Wo bleiben eigentlich die hier von den Okzidentregimen so gerühmten und dort von den Orientregimen so gefürchteten Nach-dem-Freitagsgebet-Demonstrationen im Morgenland? Das fragten wir uns schon seit einigen Wochen…
Hier eine aktuelle AFP-Meldung dazu aus Syrien:
In Syrien sind am Freitag zehntausende Menschen zur Unterstützung der oppositionellen Freien Syrischen Armee (FSA) auf die Straße gegangen. Allein in der nordwestlichen Region Idleb demonstrierten nach Angaben der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 20.000 Menschen gegen Präsident Baschar al-Assad. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief die internationale Gemeinschaft zu einem geschlossenen Vorgehen gegen Syrienauf.
Im Internet hatten Oppositionsgruppen wie gehabt zu ihren Freitagsdemonstrationen aufgerufen. Diesmal standen sie unter dem Motto, die FSA zu unterstützen. Diese vorwiegend aus Deserteuren der regulären Streitkräfte gebildete Rebellengruppe unter dem Kommando des Ex-Offiziers Riad al-Assaad umfasst nach eigenen Angaben 40.000 Soldaten.
Nach Angaben der in London ansässigen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften mindestens zwei Menschen getötet. In der Region Idleb im Nordwesten des Landes starb demnach ein Demonstrant, in der Region Hama wurde ein Jugendlicher von Sicherheitskräften erschossen.
Auf dem Platz vor der großen Moschee von Duma nahe der Hauptstadt Damaskus demonstrierten den Angaben zufolge 15.000 Menschen. Dort kam es zu Zusammenstößen zwischen Deserteuren und Sicherheitskräften. Auch in der Wüstenstadt Palmyra gingen der Organisation zufolge nach dem Freitagsgebet tausende Menschen auf die Straße gegangen. Schüsse und Gefechte wurden aus Deir Essor und Daraa gemeldet.
„Freitagsgebet aktuell“ meldet auch nur diese syrischen Demonstrationen. Alle Aufmerksamkeit des Westens ist auf dieses Land gerichtet, wo ein Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher wird.
AP meldet daneben aus dem Jemen:
Bei einer Demonstration in der jemenitischen Stadt Aden sind Zeugen zufolge am Freitag zwei Menschen getötet und Dutzende verletzt worden. Sicherheitskräfte hätten auf die Demonstranten geschossen und Tränengas gegen sie eingesetzt, berichtete ein Mediziner. Die Protestierenden forderten, dass der scheidende Präsident Ali Abdullah Saleh vor Gericht gestellt wird. Einem Zeugen zufolge erwiderten bewaffnete Männer aus den Reihen der Demonstranten das Feuer. Drei Soldaten wurden verletzt, wie ein Sprecher der Sicherheitskräfte sagte. Landesweit kam es am Freitag zu Protesten, deren Teilnehmer unter anderem einen Regimewechsel forderten.
Von hier ist noch zu vermnelden, dass diese zum Glück nicht enden wollende blog-serie „Kairo-Virus“ zwar laufend Anklicker verliert, dafür setzt sich aber das Wort „Kairo-Virus“ im Internet immer mehr durch- in der Serie sind wir jetzt bei 135, beim Googeln findet man bereits 17.900 Eintragungen. Die Frage ist natürlich, welchen Sinn so ein Wort macht. Gemeint sind damit die vom Tahrirplatz ausgehenden Protestereignisse.
In der taz von morgen, mit dem Schwerpunkt Frauen in der Arabellion, hat Hawa Djabali sich über den blog der Ägypterin Aliaa Magda Elmahady geäußert. Die junge Tahrirplatzbesetzerin hatte drei Nackphotos von sich darin veröffentlicht, die Aufsehen im Orient erregten. Die algerische Journalistin und Schriftstellerin, die ein arabisches Kulturzentrum in Brüssel leitet, schreibt:
Die arabische Welt: Was schmerzt in den Augen der Armseligen, deren Länder zu jämmerlichen Vorstädten von New York werden? Was schmerzt in den Augen derer, die in diesen Ländern, die einst zu den Großen in der Forschung und in den Ideen zählten, die physische und moralische Verstümmlung, die Korruption, die Vergewaltigung und die Prostitution von Mädchen und Knaben billigen? Es ist eine junge Frau im geliebten Ägypten, ein Mädchen, das frühere Traditionen Arabiens weiterführt: die junge Aliaa Magda Elmahdy. Sie ist gebildet, kämpferisch und voll des Mutes, der so manchem unserer Männer fehlt!
Aliaa Magda Elmahdy in ihrer Nacktheit! Warum nackt? Sie führt uns diesen Frauenkörper vor Augen, der ein Symbol der Unterdrückung wurde, weil das weibliche Geschlecht als „Privateigentum“ gilt, das die Männer sich von Generation zu Generation weiterreichen oder an dem sie sich vergreifen, um ihre Feinde zu erschüttern. Sie kämpft für die Laizität und um Respekt als Bürgerin. Dieser Kampf beginnt mit der Befreiung des weiblichen Körpers und seiner Aneignung durch die Frauen selber. Aliaa steht in den Fußstapfen bekannter Vorgängerinnen, wie der Ärztin Nawal Saadawi. Sie kämpfte mit ihren Romanen und Artikeln auch gegen die Genitalverstümmelung, diesen aufgezwungenen Stempel bleierner Macht.
Warum nackt? Hat man denn schon vergessen, dass zu Beginn der Geschichtsschreibung in Oberägypten die Nacktheit ein Zeichen des Respekts und der Reinheit war? Und trägt nicht jede Frau in sich alle Episoden der Geschichte? Diese Frau tritt darum nackt, rein und respektvoll vor uns, um uns zu sagen, dass gekämpft werden muss.
Natürlich liegen da noch die Ansichtskarten mit den Huren aus der Kolonialzeit. Na und? Soll diese Kleine beschimpft werden, weil ganze Frachter von westlichen Touristen sich wie die Säue auf den Kindern Ägyptens wälzen? Jene, die geil aufs Bild schauen und darauf spucken, sollten den Blick betrachten. Niemals hat eine Prostituierte einen solchen Blick! Frauen ohne Blick, Männer, die Söhne der Frauen, ohne Blick: Militärs und Religionsvertreter sind sich einig, dass die menschliche Herde weder einen Blick noch einen Körper haben darf.
Auch haben diese Anwärter auf einen Platz im Paradies ein kurzes Gedächtnis: Wer hat die heute praktizierte Poesie erfunden? Die arabischen Frauen. Wer hielt literarische Treffen ab, beginnend mit der Familie des Propheten? Die arabischen Frauen. Wer entblößte die Brust vor dem Feind, um ihn zu besiegen? Die arabischen Frauen (auch in der Armee des Propheten). Wer fabrizierte ursprünglich die Waffen? Wer hat euch auf die Welt gebracht, dass ihr meint, stärker zu sein?
Wenn diese Männer, die da einen Skandal wittern, eine Ehre hätten, wäre das bekannt: Palästina wären nicht verkauft und wieder verkauft und verraten worden, der American Way of Life würde nicht unsere Kinder verblöden, die arabischen Fernsehsender wären nicht voll von diesem amerikanischen Schrott, und vor allem wäre unser revolutionärer Geist nicht von Betrügern aller Art beschlagnahmt worden. Wir arabischen Frauen wären bereit für die arabische Einheit.
Und das Schlimmste ist diese heilige, esoterische Union zwischen Diktaturen und religiösen Strömungen, um uns an Händen und Füßen gefesselt der westlichen Lüge auszuliefern. Denn die arabischen Frauen haben bis hin zur westlichen Invasion ihren Körper und ihre Sexualität – den jüdischen, christlichen und muslimischen Religionen zum Trotz – stets respektiert. Und trotz der Verklärung der Vererbung und trotz dieses männlichen Minderwertigkeitsgefühls, das stets der Rechtfertigung, der Durchsetzung und der Rache an der weiblichen Gattung bedarf, waren die arabischen Frauen psychologisch immer stärker. So war der Tanz nicht nur ein Vergnügen der Männer, er war auch ein Gesellschaftsspiel und eine Tradition der Bauern. Sex gehörte zu den Gesprächsthemen der Frauen und ihrer Poesie.
Wem aber verdanken wir die Verhüllung des Körpers, die geschlossene Kleidung? Den Engländern, den Franzosen und ihrem ganzen christlichen Arsenal aus dem Abendland. Und wem verdankten wir weit früher schon den Schleier? In Ägypten den Griechen der Antike, im Maghreb den Römern! Die Perser hatten ihn von den Indern. Lange bevor Europa seine ersten Verse stammelte, wetteiferten zur Zeit der arabischen Eroberung die Andalusierinnen in ihrer Dichtung über Liebe, Eifersucht und die Schönheit ihrer Männer. Was jene freiwillige Abhängigkeit angeht, die der Westen als „Freiheit“ bezeichnet, so haben die arabischen Frauen seit jeher geraucht (unter sich und die Zigarette mitten zwischen den Lippen) und oft getrunken (wie bei Trancezuständen in Algerien).
Man höre also auf, uns etwas vorzumachen und so zu tun, als wären wir mit einem heiligen Schleier auf die Welt gekommen. Es ist das Elend, die Armut, das Ungleichgewicht in der Welt, das Joch der Kolonialisierung, die Ausbeutung unserer Erde und deren Energie. All dies hat unsere Bevölkerungen einer sträflichen Ignoranz ausgeliefert. Die engstirnige Religion, der Kreationismus, die Bewunderung der Konsumgesellschaft, der Triumph des Stärkeren, der Kult des Profits, das alles bildet ein Ganzes.
Da bleibt einigen von uns nicht viel anderes übrig, um sich Respekt zu verschaffen, als noch lauter zu heulen als die Schakale, indem sie sich und anderen gegenüber mit einer dummen und grausamen frömmlerischen Unnachgiebigkeit aufführen. Diese Frauen schreien nach Macht, weil es ihnen an Liebe, Lust und Freude fehlt. Und in der heutigen Gesellschaft hat man ihnen auch noch ihre psychologische Kraft genommen: Was sollen sie da anderes tun, als sich dem Gesetz der Männer unterzuordnen, um einen Platz zu finden?
In ihrer Tradition aber werden sich die arabischen Frauen weiterhin auflehnen. Und wie es diese altehrwürdige Tradition will, sind sie dabei provozierend und mutig bis zum Äußersten! Diese kleine Aliaa Magda ist ein Beispiel dafür. Anstatt ihre Geste zu verurteilen, täten die Leute besser daran, darüber nachzudenken. Andernfalls könnte die Generation der Sechzigjährigen und der Älteren der entschlossenen Aktion dieser Jungen Nachdruck verleihen. Stellt euch vor: Wenn in allen Ländern der arabischen Welt sich die Großmütter wie andere einst zur Zeit der Unabhängigkeit entblößen und euch auf ihren Blogs den nackten Hintern zeigen würden!
Nehmt euch bloß in Acht, wir sind durchaus fähig dazu! Ihr Brüder des Verbotenen und der Ängstlichkeit, eure prächtige Überheblichkeit, die ihr zwischen unseren Schenkeln verstecken wollt, würde vor den Augen der ganzen Welt einen schönen Dämpfer erhalten!
Oh ihr Männersöhne, seit wann kann das glückselige Werk eures Gottes euch denn beleidigen? Ihr seid die Gotteslästerer! In der Epoche der Entkolonialisierung sagte ein Imam in Algerien, wenn die Muslime wirklich Muslime wären, könnte ein nacktes 16-jähriges Mädchen mit einem Schatzkästchen auf dem Kopf unbehelligt und ohne Furcht das Land durchqueren. Sind diese Geilen also, die sich da hervortun, wirklich Muslime?
Und ihr, Verteidiger des Fortschritts und der Laizität im Westen, die ihr stets bereit seid, uns noch und noch Lehren zu erteilen, seit wann kann solche Schönheit euch stören? Oh, ihr allesamt! So viele erstarrte Leichen, so viel Horror lassen euch kalt, so viele Folterqualen lassen euch unberührt! Der heilig-schöne Körper aber, die warme Hülle des Tunnels, der ins Leben führt, bringt euch zum Schreien?
Und gewisse Europäer stimmen euch zu, weil das nicht schicklich sei und Öl ins Feuer gieße, weil das provoziere. An euch, liebe Freunde im Westen, die ihr euch derart Sorgen um uns macht, richte ich eine höfliche und freundschaftliche Bitte: Lasst uns unseren Kampf führen. Aus dem geistigen Widerstand wird die Zukunft des Menschen geboren.
Wir schockieren das erstaunte, verblüffte, hinterwäldlerische, ignorante misshandelte Volk? Schockieren wir es nur! Was wir von euch erwarten, sind nicht Kommentare und Werturteile, sondern eine Mobilisierung zum Kampf gegen die Ursachen dieser Situation und für die Verteidigung der universellen humanistischen Grundwerte gegen den Zynismus der Profitgier in jenen Gesellschaften, die in ihrer Heuchelei so tun, als bedeute ihnen unser Schicksal etwas.
Seit wann ist Respekt geboten für die Unanständigkeit der Macht und derjenigen, die sich ihr unterordnen? Tut nicht so, als wüsstet ihr nicht, wer die extremistischen Bewegungen aller Art schafft und ihre Fäden zieht. Erkennen wir nicht, wenn wir uns wirklich hinterfragen, dass es die reiche Welt ist, die nicht will, dass die Einfalt ihre Jungfräulichkeit verliert?
In der heute erschienenen Le Monde Diplomatique schreibt James M. Dorsey über die ägyptischen Fußballfans auf Seiten der Revolution:
Vom Persischen Golf bis zur nordafrikanischen Atlantikküste macht der Fußball dem Islam bei der Schaffung eines alternativen öffentlichen Raums seit knapp dreißig Jahren ernsthaft Konkurrenz. Als im Dezember 2010 die arabische Rebellion begann, war der Fußball bereits einer der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Bereiche, der sich den repressiven Regimen und ihren Sicherheitsapparaten ebenso erfolgreich widersetzte wie den militanten Islamisten.
Seit etwa zwanzig Jahren läuft zwischen den Fans und den autokratischen Herrschern ein Katz-und-Maus-Spiel um die Hoheit über die Stadien. Zugleich wehren sich die Fans auch gegen die Versuche der Dschihadisten, die Jugendlichen bei ihrer Fußballbegeisterung zu packen und für ihre Sache zu rekrutieren. Offensichtlich gehen alle konkurrierenden Gruppen – die Fans, die Regime und die Islamisten – von der Prämisse aus, dass nur der Fußball ähnlich intensive Gefühle und eine ähnliche Opferbereitschaft bei der Mehrheit der Bevölkerung erzeugen kann wie die Religion.
Vor diesem Hintergrund war es unvermeidlich, dass die staatliche Reaktion auf die Protestbewegung zuallererst den Profifußball traf. Wann immer im Nahen Osten oder im Maghreb die Massen gegen die Regierung auf die Straßen gingen, verfügte die politische Führung fast automatisch die Aussetzung des Ligabetriebs, weil sie in jedem Fußballstadion eine potenzielle Arena für oppositionelle Kundgebungen sieht.
In Syrien hat das Assad-Regime schon Anfang 2011, noch bevor es gewaltsam gegen die Bevölkerung vorging, den Fußballbetrieb auf unbestimmte Zeit suspendiert. Dadurch wurden die oppositionellen Kräfte in die Moscheen zurückgetrieben: Wenn die Stadien kein öffentlicher Raum mehr sind – auch weil sie den Sicherheitskräften als Sammelstellen und Internierungszentren dienen – verlagern sich die meisten Proteste in die Moscheen, weil sich dann nur hier größere Menschenmengen versammeln können.
In Tunesien, Ägypten und Algerien hatte die Aussetzung des Fußballbetriebs zur Folge, dass die oft militanten, hoch politisierten und gewaltbereiten Fußballfans statt im Stadion auf den öffentlichen Plätzen protestierten. Dort fiel ihnen häufig eine besondere Rolle zu: Sie halfen den Demonstranten, die von den neopatriarchalischen Autokraten errichtete Angstbarriere zu überwinden, die ein wichtiger Grund war, warum die Massen deren Herrschaft bis dahin schweigend und passiv hingenommen hatten.
Schon weil Fußball in der Region immer noch ein ausgesprochener Männersport ist, wird er von patriarchalischen Werten dominiert und bietet sich auf den ersten Blick als das perfekte Spiel für Diktatoren an. Mubaraks Identifikation mit der Nationalmannschaft ging so weit, dass er die Erfolge und Misserfolge der Fußballer zum Barometer für das Schicksal des eigenen Regimes machte. Die Spieler selbst – in Tunesien wie in Ägypten – beobachteten die epochalen Umbrüche meist von der Seitenlinie. Und die Fußballfunktionäre stellten sich demonstrativ hinter die umstrittenen Autokraten. Deshalb entfalteten Fans in Ägypten bei einem der ersten Spiele nach dem Sturz von Mubarak ein Banner, auf dem sie ihre Idole kritisierten: „Wir sind euch überall hin gefolgt, aber in den harten Zeiten konnten wir euch nicht finden!“ Ein anderes Spruchband bezog sich auf die Weigerung der Klubs und ihrer Stars, eine Kappung der Transfersummen und Spielergehälter hinzunehmen: „Ihr fordert Millionen und schert euch nicht um die Armut der Ägypter.“ In Internetforen finden sich mittlerweile zahlreiche Aufrufe von Fans, die ihre Wut über die provisorische Militärregierung artikulieren und soziale Gerechtigkeit fordern – ein Begriff, der im ägyptischen Fußball früher kaum zu hören war.
Das Motiv, den Fußball zu kontrollieren, steht auch hinter den Versuchen vieler Regierungen, die populärsten Vereine zu unterstützen und zu vereinnahmen. Im fußballverrückten Ägypten befindet sich die Hälfte der 16 Erstligaklubs im Besitz des Militärs, der Polizei, einzelner Ministerien oder Provinzregierungen. Und die 22 Fußballstadien des Landes wurden von Baufirmen errichtet, die dem Militär gehören.
In Ägypten wurde der Fußball durch die Tatsache, dass Armee und Geheimdienst seit 1952 praktisch das ganze Land kontrollieren, fast automatisch politisiert. Einer der Anführer der militanten Fanklubs des Kairoer Fußballklubs Al Ahly, erklärte das einmal so: „Fußball ist größer als Politik, er ermöglicht die Flucht aus der Realität.“ Er beschrieb den durchschnittlichen Ahly-Fan als einen Mann, „der mit Frau, Schwiegermutter und fünf Kindern in einer Zweizimmerwohnung lebt, einen Minilohn verdient und auch sonst beschissen dran ist. Das einzig Gute in seinem Leben sind die zwei Stunden am Freitag, in denen er im Stadion sein Team anfeuert. Deshalb ist es so wichtig, dass Ahly jedes Spiel gewinnt. Es macht die Leute einfach glücklich.“(1) Der Klub hat seine Fans schon oft beglückt: Al Ahly war 34-mal ägyptischer Meister und sechsmal beste Vereinsmannschaft Afrikas (als Sieger beim African Cup der Landesmeister und seit 1997 der CAF Champions League). Der zweite große Kairoer Verein Zamalek hat den nationalen Titel 14-mal und die afrikanische Vereinsmeisterschaft fünfmal gewonnen.
„In der Politik gibt es keine Konkurrenz, deshalb hat sich die Konkurrenz auf den Fußballplatz verlagert“, meinte ein ägyptischer Fan 2010, nachdem seine Gruppe eine Polizeisperre vor dem Stadion durchbrochen hatte, an der den Fans Feuerwerkskörper und Stoffbanner abgenommen werden sollten. „Wir verstoßen gegen die Regeln und Regulierungen, wenn wir sie für falsch halten.“ Aber dieser militante Fan betonte noch – kurz vor Beginn des „Arabischen Frühlings“, er und seine Freunde seien nicht politisch. Und doch haben die Kämpfe mit den Sicherheitskräften und rivalisierenden Fangruppen, die allwöchentlich in den ägyptischen Stadien entbrannten, Kairos militante Fußballanhänger auf die Ereignisse vom Februar 2011 vorbereitet, die am Ende Präsident Mubarak zum Rücktritt zwangen.
Auf dem Tahrirplatz in Kairo geschah sogar das Wunder, dass die Anhänger der ewigen Rivalen Al Ahly und Zamalek vorübergehend ihre tiefsitzende Feindschaft vergaßen. Beide Klubs haben eine interessante Geschichte: Al Ahly SC (Die Nationalen) wurde von Gegnern der britischen Kolonialherrschaft gegründet und hatte seit jeher Zulauf von nationalistischen Anhängern aus dem einfachen Volk. Die Mannschaft trägt bis heute das Rot der Flagge des vorkolonialen Ägypten. Der Zamalek SC dagegen spielt im weißen Trikot und war ursprünglich der Klub der britischen Kolonialbeamten und Offiziere, aber auch der Kairoer Oberschicht.
Auch nach der Unabhängigkeit Ägyptens behielt die erbitterte Rivalität eine politische Dimension. Wenn die beiden Klubs aufeinander treffen, ist das nicht einfach ein Fußballspiel, sondern eine Art gesellschaftlicher und politischer Krieg, bei dem es nicht nur um die sportliche Ehre geht. Dabei repräsentieren die Ahly-Fans vorwiegend religiöse, arme und nationalistische Schichten, während sich die konservativ-royalistischen Zamalek-Anhänger nach wie vor aus dem bürgerlichen Mittelstand rekrutieren.
„Zamalek ist die größte politische Partei in Ägypten“, meint Hassan Ibrahim, ein ehemaliges Vorstandsmitglied des Vereins. „Wir spüren ständig die Voreingenommenheit des Fußballverbands und der Regierung gegenüber allem, was einmal dem König gehört hat. Verband wie Regierung sehen in Zamalek den Feind. Der Verein repräsentiert die Leute, die ihre Wut über das System ausdrücken. Dagegen sind die Al-Ahly-Leute für uns die Repräsentanten der Korruption.“(2 )
Die Rivalität zwischen den beiden Vereinen sitzt so tief, dass die Mubarak-Regierung darauf bestand, die Derbys auf neutralem Platz auszutragen und von ausländischen Schiedsrichtern leiten zu lassen. Bei einem solchen Spiel sind Hunderte von Bereitschaftspolizisten, Soldaten und anderen Sicherheitskräften im Einsatz. Sie sorgen unter anderem dafür, dass die gegnerischen Fans vor und nach dem Spiel strikt getrennt bleiben.
„Ein Zamalek-Anhänger wird dir auf die Frage, ob er zu einer anderen Religion konvertierten könnte, keine Antwort geben“, erklärt der Fernsehkommentator und ehemalige Zamalek-Star Ayman Younis, „aber frag ihn, ob er seinen Verein wechseln könnte, und er wird definitiv nein sagen.“ Die tiefe Feindschaft zwischen den Klubs wurde nur durch den Hass überboten, den beide Fangruppen auf das Mubarak-Regime hatten. Nur deshalb konnten sie ihre Differenzen zumindest zeitweise vergessen und sich gemeinsam den Mubarak-Anhängern entgegenstellen.
Die Erfahrungen der beiden Ultragruppen bewährten sich auch bei der Organisation von sozialen Diensten und bei der Arbeitsteilung, die den Dauerprotest auf dem Tahrirplatz ermöglicht hat. Dabei wurden die Ultras (von denen einige überzeugte Anarchisten sind, die jedes hierarchische Regierungssystem ablehnen) vor allem als Patrouillen eingesetzt, die den Platz nach außen schützen und den Zugang kontrollieren sollten.
Wenn es zu Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräften und Regime-Anhängern kam, standen sie an vorderster Front, obwohl sie die Polizei zuvor telefonisch ermahnt hatte, dem Tahrirplatz fernzubleiben. Dabei waren sie in der Regel vermummt, sodass die Sicherheitskräfte sie nicht identifizieren konnte. Zu den Kampftechniken der Ultras gehörten der gezielte Einsatz von Steinewerfern, Spezialtrupps zum Umstürzen und Abfackeln von Autos, die zu Barrikaden umfunktioniert wurden, und eine uhrwerksmäßig arbeitende Logistikmannschaft, die für einen ständigen Nachschub von Wurfgeschossen sorgte.
„Wir waren an vorderster Front“, erzählt der zwanzigjährige Zamalek-Fan Mohammed Hassan. „Als die Polizei angriff, machten wir den Leuten Mut: Sie sollten nicht davonlaufen und keine Angst haben. Dann feuerten wir Leuchtraketen ab. Die Leute fühlten sich ermutigt und machten mit; sie wissen, dass wir was von Ungerechtigkeit verstehen, und fanden es gut, dass wir wie die Teufel kämpften.“
Der schmächtige junge Mann mit dem adrett getrimmten Dreitagebart ist Informatikstudent, will aber Fotograf werden. Er ist einer der Anführer der Ultra White Knights (UWK), einer Gruppe militanter Zamalek-Fans. Am 25. Januar 2011, am ersten Tag der Protestbewegung, marschierte Mohammed an der Spitze von 10 000 Demonstranten vom Kairoer Stadtviertel Shubra zum Tahrirplatz. Dabei passierten sie sieben Barrikaden der Sicherheitskräfte, berichtet Ahmad Fondu, ein anderer UWK-Aktivist: „Wir waren auf diesen Tag vorbereitet – vier Jahre lang haben wir für unsere Rechte im Stadion gekämpft. Wir sagten unseren Leuten: ,Das ist jetzt unser Lackmustest, jetzt dürfen wir nicht versagen.‘ “ Und dann beschreibt Fondu stolz, wie er sich die auf Kamelen angreifenden Mubarak-Anhänger geschnappt hat. Irgendwann versuchte eine Gruppe von UWK-Ultras, die Polizeisperre zu durchbrechen und zum nahen Parlamentsgebäude zu gelangen. Mohammed war dabei. Die Ultras, sagt er, hätten ihm die Furcht genommen. Bei ihnen habe er erfahren, was Brüderlichkeit bedeutet, und sich den „Mut des Stadions“ zugelegt.
Sie waren auch am 21. September 2011 beim Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo dabei. Mit dieser Aktion wollten sie daran erinnern, dass die arabischen Regierungen in ihrer Politik gegenüber Israel auf die öffentliche Meinung Rücksicht nehmen müssen. Die Botschaft richtete sich gleichermaßen an die Militärs in der ägyptischen Übergangsregierung wie auch an Israel. Sie verweist auf wachsende Vorbehalte in Teilen der ägyptischen Bevölkerung gegenüber dem Militär und dessen Bemühungen, die hart erkämpften Freiheiten wieder einzuschränken und sicherzustellen, dass die privilegierte Stellung der Armee erhalten bleibt, egal welche Regierung aus den Wahlen hervorgeht.
Die militante Fanszene im fußballverrückten Ägypten hat bewiesen, dass die verhassten Sicherheitskräfte des Regimes nicht unbesiegbar sind. Diese Lehre hat ihre Spuren in allen Gesellschaften der Region hinterlassen. Der Fußball bleibt ein Kampfschauplatz und zugleich ein Prisma der sozialen und politischen Dynamik, und das nicht nur in den nach wie vor autokratisch regierten Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas, sondern auch dort, wo diese Autokraten bereits gestürzt wurden. Das gilt vor allem für Ägypten, wo militante Fußballfans sich weiterhin an vorderster Front für freie und faire Wahlen prügeln (und verprügeln lassen).
In den letzten Jahrzehnten war Fußball in der ganzen Region stets mehr als nur ein Spiel. Wir können davon ausgehen, dass es auch in Zukunft in den Stadien um sehr viel mehr gehen wird als nur um das Geschehen auf dem Rasen.
(2) Zitiert nach einem BBC-Programm vom 14. Juni 2010, „The Power and the Passion“.
Ebenfalls in der aktuellen Le Monde Diplomatique veröffentlichte Francois Pradal einen Text über die Arbeiterbewegung in Suez: „In der Industriestadt Suez geht die Revolution weiter. Aber wohin?“
Wir sitzen in einem Café direkt neben der Einmündung des Suezkanals ins Rote Meer. Nicht weit entfernt, auf einer Landspitze, sieht man die Lichter der Raffinerien funkeln. „Ich bin zwar gegen einen islamischen Staat“, sagt Ghehareb Saqr. „Aber mir sind die demokratisch gewählten Muslimbrüder lieber als die Fortdauer des Militärregimes.“ Saqr ist beim Textilunternehmen Misr Iran für die Klimatisierung der Fabrikationsanlagen zuständig. Und er ist Kommunist. Gerade haben die Arbeiter bei Misr Iran nach drei Wochen Streik eine zehnprozentige Lohnerhöhung erstritten.
Ahmed Mahmud wurde erst vor Kurzem nach drei Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Bei den Parlamentswahlen ist er der Spitzenkandidat der Muslimbrüder in Suez. Er trägt einen modischen italienischen Anzug, als er zu seinen jugendlichen Anhängern spricht. Was er sagt, klingt wie ein Echo des Kommunisten Saqr: „Ich ziehe demokratisch gewählte Kommunisten der Aufrechterhaltung des Militärregimes vor. Die Armee muss der Regierung unterstehen.“
Auf die Frage nach dem Wiederaufleben der Proteste seit dem 19. November bekräftigt der Sechzigjährige die Position, die seine Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ vertritt: „Ich unterstütze die Forderungen der Demonstranten und verurteile die Menschenrechtsverletzungen, auch wenn ich nicht zur erneuten Besetzung des Platzes aufrufe. Man muss den Druck auf das Militärregime aufrechterhalten.“ Zu den Streiks hat der „Bruder“ eine eindeutigere Meinung: „Jetzt ist nicht der beste Moment, weil die Wirtschaft 6,6 Milliarden Dollar verloren hat. Aber die Forderungen der Arbeiter sind legitim.“ Das wollen die umstehenden Aktivisten nicht gelten lassen: „Wer für einen Hungerlohn arbeitet, kann nicht warten.“ Und was sagt Mahmud zur künftigen Verfassung? „Sie muss alle Ägypter einbeziehen. Wir wollen die breitestmögliche Koalition bilden, einschließlich der Christen.“ Man fragt sich, ob es echter Wille zum Kompromiss oder reiner Opportunismus ist. In jedem Fall ist sich Mahmud in zwei Punkten mit den Kommunisten einig: Er befürwortet den Bruch mit dem Obersten Militärrat und die Anerkennung der demokratischen Spielregeln.
Die Hauptverkehrsstraße in Suez ist die „Straße der Armee“. Sie verbindet das alte Kolonialviertel in Port Taufiq(1) mit dem Arbain-Platz, der sozusagen der Tahrirplatz von Port Said ist. Der Wahlkampf ist in vollem Gang; zwischen den Laternen, Palmen und Strommasten hängen Spruchbänder. Unter den Vordächern halten die Kandidaten ihre Versammlungen ab. Die Salafisten und die felul(2) plakatieren Farbfotos ihrer Kandidaten: Mit einer Ausnahme: Das Porträt der einzigen Frau, die auf der Salafisten-Liste steht – das Gesetz schreibt mindestens eine Kandidatin vor – ist durch eine Blume ersetzt.
In Suez bemühten sich 109 Kandidaten um zwei Direktmandate, und 12 Parteien um vier weitere Sitze. Den Wahlkampf bestritten alle Parteien mit ihren Listensymbolen: die Muslimbrüder mit der Waage, die salafistische An-Nour-Partei („das Licht“) mit der fanus (eine Art Ramadan-Laterne); andere mit einem Mobiltelefon, einem Haus oder einer Wasserflasche. Die drei islamistischen Parteien erhielten am Ende 78 Prozent der Stimmen, die vier liberalen Parteien 14 Prozent, die vier Felul-Kandidaten 7 Prozent und die Nasseristen weniger als 0,1 Prozent. Die Islamisten konnten in Suez insgesamt also mit vier oder fünf Sitzen rechnen. Von den aus der Revolution hervorgegangenen Parteien haben es damit nur die Islamisten geschafft, sich gesellschaftlich zu verankern. Und die älteren Organisationen sind in den Augen vieler Ägypter ohnehin diskreditiert. Die politische Linke hat es schwer, sich in der Konkurrenz mit den anderen politischen Lagern zu behaupten. Sie konnte sich gegen die Rechte kaum profilieren, weil sich die Programme zu sehr ähneln.
„Die Leute stimmen für Personen, nicht für Parteien“, erklärt Nahed Marzuq, eine von lediglich vier weiblichen Kandidaten, die in Suez antraten. Marzuq steht der Sozialistischen Volksallianz nahe, die im politischen Spektrum weit links angesiedelt ist, sie selbst sieht sich aber als Unabhängige. Der Schlüssel zum Wahlerfolg liegt in einem „ehrwürdigen“ Namen: Um die Menschen zu überzeugen, die gleichzeitig revolutionär und konservativ sind, der Arbeitertradition wie dem Islam verhaftet sind, sollte man am besten aus einer geachteten Familie aus dem Viertel kommen. Von den Frauen und jungen Leuten, die sich in der Revolution profiliert haben, sind nur wenige zur Wahl angetreten. Ein alter Taxifahrer meint trotzdem: „Ich wähle die Jungen, weil nur sie uns vor der Rückkehr des alten Systems bewahren können!“
Es gibt zwei entscheidende Trennlinien. Die erste verläuft zwischen den Felul und den Anhängern der Revolution, zu denen auch die gehören, die nicht selbst auf die Straße gegangen sind. Ein junger Kandidat der Nasseristen meint: „Die Felul und die Muslimbrüder verfolgen dieselbe Politik. Sie sind konservativ und kapitalistisch.“ Die zweite Linie trennt die Islamisten von allen anderen Gruppierungen. Zwar stellt niemand den 2. Verfassungsartikel infrage, der die Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung bestimmt, aber die Salafisten gehen einen Schritt weiter. „Sie sind die Einzigen, die zwischen Islam und Staatsbürgerschaft und einem islamischen und zivilen Staat einen Gegensatz sehen“, erklärt Clément Steuer, Wissenschaftler am Centre d’études et de documentation économiques, juridiques et sociales (Cedej) in Kairo. „Es geht bei dieser Debatte also um die Frage, auf welchem Prinzip das Gesellschaftsleben basieren soll: auf dem Islam oder der Staatsbürgerschaft.“
Die größte Überraschung in Suez war der Wahlerfolg der Salafisten: Mit 51 Prozent der Stimmen – so viel wie nirgends sonst im Land – haben sie auch die Muslimbrüder weit hinter sich gelassen. In Suez sind die Salafisten seit Langem gut verankert, wobei sie vom Ansehen des berühmten Predigers Scheich Hafez Salama profitieren. Der Achtzigjährige war eine führende Kraft im Widerstand gegen die Israelis 1967 und predigte in den 1980er Jahren den Dschihad gegen den zionistischen Staat.(4) In Suez sind die jungen Salafisten auf den Zug der Revolution aufgesprungen, beteiligten sich zahlreich an den letzten Demonstrationen und übernahmen sogar Ordnerfunktionen.
Der Lagerarbeiter Reda streikt und wählt die Salafisten
Reda ist Lagerarbeiter im Hafen von Sokhna, 45 Kilometer südlich von Suez. Trotz seines gepflegten Äußeren und des glatt rasierten Gesichts macht er einen stark mitgenommenen Eindruck. Vor einem Jahr war er an vorderster Front dabei, ein Geschosssplitter verfehlte nur knapp sein rechtes Auge. Der Streik der Hafenarbeiter hat sein Ziel nicht erreicht, meint Reda: „Man hat uns gerade mal zwei leere Container überlassen: einen für Sport und einen zum Beten.“ Er selbst wurde von einem vorgesetzten Ingenieur gedemütigt, der ihm Knochenarbeiten zuteilte, die nicht zu seinem Aufgabenbereich gehören. Im Hafen gilt das alte hierarchische Herrschaftssystem – trotz Revolution.
Ein salafistischer Kollege hat Reda zu seinem Schwiegersohn gemacht, bietet ihm Unterkunft und knöpft ihm sein Gehalt ab. Trotz seiner revolutionären Ansichten hat Reda bei den Wahlen für Mohammed Abdel Khaled, einen anderen Scheich der Salafisten gestimmt. „Der gefällt allen in meinem Viertel“, rechtfertigt er sich. Es ist fast paradox: In Suez, der revolutionärsten Stadt des Landes, triumphieren die Salafisten, obwohl sie sich anfangs an der sozialen und antiautoritären Revolte gar nicht beteiligt haben. Mohammed Abdel Khaled, der Listenführer der An-Nour-Partei, ausgebildeter Chemiker und Manager einer Ölfirma, ist auch Prediger und trägt einen streng ausrasierten Bart. Abdel Khaled sitzt im Fonds einer teuren Limousine und klopft konservative Sprüche: „Ich will die Scharia uneingeschränkt anwenden und nach allen Regeln des Islam unterrichten. Politik und Religion sind ein und dieselbe Sache.“ Und der Tourismus? „Wir befürworten eher religiösen, wissenschaftlichen oder Wellnesstourismus.“
Und wie soll die darniederliegende Wirtschaft wieder in Gang kommen, wie die massive Arbeitslosigkeit abgebaut werden? „Wir sollten die Arbeitsemigration und am besten kleine Investitionsprojekte im Dienstleistungs- statt im Konsumgüterbereich fördern, aber auch größere Infrastrukturprojekte sind wichtig: Zum Beispiel eine U-Bahn von Sokhna nach Arbain.“ Der Frage nach der Finanzierung weicht Khaled aus. Und wie denkt er über die Streiks? „Die sind vor allem das Resultat eines mangelnden Dialogs zwischen den Beteiligten, da kann das Gebet weiterhelfen. Die Meinungsfreiheit muss respektiert werden, aber die Produktion darf nicht darunter leiden. Auch die Freiheit hat ihre Grenzen.“ Was die christlichen Kopten betrifft, so sollen sie „gemäß ihrer Religion beurteilt werden“. Es soll also offenbar gesonderte koptische Gerichte geben.
Tatsächlich leben die etwa 6 000 Kopten von Suez sehr zurückgezogen, und sie fühlen sich auch im Stich gelassen. „Wir werden zwar täglich von Salafisten beleidigt“, erzählt Pater Serafin von der Kirche der Jungfrau Maria, „aber unsere Kirchen werden nicht angegriffen, es gibt keine Gewalt. Wir haben keine Angst, und wir werden bleiben.“
Der Wahlkampf der Salafisten ging von den Moscheen aus. Dort haben sie das Sagen, weil sie stärker präsent sind als die Muslimbrüder. Nach dem Freitagsgebet hört man Ansichten wie diese: „Seit Jahrzehnten wurden wir unterdrückt. Deshalb müssen wir für die Kandidaten stimmen, die unsere Religion, unsere Arbeit, unsere Familien und unseren Lebensstandard schützen.“ Geld kommt aus Saudi-Arabien, und zwar nicht zu knapp. Am 14. Dezember 2011, dem ersten Wahltag, betrieben die Salafisten verbotenerweise noch weiter Werbung vor den Wahllokalen, indem sie allerlei versprachen, zum Beispiel Nahrungsmittel.
Dass die Salafisten insbesondere die arme Bevölkerung in den vernachlässigten Stadtvierteln und auf dem flachen Land begeistern können, liegt vor allem daran, dass sie sich häufiger als die Muslimbrüder auf die islamische Identität berufen. „Auch wenn sie politisch nicht auf die gleiche Weise agieren, gibt es zwischen beiden Gruppierungen dennoch gewisse Schnittmengen. Viele führende Muslimbrüder wurden in einer salafistischen Schule ausgebildet und haben in den 1980er Jahren dieselben Predigten in denselben Moscheen gehört. Die Folge war eine gewisse ,Salafisierung‘ „, erklärt Alaa al-Din Arafat, ein Forscherkollege von Clément Steuer am Cedej.
Das neue ägyptische Parlament wird – wenn der Militärrat es nicht verhindert – eine Kommission ernennen, die eine neue Verfassung ausarbeiten soll, über die dann in einem Referendum entschieden werden muss. Wie weit die legislativen Kompetenzen dieser Kommission reichen, ist genauso offen wie das Verfahren, nach dem die Regierung bestellt werden soll. All diese Fragen hängen stets vom Obersten Militärrat ab, den immer mehr Ägypter mit dem alten Regime gleichsetzen. Sie sehen die früheren Kräfte an der Macht, nur eben hinter einer anderen Maske. Bestätigt werden sie durch die Tatsache, dass viele Kandidaten erklären, die Revolution sei beendet. Sollte der lange Wahlprozess, deren letzter Akt die Senatswahl vom 11. März 2012 sein wird, am Ende nur dazu dienen, das revolutionäre Kapitel endgültig abzuschließen?
Mehr als die Hälfte der 600 000 Einwohner von Suez leben im ärmsten Viertel der Stadt: Arbain. Hier nahm die Revolution ihren Ausgang, hier liegen ihre Wurzeln, und hier hat sie ihr größtes Reservoir an Mitstreitern. In Arbain ist das Leben hart. Die Sandstraßen sind gesäumt von heruntergekommenen Marktständen und halb fertigen oder verfallenen Häusern. Überall türmt sich der Müll. Selten gibt es Wasser, das ohnehin kaum genießbar ist. Wegen der hohen Nachfrage sind die Mieten in Arbain teuer. Dabei gibt es praktisch keine öffentlichen Dienstleistungen. Fast ein Drittel der Bewohner dieses vernachlässigten Viertels ist arbeitslos. Bei den am Suezkanal tätigen Unternehmen gelten die Bewohner von Arbain als zu aufsässig. Sie stellen lieber Leute ein, die aus dem Süden, aus der Nildelta-Region oder dem Ausland stammen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung von Suez sind zugezogene Arbeitskräfte.
Für Emad Ernest, der einige Dokumentarfilme über die Städte am Kanal gedreht hat(5), ist die Wasserfrage die Ursache allen Übels: „Die Freunde des Mubarak-Sohns Gamal haben die Menschen vertrieben, um neue Industrien aufzubauen: Die Randbezirke versinken in den Abwassern der riesigen Hotelanlage von Ain Sokhna, die Fischer leiden unter dem Hafenverkehr und der zunehmenden Verschmutzung des Roten Meers, die umliegenden Dörfer unter der Austrocknung ihrer Bewässerungskanäle.“ Auf diese Weise bestrafte die einstige Einheitspartei das rebellische Suez.
Wie überall in Ägypten ist auch in Suez alles käuflich, vom Führerschein oder Diplom bis zum Job. Doch die Revolte richtete sich vor allem gegen die polizeiliche Willkür. Der Mechanikstudent Ali, heute 20 Jahre alt, war in sechs Jahren viermal im Gefängnis: „Nie habe ich gewusst, warum. Um mich politisch zu engagieren, hatte ich viel zu viel Angst. Ich wurde andauernd grundlos verhaftet, überall, am Strand, im Café, egal wo, dabei hatte ich immer meinen Ausweis dabei. Meiner Meinung nach haben die mehr Geld bekommen, wenn sie mehr Leute ins Kittchen gebracht haben.“
Der Golf von Suez ist eines der wichtigsten Industriezentren Ägyptens. 79 Prozent der Raffinerieproduktion, der Petrochemie und andere Schwerindustrien sind am Kanal angesiedelt, begünstigt durch die vielen Häfen und den Schiffsverkehr. Die Zement- und Textilfabriken konzentrieren sich in einem 15 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Rotem Meer und Wüste. Der Suezkanal ist Ägyptens drittgrößte Devisenquelle, nach dem Tourismus und den Auslandsüberweisungen der Migranten. Die Kanaleinnahmen steigen stetig an, 2011 auf einen Rekordwert von 4,5 Milliarden US-Dollar.
Das ganze letzte Jahr über erlebte Ägypten die größte Streikwelle seit 1946. Doch das Ganze hat bereits vor sieben Jahren in den Textilfabriken von Mahalla al-Kubra begonnen.(6) Neu angefacht wurde die Streikbewegung durch die Proteste vom 6. April 2008.(7) Das war keine Überraschung angesichts der Privatisierungen, der Liberalisierung des Arbeitsmarkts, der Prekarisierung, der steigenden Inflationsrate – alles Entwicklungen, die auf Kosten der Arbeiterschaft gingen.(8 )
Als der Stahlmagnat Ahmed Ezz Ende 2010 4 000 Leute entlassen und durch billigere Arbeitskräfte aus Asien ersetzen wollte, brach in Suez die Revolte aus. Ahmed Ezz, Abgeordneter der Partei von Expräsident Husni Mubarak und enger Freund der Präsidentenfamilie, gehörte zu den ersten Verhafteten nach dem Sturz Mubaraks. Der Streik im Hafen von Suez begann am 8. Februar und richtete sich vor allem gegen die Kanalgesellschaft. Am 19. Februar unterzeichneten die neuen unabhängigen Gewerkschaften eine gemeinsame Erklärung.(9 )
Saud Omar koordiniert diese beispiellose Bewegung mit der in Kairo entstandenen Gewerkschaftsorganisation. Der leitende Angestellte der Kanalgesellschaft hat auch als unabhängiger Kandidat bei den Wahlen kandidiert. „Die Löhne schwankten bisher zwischen 100 und 4 000 Euro im Monat“, erklärt Omar, „und die Prämien zwischen 0,13 und 10 000 Euro.“ Das Durchschnittseinkommen in Suez liegt unter 100 Euro, aber die Forderungen der Gewerkschaften betreffen auch das Streikrecht, einen besseren Schutz vor Arbeitsunfällen, die Wiederverstaatlichung von Betrieben und die Einführung eines Mindest- und Maximallohns, erzählt Omar weiter: „Zuerst im Februar, dann im April und zuletzt im Juli hat die Verwaltung höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen versprochen. Aber passiert ist nie etwas. Und jetzt mobilisieren die Arbeiter wieder. Es ist wie damals bei der Rede von Mubarak: ,Ich habe euch verstanden, aber ich bleibe!‘ “
Die Protestbewegung agiert mit wechselnden Methoden: Arbeitsniederlegungen, Sit-ins, turnusmäßige Streikposten. Die Repression hingegen ist immer gleich. Die Übergangsregierung hat im März und Juni 2011 zwei wichtige Gesetze erlassen: Das erste drohte jedem streikenden Arbeiter Gefängnisstrafen an, das zweite erlaubt Streiks, allerdings nur „ohne eine Aussetzung der Arbeit“. In Suez ist die Streikbewegung jedoch stark genug, um Verhaftungen und Entlassungen zu verhindern. Ende Juli setzte sie mit Unterstützung der Revolutionäre eine Anhebung der Löhne um 40 Prozent und bessere Prämien durch.(10 )
Der Student Mohammed will heiraten
Die Bewegung griff auch auf andere Sektoren über. Ihre Erfolge verdankt sie entweder der lokalen und nationalen Verankerung einer unabhängigen Gewerkschaftsorganisation oder aber der Tatsache, dass die bestreikten Unternehmen für die Sicherung der strategisch wichtigen Passage durch den Kanal unentbehrlich sind. Die Arbeiter haben jedoch nie versucht den Kanal selbst zu blockieren. Aus Angst vor der Armee, die den Kanal bewacht? Weil er „unser Augapfel“ ist, sagt Wahid al-Sirgani, Lotse zwischen Port Said und Suez. Die Arbeiter bestehen zwar auf ihren Rechten, betrachten sich aber auch als Bürgen der Nation.
Andere Errungenschaften der Revolution sind naturgemäß schwerer zu quantifizieren. Das gilt etwa für die neu gewonnene Meinungs-, Organisations-, und Bewegungsfreiheit, aber auch für das Recht der Straßenhändler, ihre Tätigkeit ohne eine hinderliche „Gebühr“ ausüben zu dürfen. Die Polizei wurde in Suez am 28. Januar von den Straßen vertrieben und ist seitdem verschwunden. Niemand scheint mehr Angst vor einer Verhaftung zu haben, auch wenn die Organe der Staatssicherheit wachsam bleiben.
Viele Probleme bleiben ungelöst: die hohen Preise, die steigende Arbeitslosigkeit und die mangelnden Jobaussichten für junge Leute, selbst wenn sie ein Diplom besitzen. Mohammed, ein zwanzigjähriger Student der Betriebswirtschaftslehre, hat es satt: „Die Revolution ist vorbei. Jetzt würde ich gern eine richtige Arbeit haben, eine eigene Wohnung und heiraten. Ich will, dass man mich anständig behandelt. Und ich will mir meinen Lebensunterhalt nicht mehr mit Putzen verdienen müssen.“
Der Journalist Medhat ist wütend
Am 28. November 2011 legte der Fernsehmoderator Medhat Eissa unter großem Mediengetöse an der Landzunge von Suez auf einem Schiff an. Eissa kandidierte für die zentristische Partei „Gerechtigkeit“ und ist ein enger Vertrauter von Mohammed al-Baradei, dem Exgeneraldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO). Eissa war wütend und empört, weil Mitarbeiter der Kanalgesellschaft gerade eine Ladung US-amerikanisches Tränengas abgefangen hatten – derselbe chemische Stoff, der im November auf dem Tahrirplatz den Tod mehrerer Demonstranten verursacht haben soll. Die Frachterbesatzung wurde festgenommen. Nachdem sich das Ereignis herumgesprochen hatte, kam es zu Demonstrationen am Hafen.
Das Ereignis wurde von Eissa sarkastisch kommentiert: „Im Februar hat uns die Armee gesagt: ,Erhebe dein Haupt, du bist Ägypter!‘ Heute heißt es: ,Erhebe dein Haupt, damit ich auf dich schießen kann!‘ Nur 10 Prozent unserer Forderungen sind erfüllt worden. Diese Revolution ist ein Prozess, für den wir noch fünf oder sogar zehn Jahre brauchen werden. Klein beigeben ist ausgeschlossen, solange dieses Regime noch an der Macht ist.“
Im Zentrum der Proteste steht die Forderung, diejenigen Offiziere zu verurteilen, die für den Tod so vieler junger Ägypter verantwortlich sind. „Kein einziger der wegen Mordes angeklagten Offiziere wurde verurteilt“, erzählt Amin Dashur, der die Angehörigen als Sprecher vertritt, „schlimmer noch: Viele sollen sogar auf ihre früheren Posten zurückgekehrt sein. Nach Ansicht der Gerichte hätten sie sich lediglich selbst verteidigt: Die Revolution erstrecke sich nicht auf das Gesetz, das auf keinen Fall rückwirkend gelten dürfe.“ Die betroffenen Familien haben alle angebotenen Entschädigungszahlungen zurückgewiesen. Sie sind wütend, und wenn es bei der Entscheidung bleibt, ist nicht ausgeschlossen, dass manche zur Selbstjustiz greifen könnten.
„Die Revolution zieht ihre Kraft aus den Märtyrern, die das Volk wieder auf die Straße treiben“, sagt ein Anwalt, der den Muslimbrüdern nahesteht. Und wurde die zweite Revolutionswelle nicht dadurch ausgelöst, dass am 20. Juni 2011 die Polizisten wieder freigelassen wurden, denen vorgeworfen wurde, in Suez Demonstranten getötet zu haben? Die Wiederbesetzung des Tahrirplatzes im Juli und der Aufschwung des Gewerkschaftskampfs wurden auch begleitet von der Forderung nach der Anerkennung der Märtyrer.
Die revolutionären Kräfte von Kairo, Suez und Alexandria sind zwar offenbar immer besser organisiert und koordiniert, aber sie bilden in Ägypten keineswegs die Mehrheit. „Revolutionen wurden immer von Minderheiten gemacht“, meint der 33-jährige Mohammed Mahmud, ein Mitglied der Bewegung des 6. April und der Gerechtigkeitspartei. „20 Millionen Ägypter sind auf die Straße gegangen, aber 60 Millionen sind zu Hause geblieben.“(11) Und was wird aus dem Militärrat? „Wenn die Ruhe erst einmal wiederhergestellt ist, wird er in sich zusammenbrechen!“, meint Mahmud. „Wir sind gegen Mubarak aufgestanden und haben gesiegt. Wir sind gegen den Premierminister aufgestanden und haben gesiegt. Jedes Mal, wenn wir uns dem Militärrat entgegenstellen, weicht er zurück. Eines Tages werden wir ihn stürzen.“
Aber ist das Parlament mit seiner islamistischen Mehrheit nach der Wahl nicht eher legitimiert, im Namen des Volkes zu sprechen als die Straße? Die Antwort des Anwalts lautet: „Die ,Brüder‘ hätten ohne die Ereignisse auf dem Tahrirplatz niemals antreten können. Ihre Legitimation ziehen sie aus der Revolution, außerdem sind sie gespalten zwischen den jungen Aktivisten und dem alten Apparat, der Bruderschaft und der Partei. Wenn sich das Volk betrogen fühlt, wird es wieder auf den Platz zurückkehren.“
Hier in Suez haben die Aktivisten vor gar nichts Angst. Ihr Optimismus und ihr taktisches Gespür sind bemerkenswert. In Suez geht die Revolution weiter.
Fußnoten:
(1) Claudine Piaton (Hg.), „Suez, histoire et architecture“, Institut français d’archéologie orientale (IFAO), Kairo, 2011.
(2) Name für die Konterrevolutionäre, die für ein Militärregime eintreten und oft aus der Partei des Expräsidenten Husni Mubarak kommen.
(3) In anderen Landesteilen kamen sie höchstens auf 25 Prozent.
(4) Siehe Gilles Kepel, „Les groupes islamistes en Egypte. Flux et reflux, 1981-1986“, Politique étrangère, Nr. 2, 1986, S. 429-446.
(5) Zum Beispiel „Karassi Dschalid“ („Ledersessel“), Regie: Emad Ernest, Ägypten 2011.
(6) Siehe Marie Dubosc, „La contestation sociale en Egypte depuis 2004. Précarisation et mobilisation locale des ouvriers de l’industrie textile“, Revue Tiers-Monde, April 2011.
(7) Siehe Raphaël Kempf, „Vor der großen Revolte“, und Alain Gresh, „Jenseits von Tahrir“, Le Monde diplomatique, März und August 2011.
(8) Siehe Françoise Clément, „Le nouveau marché du travail, les conflits sociaux et la pauvreté“, in: Vincent Battesti und François Ireton (Hg.), „L’Egypte au présent“, Arles (Sindbad – Actes Sud) 2011.
(9) Siehe „Egyptian independent trade unionists‘ declaration“: www.arabawy.org/2011/02/21/jan25-egyworkers-egyptian-independent-trade-unionists%E2%80%99-declaration/.
(10) Joël Beinin, „What have workers gained from Egypt’s revolution?“, Foreign Policy, Washington, 20. Juli 2011.
(11 )Siehe dazu Adam Shatz, „Mubarak am Ende“, Le Monde diplomatique, Juli 2010.
François Pradal ist Journalist und leitete von 2001 bis 2005 das Centre Culturel Français in Heliopolis, Kairo. Seinb Text wurde von Jakob Horst aus dem Französischen übersetzt.
Old Suez. Photo: treckearth.com
cccp