leute uns gewählt haben und wir keine Terroristen sind.
Was denken sie über den militärischen Kampf als Form des Widerstandes?
Wir hatten gehofft, daß der Konflikt zwischen uns und den Israelis beendet worden wäre, ohne einen einzigen Menschen zu verletzen oder
zu töten. Aber von Anfang an gaben die Israelis den Palästinensern nichts. Auch in der Zeit, in der einige Palästinenser einen Friedensvertrag mit den Israelis hatten. Aber Israel hat diese Friedensabkommen nicht respektiert. Sie haben sogar Gebiete wiederbesetzt, die schon der palästinensischen Autonomiebehörde gegeben worden sind. So haben sie angefangen, gegen Jassir Arafat zu arbeiten, der mit ihnen die Verträge gemacht hat. Sie haben immer auf Kosten unserer Sicherheit für ihre Sicherheit gearbeitet. Immer, ohne uns etwas zu geben.

Wie sehen sie die weitere Entwicklung und die Zukunft? Es scheint, daß die Hamas gar nicht arbeiten kann. Man sieht hier in diesem Büro, daß niemand arbeitet …
Wir leben mit den Menschen und der gesamten Gesellschaft hier. Überall in den Schulen, in der Moschee, in den Universitäten und auf den
Märkten. Auch wenn sie sehen, daß das Büro leer ist, so arbeiten wir doch innerhalb der Gesellschaft. Der Druck der Israelis gegen uns
macht uns nicht schwächer. Wir sind jetzt noch stärker. Erst vor kurzer Zeit gab es Wahlen im Bereich des Ingenieurwesens und für einige Abteilungen der UNRWA** und in beiden Wahlen hat die Hamas gewonnen. Sie haben sehr gute Resultate erreicht. Das zeigt, daß der Druck der Israelis auf Hamas dazu führt, daß Hamas noch stärker wird; stärker, als sie erwartet haben. Wir erwarten, daß, wenn die Israelis mit ihrem Druck – nicht nur mit dem auf Hamas, sondern mit dem Druck auf die gesamte Gesellschaft – fortfahren, daß uns dies zu einer Explosion in der gesamten Region führt, nicht nur hier.
Was wäre für Hamas die perfekte Lösung für den Konflikt in Israel and Palästina? Zwei Staaten oder ein Staat?
Hamas hat zur nationalen Gemeinschaft ein politisches Konzept präsentiert und dieses ist pragmatisch. Wir als Palästinenser bekommen
einen Staat auf den Gebieten von 1967, die Flüchtlinge kommen zurück und alle Gefangenen werden zurückgegeben und befreit. Wir haben die volle Hoheit über unser Land. Wir sprechen über das Meer, die Luft und die Grenzen. Die Palästinenser müssen die einzigen sein,
die diese Dinge verwalten. Ohne Siedlungen und mit der Möglichkeit, allein über unsere Grenzen zu verfügen. Dies wäre eine Sache, die
für die nächsten zehn Jahre mit den Israelis zu verhandeln wäre und somit einen Waffenstillstand zu vereinbaren.
Also zwei Staaten, Israel und Palästina?
Ja, Israel und Palästina. Dieser Standpunkt sagt natürlich nicht, daß das Gebiet von 1948 nicht für Palästinenser in der Zukunft ist. Wir sagen, für eine Zeitspanne von einigen Jahren können alle Kriegshandlungen beendet werden, aber wir sagen, daß wir immer noch das Recht auf dieses Land haben, da es sich um eine Besatzung handelt. Sie sind in unserem Land und besetzen es. Warum übt die ganze Welt Druck auf Palästina aus, in einer Zeit in der im israelischen Parlament, der Knesset, Parteien sind, die fordern, daß alle Palästinenser aus Palästina raus sollen? Leute, die sich für den „Transfer“ aussprechen, auch für den „Transfer“ der Palästinenser, die in Israel leben. Wieso hören wir niemanden über diese Leute sprechen? Wieso sagt niemand über sie, daß sie Terroristen sind? Wir hören nur, daß so über Hamas gesprochen wird. Alle wissen, daß dies eine Besatzung ist. Der Westen trifft eine unmoralische Unterscheidung zwischen der
israelischen und der palästinensischen Seite, insbesondere in Bezug auf die Hamas.
Welche israelische Partei fordert den „Transfer“?
Ze’evi z. B. – er war Minister unter Ariel Sharon. Er ist nun tot. Aber er hat als Minister den Transfer der Palästinenser gefordert. Libermann z. B. ebenfalls. Er ist noch jetzt im Parlament. Mevdal Partei. Sie glauben nicht, daß die Palästinenser in den palästinensischen Gebieten leben sollen. Auch in den großen Parteien findet man Vertreter der Transferidee. Sogar im Likud gibt es Leute, die nicht glauben, daß wir das Recht haben, einen Staat hier zu haben. Sie haben einige Verträge mit uns, aber sie geben uns nicht all unsere Rechte. Auch in diesen Abkommen haben sie niemals dafür gestimmt, einen vollständigen palästinensischen Staat zu haben. Sie haben nur über die Rechte der PLO gesprochen.
Was ist die Haltung der Hamas zu Gruppen wie dem Islamischen Jihad oder zu anderen, z. B. linken, Parteien?
Die Hamas ist offen gegenüber allen palästinensischen Gesellschaftsparteien. Da Hamas auf sie in einer demokratischen Art schaut, haben sie das Recht zu arbeiten. Hamas hat sehr gute Beziehungen mit all diesen Parteien.

Haben sie eine Botschaft für die Leser dieses Artikels?
Ich habe zwei Botschaften. Einige Mitglieder des europäischen Parlaments und der Europäischen Union haben uns vor der Wahl gesagt, daß, wenn wir an der Wahl zur Palästinensischen Autonomiebehörde teilnehmen, sie uns unterstützen werden. Das gilt für viele Länder.
Das Seltsame nach den Wahlen war aber, daß all diese Leute aus diesen Ländern nichts taten, um die Demokratie, an die sie glauben, zu
unterstützen. Hamas ist nun auf demokratischem Weg an die Spitze der Palästinensischen Autonomiebehörde gelangt. Wir dachten, daß die
Reaktion Israels nicht verwunderlich ist, denn sie sind die Besatzer, aber wir fanden es seltsam, wie Europa mit dieser Sache umging. Wir sehen, daß dies ein großer Widerspruch ist und denken, daß die Europäer in einer anderen Art und Weise auf dieses Thema schauen sollten. Die zweite Botschaft ist, daß wir darum bitten möchten, immer beide Seiten zu hören, denn wir wissen, daß die israelische Regierung und die israelische Besatzung von den meisten Regierungen in Europa und Amerika unterstützt wird.

Wir verstehen, daß ihr vielleicht nicht die Wahrheit kennt. Wir sind sehr dankbar, daß ihr hier hergekommen seid, um jemanden anzuhören, der nicht zur israelischen Seite gehört, sondern zu denen, die gemeinhin als Terroristen angesehen werden. Wir fordern alle Journalisten und Gemeinschaften auf, hierher zu kommen und von beiden Seiten zu hören, was wirklich vor sich geht.

* Erscheint wöchentlich, geplant ist ein Tagesblatt.

** United Nation Relief and Work Agency

Reise nach Jerusalem. Photo: factoidz.com

Air out – Mo / Di / Mi

Da wenig Erwähnenswertes passierte, fasse ich mich kurz und beschlossen wir, Mittwoch die Rückreise anzutreten. Am Montag fuhren wir noch in die Gruft, nach Jerusalem. Maddi verbrachte am Dienstag noch mehrere Stunden beim Roten Halbmond Ramallah / Al Bireh (Doppelstadt), um letzte Informationen für unseren Auftragstext einzuholen. Ich ging zu George Ibrahim und befragte ihn zum Al Kasaba, da ich vorhabe, für Theater der Zeit einen Artikel zu schreiben. Evi plagten Dünnpfiff, Flöhe und eine allgemeine Lebensmüdigkeit. Außerdem mußte sie zu Hause bleiben, da ich Pappnase versehentlich den Wohnungsschlüssel mitnahm. Dann lief ich zum Isra-Gebäude, in dem ich das Büro der Parlamentsabgeordneten der Hamas fand – und zwar ziemlich verwaist. Da uns die Hamas in unserer Interviewlandschaft fehlte, bat ich um ein Gespräch.

Von den 7 Abgeordneten Ramallahs saßen fünf Vertreter dieser rechtmäßig gewählten Organisation im Gefängnis. Nr. 6 war seit Wochen unauffindbar (und vermutlich abgetaucht). Die siebte, die gleichzeitig im Frauenministerium arbeitete, und nur, wie man vermutete, auf Grund ihres Geschlechts noch nicht abgeholt wurde, war „zur Zeit nicht erreichbar“. Ich schlug vor, einen Büro-Mitarbeiter über die katastrophale Situation vor Ort zu befragen. Als wir begannen, merkte ich schnell, daß ihm unwohl dabei war – zumal: er fühlte sich nur als kleines Rädchen. Immerhin fand sich zuguterletzt ein mutiger Mann: Sari Orabi – der Chefredakteur des wöchentlich erscheinenden
Hamas-Journals Al Islah Forum. Dieser machte einen überdurchschnittlich intelligenten, äußerlich stinknormalen Eindruck. Er hätte auch einen Computerprogrammierer in einer deutschen Großfirma abgeben können. Er sprach und dachte, soweit ich das beurteilen kann, schnell, präzise und wohlüberlegt. Oftmals hatte ich den Eindruck, daß Araber schneller sind als unsereins. Man merkt das an Untertiteln
in arabischen Fernsehsendungen – man kann kaum folgen. Macht man sich die Mühe, diese wiederholt oder in Zeitlupe zu lesen, staunten wir oft, wie schlagfertig und zugleich klug manche redeten. Evi pflegt gelegentlich zu schimpfen, wenn sie über deutsche Kommilitonen und Professoren spricht, wer lahmarschig redet, denkt lahmarschig… Dieser Mann verkörperte jedenfalls das glatte Gegenteil. Nicht die Spur eines Fanatikers. Er saß wegen Mitgliedschaft 1998, 2001-2003, 2004-2005 und 2005 im Gefängnis, zusammengerechnet 4 Jahre. Wie immer bedankte er sich ernsthaft für mein Interesse, erwähnte nebenbei, daß vor Antritt der Wahlen 20 bis 40 Interviews pro Tag zu

absolvieren waren; nach dem Wahlsieg verirrten sich allerdings nur noch selten ausländische Journalisten in die Hamas-Büros. Ein Foto verbat er sich, stattdessen lichtete ich die herrliche Stadt-Landschaft Ramallahs ab, die der Blick aus dem Büro, welches hoch im 6. Stock gelegen war, bot. Mittwoch gegen 15 Uhr kamen wir guter Dinge in Amman an.

Interview mit Abu Islam (Jihad). Das Gespräch wurde am 19. August 2006 von Evamaria Haupt und Alexander Krohn in Nablus geführt.

Abu Islam: Zuerst möchte ich mich bei euch entschuldigen, denn ich habe heute nachmittag nicht die Wahrheit gesagt. Als ich sagte, daß ich sicher sei, daß ihr heute ein Interview mit dem Islamischen Jihad haben werdet, meinte ich, daß ich am Abend wiederkomme. Für uns ist es genug, daß ihr aus Deutschland hierher kommt, um euch anzuschauen, was am Boden passiert. Wir lügen nicht über das, was hier in Palästina oder in Gaza vor sich geht. Wir schätzen es sehr, daß ihr aus Deutschland hierher kommt und wir wissen, wie viel Probleme euch das von Seiten der Israelis bereitet. Ihr kommt, um die Wahrheit zu sehen und zu sagen. Das ist richtig. Danke. Ihr seid beide herzlichst willkommen in Nablus.
Was wir über die Gruppen des Islamischen Jihads wissen ist, daß die erste ursprünglich in Syrien gegründet wurde …
Ja. Der palästinensische Islamische Jihad war zuerst ein Teil der Fatah. Dort hatten wir eines der Gründungsmitglieder. Sein Name war Abu Jihad. Der Mossad hat ihn in Tunis umgebracht. Abu Jihad – Khalil Wazir ist sein Name – begann den Menschen zu erklären, daß nicht nur die Hamas, sondern auch ein Teil der Fatah religiös ist. Er und einige andere starteten mit Fatih Shiqaqi den Islamischen Jihad in der selben Zeit, in der auch die Hamas ihre Arbeit begann und als religiöse Bewegung auftrat.
Wann war das?
1982.

Das erste, was viel Beachtung in der Welt erfahren hat, war, daß 1983 die US-Botschaft in Beirut, und damit das CIA-Center des Nahen Ostens, bombadiert wurde?
Ja, das war 1983. Der Islamische Jihad, zusammen mit der Hizbollah.
Man kann also sagen, daß der Islamische Jihad von Anfang an an bewaffneten Widerstand und Kampf glaubte. Ist das richtig?
Am Anfang, als der Islamische Jihad den Kampf mit Waffen begann, hatten wir eine Idee in unseren Köpfen und diese lautete, daß wir kein
Abkommen mit den Israelis haben und wir Israel nicht anerkennen. Dies ist unser Land und wir halten es mit diesem Prinzip. Wir wollten Palästina befreien. Das ist das Hauptziel aus dieser Zeit und wir glauben heute noch daran. Ihr kennt das Osloer Abkommen – Hamas war zu dieser Zeit auch nicht damit einverstanden, aber jetzt ist die Hamas im Parlament. Das Parlament der Palästinenser kam aber durch das Osloer Abkommen zustande. Wir im Islamischen Jihad, wir sind nicht im Parlament. Wir treten selbst nicht in Verhandlungen und wir sprechen auch nicht mit den Israelis, denn wir glauben, daß dies unser Land ist. So wie die Okkupanten in unser Land kamen, interessiert es uns nicht, was mit ihnen ist. Das ist unser Land, unser grünes Land, und wir wollen es zurück.

Du glaubst also definitiv nicht an eine Zweistaaten- oder Einstaaten-Lösung?
Wir glauben an eins: Eine Sache, die mit Gewalt genommen wurde, muß mit Gewalt zurückgenommen werden.

Als die Briten Palästina verließen und die Besatzung begann, gab es bereits eine jüdische Bevölkerung hier. Sie lebten meist sehr gut mit Palästinensern zusammen …

Diejenigen, die hier lebten, waren 20 Prozent der Bevölkerung in Palästina. In dieser Zeit hat das jüdische Volk hier gearbeitet und mit den Palästinensern gelebt. Diese Leute empfinden wir als Leute von uns. Wir haben keine Probleme mit ihnen. Nur diejenigen, die aus anderen Ländern kommen, mit diesen haben wir große Probleme, denn sie kommen in dieses Land, sie besetzen das Land und sie nehmen uns unser Zuhause. Sie wurden von ihren Eltern hierher gebracht, aber das ist nicht unser Problem. Sie sollen dahin zurückgehen, wo sie herkommen.

Übersetzer: Ich glaube, ich verstehe, was er meint. Wenn ihr euch z. B. entscheidet, hier zu leben und euch ein Haus kauft und ihr entscheidet euch, den Rest eures Lebens in Palästina zu verbringen, so wird euch niemand rauswerfen. Ihr könnt hier leben. Aber wenn ihr hier lebt und eure Verwandten anruft und eure Nachbarn zwingt, ihr Haus zu verlassen, ihr kauft es nicht, sondern ihr zwingt sie einfach dazu, rauszugehen, dann wäre das ein Problem. Er will euch etwas fragen:
Abu Islam: Wenn ihr in eurem eigenen Haus lebt und ein Fremder kommt und besetzt euer Haus und läßt euch nicht mehr rein. Was würdet ihr tun? Er nimmt es mit Gewalt, versteht sich.

Generell stimme ich zu. Den Palästinensern wurde ihr Land genommen und das ist unrecht. Ich persönlich mag die Idee von Eigentum aber sowieso nicht. Ich denke nicht, daß es eine gute Idee ist, den Planeten in viele kleine Teile zu zersplitten, Grenzen zu errichten und allen zu erklären: das ist meins, das ist deins und ihr bleibt da. Die einzige Chance ist, es allen zugänglich zu machen.
Was mit Gewalt genommen wurde, kann nur durch Gewalt zurückgeholt werden. Zuerst haben wir alle Organisationen verhandeln lassen. Sie haben versucht zu verhandeln. Aber das hat nicht funktioniert. Deshalb haben wir uns entschieden, uns zu bewegen und dagegen
anzugehen. Wir sind die einzige Organisation, die nicht in der Befreiungsorganisation [PLO] ist, so wie Fatah, PFLP, PPP und DFLP und so weiter. Wir sind die einzige Organisation, die im Moment nicht an Oslo glaubt.
Du hast die PPP erwähnt. Wir haben sie ebenfalls interviewt und sie sagen, sie glauben nicht mehr an den bewaffneten Widerstand. Sie sagen, sie waren einige der ersten, die bewaffnet gekämpft haben, aber nun glauben sie nicht mehr, daß es wirksam ist. Für sie macht es mehr Sinn, eine Demonstration mit 50.000 Leuten zu organisieren. Die Strategie der westlichen Länder ist es im Moment, aus jedem
Widerstandskämpfer einen Terroristen zu machen. Das ist die Idee. Du kannst das in vielen Ländern sehen …
Du meinst im Irak, im Libanon, in Afghanistan etc.
Ja, aber auch in anderen nichtarabischen Ländern wie z. B. in Mexiko. So sagte die PPP, sie kennen diese Strategie. Wenn jemand einen erschießt, dann nutzen sie das in den Medien und nennen ihn einen Terroristen. Viele Menschen, die schlecht informiert sind, sagen dann: Oh, das ist schlimm. Darum haben sie sich entschieden …
Sich entschieden, nicht zu kämpfen und politische Mittel zu nutzen …
Ja, genau. Deshalb. Denn man kann nicht sagen: da demonstrieren 50.000 Terroristen. Auch wenn von israelischer Seite das Gegenteil behauptet wird.
Wenn wir die PPP erwähnen: Diese Organisation hat ihre eigenen Gedanken und sie glauben an ihre eigenen Dinge und wir glauben an unsere Sachen. Die PPP hat das Land von 1948 aufgegeben und sie glauben nur an 1967. Sie wollen nur einen Teil befreien, nicht alles.
Nach den Vereinbarungen von 1967 haben sie nur einen Prozentsatz des Landes genommen. Das war am Anfang. Und nun sprechen sie nur noch über 13 Prozent dieses Landes.
Wir dachten, es seien 18 oder 22.
Nein, 13. Wenn ihr über den westlichen oder amerikanischen Standpunkt sprecht – ich spreche natürlich nicht über amerikanische Zivilisten, sondern über die amerikanische Armee oder Regierung – natürlich sehen sie in jedem, der gegen die Besatzung kämpft, einen Terroristen. Wenn das so ist, dann bin ich stolz, der erste Terrorist in der Welt zu sein, während ich mein eigenes Land verteidige. Wenn sie mich als einen Terroristen ansehen, dann bin ich auch stolz, ein Terrorist zu sein …
Aber da ist ein Unterschied zwischen Terrorismus und Widerstand. Widerstand kämpft normalerweise gegen Aktivitäten, die der eigenen Bevölkerung schaden.

Es gibt ein Prinzip in den Genfer Konventionen. Jede Bevölkerung unter Besatzung hat das Recht, sich zu verteidigen. Im Einklang mit den UN und diesem Prinzip verteidige ich also mein eigenes Land. Ich bin ein Widerstandskämpfer und kein Terrorist. Ich denke auch, wenn eure Regierung oder ihr selbst den amerikanischen Anordnungen nicht gehorcht, dann werden sie euch Terroristen nennen.
Ja klar. Drei Fragen zwischendurch: Gebt ihr viele Interviews in europäischen Medien?
In der Vergangenheit habe ich ein Interview gegeben, aber nicht im Namen des Islamischen Jihads. Einige Minuten bevor ihr gekommen seid, habe ich meinen Freunden gesagt, jetzt bin ich derjenige, al hamdu lillah al rahman al rahim, der, wenn er zu den Medien sprechen will, dies tun kann. Ich bin der einzige in Nablus, der in den Medien sprechen wird. Das hat zwei Gründe: Ich weiß, wie ich sprechen werde und wie ich etwas ohne Gewalt erkläre. Dies ist das erste Interview im Namen des Islamischen Jihads und wann das nächste stattfinden wird, weiß ich nicht.
Wie alt bist du?
29.
Eine andere Sache ist, daß die Etablierung des israelischen Staates fast 60 Jahre her ist. So habt ihr 2 oder fast 3 Generationen von Leuten, die hier gelebt haben, also Kinder etc., die in einem Land namens Israel aufgewachsen sind. Das macht es schwierig, dem Gedanken zu folgen, sie alle rauszuschmeißen.
Es ist sehr schwer, sie rauszuwerfen. Okay. Aber was ist mit den Palästinensern, die hier leben? Oder in Damaskus oder Jordanien oder im Balata-Flüchtlingslager? Was ist mit ihnen? Laß uns sagen, beide sind Menschen. Aber wir als Palästinenser, wir sind in der amerikanischen Sprache Terroristen. Okay. Amerika liebt die Israelis. Nehmt sie und gebt ihnen einen Platz und laßt sie dort. Wieso kommen sie hierher? Wieso müssen sie hier leben? Palästina liegt zwischen all den arabischen Ländern, wie Jordanien, Ägypten, Libanon, Syrien. Es liegt in der Mitte. Amerika unterstützt Israel und liefert Waffen und all diese Dinge, weil es glaubt, daß dieses Land den Israelis zusteht.Okay …
Übersetzer: Es tut mir leid, dich zu unterbrechen, aber ich habe einen anderen Standpunkt. Ich bin damit nicht einverstanden. Denn ich denke – das ist meine persönliche Meinung – die USA unterstützen Israel, nicht weil sie das Land mögen, sondern um das Öl im Nahen Osten zu klauen etc.
Wenn du mich nur hättest ausreden lassen, dann hätte ich das gesagt. Aber jetzt holen sie Juden aus verschiedenen Ländern. Okay. Amerika ist groß. 250 Millionen oder was?
Übersetzer: 265, vielleicht.
Ja, so was in der Art. Okay, ich denke, es wäre nicht falsch, wenn sie noch weitere 5 Millionen nehmen, denn sie haben Platz, sie bei sich
aufzunehmen. Warum kommen sie hierher in unsere Heimat?
Übersetzer: Oder bringt einfach uns dahin! Schaut auf die Karte. Palästina ist in der Mitte. Du kannst von hier aus in verschiedene Länder gehen. Vor der Besatzung war es ein Verbindungspunkt zwischen den arabischen Ländern. Wieso haben sie zwei oder drei Generationen hier? Ich bin ein Flüchtling. Alle meine Verwandten sind Flüchtlinge, während Israel permanent jüdische Einwanderer aufnimmt. Sie könnten den Flüchtlingen außerhalb Palästinas, z. B. denen aus Syrien und dem Libanon, hier Land geben.
Da haben wir die gleiche Meinung. Aber so traurig es ist, es gibt einen Unterschied zwischen 1948 und 2006. Sie haben hier ihr Leben aufgebaut. Ich spreche nicht über Soldaten, sondern über Leute, die vielleicht ignorant gegenüber dem Leiden der Palästinenser waren, aber sie sind hier aufgewachsen und fühlen sich hier ebenfalls zu Hause. Man kann sie nicht einfach umplazieren.
Übersetzer: Sie wären Fremde in einem neuen Land, sie würden sich fühlen, als wären sie außerhalb. Sie würden sich wie palästinensische
Flüchtlinge fühlen.

Ja, zum Beispiel.

Wie auch immer. Sie sind hier. Die Palästinenser haben die gesamte Zeit gelitten. Als Fremde in ihrem eigenen Land. Sie haben die ganze Zeit gelitten, weil sie außerhalb ihres Landes waren. Also als Flüchtlinge. Sicherlich können das die „Israelis“ auch fühlen. Natürlich leiden sie jetzt nicht so sehr wie die Palästinenser. Wieso versuchen sie nicht wenigstens auszureisen? Ich bin Palästinenser. Ich sehe die „Israelis“ und die Palästinenser als Menschen. Aber wieso sollen die Palästinenser als Fremde in ihrem Land leiden, und die Israelis können tun, was sie wollen. Die Ancient Jews, die hier vor 1948 gelebt haben, können hier bleiben. Sie haben sich selbst als Palästinenser angesehen und sie haben mit den Palästinensern gelebt. Obwohl sie hier als Juden gelebt haben. Sie können ihre eigene Religion behalten. Aber die anderen Generationen, die danach kamen, die gehören nicht hierher und die meisten von ihnen kamen aus westlichen Staaten – sie kamen aus verschiedenen Ländern. Sie können dahin zurückgehen und dort leben. Das ist nicht mein Problem. Und mal nebenbei: Alle Medien sprechen immer über muslimisch – jüdisch, muslimisch – jüdisch. Aber ein Jude kommt von Gott. Wir haben kein Problem mit irgendeinem, der Jude ist. Unser Problem besteht nur mit den Juden, die hierher kommen, um Israeli zu sein. Das ist unser Problem.
Um diese Diskussion vielleicht abzuschließen: Kannst du dir nicht vorstellen – es klingt nicht realistisch im Moment, eher wie ein Traum – wenn die Mauer und die Panzer und die Übermacht der Israelis verschwinden würde, daß auf diesem Territorium zwischen Jordanien
und dem Mittelmeer ein Land entsteht, in dem alle Menschen, die jetzt hier sind, zusammenleben?
Im Heiligen Koran gibt es ein Aja [Vers], das besagt, daß alle Israelis [sic!] von überall hierher nach Palästina kommen werden, um hier zu leben. Ich glaube an den Koran.
Übersetzer: Ich auch. Was du über diesen Traum sagst: Wenn all ihre Macht verschwindet, wie kannst du z. B. mit jemandem leben, der deinen Bruder oder deinen Freund oder deine Schwester getötet hat? Außerdem sagt der Koran – der Koran ist nicht erst zehn Jahre alt, sondern fast 1500 Jahre, also fast – der Koran sagt: wir werden hinter zwei Mauern kämpfen. Die Israelis bauen nun eine Mauer und sie werden eine weitere Mauer erbauen. Wir wissen nicht wann. Der Koran sagt uns, wir werden hinter zwei Mauern gegen sie kämpfen. Und was ich über meinen Traum sagen will – vielleicht ist es ein Traum, daß wir unser Land zurückbekommen werden. Es ist sehr schwierig, diesen Traum wahr zu machen, aber nicht unmöglich.
Darf ich fragen, wie viele Mitglieder der Islamische Jihad hier in Nablus hat?
Al Hamdu lillah, als diese Intifada begann, wurden wir größer und größer und größer und größer. Wir sprechen über Nablus. All die jungen Leute, wenn sie fernsehen und die politischen Sachen betrachten, Oslo, Camp David, all diese Scheiße, dann wissen sie, es ist unmöglich, Frieden mit den Israelis zu machen. Die Zahl wird jeden Tag größer und jeden Tag werden es mehr.
Übersetzer: Kannst du keine genaue Zahl nennen? Al Hamdu lillah, der Islamische Jihad hat jetzt in Nablus mehr als 3000 Mitglieder.
Habt ihr viele weibliche Mitglieder?
Wir haben Frauen, Jungs, Mädchen, wir haben Kinder. Wir haben Leute aus allen Richtungen. Natürlich geben wir den Jungen keine Waffen und sagen ihnen auch nicht: Geht und kämpft! Nein! Für die Kinder ist es genug, nach den Prinzipien des Koran aufgezogen zu werden.
Übersetzer: Bevor sie ihnen die Prinzipien des Jihads nahebringen, lassen sie in ihnen die Liebe zu Gott und den Menschen gedeihen. Zuerst müssen sie an den Koran glauben. Sei kein Rowdy! Hör auf deine Eltern! Sei ein ruhiger Junge!

Übersetzer: Sei nett!
Sei direkt! Lüge nicht! Wir sagen ihm erst all diese Dinge. Dann, wenn er soweit ist, die Politik zu verstehen, dann bringen wir ihm das bei. Nicht nur über den Islamischen Jihad, denn er hat jede Option zu gehen, wohin er will. Islamischer Jihad oder Fatah oder Al-Aqsa-Brigaden oder alles. Er hat all diese Optionen. Er kann wählen, was das richtige für ihn ist.
Was denkst du über nichtreligiöse Leute?
Ich bin mit Gott. Er wird am Tag des Jüngsten Gerichts über jeden Menschen entscheiden. Jeder hat sein eigenes Schicksal. Da Gott am
Ende über jeden entscheiden wird, ist das nicht meine Sache.
Welche Beziehungen habt ihr zu palästinensischen Kommunisten?
Jeder hat seine eigenen Gedanken, und jeder hat seine eigenen Sachen, an die er glaubt. Aber am Ende sind sie alle gleich: Palästinenser. Sie haben eine brüderliche Gemeinschaft und am Ende, wenn es um politische Entscheidungen geht, ist es egal, welcher Religion jemand nachgeht oder was er denkt.
Was für einen Staat stellst du Dir für die Zukunft vor? Laß uns sagen, ihr hättet euer Gebiet, was würdest du dir für einen Staat wünschen?
Natürlich einen islamischen Staat. Alles und nicht nur einen Teil wie 1967. Ich glaube, daß dieses Land ein Zentrum der Religion war; natürlich nicht nur ein Zentrum des Islams, aber ich hoffe, daß der Islam die größte sein würde. Denn als der Islam die größte Religion hier war, lebten alle Religionen in Frieden. Er hatte Kontrolle über das Land. Aber ihr könnt nun sehen, daß die Israelis, die Juden, versuchen alles zu kontrollieren. Sie beleidigen die Muslime und Christen im selben Augenblick.
Übersetzer: Außerdem habe ich in der Schule gelernt, in der Zeit, als die Christen das Land kontrollierten, also in der Zeit von Salahudin, haben sie auch versucht, die Muslime zu unterdrücken und zu eliminieren.
Wenn ihr über die Religion sprechen wollt: Ein Muslim ist nicht besser als ein Christ. Wie kann ich das erklären? Wenn ich einen Christen oder Juden treffe, so behandele ich ihn nicht anders als einen Muslim. Denn am Ende wird Gott uns alle richten. Mir ist es nicht erlaubt, andere Leute wegen ihrer Religion zu verurteilen. Ich bewerte sie nur auf Grund ihrer Taten.
Fast überall auf der Welt nutzt man diese politische Skala von links und rechts, wo würdest du den Islamischen Jihad einordnen?
In der Mitte.
Du hast vorhin über den ehemaligen Anführer des Islamischen Jihad gesprochen. Du sagtest, er sei von den Israelis ermordet worden.
Ja, sein Name war Scheich Ibrahim.
Wann war das?
Vor zwei Jahren.
Seit wann war er der Anführer?
Seit 2001.

Bist du jetzt einer seiner Nachfolger?
Nein, ich bin kein Anführer des Islamischen Jihad. Ich bin ein kleines Licht. Ich habe natürlich einen Anführer. Natürlich habe ich meinen Anführer gefragt, ob ich mit Internationalen sprechen kann. Er sagte, ja natürlich. Ich habe euch bereits gesagt, ich hatte schon Kontakt zu den Internationalen und Al hamdu lillah al rahman al rahim, ich kenne mich gut.
Ist es so unterschiedlich, mit Internationalen zu sprechen?
Da gibt es Leute, die keine Kritik ertragen und keine Fragen akzeptieren. Sie glauben an etwas und sind wie ein Stein oder Felsen. Sie wollen nicht mal diskutieren.
Übersetzer: Laß uns sagen, Abu Islam ist flexibel … Ich möchte noch was ergänzen: Ihr seht, er ist nicht bewaffnet. Und ich habe ihn noch nie bewaffnet gesehen.
Ihr werdet mich auch nie bewaffnet sehen.
Übersetzer: Wenn die Israelis ihn finden, werden sie ihn verhaften.
Alle Mitglieder des Islamischen Jihads glauben daran, Märtyrer zu werden oder zu überleben. Sie glauben nicht ans Aufgeben. Unsere Mitglieder werden so gut wie nie verhaftet, sondern sterben im Kampf.
Aber du benutzt Waffen während einer Militäroperation?
Natürlich. An den Plätzen, an denen ich bleibe oder bleiben möchte, habe ich immer Waffen. Meine eigenen Granaten und meinen eigenen
Sprengstoffgürtel. Ich trage sie immer in der Nacht oder wo ich im Moment wohne. Ich trage den Gürtel, während ich schlafe. Wenn ich keine Kugeln mehr habe, dann benutze ich die Granaten. Am Ende, das ist die letzte Möglichkeit für mich: der Sprengstoffgürtel. Wenn sie kommen und versuchen mich zu verhaften, dann werde ich mich damit umbringen.
Was denkst du über den 11. September?
Wenn jemand die Amerikaner bestrafen will, dann glaube ich nicht, daß er die Macht und das Recht hat, die Menschen zu bestrafen. Sie sind Menschen wie ich oder irgend jemand. Osama bin Laden hatte nicht das Recht, die Menschen in den zwei Türmen zu bestrafen. Denn meine Meinung ist, wenn er von ihnen Revanche für etwas will, dann muß er diese an der Regierung üben, nicht am Volk. Ich glaube daran, denn man muß den Schritten des Korans folgen und dem Propheten. Als er die Ka’aba Sharif betrat, wurden alle muslimischen Soldaten angewiesen: Tötet keine Kinder, keine Frauen, keine Mädchen, keine Alten. Zu den nicht bewaffneten Menschen haben sie
gesagt; wenn ihr die Ka’aba Sharif betretet, oder das Haus von Abu Sufian, dann seid ihr sicher, und wenn jemand die Moschee betritt, ihr werdet sicher sein. Ihr könnt nicht gegen Unbewaffnete kämpfen. Sie wurden sogar dazu angehalten, keine Pflanzen zu zerstören.
Übersetzer: Ich habe noch etwas zu ergänzen. Das was heute passiert ist, das hat nicht den Widerstand repräsentiert. Das war keine
Resistance. [Am Nachmittag erschienen zwei junge Männer im Hotel und forderten mit vorgehaltenen Waffen zwei junge Pärchen dazu auf, ihr Treffen zu beenden.]

Weißt du davon? [An Abu Islam gerichtet.]
Ja.
Warst du damit einverstanden?
Natürlich nicht. Unsere Waffen werden nur in das Gesicht der Israelis gehalten, nicht in das der Palästinenser. Ich habe eine Entschuldigung für diesen Mann und was er getan hat. Er war mit 16 im Gefängnis und blieb da für fast 10 Jahre. Er hat seine Schulbildung nicht beendet. Ich habe das erwartet, denn es gibt viele Leute wie ihn. Er ist bewaffnet und glaubt nur an Waffen. Er kämpft nur gegen die israelischen Soldaten etc. und er kann nicht verstehen, was passiert. Er ist ungebildet.
Hättest du ein Problem damit, daß dort zwei Mädchen und zwei Jungen zusammensaßen und lachten?
Ich habe mit einer Sache ein Problem: Sie waren minderjährig. Sie sind unter 17. Ich denke, die Eltern der Mädchen sollten wissen, wo sie
hingehen und mit wem. Sie sind unter 17 und das ärgert mich. Es ist außerhalb der Linie unserer Religion.
Welches Alter wäre für dich akzeptabel? 18 oder 20?
Mehr als 18, 20, 21. Ich muß meine Religion respektieren, wenn ich Christ oder Muslim bin. Wenn ich in Palästina bin, wenn ich in Deutschland bin oder in anderen Ländern, muß ich die Kultur dieser Länder respektieren.
Vorhin sagtest du, daß ihr versucht, den Kindern zu erklären, daß sie auf ihre Eltern hören müssen etc. Es passiert auch, daß Eltern Fehler machen. Das wissen wir doch alle. Manchmal geben sie falsche Ratschläge.
Okay, aber letzten Endes sind es meine Eltern. Wir müssen auf sie hören. Ich werde zum Koran zurückkehren: Was auch immer deine Eltern tun, du mußt sie respektieren und darfst sie nicht beleidigen oder beschämen. Es gibt noch einen Ausspruch in der Hadith Sharif [Aussprüche des Propheten Mohammed], der besagt: Du hast deine eigenen Gedanken und du mußt nicht die Anweisungen von jemandem befolgen, der Fehler macht gegen die Religion oder gegen Gott.
Übersetzer: Als Beispiel: Wenn dein Vater Alkohol trinkt und dir befiehlt zu trinken, dann kannst du Nein sagen.
Eltern schlagen ihre Kinder auch …
Ja. Der Koran sagt, wir können nicht zu unseren Eltern einfach Pfff machen. [Abu Islam stößt pfeifendes Geräusch aus.]
Übersetzer: Wenn deine Eltern dich nach einem Glas Wasser fragen, ist es dir nicht erlaubt, Pfffff … zu deinen Eltern zu machen. Du darfst sie auch nicht anschreien.
Du mußt sie respektieren. Meine Mutter hatte mich 9 Monate lang in sich. Entschuldigung – ich bin keine Frau, ich kann also nicht wissen, wie schmerzhaft das für sie war. Aber ich stelle mir das vor. Als ich ein Kind war, konnte ich nichts und meine Mama hat alles für mich getan. Und mein Vater ebenso. Nur ein Beispiel: Wenn er mir kein Essen gebracht hätte, wäre ich nicht am Leben.

Ich habe noch eine Frage zum Alter der Kämpfer. Wann glaubst du, daß jemand in dem richtigen Alter ist, um eine Waffe zu tragen?
Um eine Waffe zu tragen oder um gegen die Besatzung zu kämpfen, mußt du über 18 sein. Es gibt allerdings Ausnahmen. Einige Leute des
Islamischen Jihads haben Operationen in Israel durchgeführt und sie waren unter 18. 16 und 17. Aber das sind Ausnahmen. Sie haben ihnen das erlaubt, denn die Religion sagt, wenn du selbst entscheiden kannst, was du tust, und was richtig und falsch ist, dann kannst du etwas tun. Wenn wir feststellen, daß ein Junge nicht krank ist, er keine Probleme mit seinen Eltern hat und das selbst machen will, niemand ihn zwingt und er alles aus seiner eigenen Entscheidung heraus macht, da gibt es dann Ausnahmen.

Was für Aktionen meinst du?
Einige Medien behaupten, wir schicken Kinder und Jungen und so weiter. Aber man muß sie über diese Dinge befragen. Wir müssen sie oft fragen, ob sie das wirklich machen wollen. Wenn er im Islamischen Jihad ist, dann kann er, wenn er so weit ist, in jede Richtung gehen, in die er will.
Was unterscheidet euch von den Al-Aksa-Brigaden?
Sie haben ihre Ansichten und ich meine.
Aber die Unterschiede?
Oslo. Aber am Ende, auf der Straße, gibt es keinen Unterschied zwischen uns.
Eine letzte Frage …
Nehmt euch Zeit …
Hast du oft Angst?
Vor wem?
Vor allem, vor dem Leben hier.
Nein, natürlich nicht. Du meinst, zu sterben oder im Gefängnis zu sein oder meine Familie zu verlieren oder all diese Sachen. Nein, natürlich nicht. Niemals. Wenn ich Angst hätte, dann würdet ihr mich hier nicht lächelnd finden. Ich könnte nicht mit euch hier sitzen. Ich hätte Angst. Ich würde nicht mit euch lachen. Nein, ich verbringe mein Leben in einer normalen Art und Weise. Ich glaube an das Schicksal. Vielleicht sterbe ich in 2 Minuten, vielleicht in 100 Jahren. Am Ende werde ich sterben. Es hängt nur davon ab, wie ich sterben werde. Und ich persönlich …
Übersetzer: Er bevorzugt es, Märtyrer zu werden.Inshallah.
Bevorzugst du es mehr, als alt zu werden und normal zu sterben?
Ohne irgend etwas getan zu haben? Natürlich, natürlich, natürlich. Ich sage es noch eine Million mal: INSHALLAH. Wieso nicht? Wenn ich bete – ich bete fünf mal am Tag – immer, wenn ich mit Gott bin in diesen Gebeten, dann bitte ich ihn, mich als Märtyrer zu nehmen und nicht auf eine normale Art und Weise. Ich bevorzuge den Tod, nicht das Leben.

Nachtrag

Das Interview wurde beendet und das Gerät abgestellt. Es entspann sich noch ein kurzes Gespräch, das anschließend aus dem Gedächtnis
aufgezeichnet wurde.

Abu Islam: Noch einmal, ich weiß, ihr wart beide ein wenig, nein, das heißt sehr sauer, über das, was heute nachmittag vorgefallen ist. Ich möchte mich noch einmal dafür entschuldigen. Das war niemand von uns. Aber ich kenne den einen Jungen, er ist nicht sehr gebildet. Er ist mit 16 ins Gefängnis gekommen und noch nicht lange wieder draußen und dann sah er da diese beiden Pärchen sitzen und ist ein bißchen durchgedreht. Er hätte zum Manager gehen können und sagen, daß er die vier nach Hause schicken soll. Aber es ist nicht akzeptabel, eine Waffe in die Gesichter von Zivilisten zu halten. Eine Waffe hält man nur ins Gesicht der Besatzer.
Übersetzer: Deshalb hasse ich diese ganze verdammte Scheiße hier! Ich glaube an nichts von alldem …
Abu Islam: Dankeschön! [Alle lachen.]
Übersetzer: Ich möchte mich mit einer Frau treffen und sie ein Jahr lang kennenlernen, bevor ich sie heirate. Ich will nicht, daß meine
Mutter eine Frau für mich aussucht, ich will, daß das Mädchen mich auch mag. Aber das geht hier nicht.
Bist du eigentlich verheiratet? [zu Abu Islam]
Abu Islam: Nein, ich glaube an das Paradies, die große Freiheit und die Jungfrauen, die mich da erwarten. Wenn ich hier verheiratet bin, muß ich bis zum Ende meines Lebens mit einer Frau zusammen bleiben, also auch im Paradies. Da werde ich doch lieber Märtyrer … Ich habe keine Lust, mich ein Jahr mit jemandem zu verabreden und auszugehen. I like it quick!

Orientalische Straßenszene. Photo: kunstkommtvonkoennen.blogspot.com

AP meldet heute aus Palästina:

Bei einem Luftangriff in Gaza haben die israelischen Streitkräfte am frühen Mittwochmorgen nach Angaben der Hamas einen Extremisten der Terrororganisation Islamischer Dschihad getötet. Die israelische Militärführung erklärte, Ziel des Angriffs sei ein Kämpfer des Islamischen Dschihads gewesen, der Waffen nach Gaza geschmuggelt habe.

Der Mann sei auch in terroristische Aktivitäten auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel nahe der Grenze zu Israel verwickelt gewesen. Extremisten feuerte wenige Stunden später zwei Mörsergrananten auf Südisrael ab. Dabei wurde niemand verletzt, und es entstand kein Schaden. Die israelischen Streitkräfte erklärten, kurz nach dem Beschuss hätten Kampfflugzeuge die beiden dafür verantwortlichen Extremisten angegriffen.

Dpa meldet aus Tel Aviv:

Die israelische Polizei hat am Dienstag ein von Mitgliedern der sozialen Protestbewegung besetztes Haus im Zentrum von Tel Aviv geräumt. Drei Personen seien zur Vernehmung auf eine Polizeiwache gebracht worden, sagte eine Polizeisprecherin der Nachrichtenagentur dpa. Es war das erste Mal, dass Mitglieder der Protestbewegung ein Haus besetzten.

Mehrere Dutzend Menschen hatten das leerstehende frühere Schulgebäude am Vortag besetzt, wie es hieß. In der Nähe zelten seit sechs Wochen Hunderte Menschen aus Protest gegen ihrer Meinung nach zu hohe Mieten und Lebenshaltungskosten.

Die FAZ berichtet heute aus Israel:

Die seit mehreren Wochen andauernden Sozialproteste flauen allmählich ab. Grund dafür sind nicht nur das Ende der Sommerferien, sondern auch die Raketen aus dem Gazastreifen

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2011/08/23/kairo-virus_112/

aktuell auf taz.de

kommentare

  • online-taz vom 29.2.2012:

    Die Rache der Strandprinzessinnen

    Bezness steht für enttäuschte Urlaubsliebe und verletzte Gefühle. Ein Internetforum verspricht Hilfe. Zensur, Ausgrenzung und der Vorwurf der Meinungsmache führten die User zu taz.de. von Katalina Präkelt

    Unverkennbar orientalisch: dunkel geschminkte Frauenaugen blicken dem Leser entgegen, der auf der Homepage „1001 Geschichte“ landet. Das Forum, das seit 2003 besteht, verspricht Aufklärung und Prävention im selbsterklärten Kampf gegen Bezness“. Der Begriff mutierte in den letzten Jahren zum Inbegriff für weibliche Enttäuschung im touristischen Liebeshandel; er steht für Frauen, die sich von Urlaubsbekanntschaften ausnehmen lassen.

    Ein taz-Artikel, der das Bezness-Phänomen unter die Lupe nahm und auf „1001 Geschichte“ hinwies, sorgte für Aufruhr unter der Leserschaft: 1001-UserInnen nutzten das taz-Forum, um sich in über 300 Kommentaren über Zensur und Mobbing im 1001-Forum zu beschweren. Auch über dessen Meinungsmache: „Unter dem Deckmäntelchen angeblicher Hilfestellung lässt sich prächtig eine fragwürdige Meinungsbildung betreiben“, schreibt ein taz.de-User.

    Auf „1001 Geschichte“,„againstbezness“, „turkish-talk“ und ähnlichen Foren können sich enttäuschte Frauen Rat holen, die Geschichten anderer lesen und im Forum diskutieren. „1001 Geschichte“ ist das größte Portal seiner Art. Rund 3.000 LeserInnen nutzen die Website täglich, mehr als 7.000 haben sich laut hauseigener Statistik für die Foren angemeldet, um sich gegenseitig mit „wertvollen Informationen zu helfen“. Wer Bezness googelt, stößt sofort auf das Forum.

    Evelyne Kern, Gründerin des Forums und des Vereins CiB e.V. (Community of interests against Bezness), ist Autorin des autobiografischen Buches „Sand in der Seele“. Sie fiel selbst einem tunesischen Beznesser „zum Opfer“. Ihre Geschichte hat sie auf „1001 Geschichte“ erzählt, mehrere hundert Berichte anderer Betroffener folgten.
    Das Urlaubsmärchen wird zur Liebes-Mär

    Sie sind alle nach dem gleichen Muster gestrickt: Sie, mittleren Alters, unglücklich verliebt oder geschieden, reist ins – meist muslimische – Ausland. Dort verliebt sie sich in ihn, „Habibi“, voller Leidenschaft und guter Manieren, Moslem. Nach einigen romantischen Wochen am Strand voller finanzieller Zuwendungen für den Mann, wird der Traum zum Albtraum, der Lover zum Tyrann. Es folgen Rechtsstreit, Scheidungen.

    Latenter Unterton der Geschichten: Orientalische Männer sind Sozialschmarotzer, Peiniger, Lügner und Betrüger, die den guten Willen und das Verlangen deutscher Frauen nach Zärtlichkeit ausnutzen. Rosamunde Pilcher lässt von den pauschaltouristischen Stränden des Mittelmeers grüßen.

    Dass das Forum Aufklärungsarbeit im Zusammenhang mit den professionellen Liebesschwindlern leistet, lässt sich nicht bestreiten. Doch die gut gemeinten Ratschläge zeichnen ein einseitiges Bild. Die Frauen sehen sich als Opfer, denen vom „bösen“ Mann alles genommen wurde – und der „Böse“ ist fast immer Moslem. „Fakt ist, dass nun mal für 95 Prozent unserer Bezness-Fälle Moslems verantwortlich sind“, heißt es auf der Seite.
    „Unsägliche“ Verlinkungen

    Aussagen wie diese ließen die Bloggerin „Alien59“, Betreiberin des Watchblogs „denn der Schoß ist fruchtbar noch“ aufhorchen. Sie sieht in Kerns Forum eine gezielte Aktion, ausländische Männer zu stigmatisieren. Die ehemalige Mitarbeiterin des IAF, des Verbands internationaler Familien und Partnerschaften, lebt in Jordanien und beobachtet das Forum seit einigen Jahren: „Der Umgangston und die Verallgemeinerungen dort gegenüber Ausländern – insbesondere Muslimen – ist unmöglich“, sagt sie.

    „Unsäglich“ fände sie auch die Verbindungen des Forums zu „den ganzen rechten Ecken“. Links und Hinweise auf pi-news und die Junge Freiheit fänden sich auf der Seite, im Gegenzug schreibt der Populistenblog pi-news begeistert: „Bitte empfehlen Sie die Seite weiter!“. Das Pendant „kybeline“ bezeichnet das Forum als „wertvolle Seite“. Der umstrittene Kopp-Verlag berichtet regelmäßig in lobenden Tönen über „1001 Geschichte“.
    Psychotherapie für die Paschas

    In den Threads des Forums wird zugespitzt: Europäerinnen sind für ausländische Männer „Aufenthaltserlaubnisse auf zwei Beinen“. Arabischen Männer wären „grundsätzlich Pascha-Typen, hat Papa ja meist auch vorgelebt“; „Psychotherapie für die islamische Welt“ sei etwas „absolut Nötiges“. Immer wieder finden sich auch UserInnen, die dem Tenor widersprechen. Doch im Großen und Ganzen, so „Alien59“, „erinnert der Umgangston doch stark an politically incorrect“.

    Die Bloggerin und Kennerin binationaler Beziehungen hält Evelyne Kern zugute, dass sie eingreife, wenn der Ton allzu diffamierende Züge annehme. Um sich vom rechten Rand zu distanzieren, dürften die Forenbetreiber Kommentare wie die oben genannten aber gar nicht erst zulassen. Außerdem mache der rechte Beigeschmack „den ursprünglich guten Zweck kaputt.“

    Den Vorwurf, diskriminierende oder islamophobe Töne im Forum zuzulassen, finden die Betreiber des Forums absurd; oft liest man, dass 1001 eben kein Kuschelforum sei. Sie halten daran fest, dass das Forum sich nicht gegen muslimische Männer im Allgemeinen, sondern nur den Bezness-Betrug geht. Zu einer weiteren Stellungnahme der taz gegenüber war Frau Kern nicht bereit.
    Populistische Schriften

    Der Blick auf die Buchempfehlungen zeigt, dass im hauseigenen Kern-Verlag neben Kerns Erstling Bücher wie „Der Teufel kochte tunesisch“ oder „Der Heuchler aus dem Morgenland“ vertrieben werden. Dazu werden Bücher wie Necla Keleks „Chaos der Kulturen“ und Hiltrud Schröders „Mohammeds deutsche Töchter“ empfohlen. Auch populistische Schriften wie „Tödliche Toleranz“ von Jürgen Lachmann, „Das Dschihad-System“ von Manfred Kleine-Hartlage – und Udo Ulfkottes „SOS Abendland“, das laut Forum aufdecken würde, „was die Islamisten gerne vor Euch verborgen hätten“.

    Es ist die Vermittlung eines einseitigen Bildes, die permanente Stigmatisierung arabischer junger Männer als Heiratsschwindler und Sozialschmarotzer unter dem Deckmantel der „Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen“-Meinungsfreiheit, die dem Leser aufstößt. Und immer wieder der Ruf nach politischen Konsequenzen, um die „Bezness-Mafia“ zu stoppen.

    Kerns CiB-Verein fordert unter anderem, die Arbeitserlaubnis von der Ehe abzukoppeln und weist immer wieder auf den verursachten wirtschaftlichen Schaden der Beznesser für die deutsche Wirtschaft hin („jährlich fließen Millionen Devisen in orientalische Taschen“). Die Essenz: „diese“ Männer sollten nicht mehr nach Deutschland dürfen, binationale Familienzusammenführung sollten schwerer werden und Kinder führten nur zu erschwerten Abschiebebedingungen.

    Diese Forderungen empören „Alien59“. Mit ihrem Blog möchte sie Aufmerksamkeit schaffen – und unterstützt von ihren LeserInnen vor allem eins zeigen: „Es ist nicht die deutsche Mehrheit, die diese politischen Veränderungen fordert.“

  • AP meldet heute – die Schweineregime in Palästina und in Israel haben ihre Bevölkerung, die drohte, sich gegen sie zu wenden, dank moderner Waffentechnik wieder voll hinter sich gebracht:

    „Bei einem israelischen Luftangriff im Norden des Gazastreifens sind laut palästinensischen Angaben zwei Menschen getötet und 20 verletzt worden. Der Angriff am frühen Donnerstagmorgen habe einer Einrichtung der Terrororganisation Islamischer Dschihad gegolten, hieß es. Die israelischen Streitkräfte erklärten, die Luftwaffe habe als Reaktion auf die jüngsten Raketenangriffe Angriffe gegen zwei Einrichtungen von Extremisten im Gazastreifen geflogen.

    Bei den Zielen habe es sich um ein Waffenlager im Norden des Gebiets und um einen Schmugglertunnel sowie eine Waffenfabrik im Süden gehandelt. In Israel waren am Mittwoch mindestens zehn Raketen eingeschlagen. Ein Kind wurde verletzt, und es entstand Sachschaden.“

    In Syrien ist es dagegen bereits zu spät für das Assad-Regime, die Bevölkerung im Krieg gegen einen äußeren Feind wieder hinter sich zu bringen – wie dpa meldet:

    Bei den Protesten von Regimegegnern in Syrien hat die Armee nach Angaben von Aktivisten weitere 16 Menschen getötet. Wie die Oppositionellen am Donnerstag mitteilten, kamen am Vortag allein in Homs sieben Menschen ums Leben. Homs ist die zweitgrößte Stadt des Landes und ein Zentrum der seit März andauernden Proteste gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad. Tote habe es auch in Damaskus, der Hafenstadt Latakia, Deir al-Zor im Nordosten sowie in Idlib nahe der türkischen Grenze gegeben.

    Assad warnte unterdessen vor einer „ausländischen Verschwörung“ gegen sein Land. Diese richte sich vor allem gegen die Rolle der Armee. Zudem erklärte er, seine Regierung treibe mit entschiedenen Schritten die versprochenen Reformen voran.

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