Poller in Weissenfels/Sachsen-Anhalt
Es geht mir hierbei um die historische Bedingtheit der natur-wissenschaftlichen/-philosophischen Begriffe, um konkretes und abstraktes Denken – d.h. um abstrakte Begriffe, die nicht der Anschauung entstammen. Es ist eine Vorarbeit dazu. (0)
Bezüglich der Sprache der Gehörlosen hat sich in Europa und in den USA ein Streit entwickelt. Historisch ist dieser Streit als Methodenstreit bekanntgeworden, weil er vorrangig unter dem Aspekt der anzuwendenden pädagogischen Methodik gesehen wurde. Die auditiv-verbale US-Methode war lautsprachlich orientiert, die „französische“ Methode benutzte dagegen die Gebärdensprache.Es gab und gibt Anstrengungen, die Gebärdensprachen gesetzlich zu verankern. In Schweden wurde die dortige Schwedische Gebärdensprache bereits 1981 als Minderheitensprache anerkannt. Auch Uganda hat schon vor 2000 dessen Gebärdensprache verfassungsrechtlich bestätigt. Seit dem 27. Februar 2005 ist im Schweizer Kanton Zürich verfassungsmäßig anerkannt, dass die Gebärdensprache auch zur Sprachenfreiheit gehört. Das österreichische Parlament nahm im Juli 2005 die Gebärdensprache als anerkannte Minderheitensprache in die Bundesverfassung (Art. 8, Abs. 3) auf. Seit 2006 ist die Neuseeländische Gebärdensprache (NZSL) neben Englisch und Maori die offizielle Amtssprache Neuseelands.
Es gibt viele verschiedene Gebärdensprachen, so wie es viele verschiedene gesprochene Sprachen gibt. Sie haben sich unabhängig voneinander entwickelt, und sind deshalb genauso unterschiedlich wie gesprochene Sprachen. Es gibt in fast jedem land eine offizielle gebärdensprache, dazu kommen regionale Dialekte und sogar Fachsprachen, genau wie beim Sprechen. Und wie es beim Sprechen das Esperanto gibt, gibt es eine künstliche Internationale Gebärdensprache, die theoretisch überall auf der Welt gleich ist. Anders als Esperanto hat sie sich aber tatsächlich in vielen Ländern etabliert.
Weltweit gibt es daneben den Tag der Gehörlosen – ein internationaler Gedenktag. Er wurde 1951 von der World Federation of the Deaf (WFD – Weltverband der Gehörlosen) ins Leben gerufen. In Berlin beging man den Tag der Gehörlosen zuletzt am 29.September – im und vor dem Gehörlosenzentrum in der Friedrichstraße. Eine Woche davor hatte der Deutsche Gehörlosen-Bund zu den 5. Kulturtagen nach Erfurt geladen, wo es um „Eine Kultur mehr: Gebärdensprache“ ging. Zuvor, Mitte Juni, fand im Olmpiapark das „Deutsche Gehörlosen Sportfest“ statt.
Ich hatte bis dahin nur mit den gehörlosen Kellnern der Schöneberger Kneipe „Kumpelnest 3000“ zu tun gehabt. Mit diesen kommuniziert man jedoch mittels stimmlosen Mundgebärden. Im Kulturhaus Podewil in Mitte fand vor einiger Zeit ein mehrtägiges Musikfestival für Gehörlose statt, auf dem vor allem die Bässe zu spüren waren. Der „Tödliche Doris“-Sänger Wolfgang Müller wurde von zwei Dolmetscherinnen mit synchronen Handgebärden begleitet, was das in der Mehrheit gehörlose Publikum einhändig beklatschte.
Auf „deaf-point“, dem Internet-Treffpunkt für Gehörlose heißt es: „Es gibt keine Grenzen für Deafies. Das ist unsere Vision. Mach mit!“ Nirgendwo findet sich jedoch in diesem Zusammenhang ein Hinweis auf Moritz Rill : „Er wirkte von Weissenfels aus für die Gehörlosen der ganzen Erde,“ heißt es auf einem Denkmal, das die Stadt Weißenfels dem „großen Sohn von Sachsen-Anhalt“ widmete.
Der Autor in Weissenfels.
Weißenfels ist im Zuge der Wende verarmt: Die traditionelle Schuhindustrie des Ortes wurde bis auf ein „Schuhmuseum“ abgewickelt, und dafür das zu DDR-Zeiten heruntergekommene Schloß aufwenigst renoviert. Daneben wurde die „Novalis-Gedenkstätte“ ausgebaut: „Der bedeutende frühromantische Dichter Friedrich von Hardenberg – genannt Novalis – lebte von 1786 bis zu seinem frühen Tod 1801 in Weißenfels, im heutigen Novalishaus“. Mehr über die Romantik weiter unten.
Was die Gehörlosen betrifft – dazu findet sich im Internet-Auftritt von Weißenfels der Hinweis auf den Verein „Gehörlosen- Sport und Bürgerverein Weißenfels/Naumburg“. Im Forum „wir-gehoerlosen.de“ gibt es einleitend den Satz: „Die Deutsche Gebärdensprache ist als vollwertige Sprache anerkannt. Die Situation an Gehörlosen-Schulen verbessert sich ständig. Dass Gehörlose mit Hilfe von Dolmetschern ein Studium absolvieren, ist heute längst keine Seltenheit mehr.“
Wann entstand die Gebärdensprache? Ist sie nicht so alt wie die Menschheit und sogar noch älter? Aber wer systematisierte die Gebärden zu einer „Sprache“, die gelehrt und gelernt werden kann? Wer, wann und wo? Und warum eine „deutsche“ Gebärdensprache, wenn doch der Weißenfelser Moritz Rill (1805 – 1874) bereits eine für die Gehörlosen „der ganzen Erde“ erarbeitete?
Nirgendwo im „Netz“ findet man nähere Hinweise auf diesen berühmten Sohn der Stadt, nicht einmal auf der Webseite von Weißenfels selbst, dessen Stadtobere doch wohl das Denkmal für ihn aufstellen ließen. Es besteht im übrigen aus einem roten Steinsockel (Marmor?) und einer bronzenen Büste, die schon lange Grünspan angesetzt hat. Sollte das Denkmal vielleicht zu DDR-Zeiten schon – vom damaligen SED-Magistrat – aufgestellt worden sein? Man müßte einen alten Weißenfelser fragen. Ich bat die Stadtverwaltung um Auskunft. Vielleicht war Moritz Rill ein Frühsozialist, der von Weißenfels aus den „Gehörlosen der ganzen Erde“ die Frohbotschaft, d.h. den Mitte des 19. Jahrhunderts noch utopischen Kommunismus, zu vermitteln trachtete?
Immerhin fand er in Weißenfels einige ihm treu ergebene „Schüler“, wenn man so sagen darf. Wikipedia kennt allein zwei: die Kommunisten Carl Wunibald und Fritz Schellbach, das Geschichtsforum Naumburg erwähnt darüberhinaus, dass ein gewisser Erich Tazel mit den „Weißenfelser Kommunisten“ ein Gespräch über die Gründung eines kommunistischen Sportvereins führte – was 1935 schwere Konsequenzen hatte. Das Naumburger Tageblatt meldete damals: „Beginn der großen Kommunistenprozesse“. Gut 30 Jahre später machten die Kommunisten in Weißenfels kurzen Prozeß, der allerdings weitaus harmloser ausging. Auf „lettre.de“ berichtete der Weißenfelser Schriftsteller und Filmemacher Thomas Knauf 2012: „Im Winter 1966 besuchte ich das Konzert einer noch nicht verbotenen Beatgruppe in Weißenfels. Nachdem sie die obligatorischen sechzig Prozent Osttitel gespielt hatten, ertönte Satisfaction, und der Saal vibrierte. Danach war Schluß, denn Polizei stürmte den Saal und trieb uns mit Schlagstöcken auf die Straße. Vor dem Tanzschuppen stand eine Kompanie NVA-Soldaten mit vorgehaltenen Kalaschnikows und sorgte dafür, daß niemand entkam. Bei null Grad hielten sie uns stundenlang fest, schrieben unsere Namen und Adressen auf und ließen die Mädchen gehen. Den langhaarigen Jungs wurde mit rostigen Scheren die Mähne abgeschnitten…“ Das war eine „Sign Language“, die die DDR-Kommunisten nicht dulden wollten.
Vier Kinder in Weissenfels
Zurück zur Gebärdensprache: Gerade ist die Amerikanische „Sign Language“ (ASL) dabei, sich global zu verbreiten – was wie erwähnt der Weißenfelser Moritz Rill bereits versucht hatte. Auf Wikipedia heißt es: „ASL ist die dominierende Gebärdensprache in den USA, Kanada, einigen karibischen Inseln, Nigeria, Ghana und anderen Ländern in Afrika. Den Namen ASL hat der Linguist Dr. William Stokoe 1960 gekürt, als er die manuelle Sprache der Studenten analysierte. Als erster Linguist stellte er fest, dass diese Sprache entgegen der herrschenden Meinung der Pädagogen alle Eigenschaften einer Sprache besitzt. Er legte dar, dass die Sprache auch aus einer finiten Zahl von Elementen, vergleichbar mit den Phonemen der Lautsprachen aufgebaut und auf Wort- und Satzebenen strukturiert ist. Wie bei jeder Gebärdensprache unterscheidet sich ASL in Grammatik der Wort- und Satzbildung und in Semantik vom umgebenden Englisch. ASL hat den Ursprung bei der alten Französischen Gebärdensprache (LSF) und der Gebärdensprache der Einwohner der Insel Martha’s Vineyard [wo besonders viele Gehörlose lebten], sowie teilweise bei den Zeichensprachen der amerikanischen Indianer. Die Sprache entstand erst in der ersten Amerikanischen Schule für gehörlose Kinder in Hartford, Connecticut, die 1817 gegründet wurde. ASL gewinnt immer mehr an Bedeutung in internationalen akademischen Begegnungen, da vermehrt gehörlose Akademiker aus Ländern mit verschiedenen Gebärdensprachen in den USA studieren und sie in diesen Begegnungen verwenden. Die ASL gilt jedoch vor allem in Europa nicht als Lingua Franca. Das Vokabular von ASL wird auch Schimpansen, Bonobos und Gorillas beigebracht. Einige erwarben so einen Wortschatz von über 1000 Wörtern.“
Dies geschieht ebenfalls vor allem in den USA. Der erste Affe, der ASL lernte, war eine Schimpansin namens Washoe, die ihrerseits dann ihrem Adoptivsohn Louis ASL beibrachte. Ihr Tutor, der Kinderpsychologe Roger Fouts, gründete später in Ellensburg/Washington ein „Chimpanzee and Human Communication Institute“. Zur finanziellen Unterstützung der Schimpansin und ihrer Familie organisierte er 1981 einen gemeinnützigen Verein namens „Friends of Washoe“. Washoes Berühmtheit bzw. Beliebtheit rührt nicht zuletzt daher, dass sie einen der Eckpfeiler des christlich-wissenschaftlichen Weltbildes stürzte, indem sie die Annahme, nur Menschen können sprechen, mit der von ihr ab 1967 gelernten ASL widerlegte – vorneweg die Theorie des Harvard-Linguisten Noam Chomsky, die sich „universelle Grammatik“ nennt. Im Gegensatz zu Moritz Rill ist Washoe auch im Internet zu finden – mit über 10 Millionen Einträgen sogar.
Als Roger Fouts nach einigen Jahren Schimpansenforschung mit dem Gedanken spielte, Washoe in Westafrika auszuwildern, schrieb ihm Jane Goodall: Auf keinen Fall. Washoe ist eine Amerikanerin geworden. Eine Auswilderung würde für sie das Gleiche tödliche Ende bedeuten wie für jeden anderen amerikanischen Teenager auch, den man in einen afrikanischen Urwald aussetzt, damit er dort zurück zu seinen Wurzeln findet. Umgekehrt passierte Ähnliches mit zwei deutschen Mädchen, die in einem Urwalddorf in West-Papua bzw. am Amazonas aufwuchsen und dann nach Europa verpflanzt wurden. Dazu unten mehr.
Moritz Rill – Denkmal mit Dichterin Ann Cotton in Weissenfels
2007 meldete der Spiegel, dass Washoe, die zuletzt 250 Wörter beherrschte und sehr viel mehr noch verstand, „in Ellensburg/Washington eines natürlichen Todes gestorben“ sei. Auf der Webseite der „Friends of Washoe“ findet sich der Hinweis, dass sie „nach langer Krankheit starb“ (sie war Zigarettenraucherin).
Washoe, 1965 in Westafrika geboren, wurde 42 Jahre alt. Ihr Betreuer Roger Fouts veröffentlichte 1997 ihre Biographie und zugleich seine eigene – in dem Buch: „Unsere nächsten Verwandten – von den Schimpansen lernen, was es heißt, ein Mensch zu sein.“ Im Vorwort – von Jane Goodall, die seit 1960 wildlebende Schimpansen in Tansania erforscht – heißt es: „Schritt für Schritt wird in dem Buch beschrieben, wie die Leben eines jungen Studenten (Roger) und eines kleinen Schimpansenmädchens (Washoe) sich unauflöslich ineinander verflechten.“
Jane Goodall hatte einst mit ihren Beobachtungen das westliche Vorurteil widerlegt, der Gebrauch von Werkzeug [als Waffe und zur Nahrungssuche z.B.] sei ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Nebenbeibemerkt ist auch die ASL – wie jede Sprache – ein Werkzeug, und zwar zur Herstellung und Festigung des Sozialen.
In einer Art Nachruf auf Washoe schreiben die Autoren von „my-deaf-com“: „Der einzige lebende Affe zur Zeit, der noch die ASL-Gebärdensprache beherrscht, ist die Gorilladame ‚Koko‘. Sie lernte an der Stanford University, angeblich mit über 1.000 Zeichen der American Sign Language zu kommunizieren und annähernd 2.000 englische Wörter zu verstehen. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte sie in Woodside in Kalifornien, aber man plant einen Umzug in ein Tierheim in Maui in Hawaii. Sie war die Inspiration für den sprechenden Menschenaffen Amy aus dem Roman ‚Congo‘ von Michael Crichton.“
Es geht darin um „graue Gorillas“, die über eine hochentwickelte Intelligenz verfügen und mit Computern arbeiten. Es sind wahrscheinlich Affe-Mensch-Hybride, denen man mit einer Expedition in den Kongo auf die Schliche kommt, an der als Dolmetscher zwischen den Menschen und den Hybriden ein weiblicher Gorilla namens Amy teilnimmt, der ASL beherrscht.
Novalishaus in Weissenfels
Biographien von Menschenaffen sind selten, weil sie so alt wie Menschen werden und meist von ihren Besitzern schon nach wenigen Jahren in irgendwelche Zoos oder Forschungslabore abgeschoben werden, weil sie ihnen zu „schwierig“ wurden. 1905 veröffentlichte der japanische Schriftsteller Natsume Soseki einen satirisch-gesellschaftskritischen Roman „Ich der Kater“ – die Biographie einer männlichen Hauskatze. Zuvor – 1819 – gab es bereits eine romantisch-satirische Kater-Biographie: die „Lebens-Ansichten des Katers Murr“ von E.T.A. Hoffmann:
Der wie ein Mensch sprechende, denkende und gebildete Kater fungiert als Ich-Erzähler und Autobiograph, dessen chronologische Schilderung seiner Erlebnisse von seiner Geburt bis zum Zeitpunkt der Niederschrift zahlreiche ausführliche Kommentare und Reflexionen zur „Bildung des Lesers“ enthält. Indem Murr ein angeblich funktionierendes Rezept dafür liefert, „wie man sich zum großen Kater bilde“, setzt sich der Roman kritisch mit der zeitgenössischen Trivialisierung der Bildungsidee auseinander. Motive und klassische Elemente des Bildungsromans werden parodiert: Murr erlebt eine „lehrreiche“ Jugendfreundschaft (zum Pudel Ponto), eine „persönlichkeitsformende“ Liebe (zur Katze Miesmies), versucht sich in Saufgelagen und Ehrenduellen als „tüchtiger Katzbursch“ und in der „höhern Kultur und Welt“ (der Hunde) als feiner Gesellschafter… Schließlich bildet er sich autodidaktisch zum „homme de lettres“ aus. Selbstbewußt kündigt Murr sein Ziel bereits im Vorwort an: „Mit der Sicherheit und Ruhe, die dem wahren Genie angeboren, übergebe ich der Welt meine Biographie, damit sie lerne, wie man sich zum großen Kater bilde.“ (1)
Erwähnt sei neben dieser romantischen Literatur die „romantische Wissenschaft“ des sowjetischen Psychologen Alexander Lurija, der darunter einen „ganzheitlichen“ – im Gegensatz zum analytisch-mechanistischen – Forschungsansatz verstand. Der Lurija-Biograph C. Wagner schreibt: „Mit seinen Fallgeschichten hatte Lurija es sich zum Ziel gesetzt, die Tradition der romantischen Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert in der Blüte gestanden hatte, wieder aufzunehmen. Dieses Unternehmen stellte SACKS (1991;1993) zufolge einen Jugendtraum für ihn dar, da er sich schon früh mit Biographien, wie den „Imaginären Portraits“ von Walter PATER (1887), beschäftigt hatte. Auch Freud muss an dieser Stelle erwähnt werden, der ebenfalls mit Fallgeschichten, allerdings von der psychoanalytischen Seite her, versuchte, das Wesen des Menschen zu erkunden. Sie sollten stilistisches Vorbild sein, auf dem Lurija seinen eigenen Stil aufbaute. Lurija selbst wollte damit eine Brücke schlagen zwischen Anatomie und Kunst und somit die für unmöglich gehaltene Verbindung verwirklichen. Die Brücke, um bei diesem Bild zu bleiben, sollte mit jenen „biologischen Biographien“ gebaut werden. Damit wollte Lurija das „anatomisierte Totalportrait des leidenden Individuums“ (SACKS 1993, 18) entwerfen, das die Persönlichkeit in den Vordergrund stellt und mit ihr alle Determinanten, die deren Entwicklung bedingen. Im Sinne der Romantischen Wissenschaft sollte so die Einmaligkeit des Individuums herausgearbeitet werden.“
Lurijas Buch „Romantische Wissenschaft. Forschungen im Grenzbereich von Seele und Gehirn“, das 1993 auf Deutsch erschien, ist zugleich seine Autobiographie. Er berichtet darin u.a. von seiner Feldforschung in Usbekistan und Kirgistan – unter Hirtennomaden/Bauern. Ausführlicher ist davon in seinem Buch „Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse“ (BRD 1986/DDR 1987) die Rede. Im „neurologienetz.de“ schreibt C.Wagner über „Ausgangspunkt und Zielsetzung“ dieser Expedition von Lurija:
Hausfassade in Weissenfels
Inwieweit beeinflusst das jeweilige gesellschaftliche Leben eines Menschen in seiner Kultur die Entwicklung seines Bewusstseins und damit verbunden sein Verständnis von Wirklichkeit? Dies war die Fragestellung, die dieser Expedition zugrunde lag. Anders ausgedrückt, inwieweit kann das Bewusstsein, dessen Neubestimmung den Mittelpunkt der Forschungsarbeit der kulturhistorischen Schule bildete, als Produkt des gesellschaftlichen Lebens angesehen werden?
Die kulturhistorische Schule verstand dabei den Begriff des „Bewusstseins“ als höchste Form der Widerspiegelung der Wirklichkeit, die sich der Einzelne durch aktive und tätige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt schafft (LURIJA 1986).
Wie schon erwähnt war das sich daraus ableitende Ziel der Expedition die Erforschung psychischer Prozesse hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen bzw. historischen Entstehung, das bis dato noch nicht untersucht worden war. Dabei ging es nicht so sehr um die psychischen Prozesse bzw. die gesellschaftlichen Formen an sich, sondern um die Beziehung und die gegenseitige Bedingtheit der beiden Komponenten (psychische Prozesse – gesellschaftliche Verhältnisse).
Um diesen Zusammenhang aufzudecken, wollten Lurija und seine Mitstreiter der Problemstellung nachgehen, ob bei einer Veränderung oder Umstrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse psychische Prozesse umgestaltet oder lediglich erweitert würden (LURIJA 1986).
Unter Erweiterung versteht Lurija dabei z. B. die Erweiterung der psychischen Prozesse um weitere Erfahrung, der Erwerb neuer Fertigkeiten und Kenntnisse, die Aneignung der neu in die Kultur eingeführten Schriftsprache etc.. Das hieße, dass Entwicklung auch als Erweiterung begriffen werden müsste.
In der Umgestaltung dagegen sieht er die Umgestaltung der Struktur der psychischen Prozesse, welche die Bildung neuer psychischer Systeme zur Folge hätte. Entwicklung unter diesem Gesichtspunkt müsste folglich als Umstrukturierung begriffen werden. Der Beweis der letzteren Annahme, so folgert Lurija weiter, hätte demzufolge weitreichende Konsequenzen für ein Verständnis der Psychologie als gesellschaftlich-historische Wissenschaft.
Untersuchungssituation
Um diese Bewusstseinsprozesse feststellen und analysieren zu können, war es notwendig, einen Kulturkreis zu finden, der gerade derartigen Veränderungen unterzogen war. Das heißt, innerhalb einer einheitlich geographisch und ethnischen Kultur mussten verschiedene Gruppen gefunden werden, die verschiedene Entwicklungsstufen, also beispielsweise technisch rückständige oder analphabetische Gruppen neben höher zivilisierten, repräsentierten. Die normalerweise im Längsschnitt über lange Zeiträume hinweg zu betrachtende Entwicklung einer Kultur sollte also im Querschnitt aufgrund gerade sich vollziehender radikaler Umgestaltungen vorgefunden werden.
MÉTRAUX macht die Problematik deutlicher: „Die Ungleichheit geschichtlicher Epochen ein und derselben Gesellschaft musste in der Gleichzeitigkeit der Feldversuche zugänglich, analysierbar, objektivierbar und messbar sein“ (MÉTRAUX 1994, 22).
Diese selten anzutreffenden Bedingungen wurden aufgrund der seit der Oktoberrevolution im ganzen Land mehr oder weniger rasant stattfindenden sozialistischen Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens tatsächlich vorgefunden. Im Jahr 1929 begannen Lurija und Wygotskij, die schon erwähnte Expedition nach Samarkand in Usbekistan und den angrenzenden Gebieten Kirgisiens zu planen, deren Bevölkerung sich in einem solchen gesellschaftlichen Wandel befand (MÉTRAUX 1994). Dies geht auch aus einem Brief Lurijas an Kurt Lewin hervor (MÉTRAUX 1986).
Schließlich führte das wissenschaftliche Institut von Usbekistan zusammen mit dem psychologischen Institut Moskau im Juli 1931 eine erste psychologische Expedition mit dem Ziel durch, die psychischen Besonderheiten der Bevölkerung eines bestimmten Kulturkreises zu studieren, die auf verschiedenen Stufen der sozialen und kulturellen Entwicklung standen (LURIJA, 1986, 186). Die zweite Expedition folgte im Sommer 1932 und wurde unter nahezu identischen Bedingungen durchgeführt. An ihr nahm auch ein ausländischer Forscher teil, der Gestaltpsychologe Kurt Koffka.
Imbiß in Weissenfels
LURIJA (1986) beschreibt die Bedingungen, die in Usbekistan vorgefunden wurden, den Einfluss und die Konsequenzen der sozialistischen Revolution folgendermaßen:
„In Usbekistan herrschten vor der Revolution rückständige ökonomische Verhältnisse, es dominierte der naturwissenschaftlich betriebene Baumwollanbau; Überreste einer ehemals hochstehenden Kultur verbanden sich mit einem fast ausnahmslosen Analphabetismus der Dorfbewohner und mit einem ausgeprägten Einfluss des Islam.
Durch die sozialistische Revolution wurden die Klassenherrschaft und -unterdrückung beseitigt, und die gestern noch Unterdrückten erhielten eine im vollen Maße freie Existenz, die die Verantwortung für ihre eigene Zukunft einschloss. Usbekistan begann sich in eine Republik mit genossenschaftlich betriebener Landwirtschaft und aufkommender Industrie zu verwandeln. Die neuen Wirtschaftsformen brachten neue Formen der gesellschaftlichen Tätigkeit hervor: die kollektive Erörterung der Arbeitspläne, die Erfassung und Überwindung von Mängeln, die Verteilung der Wirtschaftsfunktionen.
Auf dem Hintergrund der tiefgreifenden Veränderungen in der Klassenstruktur der Gesellschaft vollzogen sich kulturelle Wandlungen. Natürlich führte das zu einer völligen Veränderung der sozialökonomischen Lebensbedingungen in diesen Regionen“ (LURIJA 1986, 35/36).
Die Moderne zog also in diese entlegenen Gebiete ein und mit ihr veränderte Arbeitsbedingungen und Schulausbildung, aber auch die Emanzipation der Frau, der bis dahin aufgrund des islamischen Einflusses die Beteiligung am öffentlichen Leben untersagt gewesen war (LURIJA 1993).
Aus der Darstellung dieser Untersuchungssituation ergaben sich fünf verschiedene Gruppen, die zwar alle keine Hochschulbildung besaßen, aber sich in ihrer Kommunikationsweise, ihrer Weltanschauung oder hinsichtlich des Charakters ihrer praktischen Tätigkeiten voneinander unterschieden. Nach LURIJA (1986/1993) lassen sie sich entsprechend einteilen:
Vom gesellschaftlichen Leben ausgegrenzte Frauen in entlegeneren Dörfern, die Analphabetinnen waren
Analphabetische Einzelbauern aus entlegenen Gebieten, die noch nicht in den Genossenschaften, der gesellschaftlichen Form der Arbeit, arbeiteten
Frauen, die meisten von ihnen ebenfalls Analphabetinnen, die jedoch in Schnellkursen zur Kindergärtnerin ausgebildet worden waren
Kolchosmitglieder und Mitglieder von Jugendgruppen, die bereits Einblick in die neuen gesellschaftlichen Strukturen hatten, jedoch nur kurz die Schule besucht hatten
Studentinnen, die nach einer 2-3jährigen Schulung eine pädagogische Fachschule besuchen durften, aber relativ niedriges Bildungsniveau besaßen
Diese fünf Gruppen wurden unter zwei große zusammengefasst: Die letzten drei Gruppen waren aktiv am gesellschaftlichen Wandel hin zu einer sozialistischen Gesellschaft beteiligt. Für sie entstanden z. B. neue Formen sozialer Beziehungen und neue Wirtschaftsformen, die wiederum neue Grundsätze in ihr Leben brachten. Man stellte hier die These auf, dass dies die Voraussetzungen für eine tiefgreifend psychologische Wandlung seien, die sich im Inhalt und der Form des Denkens niederschlagen sollten. Bei den ersten beiden Gruppen erwartete man dagegen aufgrund der äußeren Bedingungen eher geringere Voraussetzungen für einen derartigen Wandel im Denken.
Ausgangshypothese
Ausgehend von dieser Untersuchungssituation formulierte die Forschergruppe um LURIJA (1986) die Hypothese, dass sich für die ersten beiden Gruppen die Wirklichkeit hauptsächlich aus der unmittelbaren und anschaulichen Praxis konstruiert, die zweite Gruppe jedoch kompliziertere und vermitteltere Formen der psychischen Tätigkeit aufweist und damit ein anderes Bild, einen anderen Charakter von der Widerspiegelung der Wirklichkeit entwickelt hat.
Man ging davon aus, dass diese jeweiligen Erkenntnisstrukturen den jeweiligen sozial-historischen Handlungsaufgaben entsprechen (PICKENHAIN 1994). Ziel war es, diese möglichen Unterschiede aufzudecken und mögliche Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung aufzuzeigen.
Die Hauptthemen der Expedition waren (LURIJA 1986):
die Struktur der Denkprozesse in den verschiedenen Gruppen
die Struktur der einzelnen psychischen Prozesse (Bsp. Wahrnehmung)
die Umgestaltung dieser Strukturen beim Übergang zu neuen Formen des Denkens die Struktur der Persönlichkeit und der sozialen Charakterbildung
Diese sollten anhand der Prozesse „Wahrnehmung“, „Abstraktion und Verallgemeinerung“, „Schlussfolgern“, „Urteilen“, „Phantasie“ und „Selbstanalyse und Selbstbewusstsein“ studiert werden.
Ehemalige Mohren-Apotheke am Marktplatz in Weissenfels. Alle Photos bis hierhin: Katrin Eissing
Methoden
Als Arbeitsmethode bei diesen Felduntersuchungen wurde von der reinen Beobachtung abgesehen und dagegen vollwertige experimentalpsychologische Untersuchungen durchgeführt, die überzeugende Ergebnisse bringen sollten. Mit dieser Expedition sollte zudem gezeigt werden, dass die von der Troijka angestrebte Synthese historischer verstehender (idiographischer) und experimenteller (nomothetischer) Verfahren möglich war (MÉTRAUX 1993a).
LURIJA (1986) beschreibt diese aufwendigen Methoden ausführlich in seinem Bericht über die Expedition: Oberstes Ziel der Forscher war es, die Durchführung des Experimentes nicht als solches erscheinen zu lassen; es sollte vielmehr von den Versuchspersonen als natürliche Angelegenheit empfunden werden. Man wollte mögliches Misstrauen und damit erschwerte Untersuchungsbedingungen ausschließen.
So begannen die Experimente mit langen Gesprächen in vertrauter Umgebung (im sog. Teehaus oder am abendlichen Lagerfeuer) und erst nach einiger Zeit fing der Versuchsleiter an, speziell vorbereitete Fragen zu stellen, die den der Bevölkerung bekannten Rätseln ähnelten und deshalb als Fortsetzung des Gespräches aufgefasst wurden. Die Aufgaben waren für die Versuchspersonen sinnvoll, da sie in Bezug zu ihrem Leben standen. Zudem ließen sie mehrere Antworten zu. Die jeweiligen Antworten wurden nicht bloß registriert wie in damaligen Laborexperimenten üblich, sondern in einem sog. klinischen Gespräch weitergeführt, in dem die Versuchspersonen den Weg ihrer Lösung beschreiben sollten und in eine Diskussion darüber einstiegen. Der Erfolg der Untersuchungen hing vom Inhalt dieser Aufgaben ab. Um auch hier einem möglichen Misstrauen vorzubeugen, zeichnete nicht der Versuchsleiter selbst, sondern ein Assistent unbemerkt die Ergebnisse des Gespräches auf.
Beispiele Ein Beispiel, bei dem die Unterschiede zwischen den beiden Hauptgruppen besonders charakteristisch ausfielen, beschreibt LURIJA (1993) in seiner Autobiographie: Bei dem Versuch aus dem Bereich der Wahrnehmung sollten die Versuchsgruppen verschiedene geometrische Figuren bezeichnen und einordnen:
Die Mitglieder der ersten beiden Gruppen, bezeichneten diese Figuren als Gegenstände aus ihrem Alltag, wie z.B. als Teller, Armband, Zelt oder Perlenkette. Deshalb konnten sie auch keine Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Gebilden feststellen, da sich die Gegenstände im Alltag ja voneinander unterschieden (z. B. zwischen Kreis und halboffenen Kreis, die als Münze und Mond bezeichnet wurden).
Die meisten Versuchspersonen aus der zweiten Gruppe, die bereits elementare Bildung erfahren hatten, fanden hingegen geometrische Bezeichnungen für diese Formen und klassifizierten sie hinsichtlich ihrer gemeinsamen Merkmale.
Dieser Erkenntnis konnte die v.a. von den Gestaltpsychologen vertretene Annahme von einem „universellen Gesetz der Wahrnehmung“ nicht mehr standhalten, das besagt, dass grundsätzlich nach idealen Eigenschaften einer „guten“ Gestalt kategorisiert wird. Vielmehr wies dieses Beispiel darauf hin, dass die Klassifikation als historisch gewachsene Methode aufzufassen sei.
Darauf deutete auch die Beobachtung eines weiteren Versuches hin, dass die Menschen der ersten beiden Gruppen ähnliche Gegenstände nicht aufgrund eines gemeinsamen Merkmals oder Eigenschaft (z. B. alle Dinge, die aus Holz sind) sortierten, sondern Gegenstände in eine Kategorie brachten, die einem bestimmten Zweck dienten (LURIJA 1993). Kategorisiert wurde also bei den Analphabeten und denjenigen ohne Schulbildung allein aufgrund der jeweiligen praktischen Erfahrung.
Auch im Bereich der optischen Täuschungen traten wesentliche Unterschiede zwischen den Gruppen auf. Es zeigte sich, dass diejenigen Versuchspersonen, die unbeeinflusst von der wissenschaftlich-technischen Zivilisation waren, auf optische Täuschungen in einem weit geringerem Maße hereinfielen als diejenigen, die sich bereits mit dem Modernisierungsschub auseinandersetzten (MÉTRAUX 1994).
Auch optische Täuschungen konnten also nicht als universell für jeden Menschen bezeichnet werden. Man konnte nun vielmehr davon ausgehen, dass Täuschungsphänomene mit der Schulbildung und damit der technisch-industriellen Zivilisation zunehmen (MÉTRAUX 1988).
Die Folgerung für die heutige Zeit müsste demnach sein, dass wir im Technologiezeitalter diesen Täuschungen in einem noch höheren Maße erliegen, was ja auch im Hinblick auf Computeranimationen etc. nachvollziehbar ist.
Kleiner Pollerhersteller in Berlin, würde auch nach Weissenfels liefern. Photo: Susanne Memarnia
Folgerungen
In beiden Expeditionen hatte Lurija akribisch genau eine Fülle an Daten gesammelt (COLE 1979b).
Einige der Schlussfolgerungen, die sich daraus ableiten ließen, seien im Folgenden kurz dargestellt.
Aus den Ergebnissen zog LURIJA (1993) v.a. im Hinblick auf die Funktion der Sprache den Schluss, dass sie (die Funktion) sich mit steigendem Bildungsniveau verändert. Die Sprache stand auch deshalb im Zentrum der Betrachtung, da die Untersuchungen ja alle mittels Sprache im freien Gespräch stattgefunden hatten. So hatten Begriffe für die ersten Gruppen die Funktion, praktische Beziehungen von Dingen zu bezeichnen und nicht die Funktion, Gegenstände begrifflich einzuordnen. Das hieß auch, dass abstraktes Denken hierbei keine Rolle spielte, zumal es ja in ihrem von der Praxis dominierten Leben nicht notwendig war. Anhand der Untersuchung der Beziehung des Menschen zur Sprache zog Lurija Rückschlüsse auf die kulturhistorische Bedingtheit der psychischen Prozesse:
„Neue gesellschaftliche Erfahrungen, neue Ideen und Bildung verändern die Beziehung des Menschen zur Sprache: Wörter werden zum Hauptinstrument der Abstraktion und Verallgemeinerung – zwei Fähigkeiten, die sich keineswegs als unveränderliche Standardkategorien jeder menschlichen Entwicklung bestimmen lassen“ (LURIJA 1993, 87)
Lurija und seine Mitarbeiter folgerten daraus weiter, dass die Beziehung zur Sprache auch das Denken bzw. das Lernen beeinflusse. Denn die Fähigkeit zum komplexen logischen Denken hängt immer auch davon ab, inwieweit Denkleistungen auch unabhängig von den unmittelbaren praktischen Erfahrungen vollzogen werden können.
In Bezug auf das Lernen hieße das, dass der Erwerb neuer Kenntnisse über den verbal-logischen Weg nur dann Erfolg haben kann, wenn das Denken sich losgelöst hat von unmittelbar praktischen Erfahrungen.
Das soll aber nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass praktische Erfahrung logisches Denken ausschließt: Die Versuchspersonen konnten völlig richtige Urteil abgeben bzw. logische Schlüsse ziehen, jedoch nur, solange es um Tatsachen ging, die aus ihrer Erfahrung stammten (LURIJA 1993).
In diesem Zusammenhang sei auf die daraus resultierende Konsequenz für schulisches Lehren und Lernen hingewiesen, auch hinsichtlich der Verwendung von Konkretem und Abstraktem.
Schließlich kann man feststellen, dass die Ergebnisse der vergleichenden Untersuchungen immer das gleiche Grundmuster widerspiegelten: Veränderungen der praktischen Tätigkeitsformen, besonders durch Schulbildung, gingen mit qualitativen Veränderungen in den Denkprozesse der Menschen einher (LURIJA 1993). (Hier muss angemerkt werden, dass mit dieser Feststellung nicht gleichzeitig eine Wertung einhergehen sollte.)
Diese qualitative Veränderung lässt den Schluss nahe, dass psychische Prozesse umstrukturiert werden und nicht quantitativ erweitert (siehe 4.4.1).
Eine derartige Neuorganisation des Denkens kann allerdings bei entsprechenden Umständen in kurzer Zeit stattfinden (LURIJA 1993).
Dies hatte auch Konsequenzen für die Perspektive, unter der man diese vergleichenden ethnopsychologischen Forschungen betrachtete: Es ging nicht mehr wie bei anderen Forschergruppen um die Untersuchung „zurückgebliebener“ Völker, sondern vielmehr um eine Psychologie der sich „entwickelnden“ Völker, d.h. man konnte auf diese Weise der psychischen Entwicklung ein großes Potenzial zuschreiben (LURIJA 1986).
Ebenso wie bei den Untersuchungen zur Ontogenese wurde kein Teilaspekt der Entwicklung herausgegriffen und in verkürzter und statischer Weise analysiert. Vielmehr wurde die kulturhistorische Entwicklung unter dem Aspekt eines möglichen Potenzials gesehen, also, wenn man so will, als ganzheitliche Erscheinung in ihrer ganzen Prozesshaftigkeit.
Zudem ließen sich die aufgezeigten Besonderheiten in den Erkenntnisprozessen der einzelnen Gruppen auf kulturelle Bedingungen zurückführen und in keiner Weise auf biologische Minderwertigkeit (LURIJA 1986).
MÉTRAUX (1988) stellt letztendlich zusammenfassend fest, dass diese Ergebnisse eine Bestätigung der kulturhistorischen Hypothesen Lurijas zeigen, diese so eine ernstzunehmende Alternative zu den verkürzenden Ansätzen der modernen Psychologie darstellt, welche die Geschichtlichkeit des Psychischen zwar anerkennen, ihr aber nicht ihren wahren Stellenwert einräumen.
Poller in den USA
Zusammenfassung des Exkurses
Ziel der Expedition ist es, kulturhistorische Determinanten für die Entwicklung psychischer Prozesse aufzeigen zu können. Dadurch soll auch das Verständnis von Entwicklung als Erweiterung oder als strukturelle Umgestaltung geklärt werden. Um diese Veränderungen untersuchen zu können, wählen Lurija und Wygotskij einen Kulturkreis, bei dem aufgrund gesellschaftlicher Umwälzungen zu jenem Zeitpunkt eine Bandbreite an unterschiedlichen Gruppen mit unterschiedlichem Sozialisationsstatus vorzufinden ist. Die Wahl fällt auf entlegene Gebiete in Usbekistan und Kirgisien. Die Bevölkerung lässt sich in fünf Gruppen einteilen, von denen die ersten beiden Gruppen analphabetisch sind und ein einfach strukturiertes Leben führen, dass sich in Kommunikationsweise und Weltanschauung etc. von den anderen unterscheidet, die bereits in einen gesellschaftlichen Wandel einbezogen sind.
Methodisch wählt man eine Synthese historisch und experimenteller Verfahren. Dabei soll die experimentelle Untersuchungssituation möglichst natürlich sein und nicht den Anschein eines Experimentes erwecken. Eine der Haupterkenntnisse dieser Expedition ist es, dass Menschen je nach intellektueller Ausbildung und sozialhistorischer Handlungsanforderung andere Erkenntnisstrukturen aufweisen. Der Unterschied liegt in dem verschiedenen Charakter der sozialen Umweltfaktoren, der Rückschlüsse auf die Ausbildung zerebraler Organisationsformen wie das Denken etc. geben kann. Tiefgreifende Veränderungen der äußeren Lebenssituation rufen dabei rasch qualitative Veränderungen im Denkprozess hervor. Entwicklung wird als strukturelle Umorganisation verstanden, womit ihr größtmögliches Potenzial zugesprochen wird.
Weiterführende Literatur:
Lurija; A. R. (1986): Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse. Weinheim – mit einem Vorwort von Alexandre Metraux Lurija, A.R. (1993): Romantische Wissenschaft. Reinbek.
Reaktionen auf die Expedition
Die bahnbrechenden Ergebnisse, die aus der Expedition gewonnen werden konnten, stießen nicht bei allen auf positive Reaktionen, v.a. von politischer Seite. MÉTRAUX (1994) nimmt an, dass der Auslöser hierfür in einem Schreiben Lurijas nach Moskau lag, in dem er – voller Enthusiasmus – davon berichtet, dass die Usbeken keinen Wahrnehmungstäuschungen unterliegen. Ohne den Forschungskontext zu kennen, fasste man diese Botschaft als „Die Usbeken machen sich keinerlei Illusionen“ auf (wegen des im Russischen zweideutigen Wortes „illjusija“: Illusion; (Wahrnehmungs-) Täuschung) und unterstellte Lurija deshalb sogar eine rassistische Einstellung:
Obwohl Lurija klar die förderlichen Konsequenzen, welche die Kollektivierung mit sich brachte, herausstellte, sahen viele Kritiker in den gewonnenen Schlussfolgerungen der Expeditionen eine Beleidigung gegenüber den untersuchten Gruppen (COLE 1976). Man wollte jedoch alles verhindern, was die noch sehr schwache Teilnahme dieser Bevölkerungsteile am nationalen Leben hätte gefährden können. So wurde der bedeutende wissenschaftliche Gehalt dieser Expedition nicht beachtet.
Die Forschungen wurden vielmehr von der sog. Kontrollkommission als schädigend für den nationalen und kulturellen Aufbau Usbekistans eingestuft und ihre Ergebnisse als den Marxismus schädigend, pseudowissenschaftlich, reaktionär und klassenfeindlich bezeichnet, die den Schluss nahe legen, die Politik der Sowjetunion werde von primitiv denkenden Leuten gesteuert (MÉTRAUX 1994). Dieser Rundumschlag seitens der Regierung führte zu einer „schier mörderischen Kontroverse“. Schon die zweite Exkursion wurde deshalb wesentlich von anderer Stelle, nämlich Charkow in der Ukraine, unterstützt. Lurija versuchte in einer Stellungnahme die kulturhistorische Theorie mit folgenden Argumenten zu verteidigen. Gleichzeitig fassen diese die Ergebnisse der Expedition noch einmal zusammenfassen. Nämlich,
„(1) dass die konkreten Denkformen im Gegensatz zu den abstrakten – ausschließlich auf rückständige Produktionsverhältnisse zurückzuführen seien,
(2) dass sich die konkreten Denkformen unter bestimmten Bedingungen rasch auflösen,
(3) dass sie sich im Prozess der sozialistischen Umgestaltung unverhältnismäßig rasch zu den höheren Denkformen weiterentwickeln, und
(4) dass die Gesetze der Umgestaltung der Denkformen in der Ausarbeitung pädagogischer Programme unbedingt berücksichtigt werden müssten“ (MÉTRAUX 1994, 25).
Zu dieser Zeit hatte A. R. Lurija in seinem Land noch kein wirkliches Forum für seine Sichtweise und seiner Verteidigung wurde wenig Verständnis entgegengebracht.
Wie MÉTRAUX (1994) anmerkt, besaß allein die Regierung die Definitionsmacht darüber, zu entscheiden, was als wissenschaftlich gelten konnte und was als unwissenschaftlich.
Es gilt zwar nicht als gesichert, ob das besagte Telegramm dazu führte, doch Lurija wurde im Spätherbst 1931 gezwungen, seine Dozentur am Psychologischen Institut in Moskau niederzulegen. Zudem wurde er als „Great-Russian Chauvinist“ (GOLDBERG 1990, 3) gebrandmarkt, was im Hinblick auf die Tatsache, dass Lurija Jude war, ziemlich ironisch anmutete.
Allerdings hatte er zu dieser Zeit noch weitere Tätigkeiten in Moskau wahrgenommen, da LURIJA (1993) selbst davon berichtet, dass er ab dieser Zeit zwischen Moskau und Charkow hin und her pendelte. Dass er zusammen mit Wygotskij, Leontjew und anderen in der Ukraine an der dortigen Psychoneurologischen Akademie tätig war, ist unbestritten.
Poller in London
Doch die Kontroverse setzte sich fort und erlangte ihren Höhepunkt in einem sog. Dekret des Zentralkomitees der KPdSU gegen pädologische Perversionen im Jahr 1936.
In diesem wurde die kulturhistorische Psychologie für idealistisch erklärt, was als Gegensatz zum vorherrschenden Materialismus und damit als schlimmste Anschuldigung im sowjetpolitischen Jargon der damaligen Zeit galt (GOLDBERG 1990). Dies hatte zur Folge, dass unter die kulturhistorischen Forschungen ein vorläufiger Schlussstrich gezogen wurde. In diesem Zusammenhang wird auch von der sog. Anti-Pädologie-Kampagne gesprochen. Vor allem Wygotskij fiel dabei zwei Jahre nach seinem Tod 1934 in politische Ungnaden. Lurija hat sich ihm gegenüber jedoch sein Leben lang loyal erwiesen und war auch über dessen Tod hinaus darauf bedacht, sein Werk in Erinnerung zu halten. Sobald es das politische Klima erlaubte, bewerkstelligte er in den späten 60er Jahren die Veröffentlichung der gesammelten Schriften L. S. Wygotskijs.
Eine weitere Auswirkung des wissenschaftlichen Streits führte dazu, dass die Ergebnisse der Expeditionen erst 42 Jahre später auf Betreiben COLES (1976) hin in der vorliegenden Monographie („Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse“) veröffentlicht wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte Lurija diese und andere Ergebnisse seiner Forschungstätigkeit jedoch in der angelsächsischen Literatur publizieren und auf internationalen Kongressen darlegen, was ihm außerhalb Russlands ab den 60er Jahren und v. a. in den 80ern bedeutendes Ansehen verschaffte.
Die Kehrseite der Medaille stellte das dadurch wiederum wachsende Misstrauen durch die regierende kommunistische Partei dar. Die Rolle der Politik führte im Bereich der Wissenschaft zu Restriktionen und der Gefahr der Dogmatisierung (PICKENHAIN 1994). Spätestens hier dürfte man annehmen, dass die anfängliche durch den politischen Wechsel heraufbeschworene Euphorie einer immer stärker werdenden Verdrossenheit, heraufbeschworen durch die stalinistische Ära, gewichen sei, doch Lurija setzte seine Arbeit, zwar in einem anderen wissenschaftlichen Bereich und unter anderer Perspektive, unbeirrt mit großer Überzeugung fort.
Mehrere Autoren (u.a. LIST 1994, SACKS 1994) bewerten diese Geschehnisse um die stalinistischen Restriktionen und den 1934 hinzukommenden frühen Tod Wygotskijs (2) an Tuberkulose als Wendepunkt in Lurijas Leben. Er markiert die vorläufige Aufgabe des Planes der Erneuerung der Psychologie durch die kulturhistorische Schule, und damit auch das Ende eines Jahrzehntes fruchtbarer Arbeit in der Troijka. Doch er führt gleichzeitig in ein neues Gebiet, das die zweite Hälfte des wissenschaftlichen Lebens Lurijas ausmachen sollte und für das Lurija letztendlich berühmt geworden ist.
Bedeutung und Tragweite der kulturhistorischen Theorie
Die Vorstellung, dass das Psychische nicht als in sich geschlossene und von Natur und Kultur unabhängige Größe zu begreifen ist, ist heute schon selbstverständlich dieser Idee gewichen, dass das Psychische von seinen Entwicklungsprozessen und seiner geschichtlichen Bestimmtheit her verstanden werden muss.
Der Verdienst der Troijka war es „eine komplexe Psychologie aus einem Guss, eine Psychologie, die sich um die Sprache als anthropologische Qualität mit allen Facetten sammelt“ (LIST 1994, 90), zu entwickeln.
MÉTRAUX (1986, 1994) betont in seiner Würdigung v.a. den interdisziplinären Gedanken der kulturhistorischen Schule, deren Grundaussage über die Grenzen der Psychologie hinaus auch in Disziplinen wie der Linguistik, Soziologie, sozialen Anthropologie oder der Heilpädagogik zur Entwicklung neuer Ansätze geführt hat. Zudem gingen alle Arbeiten in den Grundbestand der psychologischen Erkenntnis ein, d. h. sie wurden in die Weiterentwicklung dieser Wissenschaft miteinbezogen.
Das Gedankengut der kulturhistorischen Theorie wurde im Laufe der Zeit noch einmal in drei entscheidenden Büchern der Mitglieder der Troijka versammelt: WYGOTSKIJS „Denken und Sprechen“ (1934; 1993), LEONTJEWS „Probleme der Entwicklung des Psychischen“ (1959; 1972) und schließlich LURIJAS „Sprache und Bewusstsein“ (1979; 1982) haben allesamt hohes Ansehen erlangt und wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
COLE betont zudem die Bedeutung der kulturhistorischen Schule für Lurijas weiteres Schaffen: „…all of his later research and theory can not be properly understood if his commitment to the idea of cultural psychology is ignored“ (COLE 1990, 12).
Poller in Nepal
Zusammenfassung
Die Forschungen der Troijka folgen drei Grundlinien der Verhaltensentwicklung, denen die Genese der höheren psychischen Funktionen übergeordnet ist: das sind die Phylogenese, die Soziogenese und die Ontogenese. Diese sollen dem Anspruch eines umfassenden psychologischen Ansatzes genügen, der die Entwicklung des Menschen und damit einhergehend seiner psychischen Prozesse im Ganzen sieht und nicht Teilaspekte ohne Zusammenhang herausgreift und analysiert. Bei der Untersuchung der Entwicklung psychischer Funktionen werden die Mittel untersucht, die eine Beziehung zwischen Organismus und Umwelt ermöglichen. Im Rahmen der Forschungen zur Ontogenese führt Lurija Untersuchungen mit eineiigen und zweieiigen Zwillingen durch mit dem Ziel, hinter den Einfluss von genetischen und sozialen Faktoren zu gelangen, den sie auf die Entwicklung psychischer Funktionen haben. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der Einfluss biologischer Faktoren mit fortschreitender Entwicklung des Kindes abnimmt, hingegen die sozialen Faktoren an Bedeutung gewinnen und eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung höherer psychischer Funktionen spielen. Der Sprache als Instrument der sozialen Kommunikation kommt bei der Entwicklung eine große Bedeutung zu. Lurija versucht in Experimenten mit Zwillingen und Kindern mit und ohne Behinderung, die Hypothese zu belegen, dass der Sprache eine Steuerungsfunktion hinsichtlich des Verhaltens und Denkens zukommt.
Der zentrale Begriff der Interiorisation spiegelt dabei die Auffassung von der Entwicklung höherer psychischer Funktionen wie Sprache oder Handlung wider: Zunächst haben diese Funktionen interpsychischen Charakter. Das Kind ist in seiner Entwicklung auf seine Umwelt angewiesen. Nach und nach wird die aufgebaute Beziehung zu ihr verinnerlicht, also interiorisiert. Handlung und Sprache des Kindes erhalten intrapsychischen Charakter (geistige Handlung, inneres Sprechen). Es steuert nun sein Verhalten selbst.
Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeiten der kulturhistorischen Schule ist die Untersuchung des kulturhistorischen Aspektes der Entwicklung des Psychischen (Soziogenese). Da diesbezüglich wenig Daten vorliegen und um den kulturhistorischen Ansatz konsequent mit dem Anspruch der Verknüpfung von Theorie und Praxis durchführen zu können, planen Lurija und Wygotskij eine Expedition in entlegene Gebiete Usbekistans und Kirgisiens, die sich gerade in einem Zustand großer gesellschaftlicher Umwälzungen befinden.
In Russland stoßen die Ergebnisse der Expedition, die den kulturhistorischen Ansatz bestätigen, auf Ablehnung seitens der Regierung, da man ihr rassistischen und antimarxistischen Hintergrund unterstellt. Lurija verliert in der daraus folgenden Kontroverse seine Dozentenstelle am Psychologischen Institut in Moskau und kann erst 42 Jahre später Ergebnisse der Expedition in einer Monographie veröffentlichen.
In der sog. Anti-Pädologie-Kampagne wird von politischer Seite ein Schlussstrich unter kulturhistorische Forschungen gesetzt. Jedoch ist dieser Ansatz als komplexe Psychologie und hinsichtlich seiner interdisziplinären Ausweitung in jeder Hinsicht zu würdigen. Er findet, wenn auch nicht so offenkundig, auch im weiteren (neuropsychologischen) Schaffen Lurijas seinen Niederschlag.
Auszug aus: Wagner, C. (2001). Alexandr R. Lurija: Leben und Werk. Unveröffentlichte Examensarbeit, Universität Würzburg.
Kanadischer Pilon. Alle Photos: Peter Loyd Grosse
Anmerkungen:
(0) Im Marxismus geht man davon aus, dass die Sprachbildung mit der gesellschaftlichen Entwicklung der Arbeit einhergeht. Die konkrete Arbeit schafft Gebrauchswerte, die abstrakte produziert Tauschwerte. Dem Dualismus konkrete Arbeit – abstrakte Arbeit entspricht die Dichotomie Gebrauchswert -Tauschwert. Ihre Unterscheidung ist für Marx „der Springpunkt, um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht.“
Für den marxistischen Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel durchdringt der „abstrakte Wert“ des Tauschwerts alles und alle. „Im gesamten Umkreis der Warenproduktion herrscht Abstraktheit: In erster Linie ist der Tauschwert selbst abstrakter Wert im Gegensatz zum Gebrauchswert der Waren. Der Tauschwert ist einzig quantitativer Differenzierung fähig, und die Quantifizierung, die hier vorliegt, ist wiederum abstrakter Natur im Vergleich zur Mengenbestimmung von Gebrauchswerten. Selbst die Arbeit…wird als Bestimmungsgrund der Wertgröße und Wertsubstanz zu ‚abstrakt menschlicher Arbeit‘. Die Form, in der der Warenwert sinnfällig in Erscheinung tritt, nämlich das Geld, ist abstraktes Ding und in dieser Eigenschaft, genaugenommen, ein Widerspruch in sich. Im Geld wird auch der Reichtum zum abstrakten Reichtum, dem keine Grenzen mehr gesetzt sind. Als Besitzer solchen Reichtums wird der Mensch selbst zum abstrakten Menschen, seine Individualität zum abstrakten Wesen des Privateigentümers. Schließlich ist eine Gesellschaft, in der der Warenverkehr den nexus rerum bildet, ein rein abstrakter Zusammenhang, bei dem alles Konkrete sich in privaten Händen befindet“.
Analog zum Dualismus abstrakte und konkrete Arbeit lassen sich abstraktes und konkretes Denken unterscheiden. Das abstrakte Denken hat zur Voraussetzung jene eben beschriebene „Realabstraktion“. Es hub an mit den „Ersten Philosophen“ in Ionien, etwa 500 vor Christus, zugleich mit den ersten Münzprägungen und der Durchsetzung des Geldverkehrs. Der Übergang vom mythischen (primitiven) zum (modernen) wissenschaftlichen Denken ist diesem Prozeß geschuldet. Parmenides begriff die neuen abstrakten Begriffe als ein Geschenk des Himmels – konkret: von der Göttin Dyke, der „genau vergeltenden“. Das ist schon fast handelskapitalmäßig gedacht: Dem fortan als primitiv geltenden Warentausch war das „genau vergeltende“ noch fremd. Jacques Derrida spricht deswegen von einer „Anökonomie der Gabe“. Der Gabentausch ist gekennzeichnet durch die Verpflichtung der Reziprokation – er beruht auf Gegenseitigkeit, der Warentausch ist charakterisiert durch das Postulat der Äquivalenz – hier herrscht Gleichwertigkeit. Ersteres bezieht sich auf Personen, letzteres auf Dinge. Im Gabentausch wird Gesellschaft direkt zwischen Personen hergestellt, im Warentausch abstrakt – über den Wert (der Dinge). Ersteres eignet den sogenannten primitiven Gesellschaften, letzteres unseren – kapitalistischen. Die Anökonomie, das war auch gegen all jene darwinistisch geschulten Ethnologen und Ethologen gerichtet, die den „Naturvölkern“ und Tieren fortwährend mit BWL und VWL kommen – bis hin zu „Kosten-Nutzen-Rechnungen“.
Anökonomie herrschte – in kollektiver Form – im Steinzeitalter und war noch im Bronzezeitalter dominierend. Erst mit der Verwendung von Eisengeräten bei der Bodenbearbeitung setzt sich die Einzelwirtschaft – der oikos – durch. Diese bäuerlich-handwerklichen Familienbetriebe bilden laut Marx „die ökonomische Grundlage der klassischen Gemeinwesen in ihrer besten Zeit.“ Zugleich wird dabei der Gaben- zu einem Warentausch umgeformt: „Um ihre Produkte auf einander als Waren zu beziehen, sind die Menschen gezwungen, ihre verschiedenen Arbeiten abstrakt-menschlicher Arbeit gleichzusetzen. Sie wissen das nicht, aber sie tun es, indem sie dies materielle Ding auf die Abstraktion Wert reduzieren. Es ist dies eine naturwüchsig und daher bewusstlos instinktive Operation ihres Hirns.“ Sie ist uns zur „Zweiten Natur“ geworden. Die griechischen Tragödiendichter und Philosophen haben die gesellschaftlichen Folgen daraus noch beklagt. Wir, die wir den Gabentausch ins Sakrale abgedrängt haben, denken bis heute konkret und abstrakt zugleich. Der von Darwin beflügelte Marx spricht von einem „Naturinstinkt der Warenbesitzer“. Umgekehrt hat der Marxist Claude Lévi-Strauss aufgezeigt, dass hinter dem „primitiven Denken“ und dem „wissenschaftlichen“ nur zwei verschiedene Interpretationen von Welt stehen, die jedoch bis hin zur Astrophysik und Quantenmechanik gleich „beseelt“ sind.
Diesen erkenntnistheoretischen Globalismus wollte er zuletzt auch noch auf die Tiere ausdehnen: „Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wünschte ich mir, die Tiere zu verstehen – ihre Sprache.“ 1968 bereits hatte Lévi-Strauss sich in einer Fernsehsendung über die mit der gentechnischen „Entschlüsselung der Codes des Lebens“ deutlich gewordene „Analogie“ der Genfunktionen zur Sprache gefreut. Womit die ganze Sprachforschung quasi naturwissenschaftlich abgesichert würde. Eine ähliche Fundierung hatten sich bereits die Seelenforscher – von Pawlow und Wigotski bis Freud und Reich – erhofft. Wigotskis Kollege Alexander Lurija erforschte nach der Revolution (!) das Unvermögen bzw Fehlen von „abstraktem Denken“ – an Analphabeten in Kirgistan und Usbekistan, an Kleinkindern (was ihn in gedankliche Nähe zu Jean Piaget brachte) und an gehirnverstümmelten Soldaten – im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Daneben widmete er sich Anomalien des Denkens – eines Gedächtniskünstlers z.B., der unfähig zur Abstraktion war und selbst Gesprochenes bis hin zu Zahlen in sinnliche Gegenstände umwandeln mußte. Aber wie ist es entstanden, das abstrakte Denken aus dem Geldverkehr? Dazu führte der marxistische Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel aus:
„Das Geld darf sich nicht verschleißen, folglich braucht man dafür Materialien, die nicht verschleißbar sind. Solche Materialien gibt es in der Natur aber nicht. Das Geld hat also eine virtuelle Materie, mit der es natürlich nicht umlaufen kann, weil sie nicht sichtbar ist, und auchkeinen Geldwert hat. Das Geld steht immer ineins mit einem gebrauchswerten Material, Edelmetall ist ja Gebrauchsgut; also an die reine Tauschabstraktion kommt man nur auf dem Wege, daß man auf der Verschleißersetzung insistiert. Und da hat man nun eine merkwürdige Substanz, die keine natürliche und nicht anschaulich ist, die sich dem Parmenides aufgedrängt hat. Denn der einzig wirkliche Begriff, der dem entsprach, zu seiner Zeit, ist das ‚tò ón‘ des Parmenides, sein Seins-Begriff. Dieser Begriff – das Sein, den er da entwickelt hat, ist verträglich mit dem virtuellen Geldbegriff, und dieser virtuelle Begriff der Materie, die nicht verschleißbar sein darf, ist ein echter Bestandteil der Realabstraktion. Da kommt er her und wird bei Parmenides zum Begriff. Hegel bemerkt in seiner ‚Geschichte der Philosophie‘ dazu: ‚Mit Parmenides hat das eigentliche Philosophieren angefangen, die Erhebung in das Reich des Ideellen ist hierin zu sehen‘.“ Wir sind über sein Sein noch nicht hinausgekommen. „Es existiert immer noch eine Diskussionsgemeinschaft mit den ‚Alten’…Die Naturwissenschaftler glauben, die Ausschaltung des Anthropomorphismus und den Zugang zur objektiven Naturerkenntnis geschaffen zu haben, sie haben aber nur einen früheren durch ihren eigenen Anthropomorphismus ersetzt. Der allerdings die entscheidenden Vorteile der mathematischen Methode und des messenden Experiments für sich hat.“
Was ist demgegenüber „konkretes Denken“: Ein kirgisischer Bauer, Analphabet, kommt in einer Versuchsanordnung von Lurija z.B. nicht darauf, welcher von vier Gegenständen nicht in die Reihung Axt, Säge, Schnitzmesser, Holzstück gehört. Ihm ist die Abstraktion „Werkzeug“ (noch) nicht geläufig. Der Linguist Daniel Everett erforschte die an einem Nebenfluß des Amazonas lebenden Pirahas: Sie kennen keine Farbnamen: statt z.B rot sagen sie: etwas sieht aus wie die Blume des Sowieso-Baumes oder wie das Fell eines Marders. Obgleich die Pirahas, wie so viele kleine Völker in Lateinamerika und Asien gelegentlich mit Händlern in Berührung kommen und jedesmal betrogen werden, also motiviert genug sind, rechnen zu lernen, kommt dieses extrem empiristische und konkretistische Amazonasvolk nicht über die Zahl 4 hinaus. Einem anderen – in der Nähe lebenden Volk, mit der selben Unfähigkeit, gelang dies erst, nachdem es Portugiesisch gelernt hatte. Umgekehrt wissen wir, dass bemerkenswert viele Autisten, die im gesellschaftlichen Umgang mit Menschen große Schwierigkeiten haben, ein hervorragendes Zahlengedächtnis besitzen und manchmal herausragende Mathematiker werden. Man spricht hierbei vom „Asperger-Syndrom“, seine Beschreibung geht auf die sowjetische Psychiaterin Grunja Sucharewa zurück. Inzwischen ist uns die durchmathematisierte Gesellschaft derart zur Zweiten Natur geworden, dass wir nicht nur an unseren ganzen Rechnern zu Autisten herangebildet werden, sondern sukzessive alles um uns herum denaturalisieren – d.h. durchrechnen. Das geht bis in die Liebe. Selbst die letzten Wildtiere in den Nationalparks werden inzwischen „nachhaltig bewirtschaftet“, um sie als Einahmequelle aus dem Tourismus zu erhalten. Dazu werden sie laufend gezählt. Der Philosoph Vilem Flusser prophezeite: „Mit der Gentechnik beginnt das Zeitalter der wahren Kunst. Erst mit ihr sind selbstreproduktionsfähige Werke möglich.“ Alles Sein muß sich rechnen!
Für Alfred Sohn-Rethel war der Begriff „Zeitökonomie“ ein Schlüssel: „Es geht nach wie vor um das Produzieren mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit, um aus den fixen Kosten, die dominierend geworden sind, den bestmöglichen Profit herauszupressen. Dafür kommt es ja auf die Stückkosten an, die am geringsten sind, wenn eine möglichst große Menge von Stücken sich in die fixen Kosten teilen und wenn kontinuierlich und pausenlos produziert werden kann. Dieser Kausalzusammenhang bewirkt, daß die heutige Großindustrie in der Rationalisierungsform des Fließbetriebes den Markt von vornherein mit Überproduktion beliefert. Es geht dabei schon längst nicht mehr um Bedürfnisbefriedigung.“
Die FAZ berichtete 2005 nach dem Tod von Alfred Sohn-Rethel (1990): „Die Arbeitsbibliothek des Philosophen Alfred Sohn-Rethel hat Co-Libri aus Bremen als einige hundert Bände umfassendes Konvolut im Angebot (18 000) – darunter eine reich annotierte Erstausgabe von Heideggers ‚Sein und Zeit‘ aus dem Jahr 1927“ In diesem Werk wollte Heidegger die bisherige Nichtbeachtung der Zeit für das Verständnis des Seins korrigieren, woraus sich der Titel seines Werks erklärt, wie Wikipedia schreibt.
Nicht nur, dass die letzten „Naturvölker“ keinen Begriff des Seins haben, die Pirahas kennen auch keine Vergangenheit und Zukunft – keine Zeit. Sie leben in „ewiger Gegenwart“. Die guten Wilden: das ist ein alter Topos unter Zivilisierten.
Die Sehnsucht nach solchen Seinsweisen haben hierzulande zwei Frauen entfacht, deren Eltern als atheistische Ethnologen bzw. als christliche Sprachwissenschaftler bei einem Stamm am Amazonas bzw. in Papua-Neuguinea lebten, unter denen die beiden Autorinnen dann aufwuchsen:
Sabine Kueglers Bericht „Dschungelkind“ und Catherina Rust Biographie „Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern“. Der Verlag schreibt: „Catherina Rust erlebte eine paradiesische Kindheit in Mashipurimo, einem Urwalddorf im Amazonasgebiet. Jetzt hat sie in einem dokumentarischen Bericht ihre Erinnerungen aufgeschrieben – eine Kindheit fernab von Zivilisation und Komfort. Sie erzählt von den Aparai-Wajana-Indianern in Brasilien, einer indigenen Gemeinschaft, in der Kinder alle Freiheiten haben und Individualismus, Besitz sowie Status nichts bedeuten, ein harmonisches Miteinander alles. ‚Als Kind habe ich mich nicht als Weiße wahrgenommen. Ich glaube, ich habe erst bewusst realisiert, dass ich anders bin als die Aparai-Kinder, als ich nach Deutschland kam. Wir hatten keine Spiegel, und ich hatte keine Selbstwahrnehmung. Man hat mich dort integriert und aufgenommen, und ich bin da wie alle anderen Indianerkinder aufgewachsen‘.“
Sabine Kügler hat wenig später ein zweites Buch geschrieben: „Ruf des Dschungels“. Dazu heißt es im Klappentext:
„Sie war »das Dschungelkind« – doch seit Sabine Kuegler das Paradies ihrer Kindheit verlassen musste, ließ die Sehnsucht sie nicht mehr los. Nun ist sie zurückgekehrt, um herauszufinden: Wo gehöre ich hin? Bei den Fayu, einem vergessenen Stamm in West-Papua, war sie einst glücklich, hat gefühlt und gehandelt wie eine Eingeborene. Mit vielen der Freunde von einst feiert sie nun ein ergreifendes Wiedersehen. Doch der magische Ort von damals hat sich verändert. Als erwachsene Frau kann Sabine Kuegler die Augen nicht davor verschließen, was in West-Papua geschieht: Das abgeschiedene Leben der Fayu ist bedroht. Menschen verschwinden, Menschen sterben. Und Sabine Kuegler erkennt: Sie muss das Kind in sich zurücklassen, um das Land und die Menschen zu schützen, die ihr so viel gegeben haben.“
Danach schrieb Sabine Kügler „Jägerin und Gejagte“, dazu heißt es von ihr: „Es gibt Geschichten, die ich noch nie erzählt habe: von der Zeit, als ich meine Seele verlor, als mich eine grausige Kälte ergriff, als ich versuchte, meine Einsamkeit zu verdrängen und meine Angst durch Härte zu ersetzen. Ich fing an zu kämpfen und wurde von der Gejagten zur Jägerin…“ Ihr Verlag ergänzt: „Bittere Jahre waren es, als ‚Dschungelkind‘ Sabine Kuegler von West-Papua nach Europa kam – in den Dschungel der westlichen Zivilisation. Fast wäre sie am Zusammenprall der Kulturen zerbrochen. Doch dann besann sie sich auf die Kräfte, die ihre Kindheit in der Natur ihr verliehen hatte.“
Schließlich veröffentlichte auch noch ihre Mutter ein Buch „Dschungeljahre: Mein Leben bei den Ureinwohnern West-Papuas“. Es schildert ihr Leben bei den Fayu in West-Papua: „Als Mutter von Sabine Kuegler, die mit ihrer Biografie Dschungelkind einen Weltbestseller schrieb, gewährt Doris Kuegler einen ungeschminkten Einblick in die Dschungeljahre der Familie – ein Leben zwischen den Kulturen. Eindrücklich beschreibt sie, was eine Mutter empfindet, die ihre Kinder inmitten eines ehemals kannibalischen Volksstammes im Dschungel großzieht. Und was es bedeutet, unter Steinzeit-Bedingungen zu leben. “
Und dann gibt es noch – von: John Hänni „Aufgewachsen im Dschungel“: „John Hänni wird als Missionarssohn in Papua Neuguinea geboren. Erst nach einigen Jahren sieht er sein «Heimatland» Schweiz zum ersten Mal und staunt über die vielen technischen Errungenschaften, den Schnee und andere Dinge, die er von Papua Neuguinea nicht kennt. Denn dort macht er Erfahrungen auf seinem «Spielplatz» Urwald, isst Nagetiere und lernt so einiges, was man hier in der Schweiz niemals könnte.“
Erwähnt sei ferner: „Das glücklichste Volk: Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas“ von Daniel Everett. Siehe dazu: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2011/12/07/dazwischengeschoben/
Sowie: „Leben und Sterben in Amazonien: Bei den Jívaro-Indianern“ von Philippe Descola.
Und ferner das Buch „Tochter des Dschungels“ von Zoya Phan: „Früh am Morgen, beim dritten Hahnenschrei, weckte mich mein Bruder, denn nur ich hatte die richtige Größe, um ihm zu helfen. Allein war er nicht schwer genug, um den Reis zu stampfen. Er weckte mich, band mich auf seinem Rücken fest, und dann fing er an zu singen. Er sang mich wieder in den Schlaf. Und wenn er genug Reis für den Tag gestampft hatte, schlief ich längst wieder tief und fest.« Im burmesischen Dschungel wächst Zoya Phan auf, spielt mit den Hühnern unter dem Pfahlbau aus Bambus, setzt seltene Orchideen in den Garten ihres Vaters und wagt sich immer wieder in das wilde Dschungeldickicht. Und Dank ihres Glaubens an die Beseeltheit der Natur wähnt sie sich lange geborgen im Kreis ihrer Familie. Bis zu dem Tag, als das Dröhnen von Flugzeugen die Stille über dem Dschungel zerreißt und eine lange Zeit der Vertreibung und Flucht ihren Anfang nimmt.“
Ähnlich erging es auch den bei bei Steinzeitvölkern aufgewachsenen o.e. Mädchen aus Deutschland, nur dass sich ihnen dieses Gefühl erst später im Westen einstellte. In der Jungen Welt schrieb ich dazu heute in einer Kolumne:
Die Dorfsoziologen haben sich vor allem auf bäuerliche Gemeinschaften konzentriert bzw. darauf, wie diese sich langsam von innen und außen asozial zersetzten. Marx hat das am Beispiel der russischen „Obschtschina“ herausgearbeitet. Der Marxist Alfred Sohn-Rethel schreibt: „Der entscheidende Bruch in der Tradition der archaischen Gesellschaften tritt ein durch die Eisengewinnung und die sich entwickelnde Eisenbearbeitung. Die Verwendung von Eisengerät in der Bodenbearbeitung bringt eine wirtschaftliche Umwälzung in der Agrarproduktion hervor. Sie kann jetzt erfolgreicher als Einzelwirtschaft betrieben werden als in der umständlichen und aufwendigen Art der vorhergehenden kollektiven Aluvialwirtschaft. Mit dem Übergang zur Eisentechnik entsteht die Ökonomie der kleinen Bauernwirtschaften und der unabhängigen Handwerksbetriebe, die beide – nach Marx berühmter Fußnote – ‚die ökonomische Grundlage der klassischen Gemeinwesen in ihrer besten Zeit bilden, nachdem sich das ursprünglich orientalische Gemeinwesen aufgelöst und bevor sich die Sklaverei der Produktion ernsthaft bemächtigt hat.“
Die Missionare und nach ihnen und bis heute gegen sie – die Ethnologen haben sich die letzten Steinzeit-Kulturen vorgenommen, die noch nicht zu Einzelbauern oder Industrieproletariern heruntergekommen sind – wobei ihnen die „Traurigen Tropen“ – so der Titel einer Amazonasindianer-Studie von Claude Lévi-Strauss (1955) – als Leitmotiv dient. Dabei schwingt stets noch der „Edle Wilde“ von Rousseau mit. Das geht bis hin zu Daniel Everett, der als Missionar zu den Pirahas, einem kleinen Amazonas-Stamm kam und sich dort in den Achtzigerjahren zum Ethnologen dieses seiner Meinung nach weltweit „glücklichsten Volkes“ wandelte.
In die entgegengesetzte – hochzivilisierte – Richtung mußten sich zwei junge Frauen wandeln, die als Kind mit ihren Eltern, die Ethnologen bzw. Missionare waren, in Steinzeit-Gemeinschaften aufwuchsen: Zum Einen Catherina Rust, Autorin des Buches „Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern“ (2011). Und zum Anderen Sabine Kügler, Autorin der Bestseller „Dschungelkind“ (2006), „Ruf des Dschungels“ (2007) und „Jägerin und Gejagte“ (2009). In diesem, ihrem vorerst letzten Buch, schildert sie ihre vergeblichen Versuche, sich im Westen zu integrieren. Aufgewachsen in einer fast totalen Dorf-Gemeinschaft scheiterte sie hier immer wieder am konkurrenten Individualismus.
2011 hat auch noch ihre Mutter, Doris Kügler, die 35 Jahre als Krankenschwester und Ehefrau eines christlichen Missionars in einem Dorf der Fayu lebte, ihre Erlebnisse veröffentlicht: „Dschungeljahre: Mein Leben bei den Ureinwohnern West-Papuas.“
Ihr Verlag schreibt: „Eindrücklich beschreibt Doris Kügler, was eine Mutter empfindet, die ihre Kinder inmitten eines ehemals kannibalischen Volksstammes im Dschungel großzieht. Und was es bedeutet, unter Steinzeit-Bedingungen zu leben. Fesselnd schildert sie auch, wie es den Küglers gelang, den kriegerischen Fayu Begriffe wie Vergebung, Gnade und Liebe zu vermitteln.“
Daneben brachten sie denen aber auch bei, den personengebundenen Gabentausch und damit die Verpflichtung zur Reziprokation zu überwinden zugunsten eines Warentauschs, der durch das Postulat der Äquivalenz gekennzeichnet ist. Das Missionarsehepaar lehrte ihnen also den Wert des Geldes, das Wertgesetz, wobei sie ihnen Mathematik und damit abstraktes Denken beibrachte – und die Fayu-Stämme gleichzeitig mit Eisenwerkzeug ausrüstete.
Anders das Ethnologenpaar Rust, das sich hütete, derart in das Stammesleben der Aparai-Wajana einzugreifen. So wie auch der Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Lévi-Strauss, Philippe Descola, während seiner Feldforschung bei den Jívaro-Indianern, die 2011 unter dem Titel „Leben und Sterben in Amazonien“ auf Deutsch erschien. Im Gegenteil werfen diese Ethnologen den Missionaren genau solche leichtfertigen Eingriffe vor. Es sind gewissermaßen Konkurrenten an den letzten Seelen-Fronten. Catherina Rust wuchs im Bewußtsein auf, dass diese Christen ganz besonders von Übel sind. Da es jedoch keine Beobachtung des Sozialen gibt, die diese nicht zugleich auch beeinflußt, verändern eben auch zurückhaltende Ethnologen als langjährige Gäste bei steinzeitlichen Stämmen deren Lebensweise, mindestens dass sie deren Seelenleben mit ihrer permanent neugierigen Anwesenheit bereichern.
Aufgeblasener Poller
(1) Es gibt eine ganze Reihe von Tier-Biographien – vornehmlich von Hunden und Menschenaffen. In der Rhön, im Oberwaldbehrunger Buchladen „Medien-Streu“, hielt ich neulich – über Weissenfels anreisend – einen Vortrag über einige Biographien von Schimpansen:
„An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles,“ heißt es in Franz Kafkas Erzählung „Ein Bericht für eine Akademie“ (1917), in dem es um die Selbstvermenschlichung des einst von Hagenbeck an der Goldküste gefangenen Affen Rotpeter geht, der darin nicht die Freiheit, aber einen Ausweg fand. Anders als die wirklich lebenden Menschenaffen, die Carl Hagenbeck damals in Afrika fing und nach Hamburg transportierte: Sie starben alle schon nach kurzer Zeit an „seelischen Leiden“, wie er schrieb.
Für Kafkas Affen Rotpeter gab es einmal gefangen nur noch die Alternative Zoo oder Varieté. Für letzteres mußte er sich anstrengen. Die „Durchschnittsbildung eines Europäers“ half ihm aus dem Käfig und verschaffte ihm den „Menschenausweg“. Im Ergebnis versicherte er seinem wahrscheinlich darwinistisch gesonnenen Publikum: „Offen gesprochen: Ihr Affentum, meine Herren, soferne Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine.“
Entlang dieses Affen-Berichts in der Ich-Form hat der englische Autor James Lever 90 Jahre später die Autobiographie eines Affen veröffentlicht, der wirklich gelebt hat: der 1932 geborene und bald darauf eingefangene Schimpanse Cheeta. Er machte ebenfalls Karriere im „Show-Business“ – u.a. spielte er in fast allen „Tarzan“-Filmen mit.
Auch dieser Affe erstattet rückblickend einen Bericht über sein Leben, das aus vielen Hollywood-Vergnügungen bestand. Nachdem er jedoch einmal eine solche Party geschildert hat, die er zusammen mit seinem geliebten Johnny Weissmüller besuchte, fügte er hinzu: „Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass dies ein typischer Tag in meinem Leben war. Es würde eher der Wahrheit entsprechen, wenn ich sagte, dass ich mindestens 65% des Jahres 1935 masturbierend in einem Käfig verbrachte. Später träumte Cheeta davon, ebenfalls eine Rede für eine Akademie zu halten – gemeint ist hier jedoch jene, die die Oscars verleiht.
Anders als Rotpeter hat Cheeta zu dem Zeitpunkt seine Karriere schon lange beendet – und dämmert in einem Altersheim für ausgediente Showbusiness-Tiere in Florida vor sich hin. Kafkas Affe hat dagegen im ganzen erreicht, was er erreichen wollte: „Komme ich spät nachts von Banketten, aus wissenschaftlichen Gesellschaften, aus gemütlichem Beisammensein nach Hause, erwartet mich eine kleine halbdressierte Schimpansin und ich lasse es mir nach Affenart bei ihr wohlgehen. Bei Tag will ich sie nicht sehen; sie hat nämlich den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick; das erkenne nur ich, und ich kann es nicht ertragen.“
Ähnlich hatte auch Cheeta während seiner Filmkarriere über weibliche Schimpansen gedacht. Als er 2011 Achtzigjährig starb, verdichtete sich jedoch das, was der Journalist Richard D. Rosen bereits 2008 in der Washington Post vermutet hatte: Bei Cheeta handelte es sich um mehrere – unbekannt gebliebene – Schimpansen. Der gerade gestorbene und als ältester Schimpanse der Welt ins Guinessbuch der Rekorde gelangte hatte zwar ein langes Leben, aber in keinem einzigen Tarzan-Film mitgespielt. In dem Cheeta-Buch von James Leever wird aus ihnen allen eine einzige Lebensgeschichte.
Eine analoge Entfremdung wie Kafkas Rotpeter erlebte auch die Schimpansin Lucy. Dieses Tier gab es wirklich. Sie wurde gleich nach ihrer Geburt im Zoo 1964 von einem amerikanischen Psychotherapeuten-Ehepaar namens Temerlin adoptiert und wuchs zusammen mit deren Sohn in ihrem Haus auf. Als Lucy nach einigen Jahren zu groß und stark geworden war und alles kaputtschlug, sollte sie in Gambia ausgewildert werden, aber sie ängstigte sich zu sehr vor den anderen dort bereits ausgewilderten Schimpansen und das Nahrungsangebot in der neuen Freiheit ekelte sie an. Lucy empfand sich als Mensch.
Bei Wikipedia heißt es: „Temerlin und seine Frau behandelten Lucy wie ein menschliches Kind. Temerlin brachte ihr beispielsweise das Essen mit silbernem Besteck, das Ankleiden, das Blättern in Illustrierten sowie das Sitzen auf einem Stuhl bei Tisch bei. Außerdem lernte Lucy als Teil eines Affensprachenprojektes die American Sign Language des Primatologen Roger Fouts. Berühmt wurde sie über das Life-Journal, in dem sie dargestellt wurde, wie sie Gin trank, eine Katze streichelte und sich mit Hilfe eines Playgirlheftes sexuell stimulierte.“
In seinen Erinnerungen „Growing Up Human: A Chimpanzees Daughter in a Psychotherapists Family“ verweist Maurice Temerlin auf seinen Vorgänger Winthrop Kellogg. „Der Verhaltensforscher hatte Anfang der dreißiger Jahre zusammen mit seinem zehn Monate alten Sohn David einen sieben Monate alten Schimpansen namens Gua aufgezogen und akkurat festgehalten, welche Fortschritte beide machten. Gua lernte rascher dazu, reagierte schneller auf mündliche Anweisungen und schien seinem menschlichen Zwillingsbruder anfangs überlegen,“ schreibt die FAZ.
Nur mit dem Spracherwerb wollte es nicht klappen. Kellogg brach den Versuch nach neun Monaten ab, als sich zeigte, dass auch sein Sohn David keine Anstalten machte, Wörter zu formen, sondern damit begann, sich nach Affenart auf allen vieren fortzubewegen, an Schuhen zu kauen, zu grunzen und Schimpansenlaute nachzuahmen.“
Die auf Borneo lebende Orang-Utan-Forscherin Birute Galdikas ließ dagegen ihren Sohn zusammen mit einem Gibbon und zwei jungen Orang-Utan aufwachsen. Er lernte auch als erstes die „Affensprache“ – und danach die seiner Mutter, zuletzt auch die seines indonesischen Vaters.
Lucy lernte erst einmal die Gebärden für Ball, Banane, Flugzeug, Telefon usw. „Am Ende soll sie an die neunzig Zeichen beherrscht haben. Wer zu dieser Zeit das Haus der Temerlins betrat, wurde Zeuge eines ungewöhnlichen Familienlebens. Hatte Lucy Durst, ging sie in die Küche, öffnete den Schrank, nahm einen Teebeutel heraus, setzte Wasser zum Kochen auf und füllte die Tasse. Dann setzte sie sich aufs Sofa und blätterte in Zeitschriften wie Time oder Newsweek, am liebsten hatte sie den National Geographic. Bald entdeckte sie auch härteren Stoff wie Bourbon und Gin. Wenig später kam eine neue Vorliebe hinzu.
Eines Nachmittags saßen Jane und ich im Wohnzimmer und beobachteten, wie Lucy die Stube verließ“, berichtet Temerlin. „Sie ging in die Küche, öffnete einen Schrank, nahm ein Glas heraus, holte eine Flasche Gin hervor und schenkte sich drei Finger hoch ein. Damit kam sie zurück in die Stube, setzte sich auf die Couch und nippte. Doch mit einem Mal schien ihr ein Gedanke zu kommen. Sie erhob sich wieder, ging zum Besenschrank, holte den Staubsauger hervor, steckte ihn in die Steckdose, schaltete ihn ein und begann, sich mit dem Saugrohr zu befriedigen.“
Spätestens als Lucy 10 war, wurde es problematisch. Die Termerlins hielten zwar länger durch als die meisten Leute, die einen Menschenaffen adoptierten, aber – so ihr Sprachlehrer Roger Fout: „Egal wie die Versuchsanordnung war – wir haben es stets vermasselt. Wir können Schimpansen außerhalb ihrer natürlichen Heimat einfach keine artgerechten Lebensbedingungen bieten.“ Und anschließend kann man sie auch nur schwer wieder in ihrer „natürlichen Heimat“ eingewöhnen.
Ihre Babysitterin, die angehende Biologin Janis Carter, die sie in Gambia an die Freiheit gewöhnen sollte, brauchte acht Jahre, bis sie es geschafft hatte. Am Ende hatte Lucy sich mit der Horde von „Problemaffen“ wie sie selbst einer war abgefunden. Sie hatte verstanden – geht noch einmal zu Carter und umarmt sie. „Die bricht in Tränen aus. Lucy klopft ihr sanft auf den Rücken, „als wollte sie sagen, jetzt ist alles okay“, erinnert sich Janis. Die übrigen Affen machen kehrt und verschwinden wieder im Wald. Lucy steht auf und folgt. ‚Sie hat sich nicht mal mehr nach mir umgedreht‘.“ Ein Jahr später findet man Lucys Leiche. Wahrscheinlich wurde sie von Wilderern getötet, denen sie sich arglos genähert hatte.
Die Assistentin des Sprachlehrers Sue Savage hatte bereits Jahre zuvor im Haus der Temerlins, als man Lucy mit einem anderen Schimpansen bekannt machen wollte, bemerkt, dass sie große Angst vor diesem Tier hatte. Lucy war eigentlich gar kein Affe mehr: „Sie war gestrandet, befand sich irgendwo zwischen den Arten.“
Ähnliches berichtete der Primatenforscher Keith Laidler über seinen Orang-Utan namens Cody, der von ihm aufgezogen wurde und schon bald sogar Angst vor seiner eigenen Mutter hatte.
Bereits in den Zwanzigerjahren gab es solche experimentellen Adoptionen: So zog z.B. die russische Primatenforscherin Esperantia Ladygina-Kohts, während sie mit ihrem Mann ab 1907 das Moskauer „Darwin-Museum“ aufbaute, einen Schimpansen zusammen mit ihrem Sohn groß. Zwischen 1928 und 1958 veröffentlichte sie drei Bücher darüber. Der Schimpanse Joni entwickelte sich ein Jahr lang in geistiger Hinsicht ähnlich wie ihr Sohn Rudi, schien dann aber in seiner Entwicklung stehen zu bleiben.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam kürzlich auch die Leipziger Primatenforscherin Esther Herrmann. Jahrelang war sie nach Afrika gereist, um dort mit Schimpansen zu experimentieren. Es ging darum, ihre Intelligenz zu testen. Daheim in Leipzig, wiederholte sie ihre Versuche – mit zweieinhalbjährigen Menschenkindern. Im Ergebnis kam dabei heraus: „Wenn es um logisches Schlussfolgern, räumliches Denken oder das Abschätzen von Mengen geht, sind Schimpanse und Kleinkind [zunächst] ebenbürtig. Sobald aber soziale Fähigkeiten wie das Kommunikationsvermögen gefordert sind, erweisen sich die menschlichen Probanden als deutlich überlegen.“
Jüngst hat der Biologe und Philosoph Hans Werner Ingensiep in seinem Buch „Der kultivierte Affe“ die Metamorphosen unseres Menschenaffen-Bildes vom Monster über eine Maschine bis zum Mitmenschen nachgezeichnet. Das Thema war ihm eine „Herzensangelegenheit“, Anlaß bot jedoch das vom Tierschützer Peter Singer gegründete „Great Ape Project“ und dessen derzeitige Kampagne „Menschenrechte für Menschenaffen“, sie wird von vielen Primatenforschern unterstützt, die alle auch Tierschützer sind – fast notgedrungen, denn über kurz oder lang muß vielleicht jeder noch wild lebende Schimpanse, Bonobo, Gorilla und Orang-Utan rund um die Uhr beobachtet und geschützt werden. Die Zivilisation und ihre Marktgesetze bedrohen sie von allen Seiten – bis dahin, dass die Tierschützer und -forscher selbst sie beim „Habituieren“, d.h. an Sich gewöhnen, mit tödlichen Krankheitskeimen infizieren.
Ingensiep schreibt über die Absicht, die Menschenaffen, als uns Nächststehende unter den Tieren, zu „Personen“, d.h. Mitbürgern, zu erklären: „Sollte der Fall eintreten, dass ein Individuum unter den Menschenaffen in diesem Sinne als ‚animal rationabile‘ und autonomes Subjekt agiert, quasi ein ‚Sir Orang-Utan‘, dann werden wir es in die ‚Gemeinschaft der Gleichen‘ aufnehmen müssen und haben keinen Grund mehr, uns von ihm in dieser Hinsicht zu unterscheiden.“
Wenn man dem englischen Tierphotographen Cherry Kearton glauben darf, dann besaß er in den Zwanzigerjahren bereits einen solchen „Gentleman“-Schimpansen. In seiner Biographie über ihn – „Mein Freund Toto“ auf Deutsch – spricht John G. Hagenbeck im Vorwort von einem „Affengenie“. Der Autor erklärt gleich am Anfang: „Die Klugheit der Affen ist ebenso verschieden wie die der Menschen… Totos Verstand war von Anfang an der eines Vollerwachsenen.“ Er brachte dem Affen nichts bei, Toto war ein „Nachahmungsgenie“. Auch Laute ahmte er nach, Kearton wollte das jedoch nicht Sprache nennen.
Inzwischen kommunizieren die Primatenforscher mittels der Gebärdensprache von Taubstummen. Mancher Schimpanse – wie z.B. einer namens Washoe – wurde damit berühmt: Er kennt einige hundert Wörter – und brachte sie sogar seinem Neffen bei.
Kearton bekam den verwaisten kleinen Schimpansen auf einer Kongo-Expedition von einem Elefantenjäger geschenkt, der Toto bereits als ein „Wunderkind“ bezeichnete. Nachdem er erst gelernt hatte, was alles verboten war, besaß er schon bald „gute Manieren und eine große Anzahl angenehmer kleiner Gewohnheiten“. Er putzte sich die Zähne, nahm ein Bad, wusch sich mit Seife, später auf dem Schiff sogar die Taschentücher der Passagiere. Außerdem reinigte er das Deck. Toto begrüßte jeden mit Handschlag, rauchte Pfeife, aß mit dem Löffel und erforschte seine wechselnden Umgebungen. In Nairobi baute er mit einem Kind zusammen Sandburgen.
In Marseille brachte Kearton den Affen für einige Monate im Zoo unter, der Direktor schrieb ihm, Toto hätte zuerst allen Trost zurückgewiesen, dann aber mit der Zeit neue Freundschaften geschlossen und nähme nun Anteil an Allem, was er von dem Leben der anderen Tiere um ihn herum zu hören und zu sehen bekomme. In London, wo er mit dem Autor zusammen in dessen Haus lebte, lernte Toto alle Handgriffe beim Kochen, wusch das Geschirr ab und benutzte Werkzeug, um z.B. die letzte Kirsche in einem Glas herauszubekommen. Als Kearton krank im Bett bleiben mußte, pflegte Toto ihn und brachte ihm u.a. die Bücher, die er lesen wollte.“Jeder liebte und verehrte ihn, und ich ihn am meisten von allen,“ schreibt Kearton, der den Affen jedoch nach einiger Zeit wieder in den Zoo geben mußte, weil er erneut auf Reisen ging. Als er zurückkam erfuhr er, dass Toto an einer Lungenentzündung gestorben war.
Kearton maß das „Genie“ des Affen daran, wie schnell und gut er sich an die menschliche Umgebung anpasste und einfügte.
Es gibt neben den Schimpansen-Biographien von Cheeta und Toto noch eine dritte -über Petermann – den „Affen zu Köln“. Ihm stellte sich die Rotpetersche Alternative Zoo oder Variete nicht, denn er kam 1949 als junges Tier in den Kölner Zoo, wo er jedoch bald so beliebt wurde, dass er ständig bei irgendwelchen Veranstaltungen – wie Modeschauen, Promipartys, Karnevalssitzungen etc. – auftrat. Als auch er alt und mißmutig, sogar gefährlich wurde, vergaß man ihn einfach und er dämmerte fortan in einem Zookäfig vor sich hin – 25 Jahre lang. Bis er am 10. Oktober 1985 zusammen mit einer jungen Schimpansin namens Susi ausbrach, den Zoodirektor angriff, ihn schwer verletzte und dann auf ein Hausdach flüchtete, wo er aufrecht stehend und angeblich mit erhobener Faust zusammen mit Susi von Polizisten erschossen wurde. Seitdem ist er ein imaginärer Führer der Kölner Anarchisten, die „Petermann geht du voran!“ skandieren. In seiner Biographie über ihn schreibt der Autor Walter Filz: Sein Leben war kurz. „Aber es genügte, um Geschichte zu machen – als Star oder als Revolutionär. Petermann ist beides. Wofür er wenig kann.“
Zuletzt sei hier noch eine umgedrehte Affenforschung erwähnt – von der Hamburger Schriftstellerin Karen Duve – in ihrem Roman „Taxi“, der sich, ähnlich wie ihr letztes Tierschutz- und Vegetarierbuch „Anständig essen“, aus Selbsterfahrung speist:
Alex, eine etwas lebensuntüchtige Taxifahrerin mit Anflügen von Bonobo-Konfliktverhalten, hat alle Bücher über Affen, speziell von feministischen Forscherinnen, gelesen. Die Kenntnisse daraus dienen ihr nun zur Schilderung – u.a. von Fahrgastbenehmen: „Ein gewalttätiger Mensch“, dessen „Dominanzansprüche aber „in der Zivilisation mit ihren strikten Verhaltensregeln jeden Tag ins Leere liefen. Auswildern ging ja nicht, und so blieb ihm nur die Kneipe ‚Goldener Handschuh‘, eines der letzten Biotope, in dem noch das gute alte Schimpansengesetz galt.“
Als der Fahrgast sie blöde anmacht, fragt die Icherzählerin sich verzweifelt, was sie ihm antworten könnte? „Dian Fossey hätte die Situation sofort in den Griff bekommen. Wenn Dian Fossey es mit einem unangenehmen Gorillamännchen zu tun bekam, dann machte sie irgendwelche Schmalzgeräusche und Unterlegenheitsgesten oder stopfte sich ein Büschel Gras in den Mund, um ihn zu beschwichtigen.“ Weil der Icherzählerin aber nichts einfällt, wird ihr Fahrgast immer „hasserfülter…In einer besseren Welt wäre er ein Alphamännchen gewesen – und ich hatte ihm nicht den Respekt gezeigt, den er als Alphamännchen erwarten durfte.“
Dazu fällt ihr die Inschrift auf Dian Fosseys Grabstein ein: „Niemand hat Gorillas mehr geliebt“.
Bei einem anderen Fahrgast, der seiner Frau und Tochter sowie der Schwiegermutter während der Fahrt im Taxis durch Hamburg ununterbrochen alle Sehenswürdigkeiten erklärt – jedoch alles falsch erzählt, schimpft die Icherzählerin insgeheim: „Drei Frauen hatte der Blödmann hinter sich sitzen. Drei Frauen! Kaum zu fassen. In einer Orang-Utan-Horde hätte man einen solchen Versager nicht mal in die Nähe der Weibchen gelassen. Das Gesellschaftssystem der intelligenten Raubaffen [womit die Menschen gemeint sind] sorgte sehr gut für seine unfähigen Männchen. Kein Wunder, dass sie sich mit Veränderungen in diesem System schwer taten.“
Überhaupt nutzt Karen Duve ihr Affenwissen vor allem, um männliches Verhalten zu deuten. Nicht nur das ihrer Fahrgäste, sondern auch das ihrer vier „Chauvi“-Kollegen: „Ich war wie ein einzelner Orang-Utan, den ein geiziger Zoo aus Raummangel mit im Schimpansengehege hielt, wo ihn die Schimpansen zwangen, ein Schimpansenleben zu führen, und ihm gleichzeitig ständig vorhielten, dass er niemals etwas so Tolles wie ein Schimpanse sein würde.“
An anderer Stelle heißt es: „‚Na ja‘, sagte ich, ‚letztlich ist auch ein Physiker ein zoologisches Phänomen. Vielleicht ist er dominant. Ein dominantes Primatenmännchen kann schwer nachgeben, geschweige denn Fehler eingestehen – völlig egal, ob es sich um einen Physiker oder einen Schimpansen handelt. Da hilft auch der Doktortitel nicht weiter.“
Beim Fernsehen zuhause schaltet sie auf einen Tierfilm: Gezeigt wurde, wie eine Anakonda ein Wasserschwein verschlang. „‚Leider konnten wir dem Opfer nicht helfen,“ sagte der Sprecher,“ aber die Icherzählerin ist sich sicher, dass die Filmemacher die Situation sicher für eine „super Szene“ hielten und „vielleicht sogar ein ganz klein bisschen nachgeholfen hatten. Naturfilme, das waren immer auch Snuff-Filme für den Raubaffen Mensch.“
Als 1989 die „Mauer fällt“ muß sie gegenüber einem Freund ihr Desinteresse am Untergang des Sozialismus rechtfertigen: „Das konnte ja gar nicht klappen mit der DDR. Die vorrangigen Primaten-Interessen heißen nun einmal nicht Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern Macht und Geltung.“ Ihr Freund meint daraufhin: „Du kannst nicht immer alles mit Affen erklären. Die sind nicht für alles zuständig, deine Affen.“
Als er der Icherzählerin vorschlägt, ihn zu heiraten, entgegnet sie ihm: „Du weißt, dass das nicht geht. Heiraten ist was für Dummköpfe. Eine Primaten-Idee der schwachen Männchen, um die Kämpfe untereinander zu verhindern. Letztlich geht es bloß um die Verteilung der Weibchen. Und um die Befriedigung von Dominanzansprüchen. Deswegen ist es Männern ja auch so wichtig, dass ihre Frauen weniger verdienen und kleiner sind.“
Am Schluß des Romans, als sie langsam genug hat vom jahrelangen Taxifahren, gibt Karen Duve noch einmal ihrer Affenforschungsforschung Zucker – in Form eines Dian-Fossey-Auswegs: „Nehmen Sie einen Schimpansen mit?“ fragt ein Mann sie in einem abgewetzten Zirkuspullover, der auf der Reeperbahn ein Taxi suchte. Sein Schimpanse trug ebenfalls einen Pullover. Die beiden stiegen ein. Der Mann war ein „Brutalo mit kalten Sklavenhalteraugen. Er hatte ein Hundehalsband um den Hals des Schimpansen gebunden. Der arme Affe. Wo man auch hinsah, nichts als Qual und Unterdrückung…
Als sich unsere Blicke trafen, begriff ich, dass es dem großen Affen ganz ähnlich ging wie mir: Kein Spaß, kein Ausweg, und nicht die geringste Hoffnung, dass sich daran je etwas ändern könnte…Der Schimpanse sah mir wieder in die Augen und nickte ganz leicht. Herrje, wenn das ein Tier war – was war dann bitte ich? ‚Nicht anfassen,‘ sagte der Mann. ‚Der ist bösartig, der beißt‘. Er schlug ihm mit der Hundeleine auf den Kopf. ‚Nicht schlagen,‘ sagte ich, bitte nicht schlagen.'“
Als der Schimpansenbesitzer, aussteigt, um sich nach hinten zu dem Affen zu setzen, handelt sie „rein instinktiv“ – und gibt Gas. „‚Huuu‘, schrie der Schimpanse.“ Sie fährt zielstrebig stadtauswärts auf die Autobahn in Richtung Südwesten. Der Schimpanse klettert derweil auf den Beifahrersitz. „Immer weiter würden wir fahren, bis nach Spanien, bis wir am Mittelmeer waren.“ Dort würden wir uns bei Nacht nach Afrika übersetzen lassen und dann irgendwie nach Tansania durchschlagen.“
Ob sie sich bis zu der von Jane Goodall in den Sechzigerjahren gegründeten Schimpansenstation in Gombe durchschlagen will, läßt Karen Duve offen. Sie stellt sich vor: „Der Schimpanse würde mir beibringen, wie man in den Dschungelbäumen Schlafnester baut, und ich würde mit meinen letzten Streichhölzern ein Feuer anzünden, in dem wir seinen Häkelpullover und seine Windelhose verbrannten.“
Sie nimmt ihm erst mal das Halsband ab. Der Schimpanse zerstreut den Inhalt des Handschuhfachs, turnt wild im Wagen herum und durchwühlt ihre Haare. „‚Verdammt,‘ brüllte ich ihn an, ‚kannst du nicht mal fünf Minuten stillsitzen‘.“ Der Affe wird wütend, als er auch noch einen richtigen „Tobsuchtsanfall“ bekommt, kriegt die Icherzählerin Angst. „Ich mußte hier raus. So schnell wie möglich…Wenn ein Schimpanse erst mal einen Angriff gestartet hat, kann man sich jede Unterwerfungsgeste schenken.“
Plötzlich greift der ihr ins Lankrad. „Ich schrie, der Affe schrie.“ Das Taxi schoß über eine Böschung und landete ramponiert in einem Buschwaldstück. Als sie wieder zu sich kommt, ist der Schimpanse weg und sie auf einem Polizeirevier. Auf dem Weg zurück nach Hamburg und in ihre Wohnung muß sie „wieder an den Schimpansen denken…Wie gelassen er durch die geborstene Windschutzscheibe und über die heiße tickende Motorhaube geklettert und in den Büschen verschwunden war, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Als wüßte er ganz genau, was er nun tun müsste. Ich bereute nicht, dass ich den Affen entführt hatte, aber es kam mir vor wie die Tat eines anderen. So fremd war ich mir in den letzten Stunden geworden.“
Das „National Geographic“-Magazin unterfütterte 2012 diese romantisch-feministische Sichtweise der Autorin mit harten naturwissenschaftlichen Fakten: Männer sind den Menschenaffen genetisch oft ähnlicher als Frauen. Während die genetische Differenz zwischen Schimpansen und Männern bei etwa 1,5% liegt, kann sie bei Frauen bis zu 4% betragen. Eine Schweizer Nachrichtenagentur brachte diese Meldung auf den Punkt: „Damit ist klar, es gibt einige Männer, die mehr mit einem Schimpansen gemeinsam haben als mit einer Frau.“
Eingepollert
(2) Lem Wygotski schrieb zusammen mit Alexander Lurija: „Ape, Primitive Man and Child. Essays in the History of Behavior“, der Text findet sich im Internet, auf Deutsch gibt es von Wygotski u.a. das Buch: „Ursprung des Denkens und Sprechens beim Kind“, in dem es heißt:
Erst in letzter Zeit wurden experimentelle Beweise dafür geliefert, daß das Denken des Kindes ein vorsprachliches Stadium durchläuft. Mit Kindern, die noch nicht sprechen konnten, wurden mit entsprechenden Modifikationen KÖHLERs Schimpansenversuche durchgeführt. KÖHLER hat selbst mehrfach ein Kind zum Vergleich mituntersucht. BÜHLER hat Kinder in dieser Beziehung systematisch untersucht.
-
- „Es waren Leistungen ganz von der Art der Schimpansen, ja es gibt eine Phase im Leben des Kindes, die man nicht unpassend das Schimpansenalter wird nennen können; bei dem genannten Kinde gehörte der 10., 11. und 12. Monat dazu. Im Schimpansenalter also macht das Kind seine ersten kleinen Erfindungen, äußerst primitive Erfindungen natürlich, die aber geistig von größter Bedeutung
sind“.(1)Von großer theoretischer Bedeutung ist an diesem wie an den Versuchen mit Schimpansen die Unabhängigkeit des intelligenten Verhaltens von der Sprache. Dazu sagt BÜHLER:
-
- „Man hat gesagt, am Anfang der Menschwerdung stehe die
-
- ; mag sein, aber vor ihr noch ist das
Werkzeugdenken,
-
- d.h. das Erfassen mechanischer Zusammenhänge und das Ausdenken mechanischer Mittel zu mechanischen Endzwecken, wie man kurz sagen könnte;
vor dem Sprechen wird das Handeln subjektiv sinnvoll,
-
- d.h. soviel wie
bewußt-zweckvoll“.(2) Die vorintellektuellen Wurzeln der Sprache in der Entwicklung des Kindes sind sehr früh festgestellt worden. Das Schreien, das Lallen und sogar die ersten Wörter des Kindes sind evidente vorintellektuelle Stadien in der Sprachentwicklung. Sie haben mit der Entwicklung des Denkens nichts gemein.
Nach landläufiger Ansicht wurde die Kindersprache dieser Stufe als emotionale Verhaltensform betrachtet. Untersuchungen CH. BÜHLERs u.a. über die ersten sozialen Verhaltensweisen des Kindes und über das Verhaltensinventar im ersten Lebensjahr – und ihrer Mitarbeiterinnen HETZER und TUDOR-HART – über die frühesten Reaktionen des Kindes auf die menschliche Stimme haben gezeigt, daß wir im ersten Lebensjahr des Kindes, d.h. auf der vorintellektuellen Entwicklungsstufe seiner Sprache eine reiche Entwicklung sozialer Funktionen der Sprache antreffen. Der relativ komplizierte soziale Kontakt des Kindes führte zu einer sehr frühen Entwicklung der „Kontaktmittel“. Es ist gelungen, eindeutig spezifische Reaktionen auf die menschliche Stimme bereits bei einem drei Wochen alten Kind mit Sicherheit festzustellen (vorsoziale Reaktionen), und die erste soziale Reaktion auf die menschliche Stimme erfolgt im 2. Lebensmonat (3). In gleicher Weise treten Lachen, Lallen, Zeigen und Gebärden in den ersten Lebensmonaten des Kindes als soziale Kontaktmittel in Erscheinung.
Wir finden also im ersten Lebensjahr jene beiden Funktionen der Sprache bereits deutlich ausgeprägt, die uns von der Phylogenese (Stammesgeschichte der Lebewesen) her bekannt sind.
Das Wichtigste, was wir über die Entwicklung von Denken und Sprechen beim Kind wissen, ist die Tatsache, daß etwa um das 2. Jahr die Entwicklungslinien des Denkens und des Sprechens zusammenfallen und eine neue, für den Menschen charakteristische Verhaltensformen einleiten.
W. STERN hat dieses bedeutsame Ereignis besser und früher als andere beschrieben und gezeigt, wie beim Kinde „ein erstes Bewußtsein von der Bedeutung der Sprache und der Wille, sie sich zu erobern“, geweckt wird. In dieser Zeit macht das Kind, wie STERN sagt, die größte Entdeckung seines Lebens. Es entdeckt, daß jedes Ding einen Namen habe“ (4).
Dieser Zeitpunkt, von dem an die Sprache intellektuell und das Denken sprachlich wird, wird durch zwei gesicherte Kriterien charakterisiert, durch die wir zuverlässig beurteilen können, ob dieser Umschwung eingetreten ist oder nicht, und – in Fällen anomaler und retardierter (verzögerter) Entwicklung -, wie stark er zeitlich mit dem in der Entwicklung eines normalen Kindes differiert.
Das erste Kriterium besteht darin, daß ein Kind, bei jedem neuen Ding nach dessen Bezeichnung fragt. Das zweite Kriterium besteht in einer raschen, sprunghaften Erweiterung des Wortschatzes durch diese Aktivität des Kindes.
Ein Tier ist imstande, sich einzelne Wörter der menschlichen Sprache anzueignen und in entsprechenden Situationen anzuwenden. Das Kind eignet sich vor dieser Periode ebenfalls einzelne Wörter an, die für es bedingende Reize darstellen oder stellvertretend für einzelne Gegenstände, Menschen, Handlungen, Zustände und Wünsche stehen. Doch kennt es in diesem Stadium soviel Wörter, wie ihm von seiner Umgebung gegeben worden sind.
Nun wir die Lage prinzipiell anders. Das Kind fragt, wenn es einen neuen Gegenstand sieht, wie er bezeichnet wird. Das Kind braucht jetzt das Wort selbst und ist aktiv bemüht, sich das zu einem Gegenstand gehörende Zeichen anzueignen, das der Benennung und Mitteilung dient. Wenn das erste Stadium in der kindlichen Sprachentwicklung, wie MEUMANN gezeigt hat, seiner psychologischen Bedeutung nach affektiv-volitional (gefühlsbetont-begehrt) ist, so tritt danach die Sprache in die intellektuelle Phase ihrer Entwicklung ein. Das Kind entdeckt gewissermaßen die symbolische Funktion der Sprache.
„Der eben geschilderte Vorgang“, sagt STERN,
-
- „ist nun auch zweifellos als eine Denkleistung des Kindes im eigentlichen Sinne anzusprechen. Die Einsicht in das Verhältns von Zeichen und Bedeutung, die hier im Kinde aufgeht, ist eben etwas prinzipiell anderes als das bloße Umgehen mit Lautgestalten, Gegenstandvorstellungen und deren Assoziationen. Und die Forderung,
daß zu jedem Gegenstand, welcher Art er auch immer sei, ein Name gehören müsse
-
- , darf man wohl als einen wirklichen – vielleicht den ersten – allgemeinen Gedanken des Kindes
ansehen“.(5) Darauf muß näher eingegangen werden, denn hier wird zum ersten Mal das eigentliche Problem des Denkens und Sprechens berührt. Was ist das für ein Zeitpunkt, was stellt „diese wichtigste Entdeckung im Leben des Kindes“ dar, und ist STERNs Deutung richtig?
BÜHLER vergleich diese Entdeckung mit den Erfindungen der Schimpansen. „Man kann diesen Umstand drehen und wenden wie man will“, sagt er, “ im entscheidenden Punkt ergibt sich immer wieder die psychologische Parallele zu den Erfindungen der Schimpansen“ (6). Den gleichen Gedanken entwickelt auch K. KOFFKA.
„Die Namengebung“, sagt er, „ist nun eine Entdeckung, eine Erfindung des Kindes; gerade BÜHLER weist mit Nachdruck darauf hin, daß hier eine vollkommene Parallele zu den Erfindungen der Schimpansen vorliegt. Wir hatten diese Erfindung als Strukturleistungen erkannt, werden also auch in der Benennung eine Strukturleistung sehen: das Wort, so werden wir folgern, springt in die Dingstruktur hinein, so wie der Stock in die Situation des Frucht-haben-Wollens(7)
WALLON nimmt an, daß ein Name für das Kind eine zeitlang eher ein Attribut als ein Substitut eines Gegenstandes ist. Wenn das anderthalbjährige Kind nach dem Namen jedes Gegenstandes fragt, läßt es die von ihm entdeckte Beziehung erkennen, aber nichts deutet darauf hin, daß es in dem einen nicht ein einfaches Attribut des anderen sieht. Nur eine systematische Verallgemeinerung der Fragen kann ein Zeugnis dafür erbringen, daß es sich nicht um eine zufällige und passive Verbindung, sondern um eine Tendenz handelt, die im Suchen nach einem symbolischen Zeichen für alle realen Dinge besteht. (8)
K. KOFFKA nimmt eine Mittelstellung zwischen beiden Meinungen ein. Einerseits hebt er nach BÜHLER die Analogie zwischen der Entdeckung der nominativen Funktion der Sprache beim Kinde und den Erfindungen von Werkzeugen beim Schimpansen hervor. Andererseits beschränkt er diese Analogie darauf, daß das Wort in die Struktur des Dings eingeht, jedoch nicht unbedingt in der funktionalen Bedeutung eines Zeichens. Das Wort geht in die Struktur des Dings wie dessen übrige Glieder und neben ihnen ein. Es wird für das Kind eine Zeitlang eine Eigenschaft des Dings neben dessen anderen Eigenschaften.
Aber diese Eigenschaft des Dings, sein Name, ist „verschiebbar“;
-
- „man kann das Ding sehen, ohne seinen Namen zu hören oder zu sagen, gerade so, wie die Augen eine feste, aber verschiebbare Eigenschaft der Mutter sind, die man nicht sieht, wenn die Mutter das Gesicht abwendet. Und für uns als naive Menschen ist es gerade so:
ein blaues Kleid bleibt blau, auch wenn man die Farbe in der Dunkelheit nicht sehen kann.
-
- Name ist nun aber eine Eigenschaft, die alle Dinge haben können, das Kind kann nach diesem Prinzip alle Dingstrukturen
ergänzen…“(9) BÜHLER weist darauf hin, daß das Auftauchen jedes neuen Dinges für das Kind eine Situation schafft, die sich ihm als Aufgabe darstellt, zu der ihm ein allgemeines Lösungsschema gegeben ist, aber oft noch das geeignete Mittel fehlt. Die Lösung erfolgt dann durch das Benennen. Da, wo ihm ein Wort zur Bezeichnung eines neuen Gegenstandes fehlt, wendet es sich an die Erwachsenen (10).
Wir sind der Ansicht, daß diese Meinung der Wahrheit am nächsten und daß sie die bei dem Streit zwischen STERN und DELACROIX entstehenden Schwierigkeiten aus der Welt schafft. Name ist nun aber eine Eigenschaft, die alle Dinge haben können, das Kind kann nach diesem Prinzip alle Dingstrukturen ergänzen…“ Der Ergebnisse der ethnologischen Psychologie und besonders der Psychologie der Kindersprache (11) sprechen dafür, daß das Wort für lange Zeit hindurch eher eine Eigenschaft, als ein Symbol des Dings ist: das Kind lernt, wie wir gesehen haben, früher die äußere als die innere Struktur beherrschen. Es eignet sich die äußere Struktur an, das Wort ist die Sache, die erst später eine symbolische Form bekommt.
Wie bei den Versuchen von KÖHLER stehen wir wieder vor Hypothesen und können nur die wahrscheinlichste auswählen, sozusagen die „mittlere Meinung“.
Was spricht für unsere Annahme?
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- Erstens können wir darauf verzichten, einem anderthalbjährigen Kind die Entdeckung der symbolischen Funktion der Sprache, d.h. eine bewußte und komplizierte Operation, zuzuschreiben, da sie schlecht zum geistigen Niveau dieser Altersstufe paßt.
-
- Zweitens erscheint nach unseren experimentellen Ergebnissen der funktionale Gebrauch des Zeichens, selbst einfacher Zeichen als Worte, beim Kind bedeutend später.
-
- Drittens hat nach den allgemeinen Ergebnissen der Psychologie der Kindersprache das Kind noch nicht Einsicht in die Symbolfunktion der Sprache und gebraucht das Wort als eine der Eigenschaften eines Dings.
-
- Viertens zeigen Beobachtungen an normalen Kindern (auf die sich
STERN
-
- und
ELSA KÖHLER
-
- beziehen), nach
K. BÜHLER
-
- , daß es keine solche „Entdeckung“ gibt, deren Zeitpunkt exakt zu bestimmen wäre. Statt dessen führt eine Reihe „molekularer“ Veränderungen
dazu(12)
-
- Und
-
- Fünftens schließlich stimmt das mit dem allgemeinen Weg der Aneignung der Zeichenfunktion zusammen. Wir haben selbst bei einem Kind im Schulalter niemals eine
direkte Entdeckung
-
- beobachten können, die sofort zur Anwendung von Zeichen geführt hätte. Dieser geht vielmehr immer das Stadium der „naiven Psychologie“ voraus, also das Stadium der Aneignung der rein
äußerlichen Funktion des Zeichens,
-
- in dem das Kind erst während des Umgangs mit dem Zeichen zur richtigen Anwendung des Zeichens kommt.
Wenn ein Kind das Wort für die Eigenschaft eines Dings ansieht
steht es gerade in diesem sprachlichen Entwicklungsstadium.
LITERATUR
1.Wolfgang Köhler, Intelligenzprüfung an Menschenaffen, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963
2.Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1930
3.Ch. Bühler, Soziologische und psychologische Studien über das erste Lebensjahr, Leipzig 19274. 4.Stern, Psychologie der frühen Kindheit, Heidelberg 1952
5.Stern, Psychologie der frühen Kindheit, Heidelberg 1952
6.Ch. Bühler, Soziologische und psychologische Studien über das erste Lebensjahr, Leipzig 1927
7.Karl Bühler, Abriß der geistigen Entwicklung des Kindes, Leipzig 1929
8.H. Delacroix, Le Langage et la pensée, Paris 1924<
9.K. Koffka, Die Grundlagen der psychischen Entwicklung, Osterwieck 1925
10.Karl Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1930
11.Jean Piaget, Le langage et la pensée chez l’enfant, Neu-Chatel-Paris 1924
12.Karl Bühler, Abriß der geistigen Entwicklung des Kindes, Leipzig 1929
Bühlers Begriff des „Schimpansenalters“ griff im Westen u.a. Jacques Lacan auf: Es ist ihm identisch mit dem „Spiegelstadium“ – in dem das Kind sich in einem Spiegel erkennt – wobei sich ihm ein „Gefühl des Verstehens“ und eine „erleuchtete Intuition“ einstellt, die dem Schimpansen verwehrt bleibt. Roger Fouts hat mit seiner Schimpansin Washoe und ihren Familienangehörigen das Gegenteil bewiesen: Sie haben – bei der Benutzung von Handspiegeln – sogar ständig „erleuchtete Intuitionen“.
Wygotski, Leontjew und Lurija setzten sich nicht nur mit der Entwicklungspsychologie des Kindes von Bühler, sondern auch mit der von Jean Piaget auseinander. Während ihre Auseinandersetzung mit der Entwicklungspsychologie des Schimpansen auf der Forschung des Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler beruhte, der von 1914 bis 1920 die Anthropoidenstation der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa leitete – z.T. unfreiwillig, weil er wegen des Kriegsausbruchs nicht von dort weg konnte: „…jeden Tag Affen, man wird schon selber schimpansoid,“ klagte er.
Ähnlich wie die Mitbegründerin des „Darwin-Museums“ in Moskau Esperantia Ladygina-Kohts ihrem Schimpansen bei sich zu Hause, attestierte auch Köhler seinen sieben in Westafrika „frisch gefangenen“ Schimpansen auf der Station nach einer Reihe „klassischer Intelligenzprüfungen“ eine relative „Gestaltschwäche“. Bei seinem nächsten Forschungsobjekt, einem Orang-Utan-Weibchen namens „Catalina“, kam Köhler aber zu dem Schluß: „dies Wesen steht uns [Europäern] der ganzen Art nach viel näher als Schimpansen, es ist ‚weniger Tier‘ als sie.“ Und dieser Eindruck resultierte nicht so sehr aus ihren ‚intelligenten Leistungen‘ als „durch das, was man Charakter, Sinnesart o.dergl. nennt.“ Catalina verliebte sich zeitweilig heftig in Köhler.
Das nach der Wende vom Westen gegründete Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, in dem u.a. mit Schimpansen gearbeitet wird und das dabei mit dem dortigen Zoo in einer Anlage namens „Pongoland“ zusammenarbeitet, wurde nach Wolfgang Köhler benannt.
Die dortigen Verhaltensforscher gehen – nach vielen Experimenten und langjähriger Feldforschung in Westafrika – davon aus, dass uns „überindividuelle soziale Normen und wechselseitiges soziales Engagement weit mehr bestimmen als bei den Großen Menschenaffen“.
Ihr Leiter Michael Tomasello stellte bereits 1999 die These auf: „Wir können die Intentionen anderer lesen, beherrschen also Mindreading, die Affen können es nicht.“ Diese These wurde dann bloß noch empirisch rückgekoppelt und so „verfeinert“. Selbst bei ihren Solidaritäts-Experimenten vermochten sie den daran beteiligten Schimpansen nur einen „schwachen Altruismus“ zu attestieren. Der in London lehrende Gibbonforscher Volker Sommer kommentierte das von ihnen über „Science“ – eines der Zentralorgane der Darwinisten – weltweit verbreitete magere Ergebnis mit den Worten: „Kein Wir-Gefühl in Pongoland.“ Dem gegenüber stehen die Einschätzungen von Roger Fouts, Jane Goodall und der Primatenforscher um den in Amerika lehrenden Verhaltensforscher Frans de Waal, der ein Buch nach dem anderen über den „Altruismus“ der Großen Affen veröffentlicht.
5 BRD-Poller – einer fürn andern: Alle Photos: Peter Loyd Grosse
P.S.: Das geheime Leben des Weißenfelser Gehörlosen-Helfers/-Wohltäters Moritz Rill hat sich aufgeklärt: Er heißt Moritz Hill (ich habe auf der Tafel seines Denkmals – siehe oben – R statt H gelesen). Uber Moritz Hill findet man im Internet durchaus einige Informationen, wie mir Anke Fey, die für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in der Stadtverwaltung (Am: Markt 1 06667 Weißenfels) zuständig ist, per Email mitteilte. Hier ist ein Wikipedia-Eintrag über Friedrich Moritz Hill:
Geboren am „8. Dezember in Reichenbach im Eulengebirge, gestorben am 30. September in Weißenfels“ – wwar ein deutscher Taubstummenlehrer. Hill war Zögling des Seminars und (1825-28) Hilfslehrer des Waisenhauses in Bunzlau, besuchte darauf zwei Jahre in Berlin die Universität zu Berlin, die Sing-Akademie zu Berlin“ und die Taubstummenanstalt und war von 1830 bis zu seinem Tod Leiter der Taubstummenanstalt in Weißenfels.
In seiner Ausgestaltung der deutschen oder Artikulationsmethode des Taubstummenunterrichts verfolgte Hill namentlich den Zweck, diesem Unterricht den Charakter einer geheimen Kunst zu nehmen und ihn den allgemeinen Grundsätzen der neuern Pädagogik anzupassen. Er schrieb außer zahlreichen Lehr- und Hilfsbüchern für den Unterricht: Anleitung zum Unterricht taubstummer Kinder für Geistliche und Lehrer (Weimar 1840; 3. Aufl. von Ohlewein u. d. T.: Die Geistlichen und Lehrer im Dienste der Taubstummen, Weimar 1882); Vollständige Anleitung zum Unterricht taubstummer Kinder (Essen 1840, 2. Aufl. 1872).
Literatur:
– Eduard Walther: Friedrich Moritz Hill. In: Organ der Taubstummenanstalten 1875, S. 129.
– M. F. Bethe: Das Königliche Seminar zu Weißenfels und die mit demselben verbundene Provinzial-Taubstummen-Anstalt. Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens der Provinzial-Taubstummen- und der Präparanden-Anstalt. Gotha: Thienemann, 1879.
– E. Reuschert: Friedrich Moritz Hill, der Reformator des deutschen Taubstummenunterrichts: e. Gedenkblatt zu seinem 100jährigen Geb.. Berlin, 1905.
Meine Vermutung, dass bereits die SED-Oberen der Stadt Weißenfels das Denkmal für Moritz Hill – seine Büste auf einem Sockel – aufstellten, war indes richtig. Auf der Internet-Seite „http://www.bbs-weissenfels.bildung-lsa.de/?page=Geschichte“ findet sich dazu folgender Eintrag:
1. im Kapitel „Taubstummenlehranstalt (1898 bis 1930)“:
Am 30.09.1905, zum 100. Geburtstag Moritz Hills, wurde in einer imposanten Feier das Hill-Denkmal in Erinnerung an den grandiosen Lehrer am Eingang der Schule eingeweiht. Ein taubstummer Bildhauer aus Berlin, von Wodtke, schuf die Büste, die jedoch im 2. Weltkrieg eingeschmolzen wurde.
2. im Kapitel „Gewerbliche Berufsschule „Alfred Oelßner“ (1950 bis 1991)“:
Am 15. März 1956 erhielt die Allgemeine Berufsschule den Namen „Alfred Oelßner“, ein für die damalige Zeit bemerkenswerter Vorgang, da üblicherweise Namen nur von schon Verstorbenen vergeben wurden. Im gleichen Jahr wurde die Moritz-Hill-Büste, die viele Jahre vor der Schule gestanden hatte, nach einem im Archiv aufgefundenen Gipsabguss nachgestaltet und gegenüber dem Kloster in der Innenstadt von Weißenfels aufgestellt. 31.09.2003: Schließung des Schulobjektes und Kündigung des Mietvertrages mit der Stadt Weißenfels durch den Schulträger Landkreis Weißenfels.
P.P.S.: Wer war Alfred Oelßner? Wieder Wikipedia: Der 1879 geborene KPD- und SED-Funktionär starb 1962, er wurde auf dem Sozialistenfriedhof beerdigt. Unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nazis war Alfred Oelßner für kurze Zeit in der illegalen Parteiarbeit tätig gewesen. Nach kurzzeitiger Verhaftung 1933 zog er sich aus dem aktiven Widerstand zurück und arbeitet von 1936 bis 1945 als Buchbinder in Berlin. Er war Mitglied der NS-Massenorganisationen NSV und DAF. Nach Kriegsende trat Oelßner wieder der KPD bei, war zunächst Bezirksvorsteher von Prenzlauer Berg und wurde dann schnell Leiter der Abteilung Kasse der KPD. Ab April 1946 war er Hauptkassierer der SED. Von 1950 bis 1954 leitete er die Zentrale Revisionskommission der Partei. 1989 brachte die DDR eine 10-Pfennig-Briefmarke mit seinem Kopf heraus.
Literatur:
Hermann Weber, Andreas Herbst (Hrsg.): Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1818 bis 1945. Dietz, Berlin 2004, S. 545-546.
Bernd-Rainer Barth: Oelßner, Alfred Franz. In: Wer war wer in der DDR? 5. Ausgabe. Ch. Links Verlag, Berlin 2010.
Noch ein Weißenfelser Denkmal: Für einen namenlosen, aber desto „fröhlicheren Schusterjungen“. Dazu heißt es auf Wikipedia: Er steht auf einem Grabsockel, der die Aufschrift „Weil’s mich freut!“ trägt.
Der Schkopauer Künstler Paul Juckoff bekam im Sommer des Jahres 1905 den Auftrag eines Zeitzer Kinderwagenfabrikanten, diese „Statue“ zu modellieren und nach Zeitz zu liefern. Dem damaligen Weißenfelser Oberbürgermeister gefiel diese Plastik für die Umgestaltung des alten Friedhofs zum Stadtpark. Es wurde deshalb ein zweiter Guss angefertigt. Ein unbekannter Weißenfelser bewahrte den „Schusterjungen“ zur Zeit des Zweiter Weltkrieg in seinem Keller auf. Somit konnte die Figur nach Kriegsende wieder aufgestellt werden.
An der Figur weist nichts auf die Schusterei hin, jedoch hat der Volksmund den eigentlichen „Stadtjungen“ zum fröhlichen „Schusterjungen“ gemacht. Er ist somit eine Symbolfigur für Weißenfels und über die Stadtgrenzen hinaus bekannter als das Zeitzer Original. Nach dieser Skulptur benannte sich 1998 eine Oi!-Band aus Weißenfels – die „Schusterjungs“.
Kein Poller, aber Weißenfels.
Das ist schon eher ein Poller. Die Bildunterschrift lautet: „Weißenfelser gedenken der Opfer des Kampfes gegen den Kapp Putsch.“ Dazu informiert der dortige Kreisverband der Partei Die Linke im Internet:
16.März 1920: Die Regierung floh deshalb nach Dresden und später nach Stuttgart. Daraufhin riefen die Gewerkschaften, zum Schutz der jungen Demokratie, zum Generalstreik auf. Dieser Generalstreik, erfasste ganz Deutschland. Auch in Weißenfels und Umgebung
kam es zu Streiks und Demonstrationen. Die im Weißenfelser Schloss stationierten zwei Hundertschaften der Sicherheitspolizei wollten ihren Machtanspruch in der Stadt zeigen und versuchten Posten in der Innenstadt zu besetzen. Die demonstrierenden Arbeiter setzten sich zur Wehr. Dann fielen die ersten Schüsse in der Jüdenstraße. Die SIPO- Leute hatten von ihrem Mannschaftswagen aus in die Eisenwarenhandlung Hoyer geschossen. Zwei junge Arbeiter, Albert Engel und Erich Hildebrand starben in dem Kugelhagel. Kurt Hanschke wurde mit einem Brustschuss schwer verwundet. Die SIPO baute ein Maschinengewehr am Eingang zur Jüdenstraße auf und trieb die Demonstranten mit Schüssen durch die seitlichen Gassen auseinander. Die streikenden Arbeiter begannen sich zu bewaffnen und es kam zu Feuergefechten zwischen Schloss und Stadt.
21. März 1920: Um einer Erstürmung des Schlosses zu entgehen wollte die SIPO über die Zeitzer Straße nach Wiedebach, Richtung Naumburg in den Schutz der dortigen Reichswehrgarnison flüchten. In der Wiedebacher Hohle wurden sie von bewaffneten Arbeiterformationen gestellt und es kam zu Feuergefechten in deren Verlauf es zu weiteren Toten auf beiden Seiten kam. Auch an anderen Stellen in der Weißenfelser Umgebung kam es zu bewaffneten Übergriffen durch die SIPO und die Reichswehr in folge dessen weitere Kämpfer für die Demokratie ihr Leben lassen mussten. Für die festgestellten 16 Gefallenen, von denen acht auf dem Weißenfelser Friedhof bestattet wurden, gibt es seit langen einen Gedenkstein der leider sehr wenig Beachtung in unserer
Gesellschaft findet. Dort befinden sich die Gräber der Kämpfer für die Demokratie. Sie gaben ihr Leben im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. Sie waren alle Arbeiter oder wie sich damals stolz bezeichneten Proletarier.
Die Weißenfelser Albert Engel, Erich Hildebrand, Otto Bauerfeind, Franz Demny, Paul Hoyer, Josef Trümper, Richard Busch und Albrecht Abt fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Der Stein für die Märzgefallenen auf dem Weißenfelser Friedhof wurde durch Angehörige des Rot-Front-Kämpfer-Bundes (RFB) 1925 in der Kiesgrube am Meilenstein geborgen und 1927 aufgestellt. Der Steinmetz Fritz Schellbach beschriftete den Stein. In der Nazi-Zeit wurde der Gedenkstein entfernt. Nach der Befreiung vom Faschismus wurde er an ursprünglicher Stelle wieder errichtet.
P.P.P.S.: Der Gebärdensprachtrainer für Schimpansen, Roger Fouts, der wie erwähnt eine Biographie der ersten sprechenden Schimpansin Washoe schrieb („Unsere nächsten Verwandten. Von Schimpansen lernen, was es heißt, ein Mensch zu sein“), die zugleich seine Autobiographie ist, veröffentlicht ansonsten seine Forschungsergebnisse zusammen mit seiner Frau Debbi H. Fouts in der amerikanischen Gehörlosen-Zeitschrift „Sign Language Studies“:
„Known by many as the father of the linguistics of American Sign Language, William C. Stokoe began publication of Sign Language Studies in 1972. With the encouragement of Thomas Sebeok, Stokoe created his seminal journal as an outgrowth of his pioneering studies of the structure of American Sign language and the dynamics of Deaf communities. From then until recently, SLS has presented a unique forum for revolutionary papers on signed languages and other related disciplines, including linguistics, anthropology, semiotics, and deaf studies, history, and literature.“
In Deutschland gibt es neben der „Fachzeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser: ‚Das Zeichen'“ noch ein Halbdutzend weitere Gehörlosen-Zeitschriften. Siehe dazu: http://www.gehoerlosen-bund.de/dgb/index.php?option=com_content&view=article&id=1744%3Azeitungenfuergehoerlose&catid=110%3Asonstigesabisz&Itemid=156&lang=de sowie auch: http://www.lvglth.de/angebote/zeitschriften/index1d04.html
In der letzten Ausgabe von „Das Zeichen“ findet sich neben einem Bericht von Nina-Kristin Pendzich über die Arbeitsgruppe „Experimental Studies in Sign Language Research“ im Rahmen der 34. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) eine Reportage von Milena Solomun über das 14. Internationale Festival gehörloser Zauberer in Helsinki – „Ein Ausflug in die Welt der Zauberkunst Gehörloser“.
Letztere, Milena Solomun, studiert Finnlandistik in Kiel und ist die Tochter von Zoran Solomun. Mit ihm, dem in Berlin lebenden serbischen Dokumentarfilm-Regisseur, zusammen recherchierte ich zuletzt die globalen Auswirkungen der „Finanzkrise“ auf die Handelsflotten, konkret ging es dabei um „abandoned ships“, d.h. um zwangsweise stillgelegte Schiffe, deren Reedereien zahlungsunfähig geworden waren oder keine Frachtaufträge mehr acquirieren konnten. Zoran Solomun wollte über diese Schiffe mit ihren hilflos gestrandeten Mannschaften, die keine Heuer mehr bekamen, einen Film drehen. Siehe dazu die blog-einträge über die „Küstenwirtschafts-Krise“ – ab: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2010/05/30/kuestenwirtschafts-krise/. Aus dem Film wurde nichts, dafür eröffnete die Deutsche Seemannsmission in Kiel für die im Hafen mit ihren Schiffen „Gestrandeten“ das Seemannsheim „Baltic Poller“. So schließt sich der Kreis:
Baltische Poller (im Sturm). Bei stürmischer See versteht dort kein Mensch ein Wort, so dass man sich mittels Gebärdensprache verständigen muß. An der Küste beherrschen das noch viele – es ist eine spezielle Gebärdensprache, quasi eine Sprache zur Not. Wenn gesagt wurde: „Während sich in Wien die Leute mit Problemen lärmend auf der Couch wälzen, gehen die Friesen bei Sturm auf den Deich – und schauen schweigend übers Meer“ – dann ist dies bloß eine auf die herrschende Lautsprache fixierte Beobachtung gewesen, bei der die Gebärden/Handzeichen der Beobachteten glatt übersehen wurden. Diese haben im übrigen ein Kollektiv-Problem: Wird der Deich halten?