vonHelmut Höge 15.10.2012

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Hannah stellt – für den Fotozirkel Hohenschönhausen posierend – die entscheidene Frage

 

„Der Kommunismus ist jetzt ortlos. Er hat keinen Ort mehr, ist nicht mehr lokalisierbar, d.h. er ist ein Virus, wir wissen alle, wie gefährlich Viren sind. Und diesen Virus wird man nicht mehr los. Man wird die Frage nicht mehr los, die der Kommunismus gestellt hat, oder die Marx gestellt hat.“ (Heiner Müller)

Konkret auf die Ostdeutschen bezogen lieferten Jana Hensel und Susanne Kailitz gerade – im Freitag-Heft vom 27.9. – einen ausführlichen Befund über deren erzwungene Doppelexistenz: „Born in the GDR“ betitelt. Danach werden immer mehr von ihnen erst einmal psychisch krank.  Es fehlt also bloß noch ein aufklärerischer Funke, um „Aus der Krankheit eine Waffe [zu] machen!“

Der DDR-Dichter Volker Braun hat dazu bereits drei Prosatexte veröffentlicht: 1996 „Die vier Werkzeugmacher“; darin geht es um die Arbeiteraristokratie, die in der DDR entstand und die auch noch in der Wende dachte: „Uns kann keener!“ 2008 das „Schichtbuch des Flick von Lauchhammer: Machwerk“. Darin geht es um die immer wieder scheiternde  ABM-Karriere eines arbeitslos gewordenen Havariemeisters in der Lausitz, der zusammen mit seinem ebenfalls arbeitslosen Enkel weit herumkommt. 2011 folgte diesen „48 Schwänken“ über das Verschwinden der Arbeiterklasse in Ostdeutschland eine  Erzählung: „Die hellen Haufen“. Gleich im ersten Satz erklärt Volker Braun, dass diese Geschichte „von einem Aufstand handelt, der nicht stattgefunden hat“. Und dann beschreibt er, wie die Belegschaften der von Abwicklung bedrohten Großbetriebe, vornehmlich aus der Region Bitterfeld-Wolfen und dem Eichsfeld, immer militanter werdenden Widerstand leisten – bis sie wie die hellen Haufen der Bauern im Großen Deutschen Bauernkrieg auf einem „Schlachtberg“ von BRD-Truppen zusammengeschossen werden. Dahinter steht die Warnung des für die DDR-Bergwerke in der Treuhand zuständig gewesenen Privatisierungsmanagers Klaus  Schucht, die dieser 1993 im Spiegel äußerte: Der Hungerstreik in Bischofferode habe „eine gewaltige Wirkung auch auf die Betriebe im Westen“. Wenn man den nicht breche, „wie will man dann in Deutschland noch Veränderungen bei den Arbeitsplätzen durchsetzen? Als die Bischofferöder vor Schuchts Treuhandbüro in Berlin demonstrierten, mischte die Polizei Provokateure unter die Menge.

Volker Braun gibt zu, „die Geschichte, ginge sie ordentlich fort, erzählte Beschäftigungsmaßnahmen. Fortbildungen; Unnütze, damit ihr/unnütz bleibt, werden wir euch/umschulen. Das aber will er diesmal nicht. Nun geht es ihm um das „Nichtgeschehene (1994f) – um es „auszumalen braucht es Geduld und Genauigkeit“. Daraus resultiert, dass alle Personen und Orte (nur unwesentlich verquatscht) vollkommen real sind und es auch bleiben. Seine nichtgeschehene Geschichte läuft darauf hinaus, dass sie, die die ganze Zeit „Keine Gewalt!“ riefen, „begriffen, daß ihnen Gewalt geschah.“

Auf einer Veranstaltung im Bundesarchiv über die ostdeutsche Betriebsräteinitiative (s.u.), die sich 1993 auflöste, begann die Herausgeberin eines Buches über diese Initiative, die Historikerin Ursula Plener, mit dem ersten Satz aus Volker Brauns Buch – über den „Aufstand, der nicht stattgefunden hat,“ um dann auf die Kämpfe der Betriebsräteinitiative gegen die sukzessive Abwicklung ihrer Großbetriebe zu sprechen zu kommen, die sehr wohl stattfanden – und damit die Hoffnung auf und gleichzeitig auch die Angst vor einem Volksaufstand in Ostdeutschland hochkommen ließen.

So stellte z.B. der Leipziger Philosoph Peer Pasternak im Rahmen seiner Doktorarbeit über die Wende in den ostdeutschen Universitäten fest, dass die West-68er mit einer Anstellung dort üppig „Drittmittel aus Westdeutschland“, insbesondere für ihre „Transformationsforschung“, akquirieren konnten, in der sie „ohne Hemmungen sogar konkrete Handlungsanleitungen für die Politik in Form von Aufstands-Präventions-Konzepte für Betriebsschließungen lieferten.

 

 

„Wenn das Gedächtnis streikt“ (Kudamm-Kiosk)

 

 

Westberlin 1945-1990 – fast eine Insel der Seligen: von der „Stunde Null“ bis zur „logischen Sekunde“ (Nachdruck aus der Zeitschrift „Wedding“ 2012):

„Es ist genug. Wir Westberliner werden dermaßen an den Rand gedrängt, dass man dagegen was unternehmen muß. Ich will nun versuchen, dass Westberlin als Weltkulturerbe von der UNESCO anerkannt wird,“ schrieb die in Friedenau lebende Bühnenbildnerin Jeanette Schirrmann kürzlich in einer Petition an den Berliner Senat, die sie mir zur Korrektur gab. Sie bezeichnet sich als „Insulanerin“ in der 3.Generation. Die „besondere politische Einheit Westberlin“ existierte jedoch nur 45 Jahre, seit der Wiedervereinigung und dem Abriß der Mauer ist sie im Verschwinden begriffen. Für den Betriebsrat des Spandauer Osram-Werkes gilt dies sogar betriebsintern: „Wenn früher von zehn offenen Stellen neun mit Türken besetzt wurden, ist es heute nur noch eine, ansonsten nimmt man Ostdeutsche, die besser qualifiziert sind“. Inzwischen ist bereits sein ganzes Werk vom Fading-Away bedroht. Die meisten Berliner Industriebetriebe sind schon weg. Kunst, Kultur und Tourismus sollen nun neue Arbeitsplätze in Berlin schaffen, zu weit schlechteren Bedingungen – auch für die Künstler. Früher wurden ihre Initiativen gefördert, nun werden sie abgewickelt und durch repräsentative „Projekte“ von oben ersetzt.

In einem für die Berlinale 1996 produzierten Film („Wüste Westberlin“) hatten die alten Kunstberühmtheiten des Charlottenburger Savignyplatzes – Lüpertz, Fetting, Hödicke usw. – noch einmal die heroische Vorwendezeit aus dem Sack gelassen: „Wir haben Berlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen“ und „Die Paris-Bar wurde zum absoluten Muß der Kunstwelt“, behauptete darin z.B. der Maler Lüpertz. Ein Gutachten, in Auftrag gegeben vom Kultur-Senat, hatte indes bereits 1994 die nächste Kunstgeneration – in Mitte – ins Visier genommen. Lapidar hieß es darin: „Die Stadt fordert die Phantasie der Künstler aufs neue heraus.“ Man müsse sich also um die alten Künstler keine Sorgen machen, es würden genügend neue nachkommen. Und recht hatten sie – die Gutachter. Zunächst traten welche auf, die für die Hauptstadt-Investoren Baustellenbilder anfertigten. „Nach Berlin kamen immer schon solche Leute, die im Malen eine eins, aber im Rechnen eine fünf hatten,“ so sagte es der Künstler Thomas Kapielski, der wie die Fixerin Vera Felscherinow („Christiane F.“), der „Staatsfeind“ Till Meyer und der Kaufhauserpresser Arno Funke („Dagobert“) in Neukölln aufwuchs.

1945 fing es aber nicht mit Kunst an, sondern erst einmal mit Leichen bergen und begraben: „Die Russen gaben uns was dafür zu essen, das war fast so wie ABM heute,“ erinnert sich ein Schweißer aus der Berliner Glühlampenfabrik an der Warschauer Brücke, der sich danach mit anderen Arbeitern zusammen an das Aufräumen und die behelfsmäßige Instandsetzung seines Werkes machte, das heute ein Bürokomplex ist und „Oberbaum-City“ heißt. In der öffentlichen Erinnerung an die Anfangszeit blieben vor allem die Trümmerfrauen, die sich aus Angst vor den anrückenden Russen zunächst in den Kellern verborgen hatten. Schon bald bestimmten sie das Straßenbild, wo sie in kettenbildenden Gruppen den Schutt beseitigten. Der Klavierstimmer Oskar Huth schrieb über die berühmte „Stunde Null“ in seinem „Überlebenslauf“: Als die letzten Kämpfe verstummt waren, kam ein Trupp Rotarmisten und befahl den Männern, aus ihrem Luftschutzkeller (in der Nähe des KaDeWe) zu kommen und sich auf der Straße zu versammeln. Ein Offizier verteilte Becher mit Wodka und forderte sie auf, mit ihm auf den Sieg über den Faschismus anzustoßen. Einer, der ein Magengeschwür hatte, weigerte sich. Er wurde sofort erschossen, die anderen wurden abtransportiert und verhört.

Der sowjetische Frontberichterstatter Wassili Grossman besuchte den Zoo, in seinem Kriegstagebuch hielt er fest: „Zerstörte Käfige. Leichen von Affen, tropischen Vögeln und Bären. Die Insel der Paviane, junge Äffchen, die sich mit winzigen Händchen an ihre Mütter klammern. Gespräch mit einem alten Mann, der die Tiere seit 37 Jahren pflegt. Im Käfig ein toter Gorilla. Ich: ‚War er böse?‘ Er: ‚Nein, er hat nur laut gebrüllt. Die Menschen sind böser‘.“

Ein englischer Reporter notierte sich: „Die Bevölkerung ist apathisch. Die Lage ist ‚terribly im- and depressing‘.“ Schon bald entstanden jedoch überall Schwarzmärkte und jede Freifläche wurde landwirtschaftlich genutzt, in einigen Hinterhof-Remisen und Schrebergärten stallte man Kühe ein. Aber schnell wurde auch der „Kalte Krieg“ spürbar: Die drei Westalliierten führten 1948 eine „Währungsreform“ durch, was die sowjetische Seite mit einer „Blockade“ der Zufahrtswege nach Westberlin beantwortete. Die Amerikaner und Engländer versorgten daraufhin die „Frontstadt“ aus der Luft – mit sogenannten „Rosinenbombern“.

Im Osten war es an der Humboldt-Universität aufgrund von Reglementierungen durch die Kommunisten immer wieder zu „Unruhen“ gekommen, was im selben Jahr zur Gründung einer „Freien Universität“ im Westen führte. Auch dort kam es jedoch bald zu Auseinandersetzungen – wenn z.B. Agitationskollektive der FDJ auf dem Dahlemer Campus auftauchten. Ins Visier der Weststudenten geriet umgekehrt der einst von den Nazis aus der Akademie der Künste ausgeschlossene Karl Hofer, der nach 45 die Hochschule der Künste wiederaufgebaut hatte und ihr Rektor geworden war. Er wurde wie auch andere Berliner Kulturschaffende mit Lebensmittelpaketen aus dem Osten unterstützt und so hieß es in einer studentischen Protestresolution: „Was Hofer für die Russen leistet, zeigen die Pajoks, die er von ihnen erhält…Die Künstler, die sich gleichzeitig vom Westen und vom Osten ernähren lassen, nehmen an Umfang ständig zu.“ Diese Vorwürfe wurden während der fünfzehnmonatigen Blockade 1949 erhoben. Die eher unterernährten Studenten waren der Auffassung, dass Hofer deshalb „zur Erziehung der Jugend völlig ungeeignet“ sei.

Im Jahr darauf wurde West-Berlin von der Bundesregierung zum „notleidenden Gebiet“ erklärt: Es fehlte an Wohnraum, die Hälfte der Bevölkerung von damals 2,5 Millionen lebte noch in unzumutbaren Verhältnissen, die Zahl der Arbeitslosen hatte mit über 300.000 ihren Nachkriegshöhepunkt erreicht und nach wie vor strömten täglich tausende von Flüchtlinge in die Stadt. Um diese triste Situation etwas aufzuheitern, bereiteten die Amerikaner ein Filmfestival vor: die erste „Berlinale“ (1951). Die Masse der Berliner hatte allerdings andere Probleme: In dem 1953 veröffentlichten Roman „Ring über Ostkreuz“ von Erich Wildberger, in dem es um die Existenzgründungsprobleme einer West-Berliner Baufirma geht, fährt ein frisch verliebtes Pärchen auf ein Grundstück in den Ostteil der Stadt, wo 41 Obstbäume erntereif sind. Um dahin zu gelangen, müssen sie sich mit ihren Fahrrädern fast ranpirschen – und anschließend mit dem Obst ebenso zurück. „In Britz erreichen sie wieder den Westsektor. Sie lächeln sich an. Ein Triumph! Man hat zwar unnötig viel riskiert, aber man hat sich gewehrt, hat der Willkür ein Schnippchen geschlagen.“

Im selben Jahr wurde der (kommunistischen) „Willkür“ für kurze Zeit sogar kollektiv entgegengetreten: Am 17. Juni 1953 gingen – während des sogenannten „mitteldeutschen Aufstands“ – allein in Ost-Berlin Zehntausende auf die Straße, um gegen Arbeits- Normerhöhungen der Regierung zu protestieren, die eine Verschlechterung der Lebensbedingungen bedeuteten. Die Demonstranten wurden massiv vom Westen unterstützt, wo es bald von Agenten und Spitzeln aller Couleur, aber auch Wirtschafthasardeuren wimmelte. „In jeder Imbißbude ein Spion“. Am leergebombten Potsdamer Platz entstand ein Schäferhundabrichteplatz nach dem anderen, auf dem „Gestapo-Gelände an der Wilhelmstraße eröffnete der Travestiekünstler „Straps-Harry“ ein Autodrom, in einige Botschaftsruinen zogen Penner, der Maler „Piko“ besetzte mit seinem Esel die japanische Botschaft, links und rechts des Kurfürstendamms sowie an der Potsdamerstraße und am Stuttgarter Platz eröffneten Bordelle.

Berühmt wurde die „Pension Clausewitz“ des Westberliner „Bordellkönigs“ Hans Helmcke, das u.a. auch die „Stasi“ nutzte, weswegen es 1967 geschlossen wurde. Drei Jahre später kam es unter der Führung von Helmckes „Security-Chef“ Klaus Speer in der Bleibtreustraße vor dem Restaurant „Bukarest“ zu einer Schießerei zwischen deutschen und iranischen Zuhältern. Die „Speerbande“ gewann den Revierstreit gegen die vormaligen „Prügelperser“, von denen einer erschossen wurde. Desungeachtet ging damals langsam die Zeit der Zuhälter zu Ende, indem die sich emanzipierenden Frauen in nahezu allen Stadtteilen Bordelle auf eigene Rechnung eröffneten, zuletzt gab es etwa 500 in Westberlin – so viele wie Banken in Frankfurt. Im Wedding waren es vor allem „Thai-Puffs“, weswegen man diesen einst roten Bezirk dann auch als „Gelben Wedding“ bezeichnete. In Gatow installierte eine Prostituierte für spezielle Kunden eine Gaskammer in ihrem Keller. Auf dem Kurfürstendamm promenierte eine andere mit einem zahmen Gepard – obwohl die Alliierten den Westberlinern Waffen jeder Art verboten hatten.

1957 war der Publizist Erich Kuby nach einer Recherchetour durch die DDR und die BRD zu dem Schluss gekommen, dass es nur im Osten eine politisierte, zu „Unruhen“ fähige, studentische Jugend gäbe: „Westdeutsche Jugend findet politisch nicht statt“. Dies galt auch und erst recht für die in West-Berlin, die er damals noch als „bürgerlich“ und antikommunistisch verhetzt einschätzte. Keine zehn Jahre später hatte sich dieser Befund jedoch umgedreht, nicht zuletzt durch sein eigenes Wirken, wofür ihn die FU 1965 nach dem sogenannten „Kuby-Semester“ mit einem Haus- und Redeverbot ehrte.

1961 war Westberlin von den Kommunisten eingemauert worden, der Kabarettist Wolfgang Neuss gab später zu bedenken: „Der Bau der Mauer hat auch sein Gutes gehabt: die schlimmsten Leute haben damals die Stadt verlassen!“ In ihre Luxuswohnungen links und rechts des Kudamms zogen Studenten und es entstanden dort linke Clubs, Kneipen und Kinos. Geld spielte damals kaum eine Rolle – dank „Frontstadtlage“, „Berlinzulage“, „Direktflüge nach Sylt“ und „Senatsreserven“ zur Notversorgung der Bevölkerung im Falle einer erneuten „Berlin-Blockade“ (das reichte von Kohlevorräten und Unterhemden bis zu Tampons und Lebensmitteln, die immer mal wieder billig abgegeben wurden).

Der heruntergekommene Arbeiterbezirk Kreuzberg hatte sich unterdes zu einer „Kunstwiege“ entwickelt, begründet u.a. von Kurt Mühlenhaupt: Erst in einigen kaputten, aber gutgeheizten Kneipen und dann ab 1959 mit der Galerie „Zinke“ in der Oranienstrasse. Diese „Kreuzberger Nachkriegsbohème“ wurde vor allem inspiriert von dem während der Nazizeit untergetauchten Oskar Huth, dem die Amerikaner erst die „Evidence of Anti-Nazi-Activities“ bescheinigten und dann eine Stelle im Kultursenat antrugen. Er zog es jedoch vor, „freischaffender Kunsttrinker“ zu bleiben. Bald gab es drei Stammtische, an denen man sein Wirken und Denken würdigte.

Schon 1964 registrierte Ingeborg Bachmann, dass Kreuzberg schwer „im Kommen“ sei. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises sagte sie: „Die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muß man sich die Haare lang wachsen lassen, muß herumziehen, muß herumschreien, muß predigen, muß betrunken sein und die alten Leute verschrecken… Man muß immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, dazu dunkles Brot, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst…“

Das antikommunistisch verhetzte Subproletariat, sowie die Rocker und Neonazis in diesem Bezirk hatten sich die Künstler gerade noch gefallen lassen, als aber immer mehr linke Studenten nach Kreuzberg zogen und sich dort in den Kneipen breit machten, nachdem die Hausbesitzer sie vertrieben hatten, indem sie ihre Charlottenburger Immobilien wieder „anständig“ bewirtschafteten, gab es Zoff, d.h. Kneipenschlägereien. Die betroffenen Wirte, darunter die aus Israel geflüchteten palästinensischen Betreiber der Restaurants „Stiege“ und „Samira“, vier Brüder, organisierten eine Kneipenwehr. Danach war Ruhe. 1972 kam es stattdessen nach der Besetzung des leerstehenden Armenkrankenhauses „Bethanien“ zu einem ersten Konflikt zwischen Künstlern und Linken, der jedoch mit einem Kompromiß endete: man teilte sich die Riesenimmobilie.

Gleichzeitig zogen immer mehr türkische Gastarbeiter aus den Betriebswohnheimen nach Kreuzberg. 1978 gelangte ein Schunkellied der Gebrüder Blattschuß: „Kreuzberger Nächte sind lang“ in die Hitparade. Da hatte sich die „Politisierung“ der Studenten bereits derart auf einige Aspekte des Alltags – nämlich der „behutsamen Stadterneuerung unter ökologischem Vorzeichen“ – beschränkt, dass sie in ihrem „Kiez“ mit den Türken aneinander gerieten. In diesen sahen sie bald nur noch „Stoßtrupps der Hausbesitzer“ – zum endgültigen Herunterwohnen der letzten Altbausubstanz. 1980 schrieb die Scene-Zeitung Zitty: „In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei…Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen“. Viele Türken ließen nach und nach ihre Familien nachkommen, was die Bezirksregierung mehrmals mit „Zuzugssperren“ zu verhindern suchte.

Irgendwann gewöhnte man sich aber aneinander, zumal die meisten Türken Kommunisten waren. Damals war das Betreten der Rasenflächen noch überall streng verboten; eine Kreuzberger Sozialarbeiterin erinnert sich, dass es z.B. auf dem Mariannenplatz die Türken waren, die das Verbot zuerst übertraten: „Wir Deutsche haben es ihnen dann bloß nachgemacht“. Umgekehrt übertraten die linken Studenten am Grunewaldsee das Nacktbadeverbot, was – nachdem Polizei und Justiz klein beigegeben hatten – eine Menge türkischer Männer anzog, die allerdings nur zum Spannen dorthin kamen.

Die Achtzigerjahre wurden in Westberlin von der „Hausbesetzer-“ und „Punkbewegung“ medial dominiert. Die „Insulanerin“ Jeanette Schirrmann, die als 13jährige nach Kreuzberg in ihr erstes besetztes Haus zog, erinnert sich, dass die älteren Genossen ihr vorm Einschlafen RAF-Texte vorlasen. Mit der zunehmenden Zahl von „Häuserkämpfen“ wurde diese „Scene“ stilbildend. Die Europa-Korrespondentin des New Yorker gewann den Eindruck: „Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair“. Zu einem ähnlichen Befund kam dann auch die Spiegel-Autorin Marie-Luise Scherer: „Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt“. Aus solchen Berichten wurde spätestens nach den Straßenschlachten am 1.Mai 1987 – als das Viertel für einige Stunden „bullenfrei“ gekämpft war – der „Mythos Kreuzberg“, der schließlich nach Meinung seiner letzten Ethnographin Barbara Lang pars pro toto für Westberlin stand – und dann 1990 endgültig fiel.

Aus dem an diesem Tag abgefackelten und geplünderten „Bolle“-Supermarkt am Görlitzer Bahnhof, der bis zum Mauerbau ein Kino mit US-Filmen für vornehmlich Ostberliner gewesen war, wurde ein Trümmergrundstück, auf dem die Punker und Fixer ihre überzähligen Ratten freiließen – und schließlich nach der Wende eine Moschee. Die ehemaligen Gentrifizierer des „Problembezirks“, Türken und Studenten, werden nun selber langsam weggentrifiziert – von jungen Touristen, die bleiben wollen und neuen Club- bzw. Barbetreibern.

Mit dem „Fall der Mauer“ im Herbst 1989 war die Nachkriegsgeschichte Berlins zu Ende gegangen. Bleibt noch nachzutragen, was eine „logische Sekunde“ ist: Der nur gedachte Zeitraum zwischen der Gültigkeit verschiedener Rechtstitel – z.B. bei der Privatisierung von Volks- oder Staatseigentum, d.h. bei einem Besitzerwechsel.

( Der Gründer des Literarischen Colloquiums am Wannsee, Walter Höllerer, hat aus diesem Zeitabschnitt einmal ein “Hüpfspiel” gemacht: “Bildungsträchtig und patriachalisch ging es am Ende der fünfziger Jahre zu. Neugierig aufs breit gestreute Neue, leicht beweglich…,so ging man in die frühen Sechziger. Der Hang zum Statistischen verstärkte sich Mitte der sechziger Jahre…Gesellschaftsbezogen, turbulent und ‘anti-autoritär’, so gingen die sechziger in die siebziger Jahre über. Ideologische Festnagelungen und ideologische Zerfaserungen, reißbrettplanerische Reformbemühungen mit endlosen Curriculum-Debatten, das gab den frühen siebziger Jahren den Ton. Dann kam der Umschlag, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, aus überanstrengten soziologischen Themen ins Biologische, Botanische…Handfeste Selbst- und Mithilfe überwiegt die Theorie zu Beginn der achtziger Jahre; Ökologie, auf das City-Leben bezogen; eine Nähe zu Instandbesetzer-Überlegungen.” In den Neunzigern blieb davon schließlich nur wenig mehr als die Ökologie und die Energiesparlampe übrig. Schade eigentlich. )

Am Weddinger Verabschiedungspunkt

 

„Demokratie“ im Deutschen Theater

In Stuttgart meinte 1980 ein Mann zu mir: „Mein Sohn ist arbeitslos und Willy Brandt lässt sich scheiden. Denk mal drüber nach.“ Das Stück „Demokratie“ von Jürgen Kuttner und Tom Kühnel, das Ende September Premiere am Deutschen Theater hatte, dreht sich um die „Guillaume-Affäre“. Das mit damals beliebten BRD- und DDR-Schlagern (von Hildegard Knef, Udo Jürgens, Jessica, Reinhard Mey, Ina Deter) bestückte Politdrama handelt vom Rücktritt Willy Brandts, nachdem man 1974 den „Kanzlerspion“ der DDR Günter Guillaume enttarnt hatte.

„Demokratie“ beginnt im Ministerium für Staatssicherheit mit der Einweisung des Kundschafters Guillaume. Schon diese Szene hat Musik. Sie stammt von der Stasi-LP: „Helden der unsichtbaren Front“. Der Text geht so: „Damals: Bruch mit allen und jedem. Der Auftrag. Danach: lernen lernen, reden wie sie lernen, aussehn wie sie lernen, denken wie sie lernen, sich zeigen wie sie und immer sein wie wir! Die Arbeit: verstellen, verstecken, erkunden, übermitteln, täuschen und schweigen. Der Lohn: Jahre Frieden.“

Der Offizier im Besonderen Einsatz – Genosse Guillaume – tritt in die Westberliner SPD ein, Brandt ist Regierender Bürgermeister der Frontstadt. Guillaume lernt, lernt, lernt. Lifelong Learning. Brandt – „für mich soll’s rote Rosen regnen“ singt er playback beim ersten Auftritt – macht Karriere, wird schließlich Bundeskanzler in Bonn – und Guillaume quasi mit ihm – als „persönlicher Referent“.

Jürgen Kuttner, der selbst mitspielt und kommentiert, hat sich Sebastian Haffners Sichtweise auf die „Bonner Republik“ zu eigen gemacht: Es gibt dort keine „Politdramen“ mehr – das ist das Drama. Was im Übrigen auch schon der o. e. Schwabe bedauert hatte, der auf Brandts Scheidung verwies. Auch Guillaume ließ sich später von seiner Frau scheiden, die als Aufklärerin in der hessischen SPD wirkte.

Die beiden hatten ein Kind zusammen: Pierre. Als seine Eltern aus dem Gefängnis entlassen wurden, ging er mit ihnen zurück in die DDR, wo man ihm 1988 die Ausreise in die BRD genehmigte. Anders der Sohn von Willy Brandt Matthias, der als Schauspieler die DDR erst nach ihrem Verschwinden kennenlernte. Er und Guillaumes Sohn Pierre traten 2005 in dem Dokumentarfilm „Schattenväter“ auf. Günter Guillaume hatte dreißig Jahre zuvor einem Film über sich, den Günter Karau gedreht hatte, den Titel „Auftrag erfüllt“ gegeben. Sein einstiger Führungsoffizier in Bonn, Dr. Kurt Gailat, würdigte zuletzt die Spionageleistung von Pierres Mutter Christel Boom in einem langen Nachruf, nachdem sie 2004 gestorben war. Als persönliche Referentin eines SPD-Funktionärs musste Christel ebenso wie ihr Mann Günter, der Willy Brandt „ein hohes Maß an Achtung entgegenbrachte, mit einer doppelten Loyalität leben und fertigwerden“. Ihr Sohn Pierre sagte es im Film „Schattenväter“ so: „Ich habe bis heute das Problem, dass ich in der Erinnerung verschiedene Väter habe …“

Man kann sich noch erinnern, dass gleich im Anschluss an einen kurzen Aufstand und nachdem die BRD die DDR übernommen und mitsamt ihrer Wirtschaftsordnung abgewickelt hatte, eine gigantische Umerziehungs- und Weiterbildungs-Welle über Ostelbien rollte: „Sie müssen lernen, sich besser zu verkaufen!“ wurde Millionen arbeitslosen Ostlern von „Trainern“ aus dem Westen verklickert.

Nun zeigt eine sächsische Langzeitstudie, „dass sich die Befragten umso ostdeutscher fühlen, je länger die DDR vorbei ist“ (siehe dazu „Born in the GDR“ im Freitag v. 27.9.2012). Im Übrigen leiden immer mehr unter „posttraumatischen Belastungsstörungen“ – die psychotherapeutischen Beratungsstellen sind überlaufen. Allein in dem arbeitsplatzverlassenen Grenzstädtchen Zittau offerieren acht Praxen Hilfe bei „Burn-out“-Syndromen.

Mit der Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik sich 18 Millionen kleine Guillaumes geschaffen. Ihr Auftrag: im menschenfeindlichen Westen trotzdem überleben! Der Lohn: Jahre Frieden.

(„Demokratie“ läuft im DT wieder am 25. Oktober, 10., 16. + 28. November, 31. Dezember)

 

Nach 45 förderten die Amerikaner den sozialen Wohnungsbau in der Frontstadt Westberlin, nach 89 verkaufte diese u.a. die (GSW-) Häuser an amerikanische Banken und Investoren (u.a. an Cerberus – Höllenhund)

 

Antikommunistischer Neospiralismus

Kürzlich stellte die DDR-Historikerin Ulla Plener im „Casino“ des Bundesarchivs in Lichterfelde ihr Buch „Die Treuhandanstalt, der Widerstand in den Betrieben und die Stellung der Gewerkschaften 1990 bis 1994“ vor. Als ich vor dem Tor der ehemaligen Kaserne stand, fiel mir ein, dass ich dort 1969 einige Monate lang gearbeitet hatte. Als einer von 250.000 „Zivilangestellten“ der 5000 Mann starken „Berlin Brigade“ der amerikanischen Besatzungsmacht war ich für die Koordination der Parkettfußbodenleger zuständig, die in den Wohnungen der Offiziersfamilien bei jedem Standortwechsel das Parkett abschleifen und neu versiegeln mußten. Wegen des Vietnamkriegs blieben die Offiziere nie lange an einem Ort. Es gab also genug zu tun.

Mit mir im Büro arbeitete eine junge Türkin, mit der ich nach Feierabend einige Rockkonzerte besuchte. Unser Arbeitsplatz nannte sich „Andrews-Barracks“, nach einem 1943 gefallenen US-Generalleutnant, und war nicht nur „Home for the U.S. Army Security Forces“ und der Militärpolizei, sondern auch des „Motor Pools“, der zentralen Wäscherei, der Büromaschinen-, Panzer- und Waffen-Reparaturwerkstätten sowie diverser Versorgungseinheiten. Neben den Zivilangestellten gab es dort – ebenso wie in den Turner Barracks, den Roosevelt Barracks und den McNair Barracks – auch noch nicht-amerikanische Wachsoldaten in unbekannter Anzahl.

Die Andrews-Barracks waren ab 1874 zunächst „Hauptkadettenanstalt“ gewesen. Nach dem Versailler Vertrag wurde diese in „Staatliche Bildungsanstalt“ umbenannt – und diente fortan den Rechten als paramilitärische Ausbildungsstätte. 1933 zog die „SS Leibstandarte Adolf Hitler“ dort ein. Für sie wurde der Komplex erheblich erweitert und aufgewertet. Im Jahr darauf beauftragte man diese Truppe mit der Ermordung der SA-Führer um Ernst Röhm in Bad Wiessee, von denen tötete die „Leibstandarte“ dann auch etliche in den Kellern ihrer Kaserne.

1945 wurde am Eingangsportal die sowjetische und die amerikanische Flagge gehißt. Fast 50 Jahre später – 1994 – zogen sich die Amerikaner aus dem US-Sektor Steglitz/Zehlendorf zurück und übergaben ihre Kasernen der Bundesregierung. Diese domizilierte daraufhin einen Teil des Bundesarchivs in den Andrews-Barracks, andere Teile befinden sich in Wilmersdorf und in Hoppegarten, sowie in Bayreuth, Koblenz, Freiburg, Rastatt und Ludwigsburg, daneben gibt es noch ein „Zwischenarchiv“ in Sankt-Augustin-Hangelar. Direkt neben dem Bundesarchiv in der Lichterfelder Finckensteinallee, wo im Sommer der letzte Bus ins Zentrum um 19 Uhr 39 abfährt, hat außerdem das Münchner „Institut für Zeitgeschichte“ eine Dependance errichtet.

Im Gebäude 965 der Andrews-Barracks befand sich die „Laundry and Dry Cleaning Branch“, in der bis 1994 der amerikanische Zivilist Marc Svetov arbeitete. Sechs Jahre danach veröffentlichte er darüber ein Buch: „Truman Plaza, Germany“ – so genannt nach der Wohnsiedlung der Amerikaner rings um das US-Hauptquartier in der Clayallee. An seinem Arbeitsplatz in den Andrews-Barracks merkte der Autor, „dass keiner wirkliche Arbeit leistete! Hier gab es nichts Sinnvolles zu tun. Das war anstrengend …“ Für mich und die Türkin galt das nicht – aber auch wir empfanden unsere Büroarbeit als ziemlich sinnlos. Die Türkin zog es dann nach Paris, wo sie Jazzsängerin wurde, Svetov ging zur selben Zeit gerne in den Osten, wo er in der Kantine des Berliner Ensembles die Bekanntschaft von „Schauspielern und Bohemiens“ suchte. Nach der Wende wurde er Privatsekretär des Extrotzkisten und Kalten Kriegers Melvin Lasky. Ich brachte es ab 1990 zu einer Art  Pressesprecher erst der „Berliner“ und dann der „Ostdeutschen Betriebsräteinitiative“, von der das eingangs erwähnte Buch der Widerstandsforscherin Ulla Plener handelt.

In diese sich wöchentlich beim DGB treffende Runde, die Aktivitäten gegen die Abwicklung ihrer Großbetriebe durch die Treuhand diskutierte und durchführte, kam 1993 der Westberliner Personalrat der Zivilangestellten bei den amerikanischen Streitkräften. Er forderte nichts weniger als unsere Solidarität, denn seinen Leuten drohte mit dem Abzug der Amerikaner ebenfalls die Abwicklung. Wir waren ratlos. Und eigentlich doch sogar froh, dass die Alliierten mit der Beendigung des Kalten Krieges endlich abziehen wollten – und natürlich betraf das auch die deutschen Zivilangestellten, ihre Bediensteten.

Die Rote Armee wollte sich ebenfalls im Juni 1994 aus Berlin zurückziehen. Die Bundesregierung baute ihnen bereits neue Kasernen im Ural und anderswo. Einige schaute ich mir im März 1994 an: Alle Offizierswohnungen besaßen Parkettfußböden – aus karelischer Birke. Der ganze Komplex ähnelte ziemlich genau dem Zehlendorfer „Truman Plaza“. Wenigstens für die Offiziere würde der Rückzug der Roten Armee aus Karlshorst, Wünsdorf und der „Löwen-Kaserne“ in Dallgow-Döberitz nach Ishewsk im Ural also eine erhebliche Verbesserung bedeuten.

Vom Personalrat der amerikanischen Zivilangestellten erfuhr ich später noch, dass sie mit den Wachsoldaten der Amikasernen nichts zu tun gehabt hätten. Dabei handelte es sich um Ukrainer, die als Partisanen unter dem antisemitischen Nationalisten Stepan Bandera und dem deutschen SS-Sturmbrigadenführer Dr. Dirlewanger gegen sowjetische, polnische, italienische und jüdische Partisanen gekämpft hatten. Nach dem Sieg über den Faschismus waren sie mit den Deutschen heim ins Reich zurückgewichen, wo sie dann von den amerikanischen Streitkräften rekrutiert wurden. Man setzte sie zunächst als Wachschutz für militärische Einrichtungen u.a. in Westberlin ein. 1959/60 gelangte eine Auslese nach Fort Lewis bei Washington. Dort wurden sie in eine im Aufbau befindliche antikommunistische Killertruppe – die „Green Berets“ – integriert. Der Spiegel bezeichnete sie 1962 als „Kennedys Partisanen“, sie wurden als erstes in Vietnam zur Bekämpfung des Vietkong eingesetzt.

Als ich jetzt auf dem Weg zum Bundesarchiv in den Andrews-Barracks am „Institut für Zeitgeschichte“ vorbeiging, das in letzter Zeit oft und gerne „Geschichte und Gegenwart des Antikommunismus“ thematisiert, dachte ich mir: Die könnten damit eigentlich gleich vor ihrer Haustür anfangen. Vielleicht in Zusammenarbeit mit dem „Initiativkreis McNair Museum“: Ein 1993 von Zivilangestellten der Westalliierten gegründeter Verein, dessen Materialsammlung „den Frauen und Männern gewidmet ist, die über einen Zeitraum von fast 50 Jahren mit ihrer Arbeit einen Beitrag zur Sicherung der Freiheit der Westsektoren Berlins geleistet haben.“ Dazu dient den Initiatoren u.a. eine Ausstellung als „Erinnerungsstätte“ in den ehemaligen McNair-Barracks, die „einen Überblick aus dem täglichen Leben der Zivilangestellten“ erlaubt.

Als ich dort vorbeischauen wollte, ging es mir jedoch erst einmal nicht um den Verbleib des ehemaligen Personalrats der Zivilangestellten, auch nicht um das weitere Schicksal der ukrainischen Kommunistenjäger, nachdem man sie aus Westberlin ausgeflogen hatte, sondern eher im Gegenteil – um den Widerstand von schwarzen US-Soldaten gegen den Vietnamkrieg. Dieser wurde öffentlich, als der Boxer Cassius Clay (Muhammed Ali) 1966 in den USA erklärte, warum er den Kriegsdienst verweigere: „Kein Vietnamese hat mich jemals Nigger genannt“. Auf der anderen Seite konzentrierte die US-Militärführung ihre schwarzen Soldaten in rassischhomogenen  sogenannten „Krähen-Einheiten“. In Westberlin half dagegen der SDS schon wenig später schwarzen GIs bei der Fahnenflucht nach Schweden. Dazu eröffneten einige Genossen einen „Beratungsladen“ – gleich neben der Schöneberger Schwarzen-Disco „International“, ferner gaben sie ein Info heraus, das sich an die vom Frankfurter SDS herausgegebene Zeitschrift „Forward“ anlehnte und verteilten Flugblätter vor den US-Kasernen, in denen sie über den Vietnamkrieg aufklärten und zur Desertion aufriefen.

Man kann sich heute nur noch schwer vorstellen, was für ein Ansehen die mit den Black Panther sympathisierenden schwarzen Soldaten der US Army bei den westdeutschen bzw. Westberliner Linken hatten. Dazu und über die Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen in den US-Kasernen müßte es doch im „McNair Museum“ in Lichterfelde noch Exponate geben…Als ich hinkam, war es jedoch geschlossen. Der Kasernenkomplex war 2011 privatisiert worden – von einem Spekulanten namens Berthold Wiora aus Marburg, der dort „an der Billy-Wilder-Promenade das zur Zeit wohl ehrgeizigste Bauvorhaben Berlins“ realisiert: 168 hochwertige Wohneinheiten, sogenannte „Lesley Lofts“ – „Freiraum für Persönlichkeiten,“ um „dort die Symbiose aus Ruhe und Natur zu genießen“. Diesem komischen Freiraum war erst einmal das Museum zum Opfer gefallen. Der Verein der Zivilangestellten klagt: „Der neue Investor hat sich nicht an die früheren Absprachen gehalten und scheint auch nicht bereit, die vertraglichen Vereinbarungen einzuhalten.“

Der Vereinsvorstand ist dennoch optimistisch, demnächst neue Räume dort zu bekommen, denn alle Fraktionen der Bezirksverordnetenversammlung haben sich dafür ausgesprochen, dass sich das Museum bei den „Lesley Lofts“ einmieten kann. „Sollte das jedoch nicht möglich sein, ist das Bezirksamt aufgefordert, sich aktiv an der Suche nach angemessenen Ersatzräumen zu beteiligen. Es sei wichtig, das Museum als Erinnerungsstätte an das Wirken der US-amerikanischen Schutzmacht in Steglitz-Zehlendorf zu erhalten,“ wie die „Berliner Woche“ schreibt.

Auch ich bin optimistisch, dass der Widerstand der schwarzen GIs gegen den Antikommunismus und die Unterstützung, die sie durch den SDS dabei erfuhren, nicht vergessen wird, denn ich fand dazu einen Hinweis auf eine Ausstellung im Deutschen Historischen Institut in Washington, in der das thematisiert wird. Sie wanderte anschließend nach Heidelberg, wo sich das US-Hauptquartier für den Vietnameinsatz befand, und nach Ramstein, wo auf der dortigen Air Base 1969 zwei mit den Black Panthern sympathisierende schwarze GIs – Edgar Jackson and William Burrell – stationiert waren, denen man die Beteiligung an einer Schießerei vorwarf, bei der ein Wachmann vor der US-Kaserne verletzt wurde. Zu ihrem Prozeß in Zweibrücken erschienen damals etliche Black Panther aus den USA und viele deutsche Linke: Burrell wurde freigesprochen und nach Algerien abgeschoben, Jackson erhielt dagegen vier Jahre Gefängnis. Die Ausstellung „Afroamerikanische GIs in Deutschland“, die u.a. auch diesen Fall thematisiert, wurde zuletzt in der Berliner Vertretung des Landes Rheinland-Pfalz gezeigt. Wo sie jetzt ist, habe ich noch nicht rausbekommen, wohl aber, dass das „Material“ dafür u.a. aus der „Kollektion: Klaus Franke, Peter Koard“ – im Bundesarchiv – stammt. Sieh an!

Bei seinen topographischen Berlinrecherchen in den Achtzigerjahren dämmerte es dem Filmemacher Alexander Kluge bereits, dass hier aus „möglichen“ immer wieder „magische“ Orte werden – insofern die Menschen, die dort leben und arbeiten, sich nur einbilden, dass sie tun, was ihnen möglich ist, was sie wollen, in Wirklichkeit werden sie jedoch durch die Geschichte des Ortes selbst zu diesem oder jenem gezwungen.

 

„Schaut auf diese Stadt“ Das ist Westberlins modernster Platz, gleich neben der TU.

 

Pankows juwelstes Kulturell
Die Erfinderwerkstatt, das sind zwei Wochenkurse in der Pankower Jugendkunstschule (JUKS). Diese Einrichtung ist, ebenso wie das Pankower Heimatmuseum, von Abwicklung bedroht. In dem kleinen Museum erfährt man u.a. Näheres über Pankower Erfinder.  Dazu gehören z.B. der Erfinder der Thermosflasche Reinhold Burger, der Erfinder von Fahrrad-Dynamos, Fritz Eichert, der Miterfinder des Fernsehens, Paul Nipkow und der „Vater des Ampelmännchens“ Karl Peglau. Auch die Teilnehmer der Erfinderwerkstatt in der JUKS haben bereits ihre Arbeiten im „Panke Museum“ ausgestellt. Die jugendlichen Erfinder sind zwischen 8 und 13 Jahre alt und werden von dem Bildhauer Christian Badel betreut, der seine Werkstatt „Düsentrieb & Co“ nennt. Das Motto des Entenhausener Erfinders lautet: „Nichts ist unmöglich und erfinden kann man eigentlich alles“.

Vor einiger Zeit wurden die Kursteilnehmer von der japanischen Kunsterzieherin Miho Yamanari interviewt. Sie leitet eine Malschule in Tokio und kooperiert mit der Pankower Kunstschule. Die Jugendlichen erzählten ihr, an was sie gerade arbeiten: Einer z.B. an einer „Zeitmaschine“, ein anderer an einer „Seifenkiste“ und ein dritter an einem  „Gespenst“. Aus den z.T. elektrifizierten Gespenstern und Monstern entsteht demnächst eine „richtige Geisterbahn“ – auf einem der Juks-Flure. Für ihre „Wunschmaschinen“ benutzen die Kinder Teile von ausrangierten  Computern, Radio- und Videogeräten, Fernsehern und Küchengeräten. Neben der Realisierung von Konstruktionsideen lernen sie dabei  den Umgang mit Materialien und Werkzeugen – wie Kreuzschraubendreher, Akkubohrer, Stichsäge und Klebepistole. Wenn sie sich bei thematischen Aufgaben zu Teams gruppieren, lernen sie dabei außerdem noch das Zusammenarbeiten, aber auch die Konkurrenz – Schummelvorwürfe werden laut, es fallen Worte wie „Ideenklauer“ und mancher denkt schon an eine profitable Verwertung seiner zukünftigen Konstruktion, wobei sich das Problem einer angemessenen finanziellen Beteiligung der Teamkollegen stellt. Die Erfinderwerkstatt gibt es seit 12 Jahren, neben dem freien Arbeiten stellt Kursleiter Badel den Kindern immer mal wieder Aufgaben, die Vorüberlegungen und einen Plan erfordern – z.B.: „Werfe ein Ei aus dem 2.Stock der JUKS ohne dass es kaputt geht!“

Kürzlich sollten zwei Schülerpraktikanten der taz, Cherifa Rezek aus Neukölln und Phoebe Tsorpatzidis aus Heidelberg, eine Reportage über die Erfinderwerkstatt schreiben. Die JUKS war an dem Tag jedoch geschlossen, weil alle Mitarbeiter der von Etatkürzung bzw. Schließung bedrohten Kultureinrichtungen in  Pankow und Prenzlauer Berg vor der Bezirksverordnetenversammlung für den Erhalt ihrer Einrichtungen und ihrer Arbeitsplätze demonstrierten. Die beiden Praktikanten schlossen sich erst der Demo an – und besuchten dann einen „Erfinderladen“ im Prenzlauer Berg. Dieser wird privatwirtschaftlich betrieben. Die Inhaber beraten Erfinder und helfen ihnen bei der Vermarktung ihrer Ideen.

Viele Waren des Erfinderladens könnten auch aus der  Erfinderwerkstatt stammen, wie umgekehrt einige der von Kindern hergestellten Gegenstände – z.B. ein „Nasenwärmer“ oder ein „USB-Stick, mit dem man Pommes essen kann“ – gut und gerne auch im Erfinderladen verkauft werden könnten. Das wäre jedoch keine Lösung, um die JUKS zu erhalten, deren Lehrkräfte deswegen weiter gegen die vom Bezirk angedrohten Honorarkürzungen protestierten. Als jetzt verspätet von der rotgrünen Bezirksregierung der Haushalt für dieses Jahr verabschiedet wurde, kam heraus, dass die Pankower  Jugendkunstschule und das Heimatmuseum zwar erst einmal „gerettet“ sind, mindestens bis 2013, denn solange sind die Beschlüsse des Bezirkes gültig, dass sie aber weniger Zuschüsse bekommen – die JUKS etwa 7000 Euro. Gleichzeitig wurde endlich die 2009 begonnene Renovierung des  Schulgebäudes, die über eine Million Euro kostete, abgeschlossen. Allerdings sieht sie nun so aus wie eine normale Pflichtschule, die man schon mal bereit hält und die so lange von der Juks bespielt werden darf – bis die geburtenstarken Jahrgänge neue Schulen brauchen (nach der Wiedervereinigung hatte man zunächst etliche  Schulen und Kitas geschlossen). Ob dann von der  Schule eine Zusammenarbeit mit der Juks angestrebt wird, darf bezweifelt werden. Wie eine Umfrage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gerade ergab, spielt die musische und künstlerische Bildung in allen Schulen  eine immer geringere Rolle. Männliche Jugendliche mit niedriger Schulbildung kommen bereits so gut wie gar nicht mehr damit in Berührung. Immerhin gibt es in Berlin nach der Schule und gegen eine geringe Kursgebühr Angebote von mittlerweile 11 Jugendkunstschulen. Der Erfinderladen der Pankower Juks wirbt auf Facebook für sich.

Phoebe Tsorpatzidis schrieb über den  Erfinderladen:

Werden wir in Zukunft allen unseren Stühlen Socken überziehen, eine Dose mit Zeit gefüllt besitzen oder einen ‚Gefällt mir‘ Stempel benutzen? Die Antwort ist hoffentlich: Nein! Es gibt einen ganzen Laden mit solchen und vielen weiteren Erfindungen. Das Geschäft bietet rund 200 Artikel an, bekommt aber pro Monat ungefähr 100 neue Erfindungsvorschläge. Nicht nur Berlin hat das große Glück, einen solchen Laden zu haben, sondern auch Salzburg. In diesem Jahr wollen die Besitzer, Marijan Jordan und Gerhard Muthenthaler, in Hamburg, Köln und Wien, weitere Filialen eröffnen – und sogar einen in Miami. Ihr ‚Erfinderladen‘ im Prenzlauer Berg sieht von außen eher unscheinbar aus, ist aber innen randvoll mit kreativen kleinen Meisterwerken. Auch wenn man die Notwendigkeit eines ‚Anti-Zickensprays‘ bestreiten mag, ist ein Besuch des kleinen Ladens in der Lychenerstraße doch immerhin einen Besuch wert. Mit seinen individuellen und einfallsreichen Erfindungen ist er sehr unterhaltsam. An den Laden ist zudem ein ‚Museum zukünftiger Erfindungen‘ angeschlossen, in dem Prototypen für zukünftige lebensverändernde Erfindungen ausgestellt sind. Hier findet man eine Schubkarre, die zwei Achsen hat, eine bessere Federung für Kinderwägen, eine Klobürste, die sich an das Toilettenbecken anhängen lässt. All diese Erfindungen haben das Potential, unseren Alltag erheblich zu erleichtern, doch die Frage ist, müssen wir unseren Alltag auf diese Art und Weise überhaupt erleichtern?

Ich schrieb über Erfinderkrankheiten:

Erfinder – ein schönes deutsches Wort: Einer, der das Finden zu seinem Beruf gemacht hat. Es gibt natürlich auch Erfinderinnen – und zwar immer mehr. Auf dem Westberliner „Erfinderstammtisch“ waren es einige Jahre lang sogar viele, die Mehrzahl von ihnen erfand Fahrradverbesserungen bzw. -zubehör, u.a. einen Anhänger, der, ausgeklappt zu einem Einfrauzelt wurde. Der Stammtisch wird von Peter Stepina geleitet, der im Deutschen Erfinderverband aktiv ist und auch noch ein Erfinderjournal und einen Erfinderclub mitträgt.

In Ostberlin gibt es ebenfalls ein regelmäßiges „Erfindertreffen“, er wird vom Ingenieur Lutz Kluge geleitet. Dann gibt es da noch – im Prenzlauer Berg den „ersten deutschen Erfinderladen“ – mit einem angeschlossenem „Museum für zukünftige Erfindungen“, sowie in Pankow in der gerade von Honorarkürzung bedrohten „Jugendkunstschule (JuKS) eine Erfinder- Werkstatt,  und nicht weit davon entfernt im Heimatmuseum eine Abteilung über Pankower Erfinder (einer, Reinhold Burger, erfand z.B. die Thermoskanne). Dazu gibt es noch das Patentamt (in Kreuzberg), wo zwei nette Damen sitzen, die Erfindern helfen. Ansonsten befindet sich dort ein Saal mit Akten über Erfindungen, deren Patent ausgelaufen ist. Diese werden von einer Handvoll Männer studiert, die hoffen, darin auf eine Erfindung zu stoßen, bei der es sich lohnt, sie noch einmal wieder aufzugreifen – mit neuen technologischen Mitteln diesmal.

Ich habe komischerweise immer mit Erfindern zu tun, die unter einer Art Berufskrankheit leiden: Einerseits wollen sie ihre Erfindung partout an den Mann bringen, profitabel verwerten, andererseits fürchten sie nichts so sehr wie den Ideenklau. In diesem „Inventor-Double-Bind“ zappelnd suchen sie die Aufmerksamkeit der Presse, gleichzeitig haben sie jedoch einen wahren Horror davor, Details ihrer Erfindung zu verraten. Ein Erfinder – aus Spandau, der einen Maßschuh konstruiert hatte, welcher sich maschinell herstellen ließ, wurde sogar irre daran. Das Gegenteil war der MIG-Testpilot und promovierte ML-Philosoph Rawil Chadejew, der ein neues Getriebe erfand: Er kopierte seine Konstruktionszeichnungen und gab sie allen Freunden und Bekannten, damit sie seine Erfindung Interessierten anboten. Zuletzt war er einen der Helden in Eduard  Schreibers wunderbaren Dokumentarfilm über den Abzug der Roten Armee aus der DDR: „Lange nach der Schlacht“. In Schreibers darauffolgenden Dokumentarfilm über eine Zone der Anomalie im Ural – „M“ im Film genannt – fungierte er als Stalker für den Regisseur und sein Kollektiv.

Wie man weiß, gibt es in „Entenhausen“ zwei geniale Erfinder: einen guten – Daniel Düsentrieb, auf den sich u.a. die Pankower Erfinderwerkstatt beruft, und einen bösen: Hugo Habicht. Während bei Düsentrieb ein abgelehntes Patent an der Wand hängt – über eine Glühbirne, die beim Anschalten den Raum verdunkelt, die sogenannte Dunkelbirne (Näheres dazu im „Journal der unwiederholbaren Experimente“ 1992), findet sich bei Habicht ein Hinweisschild neben der Tür: „Ruhe, hier wird Böses ausgeheckt!“ Habicht  hat sich der Erfinder-Verleger Werner Pieper in der Löhrbacher Mühle bei Heidelberg zum Vorbild genommen – mit seiner Book- und Non-Book-Reihe „Grüne Kraft“, in der u.a. der Chaos-Computer-Club sein erstes Buch veröffentlichte.

Pieper selbst hat sich um die Verbreitung von sozialen Erfindungen verdient gemacht – u.a. mit seinem „Buch der Handlungen und dem Sampler „Widersteh‘ Dich!“ – jeweils „lebendige Beispiele der Rebellion, Mitverantwortung und sozialen Erfindungen“. An diesen herrscht seit den Siebzigerjahren nämlich ein großer Mangel. Bei jedem Problem – vor allem  ökologischer und gentechnischer Art – setzen sich sofort die Entwicklungsabteilungen der Industrie  und die mehr oder weniger freien Erfinder in Marsch – und kommen uns mit technischen Lösungen (zur Weltverbesserung wenn nicht gar -rettung).

Seit Jonathan Swifts Essay „On Projects“ heißen letztere auch Projektemacher“ – die den Fürsten mit mehr oder weniger wahnwitzigen (risikoreichen) Ideen kamen und um finanzielle Hilfe bei der Realisierung baten. Heute kommen auch die Industriekonzerne wieder dahin, dass sie Projekte „auflegen“ und die dazu geeigneten Macher bloß noch für die Dauer ihrer Realisierung finanzieren. Ähnliches bahnt sich bei den Universitäten und anderen staatlichen Einrichtungen an. Wo gleichzeitig (bei den Sozialwissenschaften z.B.) das organisierte Nachdenken über dringend gebrauchte soziale Erfindungen langsam abgewickelt wird. Sie wissen, warum! – die Abwickler.

 

Alleinunterhalter im Schloßpark Pankow, der die drei Damen gerade überredet, mit ihm in den Pankower Bürgerpark umzuziehen.

 

Alle wollen ein Prima Klima

Neulich erwarb ich in der Pankower Museumsbäckerei ein „dreistufiges Sauerteigbrot mit Lichtkornroggen“ – „Holzofenbrot“ genannt. Die Backstube mit „Direktverkauf“ (Dienstags von 11 bis  17 Uhr) gibt es seit 1875, sie gehört seit 2006 zur Neuköllner „Landbrot“-Bäckerei“. Diese wurde 1930 gegründet, 1981 übernahm sie der Ökonom und Bäcker Joachim Weckmann – ein Anhänger der Anthroposophie. Sein „Märkisches Landbrot“ – stammt denn auch aus „biologisch-dynamischem Demeter-Anbau“. Seit der Wende werden dabei Lieferanten aus dem Umland bevorzugt. Die Brotzutaten – Möhren und Milchprodukte – kommen vom Demeter-Hof des Öko-Dorfs Brodowin, Gewürze von der österreichischen Firma „Sonnentor“.

In der Pankower Museumsbäckerei liegt eine Broschüre – die  „Landbrot-Fibel“ – aus. Ihr ist zu entnehmen, dass der Betrieb nahe der  Sonnenallee seinen „Öko-Strom“ aus einer Photovoltaikanlage bezieht, und dass er sein Brauchwasser mit einer Wasserfilter und -belebungsanlage „heilt“ – nach einem Verfahren des japanischen „Alternativmediziners“ Masuro Emoto, der sich dabei auf Wasserforschungen des österreichischen Oberförsters und Viktor Schauberger stützt. Von der anderen Seite kommt über Rudolf Steiner die Berücksichtigung des Kosmos, der Gestirnkonstellationen, Sonne und Mond beim Getreideanbau. Während es unter der Erde um das Bodenleben und die Saatgüte geht, wobei man auf „nicht ‚verzüchtete‘ Sorten“ setzt: Dinkel, Bergroggen und alte Landweizensorten. Deren Korn wird später unter langsam drehenden Mühlsteinen gemahlen. Das Mehl verarbeitet man dann zusammen mit Wasser und „Milliarden von Milch- und Essigsäurebakterien sowie Hefe“ zu einem Sauerteig. Diese „Lebensgemeinschaft“ produziert u.a. Kohlenstoffdioxid, was den Teig auflockert. Der dient nach 17 Gärstunden als „Triebmittel“. Dabei wird Honig zugegeben – um die Mikroorganismen anzuregen. Es sind vor allem  Lactobazillen, sie wandeln  den Getreidezucker in Milchsäure um.

Die Bäckerei „Märkisches Landbrot“ verwendet für ihren Sauerteig „Lactobazillus sanfrancisco“. Dieser Einzeller stammt  ursprünglich aus dem kalifornischen Ökozentrum, nach dem er benannt ist. Er spielt auch beim Ansetzen eines „Bio-Hefeteigs“ für leichtes Gebäck eine Rolle. Die „konventionelle Bäckerhefe“ wird – da eventuell „gentechnisch manipuliert“ – abgelehnt.

Zum Sortiment gehören auch noch die „Essener Brote“ – angeblich eine Erfindung der „Essener“ am Toten Meer. Sie ließen das Korn keimen und erhöhten damit den Nährwert ihres Brotes, das von „natürlicher Süße“ ist.

In der „Landbrot-Fibel“ findet man außerdem einige Hinweise auf das monetäre Engagement der Bäckerei. Im Inland wird erst mal das Geld verdient: Etliche Gastronomiebetriebe in Berlin und im Umland sowie 250 Naturkostfachgeschäfte und Food Coops verkaufen „Märkisches Landbrot“. Auf der Ausgabenseite findet man eine Beteiligung an der Aktion „BioBrotBox“ in Schulen, ferner die tägliche Belieferung der „Suppenküche“ in der Neuköllner Teupitzer Straße mit  frischem Brot sowie die Finanzierung der  Wiederaufforstung von 10 Hektar Drachenbaum-Regenwald auf Madagaskar.

Obwohl die Gattin des madagesischen Präsidenten dafür den beiden Bäckerei-Geschäftsführern persönlich dankte, gilt das Projekt als gescheitert. Schließlich wurde auch noch der Präsident gestürzt. Dafür kann das „Märkische Landbrot“ aber nichts, die praktische Umsetzung oblag  der Waldretter-NGO  „PrimaKlima“ in Düsseldorf. Dieser Verein hat nichts zu tun mit der Schöneberger Reiseveranstaltungs-Kommune „Prima Klima“ und der  Schöneberger Firma für Klimaanlagen und Wasser- bzw.  Luftstandheizungen in Pkws und Vans, die ebenfalls „Prima Klima“ heißt.

Was der „Landbrot-Fibel“ nicht zu entnehmen ist: Ob auch das „Soziale Klima“ in der Bäckerei und den Zulieferbetrieben stimmt? Beim Demeterhof in Brodowin wurden diesbezüglich bereits Bedenken geäußert – aus der  Nachbarschaft. Grundsätzliche Bedenken – gegenüber engagierten neuen Managementmethoden – äußerte jüngst der Schweizer Psychologe Andreas Krause auf einer Tagung der „Initiative ‚Gesundheit und Arbeit'“ in Berlin: Wenn die Unternehmensziele „Leistung aus Leidenschaft“ erfordern, arbeiten die Mitarbeiter ähnlich wie Selbständige, kucken nicht auf die Uhr, lassen sich nicht krank schreiben, nehmen Aufgaben mit nach Hause usw.. Dabei setzen sie jedoch früher oder später „Wohlbefinden und Seelenfrieden aufs Spiel“, d.h. sie betreiben eine „interessierte Selbstgefährdung“. Am Ende ist der Brotkonsument gesund und der Bäcker krank. In den normalen Backstuben ist es umgekehrt.

 

„Irgendwann muß sich jeder entscheiden, ob er vor oder hinter der Theke stehen will.“ (Kreuzberg 1984)

 

Produktivkraft Verbrechen

Hunderte von Springerstiefeljournalisten verdanken den Kriminellen Lohn und Brot, Bild und BZ haben sogar zwei alte Blondinen als Permanenzreporter im  Moabiter Gericht. Durch ihre schweinösen Berichte – über den „Würger von Neukölln“, die „Russenmafia in der Kantstrasse“, den „Menschenfresser aus Tempelhof“, den „Mädchenschänder aus Pankow“ usw. wird sogar wesentlich (Sicherheits-)Politik gemacht.

Karl Marx schrieb: „Ein Philosoph produziert Ideen, ein Poet Gedichte, ein Pastor Predigten, ein Professor Kompendien usw.. Ein Verbrecher produziert Verbrechen. Betrachtet man näher den Zusammenhang dieses letztren Produktionszweigs mit dem Ganzen der Gesellschaft, so wird man von vielen Vorurteilen zurückkommen. Der Verbrecher produziert nicht nur Verbrechen, sondern auch das Kriminalrecht und damit auch den Professor, der Vorlesungen über das Kriminalrecht hält, und zudem das unvermeidliche Kompendium, worin dieser selbe Professor seine Vorträge als ,,Ware“ auf den allgemeinen Markt wirft. Damit tritt Vermehrung des Nationalreichtums ein.  Der Verbrecher produziert ferner die ganze Polizei und Kriminaljustiz, Schergen, Richter, Henker, Geschworene usw.; und alle diese verschiednen Gewerbszweige, die ebenso viele Kategorien der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bilden, entwickeln verschiedne Fähigkeiten des menschlichen Geistes, schaffen neue Bedürfnisse und neue Weisen ihrer Befriedigung. Die Tortur allein hat zu den sinnreichsten mechanischen Erfindungen Anlaß gegeben und in der Produktion ihrer Werkzeuge eine Masse ehrsamer Handwerksleute beschäftigt.  Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen ‚Dienst‘. Er produziert nicht nur Kompendien über das Kriminalrecht, nicht nur Strafgesetzbücher und damit Strafgesetzgeber, sondern auch Kunst, schöne Literatur, Romane und sogar Tragödien.

Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn. Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern Teil derselben Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen ,,Ausgleichungen“ ein, die ein richtiges Niveau herstellen und eine ganze Perspektive ,,nützlicher“ Beschäftigungszweige auftun.

Bis ins Detail können die Einwirkungen des Verbrechers auf die Entwicklung der Produktivkraft nachgewiesen werden. Wären Schlösser je zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehn, wenn es keine Diebe gäbe? Wäre die Fabrikation von Banknoten zu ihrer gegenwärtigen Vollendung gediehn, gäbe es keine Falschmünzer? Hätte das Mikroskop seinen Weg in die gewöhnliche kommerzielle Sphäre gefunden ohne Betrug im Handel? Verdankt die praktische Chemie nicht ebensoviel der Warenfälschung und dem Bestreben, sie aufzudecken, als dem ehrlichen Produktionseifer? Das Verbrechen, durch die stets neuen Mittel des Angriffs auf das Eigentum, ruft stets neue Verteidigungsmittel ins Leben und wirkt damit ganz so produktiv wie Streiks auf die Erfindung von Maschinen. Und verläßt man die Sphäre des Privatverbrechens: Ohne nationale Verbrechen, wäre je der Weltmarkt entstanden? Ja, auch nur Nationen…?“

So weit Marx. Demnach verdanken wir den Kriminellen so viel, daß es langsam an der Zeit wäre, ihnen dafür zu danken, zumal als Linke, denn die „gefährlichsten Verbrecher“, das waren ja meistens die Kommunisten und – neuerdings – die Terroristen. Wie wäre es fürs erste mit einem „Denkmal des unbekannten Verbrechers“?

„Die Stunde des Verbrechens schlägt nicht für alle Völker gleichzeitig. Daraus erklärt sich die Kontinuität von Geschichte.“ (Emil Cioran)

„Die Geschichte beginnt mit dem Raub von Frauen, Kultur mit dem Frauentausch.“ (Claude Levi-Strauss)

 

Elefantengehege im Westberliner Zoo

 

Nosing-Around im Schillerkiez

Die Gentrifizierung eines Stadtviertels beginnt mit den „Profitpionieren“. Sie machen aus verbraucht-verrauchten Männerkneipen frische Nichtraucher-Cafés, aus Dönerbuden erst Läden für gebrauchte Partyklamotten und dann für neue Kinderkleidung, aus Videoshops Bioläden und Galerien.

Für den Aufstieg in den Schiller-Kiez wählen wir – vom Rathaus Neukölln kommend – die Boddinstraße. Bis etwa 2000 war sie erst eine Thai- und dann eine Russenpuff-Straße. Der erste Gentrifizierer dort hieß Ergün Sen – Betriebsrat bei Daimler-Benz in Marienfelde. Als man ihn aus politischen Gründen entließ, übernahm er in der Boddinstraße eine der  proletarischen Eckkneipen und machte daraus das Café „Ton Ton“, was viele Tonnen heißt. Ein paar Jahre später wurde aber auch er weggentrifiziert – von einem nach Neukölln ans Flugfeld vorgeschobenen Mitte-Restaurant.

Unser erster Halt ist die  Bergklause: Eine Existenzgründung des Raubtierdompteurs Wolfgang Heppner, die sich nach 1989 zu einem beliebten Treffpunkt für Zirkusleute aus Ost und West entwickelte, dementsprechend ist die Musikbox noch immer mit Platten von Drafi Deutscher und Frank Schöbel bestückt. Nach einem doppelten Weinbrand und der Bejahung der dort üblichen Abschiedsfrage „Allet Clärchen?“ gehen wir weiter. Gleich auf der anderen Straßenseite in die Shisha-Bar „Sahara“: dem Vereinsheim von „Galatasaray II Berlin“ und Rückzugsort für junge türkisch-arabische Liebespaare, die, bevor sie sich dort auf einem der Diwane zusammenkuscheln, ihre Schuhe ausziehen. Der Shisha-Qualm macht sie fast unsichtbar. Ältere  Stammgäste werden hier mit „Hallo, Altes Haus!“ begrüßt, wir kommen mit einem Palästinenser ins Gespräch, der im Schillerkiez aufgewachsen ist. Er meint: „Es ist ruhiger geworden, gibt nicht mehr so viele Probleme.“ Ähnlich äußert sich auch eine Lehrerin, die dort an seiner ehemaligen Schule unterrichtet: „Es ist stressig, wird aber besser!“

Wir wechseln das Lokal und gehen ins  Roma Café, meinem Lieblingslokal. In dieser Spielstätte des „Rroma Aether Klub Theaters“ serviert man uns heute statt Alkohol Mokka mit Quittenmarmelade. Das Café-Kollektiv ist bekannt dafür, dass es sich um die von Gentrifizierung bedrohten Romafamilien im Kiez kümmert. Kündigungen gelingen hier nicht selten aufgrund der  Rechtsunkenntnisse der Betroffenen. Das Theater-Café-Kollektiv selbst ist mindestens so wach wie die neuen Betreiber der vier Kunstgalerien und einer Mode-Boutique drumherum.

Weiter gehts – über die Hermannstraße an der Ecke Mahlower – in das alteingesessene „Bären-Eck“ an. Hier tobt zu unserem Erstaunen das junge Leben. An Pokerautomaten und Dart-Boards drängen sich die Gäste. Eine Mädchengruppe am gardinenverhängten Fenster guckt amerikanische Catcherkämpfe im Sportkanal. Die Regale an den holzgetäfelten Wänden stehen voller Dartpokale. Wir bestellen zwei Tee mit Rum und drücken in der Musikbox „Flugzeuge im Bauch“ von Grönemeyer. Es kommt dann jedoch „Radio Gaga“ von Queen.

Die nächste Eckkneipe an der Kreuzung Mahlower-/Weisestraße ist das exakte Gegenteil: fast tot. Der Wirt der „Mahlower Klause“ studiert unterfordert das Heft des Gaststätten- und Beherbergungsgewerbes, an der Theke reden zwei Leute über Plasmafernseher, eine alte Frau trinkt Bier mit Korn. Wir setzen uns an den Stammtisch von „Rohr-Müller“, einem Sanitärgeschäft in der Nachbarschaft. Der Berliner Rundfunk 91,4 verbreitet Frohsinn. „In solchen Bars läuft immer Phil Collins!“, meint meine Begleiterin. Und tatsächlich. Immerhin ist das Bier billig. Als Faustregel gilt im Schillerkiez: In den schicken, gentrifizierten Läden ist es doppelt so teuer wie in den alten Eckkneipen.

Den Anarcho-Infoladen „Lunte“ in der Weisestraße – hier läuft ein Agitprop-Film – lassen wir links liegen. Wir waren zuletzt auf dem Straßenfest, das die Betreiber alljährlich organisieren, damit die Schillerkiezbewohner sich über ihre Miet- und Wohnprobleme austauschen. Es kommen aber immer mehr junge Leute mit reichen Eltern oder einem guten Einkommen dorthin, die Schilder an die Bäume hängen: „Suche Wohnung – zahle bis zu 1000 Euro Miete.“ Sie sind eher die Hoffnungsträger des „Quartiersmanagements“ zur „Aufwertung“ des Kiezes.

Wir kehren in der ebenfalls von Gentrifizierungsgegnern frequentierten Kneipe „Syndicat“ in der Weisestraße ein, wo es an diesem Abend „Tofu Stroganoff“ gibt: entweder vegetarisch oder gleich ganz vegan zubereitet. Dazu passt das bukolische Plakat „Wer Bier trinkt, hilft der Landwirtschaft“. Wir bestellen hier jedoch „Die Schnapsidee des Monats“: selbst gepanschten Himbeerwodka.

Auf einem anderen Plakat heißt es: „Bauernhöfe statt Agrarindustrie“. Dessen ungeachtet strahlen das Interieur und die Lautsprecherboxen eher urbane Punk-Ästhetik aus: Die Wände sind ochsenblutrot und schwarz gestrichen, es gibt Tischfußball und einen Flipper sowie Infomaterial über die sozialen Auseinandersetzungen im Kiez.

Ganz anders die mehrheitlich von Frauen besuchte Ofenkneipe „Pianobar Froschkönig“ in der Weisestraße, wo ein Gitarrist verhaltene Akkorde durch sein Echohallgerät schickt. Noch leiser sind die zwei Fernseher, auf denen Videos vom Leben im Korallenriff laufen. Auch wir machen keinen Krach, als wir an der Theke einen süßsauren „Drink“ bestellen. 357 Personen gefällt Froschkönig laut Facebook, wie die kneipeneigene Website verrät. Wir bezahlen und gehen wieder.

In der „Cocktailbar Lange Nacht“, ebenfalls an der Weisestraße, findet eine „Stadtteilversammlung“ statt, organisiert von einer „Schillerkiez-Initiative“. Sie entstand als Reaktion auf die 2008 vom Quartiersmanagement gegründete „Task Force Okerstraße“, mit der man „Problemhäuser“, „Problemfamilien“ und die „Trinkerproblematik“ im Kiez angehen wollte. Die „Stadtteilinitiative Schillerkiez“ begriff die „Task Force“-Gründung als „Kriegserklärung“.

Wir beeilen uns, noch einen Stehplatz zu finden, ein Mitarbeiter des Mieter-Echos spendiert uns ein Bier. Wir erfahren: Seit 2009 wurden 500 Mieter im Schillerkiez aus ihren Wohnungen geworfen, vor allem alte Leute. Ein auf Miet- und Arbeitsrecht spezialisierter Kiez-Anwalt macht vor allem die „Jobcenter“ und deren „völlig inkompetente Mitarbeiter“ für die Verdrängung von Nicht- und Schlechtverdienern verantwortlich. Eine Architektin hebt dagegen auf die „Wärmedämmung“ ab, die sich private Vermieter mangels Kapital nicht leisten können, weswegen sie ihre Häuser an westdeutsche Spekulanten verkaufen müssten, die sich ganze Straßen unter den Nagel rissen.

Eine Neuzugezogene beklagt sich über die Arroganz der „Lunte“-Betreiber, eine ältere Kiezbewohnerin bescheinigt ihnen, trotzdem gute Aufklärungsarbeit zu leisten. Und gleich mehrere Leute müssen zugeben, dass „die neu zugezogenen Jungen, aus Frankreich oder Spanien zum Beispiel, dem Kiez auch gut tun“. Die „Stimmung“ habe sich dadurch verbessert. Außerdem „können die das ja alles gar nicht wissen“ – sprich, über welche Leichen sie da steigen, wenn sie ihre Wohnungen beziehen, für die nun 10 Euro pro Quadratmeter Kaltmiete verlangt werden.

„Die Studenten zahlen jeden Preis, auch für nicht renovierte Wohnungen“, hatte uns zuvor bereits ein Makler erzählt, der außerdem wusste, dass die Piratenpartei 21 Prozent der Stimmen im Schillerkiez bekommen habe. Die Versammlung der 70 überwiegend jungen Leute ist sich einig, dass man die Neuzugezogenen aufklären muss, damit sie Verantwortung übernehmen. „Was ist denn aber nun die Konsequenz aus einem solchen Verantwortungsbewusstsein?“, fragt eine neu aus Ulm Zugezogene. Dazu werden am Ende mehrere Arbeitsgruppen gebildet.

Wir wechseln noch einmal die Location und gehen ins Rocker- und Biker-Lokal „Bierbaum 3“ an der Schillerpromenade, wo der Schnaps immer noch 80 Cent kostet. Diese Eckkneipe ist trotz anhaltender Gästeverluste infolge von Alkohol und aus der Kurve getragener Motorräder das Lebhafteste an dieser Straße, sieht man einmal vom Gesundheitsladen „Frauenräume“ gegenüber ab, in dem an diesem Abend an allen Tischen Karten gespielt wird. Von draußen wirkt das wie eine jungdeutschfeministische Parodie auf alttürkische Männercafés.

Im „Bierbaum 3“ wird Skat gespielt, an der Decke hängen Motorräder, an einer Wand Fotos von „Abduls Birthday“. Für unsere Zeche zahlen wir so wenig, dass wir fast an ein Versehen glauben.

Als Nächstes steuern wir das Café „Circus Lemke“ in der Selchowstraße an. Der Besitzer ist nicht wie der Wirt der „Berg-Klause“ in der Boddinstraße ein Raubtierdompteur, sondern ein Schauspieler. Früher hieß der Laden „Café Xenzi“ und wurde von rosa Damen mit Betonfrisuren frequentiert. Nun sind es schwarz gekleidete Studentinnen mit Smartphones und Pony, die über irgendwelche „Module“ reden. Auf der Toilette höre ich, wie jemand nebenan in der Kabine seinen Kumpel telefonisch um 500 Euro anhaut – mit der Begründung „Ich muß mir unbedingt einen neuen Lifestyle verpassen“.

Abschließend kehren wir noch in die von türkischen Romafrauen geführte „Cocktail Lounge Ikbal“ ein, ebenfalls in der Selchowstraße. Dies war mal ein „Tanzcafé“, nun stehen hier Spielautomaten, oben drüber hängen eine Anti-AKW-Fahne und ein Fernseher, in dem türkische Musikclips laufen. An zentraler Stelle wurde ein Schminkspiegel eingedübelt. Die Perlendekoration daran stammt aus der Fahrschule „Kubi“ nebenan, wo außerdem noch Perlen in „1001 Farben“ verkauft werden zum Selberherstellen von Modeschmuck.

Die Barkeeperin im „Ikbal“ wechselt den Musikkanal auf dem Fernseher: Es läuft ein Clip von Lady Gaga. Ein sinniger Abschluss für einen Kneipenrundgang, der mit Radio Gaga begann. Wir bestellen Kaffee.

 

Studentenpärchen im Schillerkiez trinkt auf das zukünftige Kind, im Hintergrund Lenin (vom Vormieter)

 

Marzahner Verwandlungswünsche

Am 15. April trafen sich im  Erholungspark Marzahn hunderte von „Mangamädchen“ und „-jungs“, wie wir gerade noch rechtzeitig erfuhren. Nichts wie hin. Der Park ist sowieso immer mal wieder für Überraschungen gut. Er  wurde von den Marzahnern  selbst mitgestaltet. Es war eines der  letzten  Aufbaustunden-Projekte der DDR. Doprt wurden dann z.B. Balkonkulturen gezeigt, von denen die Marzahner sich inspirieren lassen sollten, daneben gab es  wahre Dalien-, Cosmea- und Verbenen-Dschungel, die kühnste Datschen- Träume vorwegnahmen. Das alles hat man nach der Wende sukzessive  abgeschafft, dafür punktet der Park seit einigen Jahren mit den „Gärten der Welt“. Dazu wurde zunächst der Park des 1979 entstandenen Großbezirks Marzahn erweitert: mit einem 2,5 Hektar großen chinesischen „Garten des wiedergewonnenen Mondes“. Diesen finanzierte  teilweise Berlins Partnerstadt Peking, geplant wurde er vom dortigen „Institut für klassische Gartengestaltung“. Den dazugehörigen Teepavillon stiftete  VW-Shanghai.

Im Katalog werden die chinesischen Maurer und Tischler sowie Felsen- und Wasserfallarrangeure namentlich aufgeführt. Eingefädelt hatte diesen Garten der Westberliner Filmproduzent und Ostasien-Enthusiast Manfred Durniok.

Es folgten der japanische, koreanische, balinesische und arabische Garten, die ebenfalls nichts zu wünschen übrig lassen, sowie die etwas enttäuschenden christlichen, Renaissance- und Märchen-Gärten. Weitere sind „angedacht“. Erst einmal gilt es hier jedoch, die aktuelle Attraktion des Parkts zu würdigen: Die alljährlich während des „Kirschblütenfests“ der Koreaner dort sich versammelnden „Cosplayers“.

Bei diesen „Kostümspielern“ handelt es sich überwiegend um junge Mädchen, die mehrheitlich aus Marzahn/Hellersdorf kommen und sich – orientiert an den „Characters“ japanischer Manga-Comics und -Filme – phantasievoll herausgeputzt haben. Am 15.April veranstalteten sie Nachmittags im Park einen großen „Cosplay“-Wettbewerb, aber schon vorher wurden die Mädchen von Photographen, Pädophilen und besorgten Eltern geradezu umlagert. Man sah Engel mit und ohne Flügel, Sex Dolls in Pornoposen, Geishas (mit und ohne Reisbäuerinnenhüten), Schulmädchen, Krankenschwestern, Lolitas noch und nöcher, Cheerleader, weibliche Batmen, Supermen (mit und ohne Penisschutz), Transformer, Kellnerinnen, Teufelchen, Astronauten, Anzugträger, Harlekine, Zauberer, Nixen, Blumenmädchen, Cinderellas in Reifröcken, niedliche Peter Pans und Robin Hoods, rote, gelbe und schwarze Hexen, regenbogenfarbene Spacegirls mit Tigeraugen, Schmetterlinge mit rosa Augen, Kobolde, Raben, Bären, Wölfe, Matrosen, Mädchen in Hochzeitskleidern, mit großen Hüten, mit einer Puppe im Arm, in Bikinis aus Tüll, in Röcken aus Spielkarten, in Phantasieuniformen, Petticoats, in Latex und Leder, mit Spock-Ohren, Hörnern oder Antennen und Perücken in allen Farben.

Die meisten orientierten sich an den Manga-Characters, einige an US-Comicfiguren und andere an ihrer eigenen Phantasie. Nicht wenige hatten Utensilien dabei, die sie brauchten, weil sie ihren „Charakter“ ändern konnten – z.B. mal Frau und mal Kind, mal Hightechkämpferin und mal Naturgirl  sein konnten – wenn die Situation es zum Überleben erforderte.

Für die wenigen männlichen „Cosplayers“ gibt es nur ein paar Characters: Soldaten, Krieger oder Monster, was wahrscheinlich daran liegt, dass die meisten Mangazeichner junge Männer sind, die am Liebsten Mädchen (mit großen Augen) malen. Dafür sieht man etliche Mädchen in männlichen Verkleidungen und nicht wenige mit großem Mut zur Hässlichkeit, die meisten haben sich jedoch einfach nur süüß und rosa aufgebrezelt. Einige schüchterne kommen mit Koffer und ziehen sich vor dem Paerkeingang um und alle photographieren sich ständig gegenseitig. Aber zwischendurch gehen sie auch alleine oder in kleinen Gruppen durch die „Gärten der Welt“. Die selben Cosplayer-Treffen inklusive Wettbewerb gibt es seit einigen Jahren auch im japanischen Garten in Düsseldorf, auf der Leipziger Buchmesse und ab Herbst auch auf der Frankfurter Buchmesse. Ein Autor der  Berliner Zeitung beobachtete: „In jedem Darth Vader steckte ein süßer Gentleman, in jeder blaulippigen Vampir-Madonna eine schüchterne Pubertierende.“ Das hielt die Leipziger Messeleitung aber  nicht davon ab, vorsichtshalber eigene „Waffengesetze“ zu erlassen: „Peitschen durften nicht länger als 1,50 Meter sein, die Stacheln der Halsbänder nicht länger als 5 Zentimeter; Spielzeugpistolen aus Plastik und Schwerter und Lanzen aus Holz oder Pappmaché mussten eindeutig als Nachbauten erkennbar sein.“

Im Volkspark Marzahn ist man nicht so pingelig. Die dortigen Verantwortlichen hatten auch nichts dagegen, dass die Jungs die Kirschbäume kräftig schüttelten, damit man ihre Mangamädchen in einer Wolke aus Kirschblütenblättern photographieren konnte. Für die Verpflegung sorgten ein Dutzend koreanische Gastronomen und ihre Angestellten, die sich z.T. ebenfalls mangamäßig verkleidet hatten. Dieses Spiel mit fremden Identitäten und Doppelidentitäten, bei der die Mädchen wieder mal weit vorne liegen, ist auch eine Einübung in die von Richard Sennett sogenannte Flexible Gesellschaft, die zum Einen „vollständig auf Abbilder“ (H.Farocki) und zum anderen auf „schiere Hochstapelei“ (A. Salm-Schwader) hin organisiert ist. Die Zeitschrift der Berliner Kulturwissenschaftler „Ilix“ hat sich in ihrem letzten Heft bereits dieses Themas – „Mimesis“ – angenommen. Andere, wie die Literaturwissenschaftlerin  Eva Horn sprechen  von einfacher und „doppelter Mimikry“ – im Zusammenhang mit den englischen Geheimagenten im Orienteinsatz, die sich als Araber verkleideten – und bewaffneten. Andersherum werden dort gerade alle eingeborenen Gewaltherrscher gestürzt, die sich als Okzidentalen verkleideten und dafür von dort auch ihre Bewaffnung bekamen. Ob die Wunderwaffen der Mangamädchen gegen diese Verwandlungskünstler eine Chance hat, bleibt abwarten.

 

„Mal sehn, was sich der Iwan heute wieder an Schikanen ausgedacht hat…“/Friedenau-Steglitz

 

Den Alleebäumen danken

Ein Kriminalbeamter, der für Versicherungsbetrügereien im Großraum Berlin verantwortlich ist, erzählte mir in Moabit nach einer Gerichtsverhandlung, daß er neulich einen ganzen „Familienverband“, bestehend aus ehemaligen LPG-Mitarbeitern, am Stadtrand hochgehen ließ. Einer der Männer hatte laufend Unfälle mit Gebrauchtwagen fingiert, indem er mit 40 Kmh gegen irgendwelche Alleebäume gefahren war – seine Frau saß immer neben ihm. Vor Gericht erklärte sie: „Was mein Mann aushält, das halte ich auch aus!“ Der Kriminalbeamte meinte: „Ob Sie es glauben oder nicht, den Alleebäumen ist nie was passiert. Die sind robust – besonders die im Osten, an denen seit der Wende fast täglich junge Leute mit ihren Westautos verunglücken. Die Alleen sind bereits voll mit Kreuzen und Mahnmalen. Damit habe ich aber direkt nichts zu tun: Das ist ja kein Versicherungsbetrug, wenn diese jungen Leute in ihren Toyotas sich mit überhöhter Geschwindigkeit um einen alten Alleebaum wickeln“.

Diese Alleen wurden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von immer mehr Herrschern in Europa angepflanzt – vor allem, damit ihre ihnen teuer gewordenen Soldaten im Schatten marschieren konnten. In Rußland ordnete Katharina die Große die Baumbepflanzung der Landstraßen an. Dort wurden dann auch die nach Sibirien Verbannten auf diesen Alleen transportiert  bzw. unter Bewachung in Marsch gesetzt. Und noch Jahrhunderte später gedachten die Verbannten, wenn sie im Ural ankamen, der großen Katharina für ihre fürsorgliche Alleenbeschattung – mit einem  Dankesgebet.

In Preußen ließ Friedrich Wilhelm I. im großen Stil Alleebäume anpflanzen. Während sie jedoch im Westen nach und nach den Straßenverbreiterungen, – begradigungen und Sicherheitserwägungen (zuletzt vor allem des ADAC) zum Opfer fielen, blieben sie im Osten – wie so vieles – nahezu unverändert erhalten, ja, sie erholten sich dort sogar von den letzten Kriegsschäden.

Im Berliner Raum wurden die Bäume dafür von den 1949 enteigneten „Späthschen Baumschulen“ geliefert. Diese Firma war 1720 von einem Christoph Späth gegründet worden, zunächst als Obst- und Gemüsegärtnerei in Kreuzberg. Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts wurde daraus dank der preußischen Alleebaum-Programme die „größte Baumschule der Welt“ – mit zuletzt 800 Mitarbeitern. Zu DDR-Zeiten waren es noch 250.

Nach der Wende bekam der Alteigentümer Dr. Manfred Späth, ein Beamter, der einer Erbengemeinschaft vorstand, seinen Familienbetrieb zurück, der inzwischen noch einmal weiter an den Stadtrand – zwischen Britz und Johannisthal – gerückt war, wo er den Ostberlinern fast den Botanischen Garten in Steglitz ersetzte. Zumal der 1877 angelegte Schaugarten der Späthschen Baumschulen dann auf fünf Hektar zu einem Arboretum ausgebaut wurde, den die Humboldt-Universität verwaltete.   Zwar gibt es in Pankow auch noch einen „Botanischen Volkspark“, aber den kannten nur wenige, er war nach dem Krieg zunächst zur Zentralstation der Jungen Naturforscher „Walter Ulbricht“ erklärt worden und wurde dann ebenfalls der Humboldt-Universität zugeschlagen. Nach der Wende kam er in die Verwaltung des Bezirks, der die dortigen Hochgewächshäuser wegen Baufälligkeit schließen ließ, jetzt will man sie jedoch renovieren – und den Volkspark überhaupt attraktivieren.

Eher das Gegenteil passierte mit den „Späthschen Baumschulen“: Erst einmal mußten sie wegen des Ausbaus der Stadtautobahn A 113 einige Hektar abgeben, wobei wegen der Abgase jetzt auch die Qualität der Jungbäume in unmittelbarer Nähe der Autobahn gefährdet ist. Es ist deswegen vor Gericht noch eine Entschädigungsklage gegen den Senat anhängig. Außerdem wurden aber auch noch die kommunalen Dienstleistungen in Berlin immer teurer, so daß der Betrieb jetzt z.B. allein für die Straßenreinigungsgebühren vier mal so viel bezahlt wie für die Pacht seiner Flächen am Treptower Baumschulenweg, wo die Baumschule insgesamt 36 Hektar bewirtschaftet.

Der Umzug der „Späthschen Baumschulen“ nach Ketzin ist mit einem weiteren Personalabbau verbunden – 16 Mitarbeitern wurde bereits gekündigt. Man will jedoch die Firmenzentrale in Treptow belassen, auf den frei werdenden Flächen soll ein Pflanzengroßmarkt – „mit bis zu 100 neuen Arbeitsplätzen“ – entstehen.

Die Alleebaum-Schulen sind heute ähnlich arbeitsteilig organisiert wie das staatliche Schulsystem: In der Grundstufe wird das Saatgut vermehrt und Jungpflanzen produziert. In der Mittelstufe bezieht man von überall her Jungware, die dann – „halbfertig“ – mit einem Stammumfang von 8-10 Zentimeter und einer Höhe von 2-3 Metern an die Oberstufe verkauft wird. Zu diesen so genannten Hochbaumschulen zählt auch der Späthsche Betrieb, der seine Ware in Deutschland, Holland und Kanada einkauft. Oftmals handelt es sich dabei um Bäume – Ahorn und Wildkirsche beispielsweise, die man als „Unterlage“ mit einer Okkulation veredelt hat, wobei dann nur noch dieser aufgesetzte Trieb kultiviert wird. Als Absatzmarkt ist dem einstigen preußischen Monopolisten Späth bloß noch Berlin und Brandenburg geblieben, aber man will sich – bedrängt von den westdeutschen und holländischen Baumschulen und bedroht von den Sparmaßnahmen der Kommunen – wenigstens in Ostelbien weitere Marktanteile sichern.

Seit einiger Zeit breitet sich in den US-Staaten Kalifornien und Oregon das „Eichensterben“, dort „Sudden Oak Death“ genannt, aus. In den Achtzigerjahren kam es bereits in Berlin zu einem „Eichensterben“. Dieses war jedoch der Frosteinwirkung geschuldet, vor allem an den Wurzelanläufen, während die kalifornische Eichen-Krankheit von einem Pilz namens „Phytophthora ramorum“ hervorgerufen wird, den man hierzulande vor allem bei den Tomaten als „Kraut- und Braunfäule“ und bei der Kartoffel als „Kraut- und Knollenfäule“ kennt. Im 19. Jahrhundert löste er in Irland die „Große Hungersnot“ aus, die wiederum eine Massenauswanderung der Bevölkerung nach Amerika zur Folge hatte – und in der englischen Kolonie Irland selbst einen erstmaligen massenhaften Einsatz von unsinnigen ABM-Projekten.

In Kalifornien trat der Pilzbefall zuerst in der Gegend von Big Sur bei den so genannten „Showcase Trees“ auf, so nennt man dort die besonders schönen und großen Bäume auf den Grundstücken der Milliardäre, die den eigentlichen (Millionen-)Wert ihrer Grundstücke ausmachen. Inzwischen sterben aber auch Blaubeer-Sträucher, Philodendron, Lorbeerbäume, der großblättrige Ahorn und zwölf weitere Pflanzenarten an Phytophthora ramorum. Zudem breitet sich die Pilzseuche trotz Quarantänezonen immer weiter nach Osten und Norden aus. Im September befiel sie bereits die ersten Redwood- und Tannen-Kulturen in den Hauptanbaugebieten der Weihnachtsbaum-Industrie, die allein einen Umsatz von mehreren Milliarden Dollar jährlich verzeichnet. Zwar arbeiten die US-Biologen fieberhaft an einem Gegenmittel, aber bisher noch ohne Erfolg. Schon stehen etliche kalifornische Baumschulen wegen der zunehmenden Zahl von Verkaufsbeschränkungen für die Bäume aus ihrer Region vor dem Ruin. Was die deutschen Importe aus Kanada betrifft, so besteht nach Auskunft das Berliner Pflanzenschutzamtes noch keine akute Gefahr. Dafür würden die Pflanzenbeschau-Richtlinien der EU bzw. die Pflanzenbeschau-Verordnung sorgen, die gegebenenfalls Einfuhrbeschränkungen vorsehen. Es werden bei den Importen auch schon Kontrollen im Hinblick auf den „Sudden Oak Death“ durchgeführt – und bei bestimmten Herkünften zusätzliche Unbedenklichkeitsbescheinigungen eingefordert. Jeder Baum- oder Pflanzensamenimporteur braucht sowieso ein Internationales Pflanzengesundheitszeugnis für seine Ware, und, wenn sie aus dem Inland bzw. dem EU-Binnenmarkt kommt, einen „Pflanzenpaß“ für jeden Baum und jeden Strauch. Mit diesem Instrumentarium meint man, auch fürderhin die deutschen Alleebäume vor dem tödlichen Pilzbefall aus Amerika bewahren zu können. Alle diesbezüglichen Fäden laufen bei der Biologischen Bundesanstalt in Braunschweig zusammen, d.h. in deren Abteilung für nationale und internationale Pflanzengesundheit, die darüber laufend auf ihrer Homepage „www.bba.de“ berichtet.

Auch die „Späthschen Baumschulen“ haben eine eigene Homepage – für ihr umfangreiches Alleebaum-Angebot. Beim „Sudden Oak Death“ verläßt man sich jedoch einstweilen noch auf die Pflanzenschutzämter. In den USA befürchten einige Biologen indes, daß die Pilzseuche vielleicht erst in etlichen Jahren wirklich flächendeckend ausbricht, so wie bei der Kastanienkrankheit und der holländischen Ulmen-Krankheit, die 50 Jahre brauchten, um auszubrechen. Der „Sudden Oak Death“ wurde vor sieben Jahren erstmalig beobachtet. Aber bevor noch die ersten Pilzsporen hier gesichtet werden, hat schon ein allgemeines Baumbangen eingesetzt, das  sich hier und da sogar schon gegen die staatlichen Umweltschützer formiert. Anfang Oktober z.B. am Stuttgarter Platz in Berlin, wo eine Bürgerinitiative zusammen mit der Polizei in letzter Minute das Fällen von drei Bäumen verhinderte, die zuvor von der grünen Stadträtin zu einem „Sudden Death“  verurteilt worden waren, weil sie angeblich wie aus heiterem Himmel ihre „Standsicherheit“ aufgegeben hätten. Insgesamt geht es dort um etwa 100 Bäume – die der Standortverlegung des Bahnhofs im Weg stehen. Speziell um den Erhalt der Alleebäume kämpft auch die Vereinigung der deutschen Landesdenkmalpfleger. In ihrem neuesten Bericht (Nr.8) druckten sie einen  „Alleenerlaß“ aus dem Jahr 1841 ab, in dem der preußische König sich beklagte, dass so viele Alleebäume überflüssigerweise bei Straßenbaumaßnahmen gefällt werden. Er befahl deswegen, „daß Lichten und Aushauen prachtvoller Alleen künftig“ zu unterlassen. Die Landesdenkmalpfleger merkten dazu an: „Möge das königliche Vorbild, welches offensichtlich im 19. und frühen 20. Jahrhundert Schlimmeres verhindert hat, Richtschnur auch für das 21. Jahrhundert sein“.

 

Rundum im Grünen – mit dem neuen Wohnmobil/Buckow-Neukölln

 

Schwangere Austern

„Von euch kommt also dieses dämliche Wort ,Schwangere Auster‘ für die einstürzende Kongreßhalle?!“ meinte ich vorwurfsvoll zu Pit, nachdem der sich uns „Neuberlinern“ gegenüber als „geborener Berliner“ positioniert hatte – „Westberliner, um genau zu sein“. Das mit der „Schwangeren Auster“ wollte er jedoch nicht auf sich sitzen lassen:

„Das Wort hat sich der Springer-Journalist Achim Woltershagen 1967 ausgedacht und vor Abdruck erst mal von den Ausflugsdampfer-Kapitänen, die auch Stadtbilderklärer waren, testen lassen. Und Woltershagen war gar kein Berliner, er stammte aus Castrop-Rauxel.“ „Das ist das lateinische Wort für Wanne-Eickel,“ klärte mich der Bochumer Jens auf. „Und was ist mit „Hungerharke“ für das Luftbrückendenkmal, „Goldelse“ für die Siegessäule und „Hohler Zahn“ für die Gedächtniskirche, oder im Osten – mit „Nuttenbrosche“ für den Alexanderplatz-Brunnen und „Erichs Lampenladen“ für den Palast der Republik“?“ versuchte ich Pit herauszufordern: „Willst du etwa behaupten, dass all diese Idiotismen aus dem Springer-Verlag kommen, um die Berliner für dumm zu verkaufen? Die Stadtbilderklärer-Kapitäne der Weißen Flotte gebrauchen diese Berlinismen übrigens noch heute.“

Pit holte weit aus: „Also erstens können wir echten Berliner gar nichts dafür, wenn irgendwelche Zugereisten sich neue Namen für irgendwas ausdenken – wie „Prenzlberg“ zum Beispiel, auch wenn es gruselig klingt. Und zweitens sind diese zum berüchtigen Berliner Witz gehörenden ,scherzhaften Bezeichnungen‘ im Osten und im Westen unterschiedlich entstanden. So wie man im Osten singt und im Westen nicht, hat man auch diese Witzworte dort aus dem proletarischen Dialekt über Kabarettisten und Brigadefeiern verbreitet, das fing schon in den Zwanzigerjahren an – mit dem Liedgut ebenso wie mit den neuen Namen. Während im Westen spätestens mit den ,Rosinenbombern‘ damit Schluß war. Die dann nach dem Mauerbau hinzugezogenen Gastarbeiter und Studenten hatten für solche Berlin-Scherze sowieso keinen Nerv. Während man im Osten sogar die preußische Tradition pflegte, gab man im Westen die Preußen-Feiern schnöde einem Event-Manager in die Hand. Und während man dort den Berliner Dialekt geradezu entwickelte, war er hier richtiggehend verboten.

Noch 1993 lehnte die Polizei eine Bewerberin aus Hellersdorf ab mit der Begründung, sie würde zu sehr Berlinern.“ Das türkisch-arabische Deutsch wurde dagegen neulich in den Rang einer eigenen Sprache erhoben. ,Isch mach disch urban,“ das ist keine Gentrifizierungsformel von Wowereit, sondern Kiezsprech: ,Ich schlag dich gleich urbankrankenhausreif‘. Die Frage ist nun: Wird sich dieses neue Westberlinische oder das alte Ostberlinern durchsetzen? Der Springerstiefelverlag spielt dabei so gut wie keine Rolle mehr.“ Ich fragte zurück: „Wie schätzt du denn die Initiativen deiner Landsleute, der Eingeborenen Bernd Kramer und Thomas Kapielski, ein, ihre alte Westberliner Kneipe ,Zum Goldenen Hahn‘ als Weltkulturerbe anerkennen zu lassen? Die angeblich unterm Funkturm geborene Bühnenbildnerin Jeanette Schirrmann will sogar ganz Westberlin von der UNESCO anerkannt bekommen. Weil, so sagt sie, die Westberliner seit der Wende vom Aussterben bedroht sind und ins Abseits gedrängt werden. Is da was dran?“

„Absolut!“ meinte er. Wir Nichtberliner feixten. „Aber sie haben keine Chance,“ fuhr er fort. „Wie die Ostler in den Innenstadtbezirken müssen die Westberliner nun den Neuberlinern weichen. Die Deutschen aus Kreuzberg und Neukölln nach Marzahn und die Türken und Araber nach Spandau. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen, so ungefähr.“ „Das ist aber fies,“ seufzte Jens. „Die Bohème wird im Alter selber fies – reaktionär. Für den Ethnologen Lindner ist das geradezu ein Entwicklungsgesetz – so wie die Gentrifizierungsschübe jetzt,“ entgegnete Pit ungerührt.

 

Funkturm auf dem Messegelände – errichtet anläßlich der 3. Berliner Funkausstellung 1926

 

Pharmakologisierung des Elends

In den Berliner U-Bahnen hängen immer öfter Werbeplakate für Medikamententests. Eine Werbung war von einer Bio-Firma, die Tester für ein neues Mittel gegen Depressionen auf Johanniskraut-Basis suchte. Eine andere von einer Firma, die im Auftrag eines namhaften Arzneimittelherstellers laufend neue Versuchspersonen rekrutierte. Bei der dritten ging es um das Testen eines neuen Empfängnisverhütungsmittels, und bei der vierten suchte BayerSchering „junge Frauen, Nichtraucherinnen, nach der Menopause“ für einen Medikamententest. Alarmiert wurde ich durch die fünfte Werbung – und den Satz: „Testen Sie schon heute die Medikamente von morgen!“ Da wird der in größter Geldnot sich für solche Experimente hergebende Mensch auch noch für dumm verkauft: Nehmen Sie schon heute etwas kostenlos ein, was sich andere erst später leisten können – das klingt nach Trendsetter.

Wer stellt sich für solche Menschenversuche zur Verfügung? Bereits in den Siebzigerjahren suchte der Westberliner Pharmakonzern Schering immer wieder Leute, die neue Medikamente testeten. In meinem Bekanntenkreis meldeten sich vor allem „Drogenexperten“ zu solchen – gut bezahlten – Versuchen. Einmal, weil sie immer neugierig auf neue Drogen waren und zum anderen, weil sie wegen dieses „Hobbys“ ständig in Geldnot waren. Es ging ihnen dabei um neue psycho-physische Erlebnisse, auch wenn die jeweilige Scheringdroge nicht dafür, sondern eher dagegen gedacht war. Sie wußten sehr wohl, dass „es ein Unterschied ist, ob ein kreativer Mensch, der ein künstlerisches oder wissenschaftliches Ziel verfolgt, Drogen zu Hilfe nimmt, um sein Ziel zu erreichen, oder ob ein Mensch über den Umweg der ärztlichen Verschreibung eine Substanz nimmt, die von Sozialingenieuren der Pharmaindustrie entwickelt wurde, um ihn in eine Stimmung zu versetzen, die ihm hilft, die Realität zu verleugnen beziehungsweise zu verdrängen,“ wie der Drogenaufklärer Günter Amendt meinte.

Man weiß inzwischen, dass die meisten neuen „Wirkstoffe“ nicht auf bestimmte Krankheiten hin entwickelt werden, sondern diese mittels Tier- und Menschen-Experimente erst noch finden müssen. Das erfolgreichste Mittel in dieser Hinsicht war das US-Medikament „Paxil“ – für das man nach seiner Herstellung den neuen Begriff „Sozialangst“ erfand, gegen das diese Droge wirken sollte. Der Pharmakonzern half dazu Selbsthilfegruppen von „Sozialverängstigten“ zu gründen. Der für das Produkt verantwortliche Direktor bei Glaxo SmithKline verkündete stolz: „Jeder Anbieter träumt davon, einen unbekannten Markt zu entdecken und zu entwickeln. Genau das gelang uns bei der Sozialangst“.

In der Le Monde Diplomatique berichtete der US-Philosoph Carl Elliott über die „Riesengeschäfte“ mit den „klinischen Studien“, in denen man neue Medikamente an Menschen testet. Sie werden mehr und mehr von aus den Konzernen outgesourcten Privatfirmen erstellt. Und diese rekrutieren ihr Menschenmaterial vornehmlich in Osteuropa. Unlängst flog in Miami die „klinische Studie“ der hochgelobten Firma „SFBC International“ auf, die illegale Emigranten zu Testzwecken in einer „Klinik“ untergebracht hatte, die aus einem heruntergekommen Billighotel bestand.

Der Anthropologe Kaushik Sunder Rajan erforschte in seinem Buch „Biokapitalismus“ bereits 2009, dass und wie westliche Pharmakonzerne ihre neuen Medikamente in Indien testen. Dazu lief kürzlich auch eine Reportage im WDR: „Die Story:Pharma-Sklaven“.

Bei den Westberliner Medikamententestern aus meinem Mittelschichts-Freundeskreis kann man vielleicht noch von „Freiwilligkeit“ reden – nicht jedoch bei den indischen Arbeitslosen, die zudem meist gar nicht darüber aufgeklärt werden, dass an ihnen ein neues US-Medikament getestet wird. Die Pharmakonzerne und ihre Helfershelfer, die sie als „Versuchskaninchen“ rekrutieren, werden immer dreister: In den USA bezeichnen sie diese Testpersonen nun sogar als „Helden der Medizin“. Und Bioethiker des „National Institute of Health“ verkündeten, „im Grunde sei die Teilnahme an klinischen Tests für jeden Staatsbürger eine moralische Pflicht.“ Kaushik Sunder Rajan meint dagegen, die indischen Arbeitslosen, die US-Medikamente testen, seien damit von (Wirtschafts-) „Opfern zu bloßen Objekten“ herabgewürdigt worden, und von „Freiwilligkeit“ könne keine Rede sein.

In Deutschland wurden zwei Kriminalromane veröffentlicht, die sich mit diesem Thema ziemlich kenntnisreich auseinandergesetzen: im „Aachen-Krimi“ von Markus Vieten „Nebenwirkung“ geht es um Ärzte, die sich von einem Pharmahersteller bezahlen ließen, um an ihren Patienten Medikamente zu testen, „die noch nicht zur klinischen Erprobung freigegeben worden waren“. Der Autor ist Nervenarzt, und Lektor sowie Übersetzer medizinischer Fachliteratur. Im Krimi des „stern“-Journalisten Michael Seufert „Die Pillendreher“ geht es um das gesamte Pharma-Netzwerk, wobei sich der Autor zum Einen auf einen Hamburger Pharmakonzern und zum Anderen auf das Berliner Amt, das für die Zulassung bzw. dem Verbot von Medikamenten zuständig ist, konzentriert hat, d.h. darauf, wie dieses mit allen möglichen Tricks und Bösartigkeiten von jenem ausgetrickst wird. Beide sind Ermittler – gegeneinander.

Unter den Dokumenten, die Wikileaks zuletzt veröffentlicht, befinden sich auch zwei, die die kriminellen Geschäfte von Pharmakonzernen betreffen. In der FAZ hieß es dazu: „Der US-Pharmakonzern Pfizer soll, so scheinen die Wikileaks-Dokumente zu belegen, Druck auf die Justiz Nigerias ausgeübt haben, um einen Prozess wegen umstrittenen Medikamentenversuchen zu verhindern. Und der deutsch-israelische Arzneimittelkonzern Ratiopharm sah sich mit dem Vorwurf der Bestechung von Ärzten konfrontiert, nachdem sich bei Wikileaks Teile der Ermittlungsakten fanden…“

Zu der o.e. Dokumentation des WDR schrieb die Süddeutsche Zeitung am 10.9.2012: Weil die indischen Ärzte an den Tests ausländischer Pharmakonzerne mehr als durch ihre Tätigkeit verdienen, verordnen sie ihren (nicht selten analphabetischen) Patienten gerne solche Medikamente, die nur für den „Test-Gebrauch“ zugelassen sind – ohne dass sie ihre Patienten darüber aufklären. Der deutsche Pharmakonzern Bayer mußte 2011 in fünf Fällen Entschädigungen zahlen, weil fünf Patienten, die ein Bayer-Medikament getestet hatten, daran gestorben waren. Ihre Angehörigen bekamen 4000 Euro pro gestorbener Person.

Die Konzerne bedienen sich bei der Rekrutierung von „Versuchskaninchen“ und der Durchführung sowie Auswertung der Tests u.a. der amerikanischen Firma „Quintiles“ – einer weltweit operierenden „Contact Research Organization“ (CRO), die auf ihrer Internetseite damit wirbt, dass es in Indien „große Bevölkerungsgruppen mit weit verbreiteten oder auch speziellen Krankheitsprofilen gibt,“ was eine „schnelle Patientenrekrutierung und einen schnelleren Studien-Start“ ermögliche. Zwischen 2006 und 2010 war „Quintiles“ an mehr als 1500 Studien mit insgesamt 750.000 Patienten beteiligt – und half so, 48 der weltweit 50 bestverkauften Medikamente mit auf den Gesundheitsmarkt zu bringen, wie es im Internetauftritt des Konzern heißt.

In ihrem WDR-Film werfen die Regisseure Benjamin Best und Rebecca Gudisch dem deutschen Pharmakonzern Boehringer Ingelheim vor, einem Inder, der an chronischem Lungenleiden litt über seinen Arzt ungefragt aber kostenlos im Rahmen einer Studie nur mit Placebos behandelt zu haben – statt wie versprochen mit dem Mittel Formoterol. Ein ähnlicher Vorwurf richtet sich an den US-Pharmakonzern Eli Lilly, der sein Herzmittel Prasrugrel in Indien testen ließ, wobei ein Patient starb. Auch in diesem Fall behaupten seine Angehörigen, dass er nicht darüber aufgeklärt wurde, an einem Medikamententest teilzunehmen.

Der indische Medizinjournalist Chandra Gulhati führt das auf das Eindringen des Neoliberalismus im Gesundheitswesen zurück: „Alle machen Geld: die Pharmafirmen, der Arzt, das Krankenhaus. Auf Kosten des Patienten.“ Genau aus diesem Grund würden die ausländischen Pharmakonzerne ja nach Indien kommen. „Das Land gilt als besonders gefragt für klinische Studien, unter anderem, weil sich die medizinischen Ergebnisse leicht auf Europäer und Nordamerikaner übertragen lassen…Für einen Test braucht man mehrere tausend Menschen, deshalb ist das auch der teuerste Teil der Medikamentenentwicklung,“ schreibt der Tagesspiegel, der sich dabei auf eine Studie der Universität Hongkong beruft. Weiter heißt es in der Zeitung: „Viele Menschen in Indien nehmen womöglich in Kauf, dass sie bei solchen Tests sterben könnten. Der Zeitung ‚India Times‘ zufolge starben im vergangenen Jahr laut Gesundheitsministerium 668 Menschen bei Pharmatests, während es 2007 noch 137 waren. Internationale Konzerne wie Pfizer, Merck oder Bayer führen die Studien durch. Bei klinischen Tests des Leverkusener Konzerns, dessen Pharmasparte in Berlin ansässig ist, sollen innerhalb von vier Jahren 138 Versuchspersonen ums Leben gekommen sein. Allerdings müssen die Todesfälle nichts mit dem Medikament oder dem Test zu tun haben. Oft sterben Teilnehmer an der Vorerkrankungen wie z.B. Krebs. Bayer bestätigt das nicht. Als Antwort auf Fragen nach Todesfällen in Indien verweist der Konzern pauschal auf Publikationen in medizinischen Fachjournalen und Datenbanken. Laut ‚India Times‘ gab es 2010 exakt 22 Todesfälle, bei denen ein Zusammenhang mit Nebenwirkungen der getesteten Medikamente erwiesen ist. Die industriekritische Organisation Coordination gegen Bayer-Gefahren (CBG) bezweifelt die Angaben: ‚Da die Daten auf Angaben der Pharmafirmen basieren und keine unabhängigen Kontrollen durchgeführt werden, dürften die tatsächliche Zahlen weit höher liegen‘.“ CBG kritisiert zudem: „Die Testpersonen sind überwiegend extrem arm und analphabetisch; in vielen Fällen werden Einverständniserklärungen von Dritten unterzeichnet.“

Der Hintergrund für diese Tatbestände ist die wachsende Armut. Die von Kaushik Sunder Rajan untersuchten Patientengruppen lebten vorwiegend in Bombay: Es sind ehemalige Textilarbeiter. Seitdem man in der einstigen Textilmetropole Indiens alle Fabriken geschlossen oder in den ärmeren Süden verlegt hat, bleibt für viele Textilarbeiter fast nur noch die Teilnahme an Medikamenten-Tests, um Geld zum Leben zu verdienen. Von einer ähnlichen Verarmung scheinen die Pharmakonzerne auch hierzulande auszugehen, wenn sie Anzeigen wie die eingangs erwähnten in den Berliner U-Bahnen aufhängen lassen. Für die Armen, die positiv darauf reagieren, gibt es inzwischen ein Internetseite, um ihnen die Angst zu nehmen. Dort heißt es: „Unser Probanden Portal informiert über Medikamententests, von der Anmeldung über die Studienteilnahme bis hin zur Nachuntersuchung. Medikamententests erlebten bisher ein Schattendasein, und wirkten deshalb auf viele Außenstehende als unseriös, manche halten oder hielten diese sogar für moralisch unvertretbar. Mit dieser Dokumentation wollen wir etwas Licht in das Leben von einem Medikamenten Tester bringen: 1. Die Teilnahme an Medikamentenstudien kostet nichts…Die einzigen Kosten die für die Arzneimitteltester anfallen können und dürfen, sind Anfahrtskosten (Erscheinen zur Voruntersuchung, Teilnahme an der Studie), die z.B. bei einer mehrwöchigen und blockweise durchgeführten Studie „mehrmals“ anfallen können.“ So weit sind wir also schon: dass man als Versuchskaninchen nicht nur mit erheblichen Gesundheitsschäden, sondern auch mit mehrmaligen „Anfahrtskosten“ dahin rechnen muß.

 

 

Fit bleiben ist heutzutage alles/Dauercamperareal auf dem Zeltplatz Kladow

 

Kunst und Wissenschaft verwischen

Das ist sozusagen Programm – im Haus der Kulturen der Welt/im Tiergarten. „Seit einigen Jahren scheint es ein neues Lieblingsthema zu geben – die Verbindung von Wissenschaft und Kunst,“ schreibt Michael Hagner auf der Internetseite der Technischen Hochschule Zürich . Diese  „Verbindung“ wird vornehmlich „ökologisch“ gesucht. Inzwischen gibt es in Kalifornien fast nur noch „Eco-Artist“ und „Bio-Hacker“. Erstere widmen sich künstlerisch der Natur, letztere experimentieren mit dem „Leben“ anderer. Aus Kalifornien kamen Ende der Achtzigerjahre auch die ersten Öko-Künstler nach Westberlin – auf Einladung des DAAD: Helen Mayer und Newton Harrison, „the leading pioneers of the eco-art movement“ heute genannt. Sie nahmen sich hier nichts weniger als die „Revitalisierung der Spree“ vor, nebenbei hoben sie noch die „Trümmerflora“ in der „Topographie des Terrors“ ins allgemeine Bewußtsein.

Zur selben Zeit etwa zog auch die norwegische Mathematikerin Sissel Tolaas nach Westberlin, wo sie mit „Geruchskunst“ begann. Irgendwann kam  sie jedoch künstlerisch nicht mehr weiter,- und beschäftigte sich fortan wissenschaftlich mit Gerüchen. Seit 2006 ist sie Professorin für „unsichtbare Kommunikation und Rhetorik“ in Harvard. Derzeit arbeitet sie gerade im Auftrag einer Geschichts-Ausstellung in Berlin am „Geruch des Zweiten Weltkriegs“ – den man hier ja wegen der immer strenger werdenden Umwelt-Gesetze und -Verordnungen nicht einmal mehr punktuell riechen kann. Bei der Öko-Kunst, wenn sie nicht  Forschungsergebnisse schlicht visuell umsetzt, kann es sich um Rückgriffe auf (goethische) „Ganzheitlichkeit“ handeln, was sich im Mitbedenken der „Umwelt“ eines Kunstwerks bereits andeutete, es kann dabei aber auch – angesichts des „Visual Turns“ – darum gehen, neue Sinne für die Kunst zu mobilisieren.

Im Gegensatz zur eher stillen Geruchskünstlerin predigte der dänische Künstler Olafur Eliasson in Berlin geradezu die aktuelle Notwendigkeit von „Öko-Kunst“. Auch außerhalb: So  erfreute er z.B. die New Yorker mitten im heißen Sommer mit einem riesigen Wasserfall für 15 Millionen Dollar und an den Afrikanern, beginnend mit den Äthiopiern, die abseits eines Stromnetzes leben, verkaufte er solarbetriebene Leuchtdioden als Lampen. Auch Eliasson spricht von „Ganzheitlichkeit“, meint damit aber seine Verbindung von Geschäft und Kunstwerk.

In Kassel hat unterdes eine Semiamerikanerin  die halbe Kunst für die diesjährige „documenta“ ökologisch durchkuratiert:  Für die Postfeministin Carolyn Christov-Bakargiev gibt es „keinen  grundlegenden Unterschied zwischen Menschen und Hunden“. Das Feuilleton höhnte: „Documenta-Chefin will Wahlrecht für Erdbeeren“ (orf), „documenta ist auf den Hund gekommen“ (dorstener zeitung), „Heftige Kritik an documenta-Chefin“ (giessener zeitung). Die „Akzeptanz“ (derstandard) für so was ist also noch nicht durch. Aber flankiert werden derartige Kunststücke schon mal von immer mehr Wissenssoziologen und Kulturwissenschaftlern, die sich durch die Bank die Metaphern der modernen Biologie vornehmen, gleichzeitig aber auch die Pflanzen, Pilze und Tiere selbst – wobei sie diese aufgrund ihrer literarischen Neigungen jedoch nur allzu oft ebenfalls metaphorisieren.

Umgekehrt holen sich z.B. die Naturwissenschaftler immer öfter Künstler ins Haus. Die Zoologischen und Botanischen Gärten sowie die Naturkundemuseen, weil sie in Zeiten  sich „verschlankender“ Staaten um die „knappe Ressource Aufmerksamkeit“ beim zahlenden Publikum buhlen müssen – und dabei zunehmend auf „Topevents“ setzen.

So hat das Naturkundemuseum schon seit Jahren den Schauspieler Hans Zischler verpflichtet, regelmäßig eine schöne Veranstaltung – z.B. über Vilem Flussers Tiefseekrake oder die sexuelle Selektion nach Darwin – zu bestreiten. Der HUB-Professor Thomas Macho, Autor vieler Texten über Tiere und Kurator einer Ausstellung über Schweine, erweiterte  seine „Animal Studies“ mit einer Beteiligung an der neuen interdisziplinären Zeitschrift „Tierstudien“, deren erste Ausgabe sich mit „Animalität und Ästhetik“ befaßt. U.a. wird darin die  Arbeit mit Tieren als „künstlerische Agenten“ auf dem Theater, in der Architektur und in bildender Kunst  (in Kalifornien) thematisiert. „Es ist eine der angenehmsten Eigenschaften aller im Tierstudienheft versammelten Arbeiten, dass sie zuerst nach dem fragen, was man über das Tier weiß,“ schrieb der Biologe Cord Riechelmann in seiner Rezension.

Im „Prinzessinnengarten“ am Moritzplatz, einem der Öko-Vorzeigeprojekte in der Stadt, zeigte die Dänin Åsa Sonjasdotter eine Fruchtfolge lang Ausschnitte aus ihrer Kartoffelkunst: „The order of the potatoes“. Die zwei Betreiber des mobilen Gemüsegartens bezeichnen sich nicht mehr als Gärtner oder Manager, sondern als „Kuratoren“.

Inzwischen gibt es auch bereits  „Bienenkünstler“ und „Hummelkünstler“. Für so etwas ist auch die Kreuzberger NGBK immer mal wieder gut. Eingedenk der optimistischen These des Philosophen Vilem Flusser „Das wahre Zeitalter der Kunst beginnt mit der Gentechnik – erst mit ihr sind selbstreproduktive Werke möglich“ beschäftigte sich eine NGBK-Künstlergruppe halbwegs kritisch mit „Genkunst“, vornehmlich aus den USA, eine andere eher konstruktiv mit dem französischen Diktum „Tier-Werden,  Mensch-Werden“.

Kürzlich wurde in Berlin die erste Bio-Hackerin – im Think-Tank „Stadtbad Wedding“ – aufgestöbert: Lisa Thalheim. Die Informatikkünstlerin beschäftigt sich laut Süddeutsche Zeitung mit dem Auslesen von DNS-Profilen. „Natürlich würde auch Genmanipulation sie reizen, aber da steht, so lange ihr Labor keine Lizenz hat, das Gentechnikgesetz vor. Die Bewegung der Gentech-Heimwerker steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen“. Das gilt sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht, aber sie scharrt bereits mit den Hufen.

Während jedoch hierzulande ein „Gen-ethisches Netzwerk“ gegründet wurde (von dem ex-tazler Benny Härlin), das gegen solch eine „Lebenskunst“  argumentiert und mobilisiert, wird in den US-Universitäten  auf Sommercamps schon seit Jahren gentechnisch experimentiert, d.h.  – in Teams, die international im Wettbewerb (iGem) stehend sogenannte „BioBricks“ z.B. in Bakterien einbauen. Nicht selten wird dabei die „Öko-Kunst“ wissenschaftlich auf den (vielversprechendsten) Punkt gebracht: 2011 gehörte zu den umgesetzten „SyntheticBiology“-Projekten laut spiegel-online „der Abbau von Pestiziden in der Zelle, die Herstellung von Biotreibstoffen, Zellen, die sich selbst umbringen, aber auch zellinterne informationsverarbeitende Netzwerke“.

Anfang August lud die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften auf dem Alten Markt in  Potsdam zu einer öffentlichen Disputation über Kunst und Wissenschaft am Beispiel des Schleimpilzes „Neurospora crassa“, der sich währenddessen dort in einem gläsernen Pavillon in etwa 30 Petrischalen munter vermehrte – und dabei von weißen Pünktchen langsam über gelb-orange in schwarze Bänder überging.

Dieser eukariotische Einzeller ist weder Pflanze noch Tier und hat eine kosmopolitische Verbreitung. Er wird weltweit als Modellorganismus beforscht und ist  hierzulande als Brotschimmel bekannt. Er hat zwei unterschiedliche „Generationszyklen“, d.h. er kann sich sowohl durch Sporen über die Luft als auch durch geschlechtliche Kreuzung vermehren. 1958 erhielten zwei Genetiker für ihre Forschung mit ihm, die in der Formel „Ein-Gen-ein-Enzym“ gipfelte, den Nobelpreis. „The Revolutionary Neurospora crassa“ ist aber nicht nur ein „Almighty Fungi“, sondern auch ein Zwangscharakter, da er exakt alle 24 Stunden eine neue Generation von (schwarzen) Sporen produziert. Auf eine Verschiebung der  Zeitzone reagiert er gleich uns mit einem „Jetlag“, wie norwegische Chronobiologen herausfanden. In Bayern, wo die Gentechnik bereits vollends den Biologieunterricht ersetzt hat, wird den Abiturienten folgende Aufgabe gestellt:  „Entwickeln sie mithilfe des Materials die Syntheseschritte zur Aminosäure Methionin bei neurospora crassa.“ Mit dem „Material“ sind mittels  UV-Bestrahlung erzeugte Mangelmutanten gemeint, die auf Minimalnährböden verschieden gedeihen. Dabei geht es darum, deren künstlich erzeugte Stoffwechsellücken lückenlos zu beschreiben. Für so etwas bekam man in den Achtzigerjahren noch ein Biologiediplom an den Unis.

Die Berlin-Brandenburgische Akademie, die bereits mit der Akademie der Künste kooperiert, hatte zwar für ihre Potsdamer „ArtFakt“-Diskussion, die in einem sogenannten „Syntopischen Salon“ stattfand, eine Künstlerin – Michaela Rotsch – eingeladen, die sich in Form von „Installationen“ mit dem Schleimpilz beschäftigt; dazu war auch noch ein  bayrischer Systembiologe angereist… Ihr Gespräch drehte sich dann aber  weniger um Neurospora crassa: Was man zu welchem behufe alles mit ihm anstellt und was er möglicherweise davon hält, sondern eher um „zentrale Fragen“ von Wissenschaft und Kunst: Identität, Komplementarität, Kombinatorik, Umriß, Zwischenraum… Als das Publikum beim Begriff der Identität zu sehr ins menscheln kam, intervenierte  eine Physikerin mit dem „Satz der Identität in der Logik“ – A gleich A: „Da raus zu kommen,“ das sei doch „die wirkliche Aufgabe der Kunst.“ Eine Literaturwissenschaftlerin warf lächelnd leise ein: „…Ja, diese Begriffe.“ Ihr Mann, ein Kunsthistoriker, der das letzte Wort hatte, behauptete laut: „Pilze sind immer schon sehr nachdenkliche Leute.“

Mit diesem Begriff – „Leute“ – schien er sich sowohl auf das kleine Volk des Taigajägers Dersu Usala (von Wladimir Arsenjew und Akira Kurosawa)  an als auch auf das Volk der Pirahas in Amazonien (von Dan Everett) zu beziehen: Beide Völker benutzen das Wort für Tiere, Pilze und Pflanzen in ihrer Umgebung, um anzudeuten, dass sie die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Natur und Kultur nicht mitmachen wollen – und Abstraktionen abhold sind. Als Schlußwort im Syntopischen Salon war es leider nur utopisch.

(Als nächstes wird die dänische Künstlerin und Kartoffeltzüchterin Åsa Sonjasdotte in diesem Salon über ihre „Potato Perspectives“ referieren, dem Publikum hat die Kartoffel hoffentlich mehr zu sagen als der Schleimpilz. In dem Schweizer Buch „Der Kreuzberg ruft“ hat der Autor Till Hein die in Charlottenburg lebende norwegische Geruchskünstlerin Sissel Tolaas interviewt: Sie wechselte irgendwann von der Kunst in die Wissenschaft und lehrt heute Geruchskunst und -konstruktion in Harvard. )

 

Sind wir schon wieder so weit? Kneipenszene im Wedding 2011

 

Pankower Schichttorte: The Good – The Bad – The Ugly

Die Ersten: Das sind naturgemäß die Ältesten. Und die sind in der DDR noch ganz rüstig. Ihren Widerstandsgeist  während der Nazi-Periode retteten sie über die DDR-Zeit als eine Art „Schläfer“. Aber „seit 89“ gilt das Wort von der „nachholenden Entwicklung“ – den Umbau von der Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft, vom  Disziplinar- zum Überwachungs-Staat, von der Ökonomie zur Ökologie – auch für die Organisierung des Aufstands (das Meisterstück jedes Kommunisten). Viele der Ältesten leben in Pankow (weswegen Konrad Adenauer das „w“ immer mit aussprach). Und dort wurde nun kürzlich die „Mielke-Villa“ in der Stillen Straße von heute sogenannten Senioren besetzt. Die taz berichtete. Inzwischen findet man im Internet unter dem Stichwort „Pankow“ fast nur noch Berichte, Meinungen und Vordergrundinformationen über  die „Bude Unruh“, wie die von Rentnern okkupierte Immobilie  von der Süddeutschen Zeitung genannt wird. In dem „Begegnungszentrum“ treffen sich  regelmäßig  39 Arbeitsgruppen. Zwar sind nun tagsüber mehr Journalisten als Besetzer im Haus, aber diese werden dafür umso öfter interviewt. Denn „die Medien“ sind auf ihrer Seite: „Heute wohnen in diesem Winkel von Pankow vor allem Familien, die sich Energiesparhäuser und schicke Bungalows leisten können. Inmitten des neuen Reichtums steht das schlammbraune Haus, schreibt die SZ.“

„Das Gelände ist ein Schatz,“ wird dazu ein  Grundstücksmakler zitiert. Deswegen will das Bezirksamt die Immobilie auch verkaufen, wobei man nach Verteilung der Rentner auf andere Einrichtungen auch noch 60.000 Euro Unterhaltskosten jährlich einsparen würde. Schon begann eines der Ämter das Haus von unten nach oben zu räumen, indem es einen „Hausmeister“ vorschickte, der beim  Sportraum im Keller das Schloß auswechselte. Die Senioren boten dagegen einen „jungen Mann“ auf, der diesen halbwegs abwehren konnte.  „Eskalation! Jetzt haben die Senioren ein Problem: friedlicher Protest ja, Gewalt nein!“ frohlockte laut Märkischer Allgemeinen der stellvertretende Bezirksbürgermeister von Pankow – ein grüner Westler, dessen „bundesweite Resonanz auch mit der Bionade-Upperclass von Prenzlauer Berg zu tun hat,“ wie der Tagesspiegel unkte. Die Besetzerin Renate Kelling 77, eine ehemalige Mathelehrerin,  hat inzwischen „Wut im Bauch, um ehrlich zu sein“. Alles drehe sich nur noch ums Geld. So sieht das auch die ehemalige Französischlehrerin Waltraud: „Die ganze Gegend hier ist jetzt exklusiv von Westlern okkupiert, die Ostler haben ja nicht so das Geld.“ Helga Schiller, 75, ist ebenfalls wütend. Ihr hat man gerade den Kleingarten in Pankow gekündigt – „nach 40  Jahren. Der Garten ist jetzt Bauland.“ Ihr Mann Heinz ergänzt: „Und jetzt will man uns auch noch unseren Klub wegnehmen…Wer hätte gedacht, dass ich mit 83 noch mal zum Hausbesetzer werde.“ Von unten kam Unterstützung – u.a. durch eine linke „Volxküche. Von oben wurde ihnen dafür kürzlich das Telefon abgestellt.

Die Zweiten: „Das sind die Westbeamte in der „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“ (BAKS) gleich nebenan – in der Präsidialkanzlei des Pankower Schlosses Schönhausen. Dieses nicht mehr schlammbraune, sondern  beige Gebäude beherbergt nun den wichtigsten militärpolitischen „Thinktank“ Deutschlands, wie der Frankfurter Politologe Peer Heinelt dieses Hauptquartier der reaktionären Bellizisten nennt, in dem heuer ein Zwanzijähriges Jubiläum gefeiert wird. Geschult werden hier „neben hochrangige Militärs, Beamte des Bundesinnenministeriums, des Bundeskriminalamts (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Verfassungsschutzes“ auch  „Manager etlicher Großkonzerne – u.a. von Rheinmetall, Siemens, Daimler, Deutsche Telekom, Commerzbank, Bayer, EADS und Deutsche Bahn.“ Der BAKS geht es dabei um den Aufbau eines „exklusive(n) Netzwerk(s) zwischen Entscheidungsträgern“. Diese sollen sich laut Peer Heinelt „einerseits damit identifizieren, daß Gewalt zur Durchsetzung des Zugangs zu Rohstoffen und Märkten ebenso legitim ist wie zur Beseitigung mißliebiger Regimes oder zur Bekämpfung von Aufständen in aller Welt. Andererseits soll ihnen vor Augen geführt werden, daß oppositionelles Verhalten oder gar die grundsätzliche Negation der bestehenden Verhältnisse in Anbetracht einer lückenlosen ‚Sicherheitsarchitektur‘ keine Chance auf Erfolg hat.“

Die Dritten, das sind die in die ehemaligen Unternehmervillen und Fabriken eingezogenen Besitzer bunter Eigenheime „mit manikürten Gärten und Tennisplatz und dunklen Limousinen vor den Garageneinfahrten,“ wie der SZ-Reporter sie vor Ort in Pankow beschrieb. Und das ist noch höflich ausgedrückt, denn in Wirklichkeit sind diese neureichen Kriegsgewinnler, die wie gesagt überwiegend aus dem Westen kommen, noch viel hässlicher. Der Grund: in der DDR überwog der von David Riesman so genannte „innengeleitete“ Sozialtyp (schon um gegen die kommunistischen Zumutungen von oben das eigene Private zu behaupten); während in westlichen –  „postindustriellen Wohlstandsgesellschaften mit sinkender Geburten- und gleich bleibender Sterberate“ – der Typus mit  konformistischer Außenlenkung dominiert: „Das Verhalten der Anderen wird maßgeblich für das eigene Verhalten; von anderen akzeptiert und für voll genommen zu werden, wird zentraler Wert. Abweichungen werden mit Gefühlen von Angst sanktioniert.“ Kurz gesagt: Die außengeleiteten Kaschmir-Wessis sehen in Pankow alle so was von scheiße aus.

 

Sonntag im Tierpark Friedrichsfelde

 

Adlershof/Strom aus Sand und Sonne

Der seit 1991 mit mehreren Milliarden Euro geförderte Wissenschafts- und Technologie-Standort Adlershof ist vor allem ein Zentrum zur Erforschung und Entwicklung von Solarenergie. Nicht nur wurden hier gleich fünf damit befaßte Wissenschaftseinrichtungen angesiedelt: das Helmholtz-Institut für Silizium-Photovoltaik, das Leibniz-Institut für Kristallzüchtung, das Kompetenzzentrum Dünnfilm und Nanotechnologie für Photovoltaik, das Ferdinand-Braun-Institut für Höchstfrequenztechnik und das Helmholtz-Zentrum für Materialien und Energie, daneben haben sich bis jetzt auch noch rund 20 Solarenergie-Firmen in der „Photovoltaik-City Adlershof“ niedergelassen. Der Standort gehört damit neben Bitterfeld, Frankfurt/Oder und Freiberg zu den größten deutschen „Clustern“ für diesen Technologiezweig, auf dem inzwischen über 1000 Arbeitsplätze geschaffen wurden. Hinzu kommen dort noch Firmen wie „Soltecture“ (eine Helmholtz-Zentrum-Ausgründung), die Lösungen für solares Bauen anbietet und „Dachland“, die Dächer begrünt und Solarmodule installiert, sowie „Netzwerke“ – wie das für „erneuerbare Energie und Umwelt“ und der „Forschungsverbund für erneuerbare Energien“ (FVEE), wo man an der Koordinierung und Vernetzung all dieser Aktivitäten arbeitet. Als flankierende Maßnahmen seien außerdem noch das in Berlin herausgegebene Fachmagazin „photovoltaik“ und der im Berliner „Energie-Forum“ angesiedelte „Bundesverband Solarwirtschaft“ (BSW) erwähnt. Daneben gibt es in Bonn noch das 1988 von Hermann Scheer mitgegründete Netzwerk „Eurosolar“, das zusammen mit dem BSW die Energiepolitik von Bundesregierung und EU zu beeinflussen versucht.

Adlershof ist damit Teil der deutschen Anstrengungen, weltweit führend bei der Erzeugung und Nutzung regenerativer Energiequellen  zu werden bzw. zu bleiben.

In den letzten 50 Jahren flossen weltweit 90% aller Energieforschungsmittel in die Atomenergie, von den Energiesubventionen der EU fließen immer noch 81% in fossile und nukleare Energieträger. Hierzulande haben die  Privathaushalte bisher mehr in Solarstrom investiert als die vier größten deutschen Stromkonzerne zusammen. Zwar ist die Ausnutzung der Windkraft derzeit immer noch die am schnellsten wachsende Energienutzung, aber sie ging aus ihrer dezentralen, quasi individuellen  Durchsetzung inzwischen in die Hände von Großkonzernen und Investmentfonds über. Letztere sind vor allem in Bayern und Baden-Württemberg angesiedelt, wo es gleichzeitig den stärksten politischen Widerstand gegen Windkraftanlagen gibt, auch bei der Solarenergie: So behandelt ein bayrisches Gericht  gerade ein Klage, weil ein Privathaus „zu viel“ Solarmodule auf dem Dach hat.

Könnten sich die Bürger an Windkraftanklagen beteiligen, würden ihre Widerstände gegen weitere Windparks schrumpfen, es gibt Untersuchungen, wonach über 60 % der Bevölkerung auch WKAs in Sichtweite ihrer Wohnung akzeptieren würden, 74 % fänden Solarparks in ihrer Nähe gut, 56 % Windparks, 40 % Biogasanlagen. Aber nur 6 % haben nichts gegen Kohlekraftwerke in nächster Nachbarschaft und 5% nichts gegen AKWs.

Umfragen ergaben ferner:  95% der Deutschen  unterstützen des Ausbau regenerativer Energie, 75% wollen diesen aus ihrer Heimatregion und würden dafür sogar mehr bezahlen, weniger als 10% befürworten neue Atom- oder Kohlekraftwerke. 110 Landkreise wollen eine Umstellung auf eine 100% regenerative Energieversorgung bis 2015, 2020 oder 2030. Dem kommen die rasant fallenden Preise für Solaranlagen entgegen, zudem wird der Wirkungsgrad multikristalliner Siliziumzellen ständig erhöht.

Diese Zahlen, die Ute Scheub zusammenstellte, betreffen die Durchsetzung regenerativer Energieformen in Deutschland. Die  Journalistin favorisiert dabei, wie auch das Netzwerk „Eurosolar“ sogenannte „Bürgerkraftwerke“, d.h. eine Entwicklung hin zur privaten Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien – mit Photovoltaikanlagen, Blockheizkraftwerken, Windrädern oder Kleinwasserkraftwerken, wozu sich die Bürger (z.B. als Nachbarn) zusammentun müssen.

Auf dem Wissenschafts- und Technologie-Standort Adlershof geht es weniger sozial als technologisch um die  (internationale) Konkurrenzfähigkeit der Entwickler und Anbieter solcher Anlagen – vornehmlich der Photovoltaik. Die Firma „Younicos AG“ bezeichnet ihren Adlershofer Firmensitz seit 2009 stolz als „Energieautonome Republik“. So könnte sich auch ihre dort  angesiedelte Muttergesellschaft „Solon SE“ nennen –  einst ein kleiner Kreuzberger Solartechnikbetrieb. Inzwischen beschäftigt die mit Venturekapital üppig ausgestattete Aktiengesellschaft weltweit 900 Leute. Ihr Adlershofer Hauptsitz ähnelt innen wie außen einem kalifornischen Luxushotel – und ist zudem in puncto dezentraler erneuerbarer Energieversorgung vorbildlich ausgerüstet: u.a. mit einem  „Biogas-Blockheizkraftwerk“, einer  „Solarstromtankstelle“ für Elektromobile und rollkoffergroßen  „Energieshuttles“ an jedem Arbeitsplatz, deren Akkus den jeweiligen Mitarbeiter drei Tage lang mit Strom versorgen. Der Trend gehe dahin, so heißt es dort, „dass man den Strom, der gebraucht wird, auch selbst produziert“.

„Jeder für sich?“ fragte daraufhin während einer Führung durch den Betrieb eine Kölner Journalistin – leicht entsetzt. „Nein,“ wurde ihr von einem anderen Teilnehmer geantwortet: „Man muß sich dabei mit anderen zusammentun.“ Genossenschaften gründen beispielsweise, Solon setzt auf „Energiesparpartnerschaften“: damit z.B. bei den Berliner Wasserwerken der  Klärschlamm zur Energieerzeugung genutzt wird und beim „Vivantes Humboldt Klinikum“ die CO2-Emissionen um 3300 Tonnen jährlich reduziert sowie die Energiekosten um 23% gesenkt weden. Das in Adlershof vorwiegend praktizierte „Geschäftsmodell“ ist eher konservativ: Im Idealfall entwickeln die Wissenschaftler dort mit Staatsgeldern neue Verfahrens- und Anwendungstechniken, die sie dann patentieren lassen – und gegebenenfalls einer Firma auf dem Gelände anbieten, oder sie machen sich als Startup-Unternehmen damit selbständig – nachdem sie genug Risikokapital  acquiriert haben. Viele Patente resultieren noch aus der DDR-Zeit, als die naturwissenschaftlichen Institute der Akademie der Wissenschaften in Adlershof angesiedelt waren, deren Personal zum Teil noch heute dort arbeitet – im „Zentrum für Luft- und Raumfahrt“ z.B., wo man einst eine Kamera entwickelte, mit der die NASA später ihre Mars-Mission ausrüstete. „Werner von Brauns Enkel“, nennt die BZ die Adlershofer Kosmosforscher – nicht ganz falsch. Es wurden dort jedoch auch beizeiten schon ökologische Produkte entwickelt – u.a. biologisch abbaubare Tenside auf Hanfölbasis. Die beiden Chemiker  machten sich damit 1995 selbständig – sie wurden quasi dazu gezwungen, denn ihr Institut war „abgewickelt“ worden. Der Spiegel schrieb: „Die Akademiemitarbeiter gründeten aus der Not heraus eigene, mitunter höchst innovative Unternehmen. Über 100 bisher. Sie legten damit den Grundstock für das Adlershofer Wirtschaftswunder. DDR-Improvisationsgeist und Westförderung gingen hier eine erstaunlich erfolgreiche Beziehung ein.“

Was die  CDU-Forschungsministerin Schavane am Standort lobte – „die  funktionierende staatlich koordinierte Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, die einer ganzen Region Impulse“ gibt – das wird in Adlershof nicht erst seit gestern praktiziert. Schon seit 1909 versuchen dort Forscher, Tüftler und Erfinder ihren jeweiligen Staat und die Industrie für ihre „Projekte“ zu interessieren, neuerdings einmal im Jahr – in der „Langen Nacht der Wissenschaft“ – auch den Bürger.

An diesem Tag interessieren sich alle z.B. für die „Solarenergie“, ansonsten sind jedoch eher die Wohlhabenden – Haus- und Immobilienbesitzer – die Nutznießer der  eingeleiteten „Energiewende“ – insofern es für sie auf allen staatlichen Ebenen „Förderprogramme“ gibt, wenn sie sich Solaranlagen auf ihre Dächer packen. Die zur Miete wohnenden Bürger müssen eher befürchten, dass damit erneut  Mietsteigerungen auf sie zukommen. Auch das ist eine Art von Elitenpolitik. Hinzu kommt noch, dass der Strom mit der Durchsetzung der Ökoenergie erheblich teurer wird.

 

 

Wo soll das bloß enden? Es kann doch nicht ewig so weitergehen./ Gropiusstadt

 

„Steige hoch, du roter Adler“

Die Lehre und Forschung wird immer praxisorientierter, d.h. verwertungsnäher, dazu tragen die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge bei sowie der wachsende Anteil an Drittmitteln für die Forschung, was eine „größere Nähe“  zu Privatunternehmen mit sich bringt. Im Gegensatz zu den Amerikanern forcieren die Deutschen dies mit immer neuen staatlichen „Immobilienlösungen“, die sie Innovations- oder Technologieparks nennen. Oft geht das schief, weil nicht genug „Bedarf“  da ist  oder der „Mix“ nicht stimmt.  Aber „Adlershof ist ein Beispiel funktionierenden Zusammenwirkens“, meint jedenfalls der TV-Wissenschaftsredakteur Jean Pütz – in der Monatszeitschrift „Adlershof special“. Bestätigt wird dies vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das dem „Wissenschafts- und Technologiepark Adlershof“   gerade bescheinigte, „signifikant zur regionalen Wirtschaftsenwicklung in Berlin beizutragen“. In diesem seit kurzem an die Autobahn angebundenen 4,2 Quadratkilometer großen Stadtteil befanden sich zu DDR-Zeiten das Wachregiment „Féliks Dzierzynski“, etliche Institute der Akademie der Wissenschaften, der Erprobungsflugplatz Johannisthal und das Fernsehen der DDR.

Die Wende überlebte nur der  Jugendclub „Come In“ im  Kulturhaus des Wachregiments, das inzwischen, wie etliche andere Gebäude auch, abgerissen wurde. Dafür hat die Wista (die landeseigene Wissenschaftsstandort-Management-GmbH) viele neue gebaut und andere umgebaut. Diese beherbergen jetzt insgesamt 793 Unternehmen, 12 außeruniversitäre Forschungsinstituten und 6 naturwissenschaftliche Institute der Humboldt-Universität. Hinzu kommen verschiedene Ämter des Bezirks Treptow-Köpenick und eine neue Bezirkssporthalle. Im Bau ist ein Studentenwohnheim für gehobene Ansprüche, ein weiterer Mehrzweckbau für Existenzgründer sowie eine neue Straßenbahnlinie. Aus dem Flugplatz wurde inzwischen ein Landschaftspark mit einem angrenzenden Eigenheimgebiet, das sich jedoch noch im Ausbau befindet.

Vor 1945 befanden sich in Adlershof ein Windkanal, ein Testlabor für Antriebsaggregate und zwei Werkstätten, die u.a. von den Raketenbauern in Peenemünde genutzt wurden. Zu DDR-Zeiten siedelte man deswegen hier u.a. das Institut für Kosmosforschung an, das nach der Wende als eines von elf Instituten der Akademie „positiv evaluiert“ wurde, dann im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt aufging und nun  Orbitforscher aus Ost und West vereint, die sich neuerdings auch noch schwerpunktmäßig mit „Energie und Verkehr“ befassen. Unter anderem bauten sie bisher die Kamera für den „Mars-Expreß“, beschäftigen sich mit „Asteroiden-Prävention“ und bereiten sich demnächst auf eine Mond-Mission vor, denn „der Mond ist schlechter als der Mars erfaßt“. Aus den Gebäuden des DDR-Fernsehens machte man Ateliers für kleine und mittlere Medienfirmen sowie Aufnahmestudios für private und öffentlich-rechtliche Sender. Quasi auf der grünen Wiese wurde 1998 ein Speicherring zur Elektronenbeschleunigung von der Bessy GmbH errichtet. Das runde Großlabor ist zusammen mit einem Laserstrahl, der nachts sichtbar das Gelände bis über den  S-Bahnhof überspannt, eine Art Wahrzeichen des Adlerhofer „Parks“,  in dem bis jetzt 7000 Menschen beschäftigt sind.

Das Eingangsportal zur altneuen Wissenschaftsstadt sollte eigentlich Albert Speer Jr.,der Sohn des für Peenemünde verantwortlichen Naziministers, gestalten, nun hat man sich jedoch für den Entwurf zweier Studenten entschieden, der im Zentrum auf dem neuen „Campus“ realisiert wird, wo auch die zwei Werkstätten der „Luft- und Raumfahrtpioniere“ stehen, die zu einem studentischen Café und einem Ausstellungsraum umfunktioniert wurden. 6600 Studierende mußten – anfänglich unter Protesten – von Mitte nach Adlershof umziehen. Inzwischen haben sie sich an die um vieles grünere Stadtrandlage gewöhnt. Und die modernen Institutsräume sowie die neue Bibliothek haben sie versöhnt. Zudem bietet ihnen hier die direkte Nachbarschaft zu so vielen Firmen, die wiederum die Instituts-Ausrüstungen und -Netzwerke nutzen, mehr Möglichkeiten für ein Praktikum.   Am 14. Juni werden in Adlershof anläßlich der „klügsten Nacht des Jahres“ alle Einrichtungen ihre Türen auch für bloß Neugierige öffnen. Dümmer wird man davon nicht.

P.S.: Mit den preisgünstigen chinesischen Solarpanels auf dem Weltmarkt geriet jedoch 2012 eine Reihe von Solarfirmen in Adlershof und an anderen Standorten im Osten in die Krise bzw. sogar in die Insolvenz. Was das für die diesbezüglichen Adlershofer Forschungseinrichtungen bedeutet, ist noch nicht abzusehen.

 

Diese drei Dispatcherinnen lassen sich ihre gute Laune auf dem Adlershofer Ball der Akademiker nicht verderben.

 

Rosengartensuche

Das Online- „Wohlfühlparadies“ für Hypochonder und solche, die es werden wollen: „paradisi.de“ – behauptete kürzlich „Bei einer Schizophrenie helfen Medikamente noch immer am besten“. Es berief sich dabei auf eine „aktuelle Meta-Studie“, bei der Daten von 6000 Betroffenen ausgewertet wurden, von denen „ein Teil“ während ihrer „therapeutischen Betreuung“ Psychopharmaka bekam, „und der Rest nur Placebos“.

Wenig später fand in Berlin im Haus der Demokratie eine große Veranstaltung von Psychiatriekritikern statt, die sich fast alle gegen jede Psychopharmaka-Verabreichung aussprachen. Eingeladen hatte der „Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt“, um seine Dokumentation über „Alternativen zur Psychiatrie“ vorzustellen: „Auf der Suche nach dem Rosengarten“ betitelt.

Diese Suche fing bereits in der Studentenbewegung an – mit der „Antipsychiatrie“. Damals wurden – beginnend in Norditalien – psychiatrische Anstalten geschlossen und die „Irren“ mit der Selbstorganisation konfrontiert. „Freiheit heilt!“ wie eine Kampfschrift von Sil Schmid dazu hieß.

In Heidelberg gründete sich ein „Sozialistisches Patientenkollektiv“ (SPK). Es wurde jedoch schon bald von den Staatsorganen zerschlagen – wegen seiner vermeintlichen Nähe zur RAF.

„Gibt es überhaupt etwas in der Geschichte, was nicht Angst vor oder Hoffnung auf die Revolution [den Rosengarten] ist?“ fragte sich der französische Philosoph Michel Foucault, der bereits 1961 eine Studie über „Wahnsinn und Gesellschaft“ veröffentlicht und sich in der Folgezeit immer mehr mit und für „Internierte“ engagiert hatte. Ähnliches traf auf den französischen Antipsychiater Fernand Deligny zu, der mit einer Gruppe „verhaltensgestörter Jugendlicher“ („Autisten“) die Anstalt verließ und sich mit ihnen in den Chevennen niederließ – auf einem „Floß in den Bergen“, wie sein Bericht darüber hieß. Analoge Projekte versuchten damals auch linke Psychiater wie Ronald D. Laing und Félix Guattari zu realisieren.

Von Triest aus, wo die europäische Antipsychiatriebewegung ihren Anfang nahm – mit dem dortigen Klinikchef Franco Basaglia („Die Ausbildung zum Irrenarzt ist identisch mit der Ausbildung zum Folterer“) starteten die Psychiatrie-Betroffenen ab 1985 mit überlebensgroßen Symbolen der Befreiung  – dem Pferd „Marco Cavallo“ und den „Bremer Stadtmusikanten“ – eine „Blaue Karawane“ zu anderen (noch) geschlossenen Einrichtungen im Ausland, bis hin nach Norddeutschland. Seitdem gibt es hierzulande in vielen Städten „Blaue Karawanen“-Vereine und andere psychiatriekiritische Initiativen.

In Westberlin veranstaltete die „Irrenoffensive“ 1998 ein „Foucault-Tribunal“ zur Lage der Psychiatrie. Zuvor hatte sie – u.a. zusammen mit dem Foucaultexperten Thilo von Trotha – ein „Weglaufhaus“ (nach holländischem Vorbild) gegründet. Dieses noch heute existierende und funktionierende „Asyl“ von und für Psychiatrie-Betroffene war 2011 auch an einer Reihe von Tagungen und internationalen Konferenzen beteiligt, deren Ergebnisse jetzt in der „Dokumentation“ zusammengefaßt wurden.

Finanziert hatte sie der Paritätische Wohlfahrtsverband, in dem Jasna Russo vom „Verein für alle Fälle“ das Projekt koordinierte. Mit dabei waren ferner Zofia Rubinsztajn vom Verein für Frauen mit sexueller Gewalterfahrung in der Kindheit: „Wildwasser-Selbsthilfe“, und Patrizia di Tolla – Referentin für Psychiatrie beim „Paritätischen“. An Berliner Selbsthilfe-Initiativen, die in der Dokumentation zu Wort kommen, sei noch „Tauwetter“ erwähnt – eine Gruppe von Männern, denen in jungen Jahren sexuelle Gewalt angetan wurde. Und an Teilnehmern bei der Dokumentationsvorstellung im Haus der Demokratie die Obdachlosen-Gruppe „Unter Druck“. In diesem Projekt, wie auch in den antipsychiatrischen Kriseneinrichtungen haben die „Helfer“ oft mit Leuten zu tun, die alles verloren haben: „Wohnung, Finanzen, Hoffnung“. Hinzu kommen nicht selten noch Gewalterfahrungen in der Kindheit.

Thematisch handelt die Broschüre vom „Krisenumgang ohne Medikamente“, von „informeller Hilfe“ und „politischer Selbsthilfe“, sowie von den „Erfahrungen mit Betroffenenkontrolle“ in verschiedenen Ländern. Vom Podium aus wurde noch einmal erörtert, welche Rolle das Erfahrungswissen in der psychiatrischen Praxis sowie in der Ausbildung und Forschung spielen (können). Neben der „Patientenkontrolle“ dieser Bereiche kam auch ihre „Beteiligung“ darin zur Sprache. So haben in den Reinickendorfer psychiatrischen Diensten etwa 200 Mitarbeiter „Psychiatrieerfahrung“. Und im „Weglaufhaus“ sind die Hälfte aller Mitarbeiter „Betroffene“, wobei gesagt werden muß, dass nicht wenige erst Patienten waren und sich dann zu Psychologen ausbildeten. Um von der repressiven Staatshilfe weg zu kommen, braucht es gewisse „formale Voraussetzungen“. Für eine Anstellung im „Weglaufhaus“ braucht man z.B. eine Sozialarbeiterausbildung. Im Offenburger „Verein für Obdachlose“ werden inzwischen 6,5 von 17 Sozialarbeiterstellen von Betroffenen besetzt. Beklagt wurde in diesem Zusammenhang, dass allzu bornierte Bestehen der Behörden auf Formalitäten. So weigert sich z.B. der Senat, eine Mitarbeiterin bei „Wildwasser“ zu bezahlen, weil sie einen pädagogischen und keinen sozialpädagogischen Abschluß hat. Selbst der bloße Aufenthalt in diesen Selbsthilfe-Einrichtungen kann zum Problem werden, denn er oder sie braucht dazu eine „Kostenübernahme“, die behördlicherseits verschleppt oder gar verweigert werden kann.

Aus dem Publikum kam der Vorschlag, an einer der Berliner Universitäten einen „Lehrstuhl für kreativen Wahnsinn“ zu schaffen, um „die Ansätze von Beuys und Neuss zu verschmelzen“, und wo dann „Psychose-Seminare“ angeboten und ein „Stimmenhörer-Netzwerk“ aufgebaut werden kann. Als dazu der Hund von Zofia Rubinsztajn scheinbar zustimmend bellte, wurde auch dessen Beitrag sofort aufgegriffen: „Ja, ich kann nur jedem raten, der unmündig ist, sich einen Hund anzuschaffen. Wenn der einem gehorcht, wird man sofort für mündig erklärt.“ Jasna Russo fügte hinzu, man solle sich bewußt machen, dass jeder „Erfahrungswissen“ hat.

Dies gilt nicht nur für den psychiatrischen Bereich, sondern auch für jeden anderen medizinischen. Die psychiatrisch „Internierten“ und pharmakologisch „Sedierten“ haben in den Sechzigerjahren den Anfang gemacht – mit der Selbstorganisation, aber spätestens seit der Internetverbreitung haben auch alle anderen mit dem Gesundheitssektor Konfrontierten – von den Allergikern bis zu den Krebserkrankten – angefangen, ihre eigenen Erfahrungen, ihr Krankheitswissen untereinander zu diskutieren – und es gegenüber den Ärzten in Anschlag zu bringen.

Das hört sich alles positiv an, wenn man jedoch die Berichte und Protokolle aus der Anfangszeit der Antipsychiatriebewegung noch einmal liest, kann man gleichzeitig auch darüber verzweifeln, wie wenig seitdem erreicht wurde. Vorbei die Zeit, als der Psychiater Félix Guattari und der Philosoph Gilles Deleuze verkündeten: „Der Schizo weiß aufzubrechen. Er macht aus dem Aufbruch so etwas Einfaches wie Geborenwerden oder Sterben.“ Seit dem Untergang der Sowjetunion, dem Siegeszug des Neoliberalismus und der damit einhergehenden Privatisierungswelle hat ein geradezu sarrazinistischer Antihumanismus um sich gegriffen. Der Partizipationsforscher auf dem Podium im Haus der Demokratie, Professor Jan Berg, drückte es so aus: „Mit der Hirnforschung, der Neurobiologie, hat sich alles gedreht: Jeder denkt, er findet jetzt die Schraube.“

Soll heißen: Man sucht allenthalben nach Mitteln und Wegen, um Verhaltensauffällige möglichst billig und schnell „ruhig zu stellen“. Im Verein mit der Molekularbiologie und den Neurowissenschaften bieten die Pharmakonzerne dazu immer wieder neue, „bessere“ Medikamente an. Wie sich diese vermeintliche „Helferwelt“ darüberhinaus auch neu organisiert, sei hier am Beispiel der „Gesundheitskasse“ AOK Niedersachsen erwähnt: Sie verkauft sich und ihre Mitglieder gerade an den berüchtigten amerikanischen „Healthcare“-Konzern „Johnson & Johnson“. Diese Privatisierung hat den naßforschen Namen: „Care 4 S“ – das „S“ steht für Schizophrenie. Dahinter verbirgt sich eine deutsche Tochterfirma von J & J: die Janssen-Cilag GmbH. Sie stellt die Psychopharmaka her – und gründete zusammen mit der AOK Niedersachsen ein „Institut für Innovation und Integration im Gesundheitswesen“ (die „I3G GmbH“). Diese „Managementgesellschaft“ ist nun für die Installierung eines „neuen ambulanten Versorgungssystems“ verantwortlich, das natürlich als „Netzwerk“ bezeichnet wird. Und dieses wurde bereits in den USA geknüpft: mit dem „Healthcare“-Konzern „Johnson & Johnson“ an vorderster Front – als Teil einer ganzen Kampagne namens „One Mind for Research“.

Diese organisatorische Zusammenführung von Wissenschaft, Institute of National Health, Psychiatrie  und Pharmaindustrie hat nichts weniger im Sinn als analog zur einstigen Landung auf dem Mond nun auch noch das Gehirn zu erobern, um innerhalb eines  Jahrzehnts Geisteskrankheiten und psychische Störungen erfolgreich zu bekämpfen. Die Organisation „One Mind“, deren ehrenamtliche Vorsitzende im Pharmakonzern J & J angestellt ist, gab erst einmal bei den Unternehmensberatern von  „PricewaterhouseCooper“, die hierzulande zuletzt  treuhandbeauftragt bei der    Privatisierung der DDR-Industrie beteiligt waren, eine Studie über die psychische Befindlichkeit der US-Bevölkerung in Auftrag. Danach leidet einer von sechs Amerikanern an einer „Krankheit mit Hirnbezug“ – wie „Depression, Autismus, bipolare Störung oder Schizophrenie.“ Im Zentrum der Werbekampagnen von „One Mind“ steht indes die „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTSD). Sie wurde durch die Vietnam Veterans bekannt und 1980  von der „American Psychiatric Association“ anerkannt. „Die PTSD-Diagnose bedeutete eine Würdigung ihrer psychologischen Leiden,“ schreibt die Soziologin Eva Illuoz. Von den organisierten Vietnamsoldaten aus wurde „das PTSD dann auf immer mehr Vorkommnisse und Fälle ausgeweitet, etwa auf Vergewaltigung, terroristische Angriffe, Unfälle, Verbrechen etc..“ Dabei geht es nicht zuletzt um die Rente, denn „die Klassifizierung von Pathologien entsprang der Tatsache, dass die mentale Gesundheit aufs engste mit der Versicherungsdeckung verknüpft wurde.“ Heute, vor dem Hintergrund der Traumatisierung vieler Soldaten, die im Irak oder in Afghanistan eingesetzt wurden, „hat die Frage nach den biologischen Grundlagen der PTSD in den USA eine besondere Bedeutung,“ schreibt der Journaliste Matthias Becker. „Von den konkreten Erfahrungen, die die Soldaten im Krieg gemacht haben, ist allerdings nicht die Rede – wohl aber von ihren Gehirnen…In den Texten und Veranstaltungen der Organisation fallen Verhaltensstörungen und Geisteskrankheiten ausschließlich in die Domäne der Hirnforschung und sollen phamakologisch behoben werden.“

In psychologischer Hinsicht deutet eine psychische Störung auf einen inneren Konflikt hin – z.B. „zwischen einem  Selbstbild als integrer guter Mensch und den Gewalterfahrungen an der Front. Diese Ebene kommt bei One Mind schlicht nicht vor. Stattdessen beschäftigen sich die beteiligten Forscher damit, wie etwa ‚die Repräsentation der Angst in der Amygdala unterbrochen werden kann‘.“

Um Unterbrechungen im Gehirn geht es auch bei den Elektroschocks. Diese als Folter begriffene Behandlung von Irren erlebt derzeit in Deutschland als verfeinerte „Elektrokrampftherapie“ (EKT) eine neue Konjunktur unter Nervenärzten, obwohl man bis heute nicht weiß, was der Strom im Gehirn eigentlich bewirkt. Dazu meldete die Süddeutsche Zeitung am 27.August: „Die Fachgesellschaften sprechen sich dafür aus, die EKT künftig nicht mehr nur als Ultima Ratio, sondern früher im Behandlungsverlauf einzusetzen.“ Noch gibt es jedoch auch Psychiater, die die EKT ablehnen, weil sie befürchten, dass man damit in neuronale Netzwerke eingreift, wodurch sich eventuell letztlich die Identität des Patienten verändert.

 

 

Aufräumen nach dem Foucault-Kongreß, der 1990 in der Akademie der Wissenschaften der DDR am Gendarmenmarkt stattfand, welcher zwischen 1946 und 1991  Platz der Akademie hieß.

 

Übergriffigkeit

Das Wort übergriffig meint beileibe nicht, er oder sie ist übergriffig – im Sinne von mehr als griffig, sondern das genaue Gegenteil: Er oder sie greift rüber – in die Privatzone,  vergreift sich respektlos an einem anderen Körper. Die deutschsprachige  Bestsellerautorin Olga Grjasnowa, eine junge jüdische Russin aus Baku, beschrieb in der Berliner Zeitung gerade, mit was für seltsamen Leuten sie „in Kontakt“ gekommen war – bei einer Lesereise mit ihrem Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“: „Einmal kam nach einer Lesung eine ältere Dame auf mich zu und streichelte mir über die Wange, folgende Worte murmelnd: ‚So jung und schon so viel erlebt, es wird besser Kindchen, es wird nun alles besser’…Doch die Tatsache, dass sie mir ungefragt ins Gesicht fasste, war nicht das versprochene ‚besser‘, sondern übergriffig.“

Der marxistische Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel sagte es auf Englisch so: „In commodity exchange the act is social, the minds are private“. Das bezog sich auf die Beteiligten am Akt des Warentauschs (über den allein sich der gesellschaftliche Zusammenhang herstellt) und auf ihr Bewußtsein. Marx sprach von einem „Naturinstinkt des Warenbesitzers“, der auf beiden Seiten dieses Akts obwaltet, weil die Akteure ihn „bewußtlos“ – im Hinblick auf das Gesellschaftliche daran – tätigen. Bis dahin, dass sie zu bloßen Anhängseln der Waren herunterkommen. Auch die Kaufhausdetektive verwenden im übrigen das Wort „übergriffig“ – bei jungen Ersttätern – und diese sowie ihre Eltern ebenso: Was wie eine Entschuldigung klingen soll, weil es quasi noch im Vorfeld eines kriminellen Akts situiert wird – als eine Art von ungezogener Respektlosigkeit vor dem Privateigentum und seinem zivilisierten Geschäftsverkehr. Der junge Delinquent ist im bürgerlichen Sinne noch nicht satisfaktionsfähig. Analoges gilt für Menschenaffen. Wenn man mit einem von denen z.B. über einen Obstmarkt geht, was ich mehrmals getan habe, dann darf der auch ruhig mal „übergriffig“ werden, die Warenbesitzer erlauben es. Dieser Akt eines „Wilden“ ist legalisierter Mundraub – ein Geschenk. In einem Interview, abgedruckt in seinen „Frühschriften“, die gerade der Verlag „ca ira“ veröffentlichte, erklärte Sohn-Rethel diesen Akt am Beispiel eines Hundes im Schlachterladen: Er versteht jede Handlung des Käufers und Verkäufers – bis es ans Bezahlen geht: das übersteigt sein Bewußtsein. Höchstens würde er den Schlachter zum Dank abschlecken. Ein solcher Akt gilt aber in der warenproduzierenden Gesellschaft bloß in Ausnahmefällen als Äquivalent.

Nun kann man den Besuch der alten Dame  – auf der Buchvorstellung von Olga Grjasnowa – vielleicht auch so auffassen: Sie sieht schlecht, hat für die Lesung vielleicht Eintritt bezahlt und dann sogar das Buch der Autorin käuflich erworben, dafür viele Worte von der hingenommen und sich noch mehr dabei vorgestellt, wobei sie davon ausging, dass die junge Frau das alles selbst erlebt hat – nun will sie diese wenigstens einmal auch berühren.

Was ich im übrigen – von Italienern und Türken beeinflußt – schon bei jedem Fremden zum Abschied kurz tue. Bei weiblichen Fremden bin ich jedoch  zurückhaltender, sie könnten das  als „übergriffig“ ansehen. Viele hinduistische und islamistische Frauen interpretieren schon die hingehaltene Begrüßungshand  als „Übergriffigkeit“. Es gibt ein ganzes Lehrbuch zu diesem Begriff – für angehende Betreuer: „Wenn HelferInnen zu TäterInnen werden: Sexuelle Gewalt durch Professionelle in der Sozialen Arbeit“. Hierbei dient das Wort „übergriffig“ jedoch eher einer akademisch-amtlichen Verharmlosung von „Vergewaltigung“. Das Internetforum „Helpster“ schreibt: 1. Der „Übergriff“ unterscheidet sich von der „Grenzverletzung“ durch seine Gewalttätigkeit, die zu strafrechtlichen Folgen führen kann. „Grenzverletzungen“ muß man dagegen manchmal „tolerieren“ (z.B. in vollbesetzten Fahrstühlen oder Bussen). 2. „Übergriffigkeit spielt sich oft in Beziehungsverhältnissen, wie z. B. zwischen Partnern, Eltern und Kindern, Freunden oder Verwandten ab. Werden Sie sich Ihrer bewusst, um selbstbestimmend leben zu können.“

Es werden hiermit keine Übergreifer angesprochen, vielmehr deren Opfer. Für zwanghaft Übergriffige gibt es andere „Anlaufstellen“. Aber um es kurz zu machen: Wir sind so  amimäßig entfremdet von unseren ursprünglichen Kommunikationsmitteln (Körpersprache und Berühren), also vom Privateigentum derartig „dumm und einseitig“ (Marx) gemacht worden, dass wir um uns und vor Bankschaltern immer mehr „Diskretionsdistanz“ benötigen. Dieser praktische Solipsismus ist asozial.

(So berichtete die Studentin Jana z.B. aus einem BWL-Seminar der Elite-Universität “Viadrina” in Frankfurt/Slubice: “Neulich sagte der Professor zu uns: ,Wenn ich andern Gutes tue, tu ich mir selbst nichts Gutes…’ Und alle haben das brav mitgeschrieben!”)

 

Diese beiden süßen Kinder ließen ihre Eltern in Schmargendorf einfach zurück – als sie eine Arbeitsstelle in Bielefeld annahmen: Er bei einem Backpulverunternehmen, sie in einer Taxizentrale der Einkaufsmetropole am Teutoburger Wald/Nordende .

 

Kreisende Krisendiskurse

Nach dem „Scheitern“ kriegen wir es jetzt mit dem „Krisen“-Begriff zu tun. Das „Krisenzentrum für weibliche Komik“ an der Universität der Künste in Charlottenburg (früher HdK am Steinplatz)  zeigte gestern „La Derniere Crise – Frauen am Rande der Krise“ in den Sophiensaelen. Kurz danach veröffentlicht die berühmte Lehrerin und Bloggerin „Fräulein Krise interveniert“ ihre Geschichten für viel Geld als Buch. Hier wie dort wandert eine weibliche „Krise“ von online quasi zu inline. Während ihre psychologische Vorgängerin – die Hysterie – zu den Männern übergewechselt ist, wo man sie jedoch als Sexualhormon-Überdruck eher abtut als therapiert. Dies bewirkt auf der anderen Seite anscheinend, dass „Frauen in der Krise nach der Macht greifen“ (Der Spiegel).  Die „Krise als Chance“ – so sehen das auch viele Selbsthilfsgruppen für „Frauen in Lebenskrisen“.

Die Frauenzeitung „Brigitte“  nannte bereits ihre Krisen-Studie 2009 „Frauen auf dem Sprung“. Das Onlineforum „pariser stadtgeflüster“ freute sich darob: „Weltweite Krise: die Frauen ans Werk!“ Und die Zeitung des Frauenberufszentrums  Bergisch Land titelte: „Mit Frauen aus der Krise“. Selbst der „Finanzberater Cosmopolitan“ weiß, „Warum Frauen besser durch die Krise kommen“. Umgekehrt sprach die Journalistin Ute Scheub von einer „Männerkrise“ – von  „Heldendämmerung“ gar, und „Emma“ von einer „Überraschung: Die Krise hat Männer so gebeutelt, dass der Weg frei wird für Frauen“.

Die feministische Linke, in Sonderheit das Schweizer „Genderportal“, sieht das ganz anders und  behauptet stattdessen: „Frauen als Verliererinnen der Krise“. Und das nicht ganz zu Unrecht, denn wenig später kam eine US-Arbeitsmarkt-Studie bereits zu dem Ergebnis: „Frauen sind die Verlierer der Finanzkrise“. Selbst hierzulande bekamen die „Frauenkrisentelefone“ bald „erheblich“ mehr zu tun. Hinzu kam nämlich auch noch eine Zunahme der „Ehekrisen“ – unter denen die Frauen bekanntlich mehr leiden als Männer, warum, weiß man noch nicht genau. Zumal eine „Fit for Fun“-Expertenrecherche uns zur gleichen Zeit mit dem Ergebnis kam: Frauen suchen in der Krise „Geborgenheit“, deswegen „profitieren Paare von der Krise“. Was u.U. jedoch durchaus wieder zu Gunsten der Männer ausgehen kann – wie der „Weltbund zum Internationalen Frauentag“ warnt: „Größeres Risiko von Gewalt gegen Frauen in der ökonomischen Krise“. Dem schloß sich die WAZ an: „Frauen sind Hauptopfer der Finanzkrise“. Was der „Informationsbrief Weltwirtschaft“ dann auch noch auf deren Kinder erweiterte: „Wie die 3-F-Krise Frauen und Kinder trifft“. (Mit den 3 F sind die drei berühmten Dinge gemeint, die jeder Mann braucht: Food, Fuel und Finance.)

Eine der wenigen Medien, die new-age-optimistisch grundgestimmt stur dagegen hielten, war Florian Rötzers Wissensforum „telepolis“, indem es z.B.  „Die Schönheit der Frauen in Zeiten der Krise“ herausarbeitete. Auch das immer mehr Frauen plötzlich „Irgendwas mit Medien“ machen wollten, trug – mindestens im Umfeld der Programmverantwortlichen – durchaus zur Stimmungsaufhellung bei. Nicht jedoch bei der Süddeutschen Zeitung, die einen männiglichen Artikel über „Kündigungen“ mit: „Krise trifft Männer stärker als Frauen“ übertitelte. Schon wenig später kam eine geschlechterdifferenzierte  Lebensgefühls-Untersuchung umgekehrt zu dem selben Ergebnis: „Frauen fühlen sich als Gewinner der Krise“. Wohingegen eine urban-rural-differenzierte UNO-Studie nachwies, dass „die Krise Frauen auf dem Land härter trifft“ bzw. wie „clio-online“ präzisierte: „Die Krise der Männer“ bewirkt eine Mehr-„Arbeit der Frauen“. Und das war nicht positiv gemeint. Erwartungsgemäß  schloß sich diesem Negativbefund das „diva-portal.org“ an.

Als dann auch noch der „Frauenbund“ forderte: Die „Frauen angemessen an der Bewältigung der Finanzkrise [zu] beteiligen“, hielt die Bild-Zeitung nichts mehr, das Krisenthema auf ihre übliche autoritäre Kurzformel runterzubrechen: „Krisen-Gipfel im Kanzleramt: Warum saß keine weitere Frau am Tisch?“ Das inspirierte immerhin den Partivorsitzenden Rösler zu einer Lösung  seiner „FDP-Krise: Jetzt sollen die Frauen ran…“ Andere deutsche Dumpfmeister machten  in dieser Situation erneut auf Ost-West-Unterschiede aufmerksam: Während eine Focus-Umfrage ergab: „Ossi-Frauen trotzen der Krise“, sah eine DGB-Migrantinnenstudie West-„Frauen in der Krise“. Dort bemerkte die Rheinische Post jedoch gleichzeitig auch  „Immer mehr reiche Frauen“. Zugleich reagierten aber auch „immer mehr Frauen“ auf die Krise mit einer sie eher arm machenden Schwangerschaft. Die Beratungsstellen warnten: „Weitaus mehr Frauen als man allgemein vermutet, geraten vor oder nach der Geburt ihres Kindes in eine seelische Krise.“ Die Wirtschaftsforscher beruhigten sie jedoch: „Die Wirtschaftskrise wird langfristig zu einem Geburtenrückgang führen“ – was sich jedoch schon bald wieder zu der Negativschlagzeile  „Krise torpediert Familienplanung vieler Frauen“ verdichtete.

Fassen wir zusammen: Einerseits heben die Krisendiskurse (und damit das Krisengerede) auf den Gewinn ab, den Frauen von der Krise erwarten können, andererseits werden sie dadurch noch mehr beansprucht, sogar existentiell gefährdet.

Erwähnt sei ferner das Buch von taz-Redakteur Felix Lee über China: „Die Gewinner der Krise“. Das Wort Krise leitet sich ab vom griechischen Wort „crisis“:  Entscheidung. Von da aus ist es nicht mehr weit bis zum „Krisenkult“ – den man auch als ein letztes   Aufbäumen bezeichnen kann. Berühmt wurden in diesem Zusammenhang die  „Geistertänze“ in den 1860er-Jahren: Sie drückten die verzweifelten Hoffnungen einiger nordamerikanischer Indianerstämme aus  – und waren laut der Historikerin Anjana Shrivastava beseelt „vom Verschwinden aller Weißen und der Rückkehr der Bisonherden. Diese Heilslehre breitete sich wie ein Feuer über die trockenen Ebenen der ihnen noch verbliebenen Territorien aus. Die indianische Euphorie drückte sich in sogenannten Geister-Tänzen aus, die Männer und Frauen bis zur Erschöpfung veranstalteten. Eine solche Tanz-Zeremonie – auf dem Pine Ridge, South Dakota – war es dann auch, aus der sich 1890 die Schlacht am Wounded Knee entwickelte, die den Endsieg der Weißen über die Indianer bedeutete. Bei ihren Tänzen trugen die Siuox Baumwollhemden, die sie mit Symbolen der Erweckungsbewegung bemalt und deren Ränder sie ausgefranst hatten, damit sie ihrer traditionellen Lederkleidung ähnelte, die sie nicht mehr besaßen.“

 

„Scheiße, mein letztes Fünfmarkstück!“/Turmstraße Moabit

 

Lobbyisten 1.0 (Nachdruck aus dem Lobby-Buch der taz)

„Lobbyismus ist eine aus dem Englischen übernommene Bezeichnung für eine Form der Interessenvertretung in Politik und Gesellschaft. Mittels Lobbyismus versuchen Interessengruppen (Lobbys), die Exekutive und die Legislative zu beeinflussen (vor allem durch persönliche Kontakte); außerdem versuchen sie, die öffentliche Meinung durch Öffentlichkeitsarbeit zu beeinflussen. Dies geschieht vor allem mittels der Massenmedien,“ so die Definition.

Jedoch geschieht dies nicht direkt. Zu den Lobbyisten zählen deswegen auch „PR-“ und „Consulting“-Agenturen, wobei genaugenommen deren Kunden die wahren Interessengruppen (Lobbys) sind. Daneben gibt es auch noch einen  Austausch zwischen Lobbyisten und Lobbyierten: „Es kommt häufig vor, dass hochrangige Entscheidungsträger aus Politik oder Exekutive (beispielsweise Ministerien) ‚die Fronten wechseln‘,“ heißt es auf Wikipedia. Erinnert sei an einige  „Industrieberater“ – den ehemaligen Schleswig-Holsteinischen SPD-Ministerpräsidenten Björn Engholm (PreussenElektra), den ehemaligen  SPD-Kanzler Gerhard Schröder (Gazprom) und den ehemaligen Grünen Außenminister Joschka Fischer (Nabuco). Ein typisches Agentur-Beispiel kreierte  dagegen der ehemalige  SPD-Vorstandsvorsitzende Rudolf Scharping:  die RSBK – „Rudolf Scharping Strategie Beratung Kommunikation“. Scharping bietet darin zusammen mit Rainer Brüderle von der FDP, mit dem CSU-OB a.D. Deimer aus Landshut und dem Sozialdemokraten Rolf Böhme, OB a.D. aus Freiburg sowie Lehmann-Grube, OB a.D. aus Leipzig, sogenannte „Werkstattgespräche für kommunale Entscheider“ an. Dabei geht es um die Vorzüge von Public-Private-Partnership – PPP (*), d.h. ihnen sollen  per „Dialog diejenigen nahe gebracht werden, „die als Käufer kommunalen Eigentums“ in Frage kommen. Dadurch nimmt man ihnen die Skrupel bei der Privatisierung – zwecks Entschuldung ihrer Kommunen. Für diese „Entscheider“ gibt Rudolf Scharping auch  ein monatliches Info namens „PPP-Kompakt“ heraus. „Kein Wunder, dass in diesen Netzwerken das Verscherbeln der mühsam aufgebauten öffentlichen Einrichtungen wie geschmiert funktioniert,“ resümiert der Journalist Albrecht Müller.

Hinzugefügt sei, das derlei „Deals“ früher in Hotelhallen und Parlamentsfluren eingefädelt wurden, die man „Lobbys“ nannte. Der erste Wirtschaftswissenschaftler Adam Smith war sich bereits sicher: „Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet…“ (**)

Die „kommunalen Entscheider“ denken jedoch langsam wieder um: So war man sich z.B. in den mit Immobilien befaßten Gremien und Dienststellen des Berliner Senats fast schon einig,  dass man künftig bei der Privatisierung von kommunalem Eigentum nicht mehr so leichtfertig sein werde wie bisher. Eine solche Äußerung war im „Bauausschuß“ auf die kostenlose Übereignung (Schenkung) von 23 städtischen Mietshäusern an die „Gesellschaft für sozialen Wohnungsbau“ gemünzt gewesen. Die GSW – mit 65.000 Wohnungen Berlins größtes einst gemeinnütziges Wohnungsbauunternehmen – wurde 2004 an die US-Investmentgesellschaft Cerberus verkauft – ein sogenannter Geierfonds, gegründet von Stephen Feinberg, der damit bisher 80 Milliarden Dollar zusammnsammelte: Cerberus investiert oder kauft Firmen, die kurz vor dem Bankrott stehen. Danach übernimmt er entweder als größter Gläubiger die Kontrolle, saniert die Unternehmen und verkauft sie weiter – oder zerschlägt sie und schlachtet sie aus. Zu seinen Mitarbeitern bzw. Beratern zählt der ehemalige VW- und DaimlerChrysler Vorständler Wolfgang Bernhard. Daneben gehören laut Spiegel „der ehemalige US-Finanzminister John Snow als Verwaltungsratschef und der ehemalige Vizepräsident Dan Quayle als Vorstandsmitglied zum Team von Cerberus. In Deutschland soll außerdem der einstige Verteidigungsminister Rudolf Scharping das Unternehmen beraten.“ Wichtig ist in der GSW, das Cerberus 2011 im übrigen wieder  verkaufte  (und dabei 157 Millionen Gewinn gemacht hatte, hinzu kamen noch einige Millionen durch den Verkauf des GSW-Verwaltungsgebäudes an einen spanischen Immobilienkonzern), der Vorständler Eckard John von Freyend. Er war zu Treuhandzeiten bereits The Brain behind Breuel – in seiner Funktion im Finanzministerium. Sein „Geschäft“ war damals schon die Privatisierung bzw. die „Immobilienlösung“. Von da aus ging er in die Führungspositionen von staatlichen Bereichen, die zur Privatisierung vorgesehen waren. Zuletzt in einer Bauprojekt-Aktiengesellschaft namens IVG, die aus der bundeseigenen „Industrieverwaltungsgesellschaft“  hervorging. Das „corporate-finance-fachportal schrieb: „Das Großflughafenprojekt Berlin wird nach Einschätzung des IVG-Vorstandsvorsitzenden Eckart John von Freyend jetzt planmäßig verwirklicht.“

Das stimmt zwar nicht ganz, wie wir jetzt erfuhren, aber der promovierte Preuße Eckard John von Freyend ist inzwischen schon weiter, neben einer ganzen Reihe von wichtigen Ehrenämtern in diversen Immobilien-Lobbyorganisationen ist er nun Vorstandsvorsitzender der ehemals kommunalen „Gesellschaft für sozialen Wohnungsbau“ – GSW, die er gerade – ebenso wie zuvor die IVG – zu einem börsennotierten Unternehmen wendete. Wir haben hier den nicht seltenen jedoch herausragenden Fall einer Figur, die ihre eigene Lobby ist.

In einem Interview der Süddeutschen Zeitung meinte der ehemalige Vorsitzende des amerikanischen SDS – Tom Hayden kürzlich:, dass die „Chancen für Veränderung“ heute zwar viel besser sind als 1968, aber die „Bürger von Europa“  gerade erst „herausfinden“, dass „ihre gewählten Regierungen alles nicht gewählten ausländischen Investoren überschreiben.“ Hayden will damit glaube ich andeuten, dass wir hier erst am Anfang der Mobilisierung und Verflüchtigung aller Immobilitäten stehen.

Der Philosoph des Judentums Emmanuel Lévinas jubelte nach dem geglückten Weltraumflug von Juri Gagarin: Nun sei endgültig das Privileg „der Verwurzelung und des Exils“ beseitigt. Seit Gagarin gilt die einstige jüdische Juxtaposition für jeden und niemanden mehr. Der jüdische Philosoph Vilem Flusser behauptete jedoch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Gegenteil: „Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreisst und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen.“

 

Anmerkungen:

(*) In den Siebzigerjahren entstand in den USA eine „Neighbourhood-Movement“. Ein Sproß daraus war dann ab den späten Achtzigerjahren die „Public-Private-Partnership (PPP), für deren Verbreitung hierzulande die in Westberlin und Bonn ansässige US-Planungskritikerin Toni Sachs-Pfeiffer sorgte: Die PPP hat zum Hintergrund die Vorstellung, dass „das Gemeinwohl nicht allein von der öffentlichen Hand hergestellt“ werden kann bzw. darf: „Jeder hat irgendwelche Ressourcen, um dazu beizutragen, und jeder ist auch dafür verantwortlich.“ Ein solches Denken hängt natürlich auch damit zusammen, dass gerade in den USA – spätestens seit Reagan – „die öffentliche Hand versagt hat“. Als z.B. die Stadt Cleveland vor dem Bankrott stand, mußte sie ihre Planungsämter bis auf 23 Leute reduzieren. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie „anerkennen mußte, dass die Bewohner auch Experten sein können“: Sie wurden aufgefordert, sich ihre Architekten und Planer selbst zu wählen. „Der Neighbourhood mußte seine eigene Planung machen: ‚Hire your own developer and check it up with us“ – wurde im Rathaus verkündet. Die Leute fingen daraufhin an, „eigene Ideen zu entwickeln, unter maximaler Ausschöpfung ihrer eigenen Ressourcen.“

Ähnlich wie das Hartz IV-Konzept von der Arbeits- und Sozialamtsreform in Wisconsin übernommen wurde, gelangte auch das PPP nach Deutschland – nur dass es hier umgedreht wurde: Wenn man dort den  „Neighbourhood“ als „privaten Sektor“ begriff, dann wurde hier daraus ein privater Investor bzw. Spekulant, der sich selbst auch gerne als „developer“ bezeichnet. Mit diesen kommt seitdem „die Politik“ beim Verscherbeln von kommunalem Eigentum ins Geschäft – und nur mit ihm. Und das nennen beide „Partner“ (besser: „Comrads in Crime“ – CiC) dreist „PPP“.

(**) Diese „Verschwörungen“ nennt man – quasi offiziell – „Kartelle“. Üblicherweise sind sie branchenspezifisch organisiert. Es gibt z.B. das Kali-, das Aluminium- und das Zement-Kartell. Das berühmteste dürfte das 1924 gegründete internationale Elektrokartell sein, das sich erst Phoebus und dann IEA (International Electrical Association) nannte und zuletzt von Pully bei Lausanne aus agierte.

Im angelsächsischen Raum, vor allem in Amerika hat der Staat die Aufgabe, Kartelle nicht zuzulassen – d.h. sie zu zerschlagen. In Europa, wo der Staat quasi vor den Bürgern da war, schützt dieser jedoch eher die Kartelle. Und dies u.a. dergestalt, dass er sie ignoriert – so gründlich, dass z.B. der Gründer der  Antikorruptionsorganisation „Transparency International“ Peter Eigen vorgab, noch nie etwas von einem Elektrokartell gehört zu haben. Dabei liegen mehrere Zentner Akten und Korrespodenzen der IEA keine fünf Kilometer von seinem Berliner Büro entfernt im Landesarchiv. Ähnlich wie Eigen reagierte dann sogar das Bundeskartellamt, als der brasilianische Kartellexperte Rudolf Mirow dort vorsprach, um sie mit Informationen über das schändliche Wirken des Elektrokartell, in dem Siemens/Osram lange Zeit führend waren, aufzuklären. Sie bezeichneten Mirow anschließend „als ein bißchen paranoid“ – und taten nichts. Dieser schrieb daraufhin der damaligen für die Privatisierung Ostdeutschlands quasi zuständige Treuhandchefin Birgit Breuel einen Brief, in dem es hieß: „Es besteht der Verdacht, daß dieses Kartell sich jetzt den Markt der Neuen Deutschen Bundesländer untereinander aufgeteilt hat…und daß Mitglieder der IEA erneut mit ‚combat-‚ auch ‚fighting proceedings‘ genannt, gegen sogenannte ’non- members‘ vorgehen…Es wäre bedauerlich, wenn auf Grund der Unkenntnis der Organisationsformen der Elektroindustrie jetzt möglicherweise veraltete, aber doch sanierungsfähige Betriebe geschlossen würden, die Mitgliedern der IEA einmal Paroli und Wettbewerb bieten könnten. Da alle Untersuchungen zeigen, daß es in der Elektroindustrie nie eine Marktwirtschaft gegeben hat, werden sich die Probleme der ostdeutschen Unternehmen also auch vorerst nicht mit reinen marktwirtschaftlichen Instrumenten lösen lassen.“

Ich bekam wenig später einen Brief von den Verschwörern selbst – dem Elektrokartell in Pully, in dem es hieß: „Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass das IEA am 31.September 1989 aufgelöst wurde.“ Obwohl Mirow es bezweifelte, mochte dies sogar stimmen, denn zumindestens der Siemenskonzern änderte in der Wende langsam sein Geschäftskonzept – wenn er auch weiterhin gegenüber ausländischen Mitbewerbern wie General Electric und Samsung etwa – erfolgreich –  auf seinen IEA-verbrieften „Gebietsschutz“ für Ostdeutschland bestand – und fast alle nennenswerten Betriebe der Elektrobranche in der DDR zum „Schnäppchenpreis“ übernahm bzw. sie über seine der Treuhandanstalt überstellten Manager abwickeln ließ. Der Erwerbungen waren am Ende so viele, dass das Kartellamt sich nicht dazu durchringen konnte, mir eine vollständige Liste zu kopieren. Nebenbeibemerkt war der Siemenskonzern  auch zahlendes Mitglied von „Transparency International“ – bis seine neue Geschäftspolitik aufflog: Sie bestand kurz gesagt darin, sich zum einen aus der Konsumgüterproduktion völlig zurückzuziehen und zum anderen, seine „Leistungen“ Staaten bzw. staatliche Institutionen anzudienen – über  Bestechungsgelder, was im Falle seiner Geschäftspartner Russland, Griechenland und vieler anderer Staaten bis zu einer Verzehnfachung des Preises von Siemens-Produkten führte.

Halten wir fest: Wenn die Kartellpolitik dazu führte, dass unliebsame Konkurrenz ausgeschaltet wurde, durch Preisdumping, Patentprozesse und unfreundliche Betriebsübernahmen bei denen die befreundeten Banken mitspielten, so dass schließlich in jedem Industrieland nur ein Elektrokonzern übrig blieb, der gemeinsam mit den anderen Kartellmitgliedern die Preise bestimmen konnte, dann führte die behauptete Auflösung der IEA nach dem Zerfall des Ostblocks dazu, dass seine Mitglieder sich vor allem auf das  Korrumpieren von Staatsbeamten verlegten – und das weltweit. Zu diesem Zweck halten sich die Konzerne in vielen Ländern „Lobbyisten“, die formal freie Mitarbeiter (Berater) sind und das Schmiergeld auszuhandeln haben. Als „schwarze Kasse“ und Schmiergeld-Transferstelle fungierte u.a. die „Bank der Banken: ‚Clearstream'“ in Luxemburg – mindestens bis dieses „Siemens-System“ 2008 aufflog.

 

 

Sone Schaukel hätte die Heimleitung aber wirklich mal früher anschaffen sollen./Kreuzberg

 

Das Jerusalem-Gefühl im U-Bahnhof Alexanderplatz

Die Staatsorgane tun hierzulande alles, damit die jungen Muslime in Deutschland durchdrehen – und irgendwann explodieren. Am Sonntag fuhr ich mit der U2 und las dabei den Roman „Tanzende Araber“ des israelischen Palästinensers Sayed Kashua. Der Ich-Erzähler, in Jerusalem lebend, wird derart oft von jüdischen Mitschülern, von Polizisten und Militärs angemacht und gedemütigt, dass er nur noch eins will: Jude sein. „Früher sah man mir an, dass ich ein Araber bin. Man erkannte mich sofort, und daraufhin wurde ich zu einem Experten der Identitätsfälschung.“

Seine Entscheidung dazu fiel, als Soldaten einen Bus kontrollierten und ihn zum Aussteigen aufforderten: „Wie habe ich geweint, nie hatte ich mich so erniedrigt gefühlt.“ Es gelingt ihm zwar, sich weitgehend zu entarabisieren, aber als er eine dunkelhäutige Araberin heiratet, muss er wieder bei den Kontrollen zittern, wenn sie dabei ist. „Bisweilen denke ich daran, zum Judentum überzutreten, und dann glaube ich wieder, ich müsste mich selbst in die Luft sprengen oder die Soldaten an der Kreuzung Ra’anana überfahren.“

Als ich am Alexanderplatz ausstieg und die Treppe zur U5 runterging, glaubte ich, noch im Roman zu sein: Es liefen Polizisten mit schusssicheren Westen herum, einige hatten einen Araber an die Wand gestellt: ein Kind noch, es war höchstens 16, seine zwei Kumpel, die noch jünger waren, standen aschfahl daneben und guckten, was passiert. „Wir sind hier doch nicht in Jerusalem?“, sagte ich entsetzt zu einer blonden Polizistin, die mich keines Blickes würdigte, weil sie hektisch versuchte, einen Funkkontakt mit ihrer Einsatzzentrale zu bekommen, derweil ihr Kollege dem Araber nervös befahl: „Beine breit! Noch breiter“

Zwei Wochen zuvor war mir bereits auf dem Alex eine Gruppe Polizisten entgegengekommen, die sich ebenfalls einen Araber geschnappt hatten. Er war so jung und klein gewesen, dass ich ihn inmitten der uniformierten und abgepanzerten Muskelprotze erst gar nicht gesehen hatte. Sie brachten ihn wie einen kostbaren Fang in ihren Mannschaftswagen.

Ein paar Tage zuvor war ich nachts mit dem Taxi von der Kreuzbergstraße zum Görlitzer Bahnhof gefahren und dabei viermal (!) an Polizisten vorbeigekommen, die zwei oder drei Türken bzw. Araber an die Wand bzw. deren Auto gestellt hatten und ihre Ausweise kontrollierten. „Ich kann das gar nicht mit ansehen“, hatte der Taxifahrer, ein Sudanese, gemeint, „die haben es echt auf die abgesehen. Aber wir Afrikaner haben es auch nicht leicht in Deutschland“, sagte er, gequält lachend.

Ich fand es insbesondere schlimm, dass diesen Staatsorganen in ihrer Blödheit nichts anderes einfällt, als sich immer mehr zu amerikanisieren: Vor der „deutschen Einheit“ gab es das An-die-Wand-Stellen-und-Beine-breit-Machen nicht, ebenso wenig das Mit-Plastikhandschellen-Fesseln und Mit-Gummihandschuhen-Filzen. Und die Uniformen der zunehmend nur noch bodygebildeten Beamten waren früher auch noch nicht von New Yorker „Cops“ inspiriert. Sie guckten damals alle „Derrick“ oder „Der Alte“, während sie sich heute nur noch idiotische US-Bullenserien wie „CSI New York“, „Homicide“ und „The Wire“ reinziehen.

Intelligenzmäßig unterscheiden sie sich in nichts mehr von den Türstehern an den Clubs, die ebenfalls bloß noch „Schwarzköpfe“ (Türken und Araber) im Visier haben. Die Justiz ist auch nicht besser: Ein angehender Berliner Richter erzählte mir, dass die Mehrzahl seiner Akten Muslime betreffe. Ähnliches berichtete der holländische Autor Geert Mak – aus seiner Lokalredakteurszeit: „Als ich zum ersten Mal das Verzeichnis der Gerichtsverfahren sah, erschrak ich zu Tode: Die Liste stand voll junger Alis und Ahmeds.“

Gleichzeitig beklagen sich die staatstragenden Medien über „das offiziöse Herunterreden von Migranten-Kriminalität“ (FAZ) und dass die muslimische Bevölkerung die meisten „Streitfälle“ nicht vor Gericht austrägt, sondern mithilfe von Mullahs oder anderen Autoritäten unter sich.

Das Problem liegt eindeutig bei den staatlichen Organen: Wenn man eine bestimmte Bevölkerungsgruppe unter genaue Beobachtung stellt, dann findet man immer was, und zwar massenhaft. Überwacht z. B. nur die taz genau – über kurz oder lang werden sämtliche Mitarbeiter vor Gericht landen und mit Strafen überzogen sein!

 

 

Christel freut sich mit Herbert über seinen ersten Preis im ‚Günter-Guillaume-Lookalike-Contest, der wie immer im Hotel Estrel stattfand.

 

 

Männermangel in Tanzschulen, Frauenmangel in den Clubs

Für das Abtanzen sind heute die Clubs, früher Discos genannt, zuständig. Das Antanzen dagegen findet nach wie vor in Tanzschulen statt. Zwar mussten viele Tanzschulen inzwischen aufgeben. Gleichzeitig erweiterte sich jedoch das Kursangebot: brasilianische, kubanische und argentinische Exilanten machten Schulen auf.

Daneben werden die Überbleibsel der letzten Ballhäuser, drei allein in Mitte und eins in Charlottenburg, zu Treffpunkten einsamer Türken und Araber, die ältere Damen auffordern. Manchen geht es dabei um eine gesetzliche Einbürgerung. „Klärchen Ballhaus“ in Mitte wurde unterdes erfolgreich relaunched. Bei laufendem Discoprogramm gibt es dort ein von Tanzlehrerinnen geleitetes Programm. Das uns hier interessierende Antanzen ist also nicht totzukriegen. Die Tanzschulen haben jedoch ihren gesellschaftlichen Auftrag verloren, sind reine Vergnügungsorte geworden.

In den 60ern standen sich dort die Mädchen und Jungs noch aufgereiht gegenüber, um sich auf Anweisung zu berühren. Die Mädchen hatten zu Hause schon alle geübt. Die Jungs hatten feuchte Hände und traten den Mädchen beim Tanzen auf die Füße. Es ging in den Tanzschulen auch um gutes Benehmen gegenüber dem anderen Geschlecht. Dennoch war das Programm für die Mädchen demütigend, mindestens für die, die immer zuletzt aufgefordert wurden. Umgekehrt wurde unter den Jungs verlacht, wer ein besonders dickes oder pickeliges Mädchen abbekommen hatte. In der Tanzschule lernte man die Konkurrenz der Körper. Diese Funktion ging auf die Discos über, die Selbstorganisation der Körperkonkurrenz begann.

Der Unterschied zwischen den Clubs und den Tanzschulen besteht darin, dass in jenen ein Männerüberschuss und in diesen ein Männermangel herrscht. So müssen tanzwillige Damen immer öfter vertröstet werden bei ihren Kursanmeldungen. Hier böte sich der Beruf des Eintänzers auf eigene Rechnung an, wie er in den Discos an der türkisch-arabischen Küste noch existiert.

Wurden anfangs in den Discos noch einige Standardtänze wie Discofox getanzt, so erweiterten sich auf der anderen Seite die Tanzschulen, indem sie auch Rock ’n‘ Roll und Twist lehrten (heute: HipHop und Streetdance). Es ging dabei, hüben wie drüben, um die Reterritorialisierung der mit Parolen wie „Sex & Drugs & Rock ’n‘ Roll“ sich gerade deterritorialisierenden Jugend. Man bangte schier um sie.

Und bangt noch immer – wegen Drogen aber nur noch. Was die Tänze und den vorehelichen Geschlechtsverkehr betrifft, gab man auf. Nirgendwo wird heute etwa das individuelle Sichbewegen nach Techno- oder Trancemusik gelehrt. Andererseits hat Rock-’n‘-Roll-Tanzen nur noch im Repertoire des Standardtanzes überlebt. Kein Wunder: Vor dem Rockerheim Jodelkeller in der Adalbertstraße stehen heute manchmal mehr Rollatoren und Fahrräder als Motorräder.

 

Eine Hand wäscht die andere/Zoo – Westberlin

 

PK bei den Flusspferden

„Der Zoodirektor erklärte leidenschaftlich: Was Tiere kosteten. Was Futter kostete. Was ein Zoo ohne Tiere sei – und was ein Zoo mit Tieren für den Fremdenverkehr, für Volksbelehrung und Ablenkung von politischen und …“, schrieb der Dichter Joachim Ringelnatz 1929.

Auf einer Pressekonferenz im Flusspferdhaus erklärten Zoodirektor Bernhard Blaszkiewitz und der ehemalige Bürgermeister Eberhard Diepgen vorige Woche ganz genau dasselbe. Im Mittelpunkt stand dabei die Vorstellung einer neuen Stiftung für den Zoo, um unter anderem ein neues Vogelhaus, ein Nashornhaus und ein Tapirhaus zu finanzieren – Kostenpunkt rund 22 Millionen Euro. Die Presse möge da bitte schön mitarbeiten. „Wir wollen dem Bürger die Chance geben, sich zu beteiligen. Die Stiftung soll eine Art Bürgerinitiative sein. Ein weiterer Schritt in die Zukunft“, sagte Eberhard Diepgen, der dasselbe schon 1991 über die damals noch neuen Busspuren gesagt hatte.

Doch bei allem guten Willen wurde nicht ganz klar, warum es dieser (Westberliner) Stiftung bedarf, gibt es doch bereits seit einem Jahr eine (Ostberliner) Stiftung Hauptstadtzoos, die sowohl den Tierpark als auch den Zoo einschließlich Aquarium fördern will. Diese Stiftung hatte vor einigen Monaten gegen die vom Senat angekündigte Streichung der Zuschüsse für den Zoo ab 2012 protestiert – wobei sie argumentierte: Seine Einnahmen seien in den vergangenen vier Jahren vor allem durch weniger Besucher um ein Drittel gesunken. Das entstandene Finanzloch könne zurzeit noch durch Rücklagen aufgefangen werden, doch diese seien bald aufgebraucht. Ein Sprecher der Finanzverwaltung entgegnete jedoch im Mai: „Nach unserer Kenntnis hat der Zoo auch 2010 einen Überschuss erreicht.“ Zudem seien Rücklagen in ausreichender Höhe vorhanden. Immerhin soll der Tierpark wohl auch weiterhin Geld vom Land bekommen – in welcher Höhe, ist allerdings offen.

Bisher erhielt der Zoo rund 2,5 Millionen Euro, der Tierpark etwa 6,5 Millionen Euro. Die unterschiedliche Höhe der Zuwendungen erklärt sich unter anderem aus dem Wettbewerbsnachteil des im Ostteil Berlins abseits der Touristenströme gelegenen Tierparks: Während der Zoo auf jährlich rund drei Millionen Besucher kommt, erzielt der Tierpark deutlich weniger Einnahmen mit etwa einer Million Besuchern jährlich. Der Zoo nahm darüber hinaus noch etliche Millionen aus dem Medienrummel um den Eisbären Knut sowie 2006 durch den günstigen Verkauf eines Geländes für ein geplantes Riesenrad am Zoo ein.

Der avisierte Stopp der Zuschüsse für den Zoo erklärt vielleicht, warum man nun speziell für diese Westberliner Einrichtung noch eine weitere Stiftung gründete, für die die Zoo AG – also der Zoo selbst – eine Million Euro bereitstellte. Die Stiftung zur Förderung beider Hauptstadtzoos bekam dagegen laut Diepgen nur 320.000 Euro von ihrem „Freundeskreis“; die Berliner Morgenpost sprach sogar von nur 50.000. In beiden Stiftungen sitzt Eberhard Diepgen im Vorstand. Und Direktor sowohl der AG Zoo als auch von dessen 100-prozentiger Tochter, der Tierpark GmbH, ist Bernhard Blaszkiewitz.

Als die BZ im Oktober 2010 einen „Geheimplan“ zur Modernisierung der beiden Tiergärten veröffentlichte, der der Finanz- und der Zooverwaltung angeblich schon seit 2007 bekannt war – und mit dem man sie zeitgemäß aufhübschen sowie mit mehr Merchandising profitabler machen wollte -, wiegelte Blaszkiewitz ab. Er wolle keinen „Spaß-Zoo“, ihm gehe es um „Zuchterfolge statt Erlebnispark“, Aufgabe der Tiergärten sei es, „Naturschutz zu betreiben“. Dazu gehöre es eher, die Anlagen zur Haltung der Tiere in Gefangenschaft immer „artgerechter“ zu gestalten. Die BZ konterte: „Es geht für den Tierpark auch ums Überleben. Die Modernisierung spart nicht nur Zuschüsse.“

Die Zoo-Fachfrau der Grünen, Claudia Hämmerling, verwies in diesem Zusammenhang auf die erfolgreichen Modernisierungen der Zoos in Hannover und Leipzig. „Besonders der Tierpark wirkt etwas altbacken. Da muss sich schnell was ändern“, erklärte sie der Presse. Auch die Süddeutsche Zeitung fand dann den Tierpark „trostlos“. Die BZ zitierte den Direktor des Hannoveraner Zoos, der in den vergangenen 16 Jahren rund 110 Millionen Euro für den Zoo-Umbau ausgab: „Die Menschen kommen nicht in den Zoo, um sich belehren zu lassen, sie wollen etwas erleben. Man muss sie begeistern und faszinieren“, fasste er sein Erfolgskonzept zusammen. Im Leipziger Zoo wurde kürzlich eine 67 Millionen Euro teure „Tropenerlebniswelt Gondwanaland“ mit integriertem Restaurant eingeweiht. 2015 soll der Aus- und Umbau dieses Zoos zu „einem der modernsten und innovativsten Tiergärten der Welt“ abgeschlossen sein. Blaszkiewitz meinte dazu auf der Pressekonferenz: Bei solch einem Bauvolumen würde er nicht mehr ruhig schlafen können, das jetzige Vorgehen, in kleinen Schritten gewissermaßen, sei sinnvoller. Dazu zitierte er seinen Vorgänger Klös: „Ein Zoo wird niemals fertig.“

Auch für den Tierpark Friedrichsfelde liegen inzwischen Modernisierungspläne vor. Als „Reise durch die Evolution“ geisterten sie durch die Medien: beginnend mit einer „Erlebniswelt Galapagos“ und einer „Manati-Unterwasserwelt“ bis hin zu einer „Event-Gastronomie“. Alles in allem werden dafür 80 Millionen Euro veranschlagt. Die Weitläufigkeit des „Landschaftstierparks“, einst der flächenmäßig größte der Welt, inspirierte die Planer offenbar zu seinem Umbau in einen „Entdecker-Tierpark“: „Um die Attraktivität der Präsentation der Tiere zu steigern und den Erlebnischarakter des Tierparks weiter zu betonen, können Besucher Beobachtungen von verschiedenen Aussichtspunkten (Lodges, Brücken, Unterstände, Baumhäuser) vornehmen“, visionierten die Planer. Beim Finanzsenator begrüßte man diese Ideen, bezeichnete sie jedoch als zu aufwendig und kostenintensiv. Im Flusspferdhaus nahm Gabriele Thöne, kaufmännischer Vorstand der Zoo AG, dazu kurz Stellung: „Wir entwickeln gerade einen Masterplan für den Tierpark.“

Aber auch der 1848 gegründete Zoo solle wieder werden, was er einst gewesen sei, meinte Thöne: der „gesellschaftliche Mittelpunkt Berlins“, mit Feiern, Partys und so fort. Das war in den zwanziger Jahren. Damals lobte die Vossische Zeitung in einem Vorschlag zur Abschaffung des Eintrittsgeldes seine „Gemeinnützigkeit für alle“, seinen „stillen erheiternden Naturgenuß für Arm und Reich“ und „schönen Zweck einer wahren Volksbelehrung“. Dieser „Volksbildungsauftrag“ gilt eigentlich bis heute.

Im Ostberliner Tierpark allerdings noch mehr als im West-Zoo, weswegen es dort eine Vielzahl von Anbindungen an Forschungseinrichtungen gab und sogar die Pfleger-Ausbildung erstmalig wissenschaftlich geregelt wurde. Der Tierpark wurde 1965 vom Zoologen Heinrich Dathe gegründet, der im Osten so beliebt war wie Bernhard Grzimek im Westen. Tausende Berliner leisteten damals Aufbauarbeit, unter anderem beim Anlegen der Freigehege. Die Zoos in den sozialistischen Bruderländern spendeten anschließend die Tiere, ebenso die DDR-Betriebe und -Organe. Die Stasi etwa Stachelschweine: ein subtiler Hinweis für den Direktor. Er war noch vor den „Märzgefallenen“ der NSDAP beigetreten, dann Blockwart geworden und hatte sich als Zoologe ab 1933 auf Stachelschweine spezialisiert.

Schon kurz nach der Wende wurde Dathe Knall auf Fall entlassen, er musste sogar innerhalb von drei Wochen seine Dienstwohnung räumen. Dann wurden die Menschenaffen in den West-Zoo übergesiedelt. Schließlich sollte sogar die Schlangenfarm des Tierparks nach drüben verbracht werden. Nicht in die vielleicht größeren Schauterrarien, sondern ins dortige Depot. Da kam Zorn auf in Ostberlin. Es gründete sich eine Bürgerinitiative, Senat und andere Verantwortliche wurden mit bösen Briefen bombardiert. Es war von einem Ausverkauf des Ostberliner Tierparks zugunsten des Westberliner Zoos die Rede.

Genau das geschah damals überall im Osten. Dathe hatte es bereits in der Wende kommen sehen: „Der Tierpark wird wohl weiterbestehen“, meinte er gegenüber einer Journalistin, „aber vielleicht als eine Art Hirschgarten, der keine Konkurrenz für einen Zoo darstellt. Wir waren immer ein Wissenschaftszoo, der Westberliner mehr ein Schauzoo. Und die Wissenschaft muss weg.“ Erst einmal wurden nach ihm auch noch rund 170 Mitarbeiter entlassen und für die verbliebenen 286 Stechuhren installiert. Die Lehrausbildung der Zoo-Tierpfleger verlagerte man in den Westen.

Im gemeinsamen Aufsichtsrat von Zoo und Tierpark saßen Vertreter des Finanz- und des Gesundheitssenators. Weitere stellte die Commerzbank, die Landesbank, die Oberfinanzdirektion und eine Immobilienfirma. Nach den Protesten gegen den – schlussendlich abgeblasenen – Schlangenraub wurde auch noch ein Ostler, Lothar de Maizière, in den Aufsichtsrat berufen. Er ist Geschäftsführer einer Firma, die Denkmäler mit Hilfe von Werbegeldern renoviert.

Statt seiner trat jedoch der Aufsichtsratsvorsitzende Frank Bruckmann bei der Pressekonferenz auf. Er ist Vorstandsvorsitzender der Berlinwasser Holding AG und erklärte: „Ohne Tiere gibt es keinen Zoo.“ Dem wollte und konnte keiner widersprechen.

P.S.: Viele Fans gedachten heuer des vor einem Jahr gestorbenen Eisbären im Stillen, schrieb das Hamburger Abendblatt. Die Stadtfunktionäre Berlins wollen es lieber laut: Sie brachten eine Knut-Gedenkmünze auf den Markt, gaben ein Denkmal in Auftrag, Titel „Knut – der Träumer“, erlaubten das Aufstellen einer Bank im Zoo – Aufschrift: „Zur Erinnerung an Eisbär Knut – Deine Freunde“, und motivierten das Naturkundemuseum, wo Knut derzeit zur Präparation vorbereitet wird, zu einer Gedenkveranstaltung. Daneben haben sich auch die „Animal Studies“ des Knuts angenommen, Verlage und Plüschtierbastler ihren Kitsch neu aufgelegt.

Der Kommerzrummel um den nur fünf Jahre alt gewordenen Eisbären begann kurz nach seiner Geburt: Da wurde er im Beisein von Journalisten und Umweltminister „der Weltöffentlichkeit vorgestellt“. Die Springerpresse wollte aus Knut einen Superstar machen, die Fotografin Annie Leibowitz reiste aus den USA an, und Frank Zander röchelte ein Knut-Lied.

Das ließ auch den prolligsten Berliner nicht kalt: Zehntausende besuchten das mediale Totemtier. Jetzt, ein Jahr nach seinem Tod, droht Knut die Ewigkeit. Ein Genforscher aus Texas will den Bären klonen – schreibt der Berliner Kurier.

 

Kurt erzählt Irmi auf der Datsche den neuesten Knut-Witz/Lankwitz

 

 

Lobbyisten 2.0

1964 veröffentlichte der US-Autor Daniel F. Galouye eine Science Fiction mit dem Titel „Gefälschte Welt“. Es geht darin um ein Unternehmen, das zu Marktforschungszwecken eine Stadt im Computer simuliert. 1973 machte Rainer Werner Fassbinder aus diesem „Goldmann Weltraum-Taschenbuch“ eine zweiteilige Fernsehserie für das ZDF – mit dem Titel „Welt am Draht“. Hier geht es um ein „IKZ“ – „Institut für Kybernetik und Kommunikation“, das im Auftrag des Staates mit seinem Großrechner  „Simulacron-1“ eine virtuelle Stadtbevölkerung kreiert. Ein Staatssekretär, der von einem Stahlkonzern in die Politik wechselte, möchte vom IKZ Gewißheit darüber bekommen, dass die Verkehrspolitik in den nächsten 10 Jahren beibehalten – und der Stahlverbrauch dementsprechend sein werde. Da dieses unsittliche Anliegen privaten Profitstrebens vom IKZ-Direktor brüsk zurückgewiesen wird, schleust der Stahlkonzern seinen Informatiker im Institut ein, der den Direktor schließlich ersetzt.

Die Frage, die sich der Science Fiction Autor Dietmar Dath im Anschluß an die   Vorführung von „Welt am Draht“ im Rahmen einer Berliner Faßbinder-Werkschau im Mai 2012 stellte: „Warum simuliert irgendjemand etwas am Rechner?“ hatte in den Sechzigerjahren der Peenemünder Steuerungsingenieur Helmut Gröttrup, der ab 1945 für die UDSSR Raketen baute und dann Chefinformatiker bei Siemens wurde, in einem Vortrag vor Hamburger Geschäftsleuten so beantwortet: „Die unternehmerische Freiheit ist ein bloßer Irrtum, der auf Informationsmangel beruht!“ Einige englische Marxisten haben dagegen unlängst auf dem „Rosa-Luxemburg-Kongreß“ ausgeführt, dass mit der Computerisierung erneut an die Realisierung einer gesamtgesellschaftlichen Planwirtschaft gedacht werden könne. 1970 hatte dies bereits der US-Ingenieur Stafford Beer in Angriff genommen, als er für den chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende eine politische Entscheidungsmöglichkeit nicht mehr auf Basis von Statistiken sondern als rechnergestützte „Real Time Control“ konstruierte. Dergestalt sollten einem auch in der Politik die „freiwilligen Handlungen“ aufgezwungen – d.h. ein Land „gemanagt“ werden.

Der Pinochet-Putsch beendete dieses Projekt, bevor das von Stafford installierte System die „Echtzeit“ erreichte.

Nun hat der Medienwissenschaftler Claus Pias in einem Kolloquium des Berliner Wissenschaftskollegs schon die Umrisse eines auf Computersimulationen  beruhenden „epistemischen Umbruch in den Wissenschaften“ nachzeichnen können. Auch mit der Forschungsfreiheit ist es anscheinend vorbei. Die Simulation ersetzt die Repräsentation (John von Neumann), „die Demonstration von Adäquatheit, Beweise“ (Claus Pias) und  „Möglichkeiten“ – die Wahrheitssuche. Dazu erzählte Pias: „1995, also vor fünfzehn Jahren (was für Informatiker eine halbe Ewigkeit ist), entstand am NISAC, einer Kooperation zwischen Los Alamos und den Sandia National Laboratories, eine Simulation namens TranSims, Transportation Analysis and Simulation System, deren Verfasser stolz bekennen: ‚details matter‘. Ziel war es, das Verkehrssystem von Portland, Oregon zu simulieren, und die Methode war natürlich agentenbasiert. Modelliert wurde – ausgehend von Volkszählungsdaten, Straßenkarten und Nahverkehrs-Fahrplänen – nicht nur das gesamte Verkehrsnetz von Portland mit allen Straßen, Bussen, Autos, U-Bahnen, Strom- und Wasserversorgung und insgesamt 180.000 Orten (Schulen, Büros, Kinos, Wohngebäuden etc.), sondern auch eine virtuelle Population von 1,6 Millionen Einwohnern. Alle virtuellen Einwohner gehen dort ihren individuellen täglichen Aktivitäten und Routinen nach, d.h. sie fahren morgens mit dem Auto ins Büro oder abends mit dem Bus zur Nachtschicht, holen Mittags ihre Kinder von der Schule ab, verlassen nachmittags die Uni oder gehen abends ins Kino. Dies alles in der prozentualen Verteilung aufgrund statistischen Datenmaterials, im einzelnen Tagwerk jedoch individuell von Agent zu Agent, mit zufälligen und im Einzelfall nicht vorhersagbaren Verspätungen, Ausfällen oder Spontanentscheidungen. In dieses unsichtbare und kaum überschaubare Gewimmel des Alltags lässt sich nun hineinzoomen.“

In Pias‘ Darstellung dieser Simulationsmodelle wird aus dem alten  Lobbyismus (verstanden als eine Form der Interessenvertretung in Politik und Gesellschaft)  eine neue „Intervention auf die Umwelt“ – ein „Spiel mit Spielregeln, eine Optimierung der Systeme“ und ein „‚freier Raum‘ für Individuen und Praktiken'“. Und diese sind es, „mit denen nun in Simulationen wie EpiSims experimentiert wird, und zwar medientechnisch implementiert. Agentenbasierte Computersimulationen, die nicht nur eine konkrete Infektionskrankheit zu studieren erlauben, sondern vielmehr Verkehr, Wirtschaft, Soziales und Gesundheit als einen einzigen komplexen, kommunikativen Zusammenhang verwalten, der alle möglichen Anfragen zu Lage und Austausch von Menschen und Dingen erlaubt, sind nicht nur eine Art Epochensignatur des Liberalismus, sondern auch mediales Erkenntnisinstrument von Gesellschaft und zuletzt ein wissenschaftliches Experimentierfeld dieser neuen Art des Regierens.“ Und sie „gehen ganz anders vor als die Statistik, denn sie glätten und aggregieren die Details nicht, sondern disaggregieren und entfalten sie als ‚anekdotische Komplikation‘ erst im Hinblick darauf, ob und wie Details zählen.“ Der (ggf. mit falschen Gutachten bzw. gekauften Gutachtern arbeitende) „Lobbyismus“, die „Verschwörung“, das Kartell, die Korruption ist in diesem System ein solches Detail.

Eine Untersuchung, die im Experiment die diesbezüglich unterschiedliche Gesetzgebung in China und Deutschland auf ihre Auswirkungen hin erforschte, kam jüngst zu dem Ergebnis, dass das deutsche System besser zu sein scheint: Hier werden sowohl der Bestecher als auch der Bestochene bestraft, in China nur der Bestochene. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass man bis zur US-Globalisierung in Deutschland die im Ausland getätigten Bestechungssummen von der Steuer absetzen durfte und das Bundesamt für Wirtschaft sogar eine Broschüre an Exportunternehmen verteilte, in dem aufgelistet war, mit was für Summen man in welchem Land rechnen sollte.

In Manila interviewte ich einmal einen Kulturwissenschaftler über den „Kulturalismus“ als neue Identitätsbewegung – nach 500 Jahren Kolonialismus (die Amerikaner zogen faktisch erst nach dem Pinatubo-Ausbruch ab). Für mich äußerte sich dieser zunächst in den englischsprachigen Tageszeitungen von Manila, die ein amerikanisches Wort nach dem anderen durch Tagalog-Worte ersetzen. Der Kulturwissenschaftler erwähnte als Beispiel die langsame Uninterpretation dessen, was die Anglo-Europäer als „Korruption“ bezeichnen und geißeln – in der Tagalog-Sprache gehe das nun in die entgegengesetzte Richtung: Gegenseitige Hilfe. „Wenn z.B. in einem philipinischen Betrieb ein Abteilungsleiter befördert wird, dann erwartet man traditionell, dass er seine Abteilung ebenfalls mit Beförderung versorgt, denn ihr hatte er schließlich seine eigene zu verdanken. Das ganze Kollektiv hat es verdient, befördert zu werden. Die Amerikaner nennen so etwas verächtlich Vetternwirtschaft oder auch Klientelpolitik. Beides könnte es ein bißchen treffen, aber in Wirklichkeit geht es dabei um Verantwortung. Der aus dem Abteilungskollektiv beförderte Leiter wurde dadurch zu einem Verantwortungsträger. Alles andere wäre asozial. Dass man das im Westen genau andersherum interpretiert, liegt auf der Hand.

 

Der Reinickendorfer Jens Schwielitz bekommt einen improvisierten Orden für seine Lobbyarbeit zugunsten des Keglervereins „Alle Neune“ bei der Bezirksverwaltung.

 

 

Suche nach dem japanischen Kuchenbaum

Wenn die Blätter abfallen, wird es Zeit, in den Botanischen Garten zu gehen. Das Schönste, was Steglitz zu bieten hat. Es ist ein echter Ort des „Erstaunens“ (Diderot). Und des Suchens! Das habe ich aber erst im Oktober des letzten Jahres gemerkt: Da gab es eine junge Ukrainerin mit Kind, die erst in Kiew Boutiquen- Schneiderin gelernt hatte und dann als Näherin zur Roten Armee in die DDR gegangen war. Als man sie dort entließ, beantragte sie Asyl in der BRD. „Komm bloß nicht nach Hause, es wird hier immer schlimmer“, hatten die Schwester und die Mutter ihr wiederholt geraten. Sie traf sich mit den beiden gelegentlich an der polnisch-ukrainischen Grenze. Ihr Asylantrag hatte jedoch null Chancen. Ich bot ihr eine Scheinehe an.

Meine Freundin drohte: „Wenn du sie heiratest, ziehe ich aus.“ Um trotzdem noch einmal die eventuellen Formalitäten mit ihr durchzusprechen, verabredete ich mich mit Irina, so hieß sie, zu einem Spaziergang im Botanischen Garten, wo ich ihr den berühmten japanischen Kuchenbaum zeigen wollte, ein Baum, der im Herbst wie ein frischgebackener Kuchen riecht, in weitem Umkreis. Aber wir fanden ihn nicht. Stundenlang suchten wir in „Asien“ und sogar in „Nordamerika“. Irina fand es unterhaltsam. Sie heiratete kurze Zeit später jemand anders – in Hildesheim und aus Liebe. Und also gab es diesbezüglich gar keine weiteren Probleme mit meiner Freundin.

Trotzdem war ich wegen der vergeblichen Suche nach dem Kuchenbaum unzufrieden. In diesem Jahr wollte ich es nun wissen. Am vergangenen Wochenende verabredete ich mich erneut im Botanischen Garten. Diesmal mit einer Uckermärkerin, ebenfalls mit Kind, sie hatte Botanik studiert – ihr Spezialgebiet waren die „Bedecktsamer“. Sie war im Suchen und Auffinden von seltenen Gewächsen weitaus gewiefter als die Ukrainerin, trotzdem fanden wir den Kuchenbaum auch diesmal nicht. Als es dunkel wurde, gaben wir auf – und fuhren in die Wilhelm-Pieck-Straße, um dort – im „Café Jo“ – einige alkoholhaltige Erfrischungsgetränke zu uns zu nehmen. Auf dem Tresen lag eine alte Ausgabe der Stadtteil-Zeitung Scheinschlag zum Mitnehmen. Ein wunderbares ABM-Projekt für Mitte und Friedrichshain, in dem mir vor allem die „Nachgefragt“-Kolumne von Hans Duschke gefiel. Den Toiletten- Gang meiner Begleiterin nutzte ich, um sie blitzschnell durchzulesen. Sie handelte – kein Witz! – von der vergeblichen Suche des Autors und seiner Freundin bzw. Frau (Gisela Duschke?) nach dem duftenden Kuchenbaum im Botanischen Garten. Dieser hübsche Lesefund besserte meine Laune schlagartig. Auch die Botanikerin aus der Uckermark, Jutta hieß sie übrigens, fand Duschkes Kolumne „sehr komisch“. Je mehr wir darüber redeten und dabei auch auf die Zufälle im allgemeinen zu sprechen kamen, desto peinlicher wurde uns das Ganze jedoch: War der Herbstspaziergang von Kolumnisten linksalternativer Periodika mit ihren weiblichen Bekanntschaften im reiferen Alter zum Kuchenbaum des Botanischen Gartens vielleicht gar keine „tolle Idee“ umherschweifenden freien Willens, sondern plattester Ausdruck eines stummen Zwangs ökonomischer Verhältnisse, wie er sich – am Ende – allen Kolumnisten der Stadt in brutalster Weise aufzwingt?

Wenn ich nur gewußt hätte, wo der Baum steht, hätte ich mich unter ihm auf die Lauer gelegt, um diesen scheußlichen Gedanken zu überprüfen. Statt dessen begann ich gleich am Montag, wie wild herumzurecherchieren: Beim Tagesspiegel: „Ja, wir berichten seit Jahren regelmäßig über den“; bei der Mottenpost: „Natürlich kennen wir den, wir sind sogar täglich näher dran!“ (hahaha); beim SFB: „Wir bringen jedes Jahr ein Interview mit dem Sprecher der Botaniker, ,Dr. Zepernick – unter dem Kuchenbaum'“; beim Stachel der Grünen: „Wir überlegen uns gerade, ob wir ab nächsten Herbst eine Menschenkette um den Sulfia B. Japonensis legen sollen, die Kolumnisten der Stadt werden immer dreister, reißen ganze Zweige vom Baum, um sie ihren komischen Freundinnen in die Vase zu stecken, und jetzt kommen auch noch die aus dem Osten dazu…“

Die rief ich dann gar nicht mehr an. Ich war echt erschüttert. Bis zum Mittwoch spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken, diese Kolumne aus freien Stücken sofort zu beenden. Aber dann erreichte mich über den taz- Hausmeister die Nachricht, daß die Chefredaktion beschlossen hatte, allen ehemaligen taz- Mitarbeitern, denen das Arbeitsamt aus Altersgründen keine Umschulung mehr finanziert, ein doppeltes Zeilenhonorar zu gewähren. Auf individuum-orientierten Antrag der Ressortleitung hin zwar nur, aber dafür lohnte es sich doch zu kämpfen.

P.S.: Dieser Text ist längst verjährt.  Die ehemalige Scheinschlag-Redakteurin Ulrike Steglich hat kürzlich im Basisdruck-Verlag ihre gesammelten Stadt-Reportagen veröffentlicht. Auch sie sind verjährt. Immerhin gehe ich noch immer im Herbst, den Kuchenbaum im Botanischen Garten suchen – manchmal finde ich ihn anhand seiner Geruchsspur, manchmal nicht.

 

„Such den Kuchenbaum!“ So geht das natürlich nicht./Tegel

 

Mensch und Hund

Die Strategie der Unterordnung unter die Menschen erwies sich für die (zahmen) Hunde erfolgreicher als die Strategie des Rückzugs in die Wälder für die (wilden) Wölfe. Wobei erstere quasi aus der letzteren heraus entstanden, da inzwischen erwiesen ist, dass die Hunde von den Wölfen abstammen und nicht wie noch Konrad Lorenz behauptete, auch vom Schakal. Der Biologe Cord Riechelmann gibt jedoch zu bedenken, dass die falsche Hundeabstammungstheorie von Konrad Lorenz desungeachtet „in die richtige Richtung“ – der Selbstdomestizierung nämlich – weise: „Lorenz unterschied zwischen freundlich eingestellten Hunderassen, die vom Schakal abstammen, und solchen, die nur einem Herrn bedingungslos treu sind und die vom Wolf herkommen. Dass der Art- und Rasseidealist Lorenz sich beide Verhaltensformen nicht in einer Art vorstellen konnte, hatte zu anderer Zeit andere schlimme Folgen“, schreibt Riechelmann – in Anspielung auf die deutschen „blonden Bestien“, die eine Schwäche für alles Wölfische hatten. Da nun aber DNS-klar bewiesen ist, dass alle Hunde vom Wolf abstammen, geht Riechelmann davon aus, dass die Wölfe „sich zu Teilen selbst domestizierten“. Das betrifft vor allem rangniedere Tiere, die das Interesse am Rudel verloren haben und sich stattdessen „häufig in der Nähe von Dörfern, auf Müllhalden oder am Rand von Kinderspielplätzen“ aufhalten. Riechelmann sieht sie jetzt noch in den großen urbanen Mischlingshunden der Punks und Autonomen aufscheinen, weil diese meist so friedlich sind, dass sie sich nur selbst erzogen haben können.

Es gibt nicht wenige Philosophen, die das bedauern: So sieht z.B. Theodor Lessing in der „Verfeinerung und Hochzüchtung“ von Tieren und Pflanzen eine Krankheit, die den Untergang ihrer Wildheit – verstanden als Gesundheit – zur Folge hat, und namentlich im Hund einen „geknebelten und in sich hineingeprügelten Wolf“. Das könnte auch die feministische US-Biologin Donna Haraway so sehen, da für sie die Wildheit unsere ganze Hoffnung ist. Gleichwohl ließ sie ihre Hündin professionell ausbilden und betreuen. Dazu recherchierte sie: 2002 betrug die weltweit für Haustierfutter und -versorgung ausgegebene Summe 46 Milliarden Dollar, Tendenz steigend, vor allem im Marktsegment „Premiumfutter“. Daneben wird die Medizintechnik für Hunde immer aufwendiger, bis hin zu psychologischen Therapieeinrichtungen und „Krankenversicherungen, die für Haustiere zur Normalität werden,“ wie sie – in ihrem Aufsatz „Hunde mit Mehrwert und lebendiges Kapital“ schreibt. Die Schriftstellerin Katharina Rutschky hat ihrem Cocker-Spaniel „Kupfer“ – in einem ähnlichen Geist wie Donna Haraway und inspiriert von Virginia Woolfs feinfühliger Cocker-Spaniel-Biographie „Flush“ – ein ganzes Buch gewidmet, in dem sie u.a. sein großstädtisches Benehmen gegen das so viel ungehobeltere von Landhunden ins Feld führt. An dieser Differenz hakte bereits Thomas Mann in seiner Erzählung „Herr und Hund. Ein Idyll“ an, in der es ihm 1927 um einen „Hühnerhund“ mit bäuerlichem Hintergrund und Eigenschaften ging, die Thomas Mann zwar außerordentlich schätzte, die für die „Welt“ – die Stadt (München) jedoch nichts taugten, weswegen er seinen Hund – „Bauschan“ – auch nie nach dorthin mitnahm. In anderen Texten hat der „großbürgerliche Schriftsteller“ Thomas Mann die Überführung von Hunderassen in deutsche Gesellschafts-Klassen noch weiter getrieben. Wohingegen der adlige Humorist Loriot dabei eher ins Grundsätzliche ging, als er meinte: „Ein Leben ohne Möpse ist vorstellbar, aber völlig sinnlos.“ Ähnlich Partnerschaftlich dachte auch eine Malerin, als sie über den Hund von Ex-Bundespräsident Johannes Rau, ein schwarzes Ungetüm fast so groß wie ein Kalb, bemerkte: „…als Hund eine Katastrophe, als Mensch unersetzlich!“ Das galt auch schon für ihren eigenen Hund: „Festus“.

Kurt Kotrschal, Verhaltensforscher und Autor des Buchs „Der Faktor Hund“, erforschte die positiven Begleiterscheinungen, die es mit sich bringt, einen Hund zu halten: „Menschen, die Hunde besitzen, werden eindeutig positiver wahrgenommen als solche ohne.“ Für einen Politiker sei der Hund gar „ein soziales Schmiermittel, das ihn in der Öffentlichkeit als sozial, nett und umgänglich darstellt“. Nach Kotrschal hilft der Hund in der Politik, den Geschmack des gesellschaftlichen Mainstreams zu treffen, „so ähnlich, wie öffentlich Kinder zu küssen“. Die Liste der Hunde haltenden Politiker ist deshalb lang: Mit dreiundvierzig amerikanischen Präsidenten zogen bisher über vierhundert „first dogs“ ins Weiße Haus ein. Berühmt wurde insbesondere der Hund von Präsident Nixon, als er seinem Herrn vor laufender Kamera half, dessen Watergate-Lüge mit treuherzigem Gesichtsausdruck Glaubwürdigkeit zu verleihen. Laut den „Simpsons“ kam „Checkers“ dafür in die „Hundehölle“.

Wohin kommen aber nun jene Hunde, die nicht mitspielen wollen – unter den „Cell Dogs“ z.B., die in kalifornischen Gefängnissen von den Insassen zu Wachhunden ausgebildet werden: Sie leben mit den Inhaftierten für die Dauer dieser „subjekttransformierenden Beziehung“ in einer Zelle, und für die einen wie für die anderen gilt: „der Weg zu Freiheit und Arbeit außerhalb der Gefängnismauern“ besteht aus dem Lernen von „Disziplin und Gehorsam“. „Einen Hund, der die abschließende Prüfung nicht besteht, erwartet der Tod.“

Und danach? Der Streit um den Platz für ihre Seele ist noch nicht entschieden: Im russischen Dorf Mitino schenkte der Maler Jefim dem neuen Priester Konstantin eine Ikone für die Kirche. Sie zeigte den armen Lazarus im Paradies. Die Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa aus Perm schreibt: „Auf der Ikone war ein großer, gütiger Abraham dargestellt, der aussah wie Väterchen Frost. Mit einer Hand streichelte der Urvater dem winzigen Lazarus, der sich an ihn schmiegte, den Kopf, mit der anderen einen großen zottigen Hund. Drei weitere Promenandenmischungen lagen zu Abrahams Füßen und lächelten über die ganze Schnauze.“ Der Maler erklärte Vater Konstantin: „Der frühere Pope hat gesagt: Hunde im Paradies, das ist Ketzerei! Aber ich finde, sie haben es verdient. Sie haben Lazarus als Einzige menschlich behandelt, ihm die Geschwüre geleckt und Mitleid mit ihm gehabt.“ Der neue Dorfpriester scheint ihm recht gegeben zu haben, denn er sagte zum Maler: „Lassen Sie Ihre Hündchen hier.“

 

„Jockel hat den Braten in Omas Einkaufstasche sofort gerochen.“/Rudow -Neukölln

 

Die Seeumrunderin

Es gibt Leute, die in jedes Museum laufen, und andere, die auf alle Dreitausender steigen müssen. In Berlin kennt man welche, die alle Seen umrunden müssen. Hier soll von einer Seenumrunderin die Rede sein. Sie ist bald 50 und leicht verzweifelt seit der Wende 1989, denn plötzlich eröffnete sich ihr mit dem Mauerfall eine riesige Seenplatte. Allein rund um Berlin gebe es 1.000 Seen, behauptete damals das Westberliner Stadtmagazin Tip, das seine Leser motivieren wollte, ihr neues „Umland“ zu erkunden. Das taten die dann auch – und tun es noch heute. Die Gastronomie und die Seegrundstückskäufer folgten ihnen auf dem Fuß. Die in Steglitz lebende Seeumrunderin, um die es hier geht, begann 1979 als Studentin, indem sie erst einmal und dann mehrmals in der Woche um die Krumme Lanke joggte.

Nach dem Mauerfall joggte sie auch einmal um den Hönower Haussee und den Wandlitzsee. Dort wurde sie jedoch mit ihrem Outfit sofort als Westlerin erkannt und angesprochen – was ihr unangenehm war. Und am Lietzensee in Charlottenburg wurde sie mehrmals von einer BürgerInnen-Initiative angehalten, die Unterschriften gegen die vielen Hunde am See sammelte. Seitdem joggt sie gar nicht mehr, sondern umrundet einfach nur, wobei sie sich auf Wasservögel und Spaziergänger mit und ohne Hund konzentriert.

Seit 2001 hat die Seeumrunderin selber einen Hund – einen Cockerspaniel: Ein Grund mehr, solange es das Wetter erlaubt, täglich einen See zu umrunden. Zur Abkürzung sind Fähren wie die am Schwielowsee ebenso wie Buslinien erlaubt. Und zur Not tut es auch mal eine Halbinsel wie die Stralauer oder ein Tiergartenteich.

Die Seeumrunderin zählt ihre Seen nicht, ohnehin umrundet sie manche Seen immer wieder – etwa den Schlachtensee, den ihr Hund besonders mag, weil dort viele Hunde mit ihren Leuten spazieren gehen, die meisten ohne Leine. Sie springen ins Wasser, schleppen Stöcker aus dem Wald an und versuchen andere Hunde zum Mitmachen zu bewegen.

Die Leute, Frauen zumeist, bleiben derweil stehen und unterhalten sich – über ihre Hunde. Sie machen sich gegenseitig Komplimente: Wie gut ihr Hund aussieht und was für ein feines Benehmen er hat – auch gegenüber anderen, kleineren Hunden. Am Kaulsdorfer See bemerkte die Seeumrunderin, dass die Leute, die dort spazieren gehen, nahezu dieselben Gespräche führen wie die am Schlachtensee, nur dass es statt um Hunde um Kinder geht, die sie in oder neben Kinderwagen dabeihaben. Und dass es sich hier um Ostproletarier und dort eher um Westakademiker handelt.

Die Seeumrunderin verschlug es einmal an den Weißen See bei Liebenberg, wo sie entgegen ihrer Gewohnheit und verbotenerweise badete, mit Hund. Und danach an den Vielitzsee bei Löwenberg, den sie – ebenfalls entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit – in einem Motorboot sitzend umrundete, ihn gleichsam von der Innenseite aus erkundend. Sie entdeckte dabei etliche Fischreiher, Kormorane und Enten sowie einen Biber. Auch von der Landseite aus hatte die Seeumrunderin sich schon immer für die Schilfgürtel interessiert, wo es unter und über dem Wasser besonders viel „Leben“ gibt.

Von dem zu Westberliner Zeiten reichsten Bauunternehmer der Stadt, Karsten Klingbeil, hatte die Seeumrunderin 1992 erfahren, dass er eigentlich Bildhauer und einst am Wannsee groß geworden sei. Dort hätten sie alle Boote gehabt, und wenn sie sich mit ihren Mädchen vergnügen wollten, dann seien sie damit in die Schilfgürtel gefahren, wo man sie nicht entdecken konnte. Nun hätten die verdammten Grünen es jedoch geschafft, ein „Röhrichtschutzgesetz“ zu verabschieden. Seitdem darf niemand mehr in die Schilfgürtel, die zudem zur Seeseite hin abgepollert und zum Land hin eingezäunt wurden. Er, Klingbeil, sei ja schon alt, aber für die Jugend von heute sei das schwer zu bedauern: Das sei nun eine „verlorene Generation“.

Dieser pessimistische Befund eines von der Stadt vielfach geehrten Bronzebildhauers gab der Seeumrunderin damals zu denken. Heute gibt sie diese „Klingbeil-Anekdote“, wie sie das nennt, nur noch zum Besten, wenn sie mal wieder einen See umrundend auf der Höhe eines Schilfgürtels von einem oder mehreren Spaziergängern auf ihren Hund angesprochen wird. Und das Gespräch von ihm auf den See und das Schilf am Ufer kommt. Dann fällt ihr wieder die „verlorene Generation“ ein. Manchmal trifft sie bei ihren Seeumrundungen auch auf einige Angehörige dieser Generation. Sie sitzen am Ufer, trinken Becksbier, telefonieren mit ihren Handys oder verschicken eine SMS und hören Musik aus kleinen Lautsprechern, die sie sich ins Ohr gesteckt haben. Man erkennt diese „verlorene Generation“, die sich nicht mehr in den Schilfgürteln vergnügen darf, an den Kabeln, die an ihr runterhängen. Ansonsten sind sie jedoch von den ganzen anderen Seeumrundern mit und ohne Hund nicht zu unterscheiden. Sieht man mal von ihren halblauten Bemerkungen über die zumeist älteren Seeumrunder ab: „Ey, kommen die alle zum Sterben hierher?!“ So rächt sich die „verlorene Generation“ an den ganzen „Röhrichtschutzgesetz“-Verabschiedern, die sie zu Recht in den Seeumrundern mit und ohne Hund vermuten.

 

Tanzveranstaltung in der „Rodelhütte“ am Schlachtensee

 

 

Das Geheimnis der Zitadelle

Der Bezirk Spandau ist berühmt vor allem wegen seiner „Zitadelle“, einer preußischen Festung. Daneben gab es in Spandau auch das ebenfalls berühmte und wie eine Festung aussehende „Spandauer Kriegsverbrechergefängnis“, einst ein preußisches Militärgefängnis, das 1987 – nach dem Tod des letzten Häftlings, Rudolf Heß – abgerissen wurde, damit Neonazis es „nicht zu Propagandazwecken missbrauchen“ (Wikipedia). Und vis-à-vis der Zitadelle befindet sich ein riesiges leer stehendes Gebäude, in dem sich früher eine Munitionsfabrik befand.

Mit allen drei Objekten hatte zuletzt Hitlers Architekt Albert Speer zu tun. Er war 1942 zunächst Reichsminister für Bewaffnung und Munition und dann bis zur Kapitulation Leiter der Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs. 1946 musste er für 20 Jahre im Spandauer „Kriegsverbrechergefängnis“ einsitzen. Dort gelang es ihm, den riesigen Garten samt Park unter seine Kontrolle zu bringen, wo er fortan täglich im Kreis spazieren ging. Rudolf Heß riet ihm, nach jeder Runde eine Erbse von der linken Tasche in die rechte zu stecken. So könne er abends die Anzahl seiner Runden in Kilometer umrechnen. Speer entwickelte diese Idee weiter und stellte sich vor, er würde von Spandau aus über seine Heimatstadt Heidelberg nach Italien, Ägypten, Indien und China wandern – und über Alaska bis nach Kalifornien, wo sein alter Freund Wernher von Braun gerade freundliche Aufnahme gefunden hatte. Als er am 30. September 1966 entlassen wird, hat er 31.936 Kilometer zurückgelegt. Rückblickend meinte er in seinen „Spandauer Tagebüchern“: „Wahrscheinlich war dies der einzig greifbare Ertrag der Spandauer Jahre.“

In seine Zuständigkeit als Minister für Bewaffnung und Munition gehörte sowohl die Spandauer Munitionsfabrik als auch die Zitadelle. Auf der Festung wurde bis 1918 der „Reichskriegsschatz“ gelagert, ab 1935 waren dort die Heeres-Gasschutzlaboratorien untergebracht. Im selben Jahr hatte das Heereswaffenamt beschlossen, dass Gas- und Kampfstoffmunition hergestellt werden solle. Ihre Entwicklung erfolgte bis 1945 in der Spandauer Zitadelle, wo 400 Wissenschaftler und Laboranten arbeiteten. Sie erprobten Arsenöl, Blausäure, Lost, Tabun, Sarin, Chlorcyan, Chloracetophenon, Adamsit, Aeroform, Excelsior und etliche andere Gifte. Daneben ging es ihnen auch um die Erprobung von Entgiftungs- und Gasschutzmethoden.

Zwar gibt es jede Menge Bücher über die Spandauer Zitadelle und ihre Geschichte. In einigen werden auch die Heeres- Gasschutzlaboratorien erwähnt, außerdem befindet sich im Museum der Zitadelle eine Vitrine mit Glasbehältern aus den Laboratorien. Man erfährt jedoch nirgendwo genau, was die Wissenschaftler dort trieben. Ebenso dünn ist das Material über das Kriegsverbrechergefängnis und die Munitionsfabrik, obwohl man ansonsten in Spandau gern mit der „Historie“ wuchert.

1987 berichtete der Spiegel, dass noch zehn Jahre nach dem Krieg mehr als 100 der Chemiker, die in der Zitadelle mit Giftgas experimentiert hatten, an Vergiftungssymptomen litten. Die Ärzte bescheinigten ihnen eine „tiefergreifende Persönlichkeitsveränderung“ und eine „Dauerschädigung durch Nervengifte“. Aber schlimmer noch: Das Gift, das sie krank machte, „bedroht in Resten womöglich bis heute die Berliner Bevölkerung“, denn im Nordtrakt der Spandauer Zitadelle, „werden noch immer geringe Kampfstoffdosen vermutet, die nunmehr geborgen werden sollen“. Dazu wurde eine Spezialtruppe der Polizei abkommandiert.

Was aber geschah nun genau in den Spandauer Laboratorien? Von Tierversuchen ist nichts bekannt, ebenso wenig ließ sich bisher die These eines Museumswärters auf der Zitadelle bestätigen, wonach die Giftgase, wenn, dann an KZ-Häftlingen erprobt wurden. 1945 hatte man die Laboratorien eilig evakuiert. Ein Teil der Gifte wurde auf der Zitadelle vergraben, es gelangte davon jedoch immer wieder etwas an die Oberfläche. „Mehrfach musste in der Vergangenheit schon Gasalarm gegeben werden“, schreibt der Spiegel. Mal wurden einige 100 Glasröhrchen mit Augenreizstoff sichergestellt, mal „15 verschießbare Kartuschen“, gefüllt mit Lost, einem Hautgift, das im Ersten Weltkrieg als Senfgas eingesetzt wurde. Auch „Riechtöpfe, Inhalt: 1 g Kampfstoff“, lagerten Jahrzehnte unter märkischem Sand.

 

Ein lustige Krimi-Bootsfahrt auf dem Wannsee: Wer von den fünf Herren ist der Würger?

 

Multitasking-Fanfrau

Was ist ein Fan? Warum wird man einer und wie bleibt man es? Diese Fragen hat Traute König von klein auf sozusagen persönlich beantwortet. Jetzt liegt ihr im Selbstverlag erschienenes Buch darüber vor, das sie an den entsprechenden Sportstätten auch selbst verkauft. Die jetzige Hertha-Fanfrau ist inzwischen Frührentnerin – wie ihr Mann Peter, der als Schachspieler internationale Turniere besucht und mit dem sie am Wannsee wohnt.

Traute König interessierte sich als Kind zunächst für den Berliner Radsport, dann wurde sie Jazzfan und zuletzt Fußballfan. Gemeinsam ist dem Ehepaar außerdem das Hobby Galoppsport. Sie besaß sogar einmal ein Pferd und er erstellte ein Computerprogramm mit den Daten aller Pferde, Jockeys und Rennen – als Wetthilfe. Dabei sind die Königs gar nicht so am Gewinnen interessiert, eher am Unterwegs- und Dabeisein. Sie pendeln zwischen ihren Wohnungen bei Frankfurt und am Wannsee und sind vor allem treue Fans, und so heißt ihr Buch dann auch „Mein Leben als Fan“. Sie verkauft es für 7 Euro, so viel wie die Herstellung kostete. Traute König erzählt Anekdoten und porträtiert ihre alten und neuen Idole. Zum Beispiel den Radrennfahrer Fritz Jährling, Berliner Jugendmeister 1940. Er bekam nach dem Krieg von seiner Mutter rote Socken gestrickt – deretwegen er dann bald auch so genannt wurde. Oder Gerhard Löffler, „1933 in den Radsport hineingeboren“. Er sagte der Autorin: „Einmal Rennfahrer, immer Rennfahrer.“

1953 traten in Traute Königs Leben „große Veränderungen“ ein: Sie wurde Sachbearbeiterin im Rummelsburger VEB Berliner Kraftverkehr, heiratete, ließ sich wieder scheiden – und anschließend von ihrem Bruder in Westberliner Jazzkneipen wie die „Eierschale“ entführen. Einmal fuhr sie in die damalige „Jazzhochburg“ Frankfurt am Main, dort fand sie dann eine neue Stelle – bei der Lufthansa, wo sie 35 Jahre blieb. Außerdem eröffnete sie einen Singleclub, der noch heute besteht und in dem es „viele gute Jazzveranstaltungen gibt“. Besonders beeindruckt war sie immer von Trevor Richards New Orleans Trio. Im Singleclub lernte sie auch ihren heutigen Mann Peter kennen.

Der Schachclub-Vorsitzende war an einem Rennstall beteiligt. Bald lernten Peter und Traute König über ihn weitere „Pferdeleute“ kennen und wurden Galoppsportfans. „Als ich später das Buch ,Der Pferdeflüsterer‘ las, dachte ich: ,Det kann ick ooch!'“ Nach ihrer Frühpensionierung 1992 fing sie mit ihrem Mann an, ein Buch über Pferderennen zu schreiben. Dazu schafften sie sich einen VW-Bus an und fuhren von Rennbahn zu Rennbahn, wo sie später auch das Buch verkauften. Weil das Schreiben des ersten Buches so viel Spaß gemacht hatte, nahm das Ehepaar anschließend gleich zwei weitere in Angriff: „eins über Jockeys, die für Deutschland reiten, und eins mit Geschichten aus dem Rennsport“.

In ihrem Fanbuch hat sie nun ebenfalls einige Jockey-Porträts untergebracht, unter anderem eins von Christian Zschache, der nach einem Sturz querschnittsgelähmt war. Für ihn sammelte Traute König 1999 als Nikolaus verkleidet auf der Frankfurter Rennbahn Geld. Besonders verbunden fühlt die Autorin sich dem Jockey Eduardo Pedroza: Als der mit Diamante ein Rennen in Dresden gewann, gewann auch sie – eine Dreierwette. 1999 mietete das Ehepaar König eine Wohnung in Wannsee. Im selben Jahr lernte sie im Flug die Hertha-Mannschaft kennen – und ging kurz danach zum ersten Mal in ihrem Leben ins Olympiastadion. Traute Königs üppig bebildertes Fanbuch endet mit dem „Schlusswort: Blau-weiße Hertha – Du bist unser Sportverein – Du wirst es für immer sein!“

 

Man kann es sich auch ohne Alkohol, Zigaretten und Salzstangen gemütlich machen/Zehlendorf

 

 

Das Elend mit den Freien Trägern

Auf der Bezirksverordnetenversammlung in Pankow ging es bis letzte Woche um 16 kommunale Soziokultureinrichtungen, die aus dem Haushalt gestrichen werden sollten. Den etwa 200 dagegen protestierenden Betroffenen (Künstler, Lehrer, Bibliothekare und Eltern) erklärte der Bürgermeister: Das seien nur Vorschläge, über die man reden müsse, denkbar wäre z.B. auch, sie Freien Trägern zu übergeben. Eine solche Privatisierung kommt jedoch ihrer langsamen Abwicklung gleich, bis dahin, dass die Immobilien schließlich verkauft und in Eigentumswohnungen umgewandelt werden. So u.a. bereits mit dem Pankower Sozialamt samit Kita, der Alten Mälzerei und der Gabaty Zigarettenfabrik geschehen. Das erwähnte  der SPD-Politiker jedoch nicht.

In Kreuzberg  wurden auf diese Weise schon die Jugendeinrichtungen „Ritterburg“ und „Villa Kreuzberg“ abgewickelt, während die „Naunynritze“ und das „Statthaus Böcklerpark“ mit Hilfe Freier Träger auf dem besten Weg dahin sind. Stichwort:  „Maserati-Harry“ von der „Treberhilfe“.  Das „Statthaus Böcklerpark – Soziokulturelles Zentrum“, eines der größten Freizeiteinrichtungen des Bezirks, ist schon fast heruntergewirtschaftet und eine Ruine. Der Hotel-Gigantomane Eduard Strelinski (Estrel) hat bereits ein Auge darauf geworfen. Es wurde 1954 gebaut – auf Befehl der Alliierten: „Den Jugendlichen ist eine vernünftige Freizeitgestaltung zu ermöglichen“. Als es wenig später – nach Ansicht von Jugendamt und Polizei – zu „Gammelräumen“ von „Lederjacken“ herunter zu kommen drohte, kreierte der Heimleiter „Interessengruppen“: Wer sich keiner der angebotenen „IGs“ zuordnete, bekam Hausverbot. So ähnlich ist es nun auch in der „Naunynritze“, wo der neapolitanische „Streetworker“ Gio di Sera 2007 eine von unten und von oben vielgelobte „StreetUnivercity“ einrichtete. Aber dann stießen die Bezirke ihre soziokulturellen Einrichtungen an Freie Träger ab und „es wurde Mode, mit Jugendlichen zu arbeiten,“ wie di Sera sagt, und „da sind viele Heuchler unterwegs“. Sein Haus wurde 2010 von der „Gesellschaft für Sport und Jugensozialarbeit“ (GSJ) übernommen. Ihr Heimleiter, dessen Vorbild der Sarrazinist Buschkowski ist, arbeitet nun ebenfalls mit Hausverboten. Zusammen mit seinem  Geschäftsführer will er der „Naunynritze“ mit „strengen Regeln“ das „68er-Erbe“ – „Antiautoritarismus und Multi-Kulti“ – austreiben. Ihr Verein GSJ bekommt dafür 286.000 Euro jährlich vom Bezirk. Dem „Tip“ gegenüber sprachen die beiden von einer „massiv in den Drogenhandel verwickelten Gruppe“ Jugendlicher, die ihre Geschäfte während der kalten Jahreszeit in die „Naunynritze“ verlagert hätte – was ja nun gar nicht ginge.

Ganz anders die „Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft“, die 2010 das „Statthaus Böcklerpark“ übernahm: Hier dürfen die Drogendealer das Hausmeisterhäuschen für sich nutzen, sie  bekamen sogar einige MAE-Stellen und haben – anders als die seit Jahrzehnten dort aktiven „Nutzergruppen“ (u.a. Kernbeißer e.V. und Querformat-b e.V.) – einen Internetanschluß. Dafür wurde das vom Kernbeißer-Kollektiv betriebene Café und der Kinderzoo geschlossen. Ihr Trödelmarkt mußte fortan  75 Euro für Toilettenbenutzung zahlen, und für Vereinstreffen sowie für technisches Equipment verlangten die neuen Betreiber Miete. Wenn die Jugendlichen selbst eine Veranstaltung durchführen wollten, gewährte man ihnen einen „Kredit“.

Die „Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft“, die zur „Arbeiterwohlfahrt“ (AWO) gehört, bekommt  für ihr „Engagement“ 286.969 Euro jährlich vom Bezirk, außerdem 10.000 Euro Honorarmittel. Dafür versprach sie – in sogenannten „Zielvereinbarungen“, die sieben mal abgeändert wurden, den Jugendlichen im Statthaus u.a. „Spaß und Entwicklung“ zu bieten, „Humor und Geselligkeit“ sowie deren „Gesundheit“ zu fördern und „Verköstigungsangebote“ bereit zu stellen. Dies sollte mit vier pädagogisch wertvollen Mitarbeitern geschehen, die dann mit befristeten Verträgen eingestellt wurden. Hinzu kamen bald noch – unerlaubterweise – einige MAE-Kräfte, was den Betreibern zusätzliche „Regiemittel“ bescherte. Die „Wachenheimer“ sollten zudem mit den im Statthaus verbliebenen Nutzergruppen kooperieren. Dabei handelte es sich um einige Tanz- und eine Jongleurgruppe, eine Keramikwerkstatt, den Künstlerverein Querformat, das Kernbeißer-Kollektiv und das Mädchen-Projekt „My Style“ (Mode und Ernährung). Letzteres wanderte zum Jugendtreff Mehringplatz ab, während das Kernbeißer-Kollektiv von den Betreibern rausgeschmissen wurde, indem sie die Schlösser der Räume auswechselten. Das Kollektiv kam dann im Atelier von Querformat-b unter. Die  Tanzgruppen durften bleiben, ihnen wurde jedoch die Tanzzeit gekürzt, wie deren Organisatorin Ursula Günther klagt. Andere Nutzer des Statthauses machen den Betreibern noch ganz andere Vorwürfe. Eine enmgagierte Anwohnerin faßte sie Ende 2011 in einem 12seitigen Papier – „Der Untergang des Hauses Böcklerpark“ betitelt – zusammen, das sie an alle Verantwortlichen und die Presse schickte. Darin heißt es u.a., dass das Statthaus keine eigene Webseite hat und in den Stadtmagazinen nicht mehr als Veranstaltungsort aufgeführt wird. Querformat-Ausstellungen konnten nicht besucht werden, da die Räume während der Öffnungszeiten abgeschlosen waren. Einigen der eingestellten Mitarbeiter fehlten fachliche Qualifikationen, während eine, der sie nicht fehlte, Anne Fröhlich, nach zwei Monaten entlassen wurde, als sie die Ein- und Ausgaben prüfen wollte. „Die wunderbare Keramikwerkstatt ist nur noch ein verwaister Raum mit einem Brennofen, leeren Regalen und Müll. Der Fahrradwerkstatt wurde gekündigt.“

Hinzu komme noch, so Tissi König vom Verein Querformat, dass es keine Nachbarschaftshilfe und -arbeit mehr im Statthaus gäbe und keine Elterninitiative, dass keine Skatturniere dort mehr stattfänden und auch keine Tischtennisspiele, denn es fehlen Schläger, Netze und Bälle. Außerdem hätten sich die mobilen Streetworker von „Gangway“ aus dem Statthaus zurückgezogen und auch das Quartiermanagement (am Wassertorplatz) sei an einer Zusammenarbeit nicht mehr interessiert.

Im Sommer 2011 kam es zu einem Dachbrand im Statthaus. Seitdem seien die Kücher und das Foyer unbenutzbar, und der Wintergarten sowie der Keller mehr als sanierungsbedürftig. Das Geld dafür sei angeblich vorhanden, aber nichts geschehe, so dass man insgesamt das Gefühl bekomme, das Statthaus Böcklerpark werde bewußt heruntergewirtschaftet.

Zum Glück wurde der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft zum Jahresende 2011 gekündigt – und nun wird in einem  „jugendhilfespezifischen Interessenbekundungsverfahren“ ein neuer Freier Träger vom Jugendamt gesucht. Eine Rückführung des Statthauses in die Hände des Bezirks ist angeblich „rechtlich nicht möglich“. Die Belegschaft des Hauses ist jedoch skeptisch, ob ein neuer Träger  es  besser machen wird.

Es stellt sich generell die Frage, was solche Privatisierungen von soziokulturellen Einrichtungen überhaupt bringen sollen – außer das etliche arbeitslose Sozialarbeiter, die sich als „Freie Träger“ organisieren, in diesen neuen Bedarfslücken ihr Geld verdienen. Dem Bezirk bleiben die Instandhaltungs- und Betriebskosten für die Einrichtungen. Es reduzieren sich höchstenfalls seine Personalkosten, denn die Freien Träger stellen Prekäre ohne Besitzstände und zu weitaus schlechteren Konditionen als der Staat ein – zudem nach dem „Hire-and-Fire“-Prinzip. Die staatliche Vollverwaltung dieser und ähnlicher Einrichtungen war zuvor schon fragwürdig genug, aber jetzt wird langsam deutlich, dass ihre Übertragung an Freie Träger verbunden mit der Privatisierung des kommunalen Wohnungsbestandes und der Einrichtung von Quartiersmanagements in allen Kiezen nur dazu dient, um die Gentrifizierung der sogenannten „Problembezirke“ zu forcieren.

Dass die Mitarbeiter in den soziokulturellen Einrichtungen diese selbst übernehmen – z.B. in Form einer Genossenschaft – wird von den Bezirksverwaltungen durchgehend abgelehnt! In Kreuzberg ist man eher daran interessiert, sie alle langsam abzuwickeln, die dort noch lebenden „Ausländer“ nach Spandau abzuschieben  und die „Deutschen“ nach Marzahn. Die Bild-Zeitung sprach kürzlich (am 15.Februar) von einer „Mietpreis-Explosion im Traditionskiez“, mit der immer mehr „Türken aus Kreuzberg verdrängt“ werden. Nach der Wiedervereinigung befürchteten zunächst die Künstler, ihre billigen Ateliers dort zu verlieren und an den Stadtrand ziehen zu müssen, wie es ihnen ein Senatssprecher damals prophezeite. Es kam jedoch anders: Es sind die Armen, Alten und Ausländer, die aus den innerstädtischen Bezirken verschwinden sollen.

(P.S.: Das Statthaus Böcklerpark hat inzwischen einen neuen Freien Träger.)

 

 

Besuch aus Westdeutschland. Der hat gut lachen, denn er hat die „Garderobehaken für überraschenden Gästebuch“ aus dem schwäbischen Waltz-Versand gleich mitgebracht (im Bild nicht sichtbar).

 

Asoziale Erfindungen

Das sind u.a. „Public Private Partnership“, „Freie Träger“,  „Sponsoring“,  „Outsourcing“, „Jobcenter“. Diese „Erfindungen“ bzw. ihre Konjunktur verdanken sich dem Neoliberalismus, sie hängen im übrigen alle zusammen. In Mathew D. Rose neuestem Enthüllungsbuch „Korrupt“ wird erzählt, wie Politik, Verwaltung und  Unternehmen seit Ende der Neunzigerjahre ein „Netzwerk“ gebildet haben, in dem insbesondere die Politiker nach Bedarf ihre „Jobs“ wechseln. Die politische Elite ist dabei zu einem „Wirtschaftszweig“ heruntergekommen, dieser bietet u.a. „die Umwandlung von Partikularinteressen in Gesetze“ sowie die Kontrolle über staatliche Förderung, Subventionen, Steuerbegünstigungen und Milliarden Euro an öffentlichen Aufträgen pro Jahr. Die Entlohnung erfolgt über die Parteienfinanzierung – und zwar nicht über Spenden, sondern über „Sponsoring“. Der Autor kann belegen, „wie sich die Wirtschaft mit großzügigen Zuschüssen zu Parteitagen oder teuren Anzeigen in Parteizeitungen bei der Politik bedankt. Effekt: Die Sponsoring-Einnahmen der Parteien sind seit 1999 um fast 800 Prozent gestiegen,“ wie der Rezensent Rüdiger Rossig schreibt.

Ein gutes Beispiel von „Public-Private-Partnership“ (PPP) ist die wegen exorbitanter Mieterhöhungen vielkritisierte GSW – mit 65.000 Wohnungen Berlins größtes, einst gemeinnütziges Wohnungsbauunternehmen, sie gehört seit 2004 der US-Investmentgesellschaft Cerberus. Dieser „Höllenhund“ investiert oder kauft Firmen, die kurz vor dem Bankrott stehen. Danach übernimmt er entweder als größter Gläubiger die Kontrolle, saniert die Unternehmen und verkauft sie weiter – oder zerschlägt sie und schlachtet sie aus. Sie wird laut Spiegel vom einstigen  SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping beraten. Dieser hat eine private Staatsconsulting – die RSBK: „Rudolf Scharping Strategie Beratung Kommunikation“. Er bietet darin zusammen mit Rainer Brüderle von der FDP, mit dem CSU-OB a.D. Deimer aus Landshut und dem Sozialdemokraten Rolf Böhme, OB a.D. aus Freiburg sowie Lehmann-Grube, OB a.D. aus Leipzig sogenannte  „Werkstattgespräche“ für kommunale Entscheider an. Dabei geht es um „die Vorzüge von Public-Private-Partnership“, d.h. ihnen sollen im „Dialog“ diejenigen nahe gebracht werden, „die als Käufer kommunalen Eigentums“ in Frage kommen. Dadurch nimmt man ihnen die Skrupel bei der Privatisierung –  zwecks Entschuldung ihrer Kommunen. „Kein Wunder, dass in diesen Netzwerken das Verscherbeln der mühsam aufgebauten öffentlichen Einrichtungen wie geschmiert funktioniert,“ resümiert der Journalist Albrecht Müller.

Wenn es um das Privatisieren soziokultureller Einrichtungen der Kommunen geht, dann greift man – wie es jetzt der SPD-Bezirksbürgermeister von Pankow vorschlägt – auf „Freie Träger“ zurück. Diese (Vereine zumeist) agieren in einem dichten „Filz“ aus Politik, Verwaltung und Wohlfahrtsverbänden (AWO, Caritas etc.), wie z.B. die „Maserati-Affäre“ des Chefs der „Treberhilfe“, die zur „Diakonie“ gehört, zeigte. Über das Herunterwirtschaften der größten Jugendfreizeiteinrichtung Kreuzbergs durch einen „Freien Träger“ (der AWO) gibt es eine ganze  Dokumentation:  „Der Untergang des Hauses Böcklerpark“. Am Ende geht es nur noch darum, dass der Bezirk die Immobilie an einen Investor wie den „Höllenhund“ verkauft. Noch ekelhafter ist der „Filz“ bei den Kinder- und Jugendheimen in den Händen von Freien Trägern: Weil diese aus finanziellen Gründen laufend neue Kinder und Jugendliche brauchen, reißen die Jugendämter in Zusammenarbeit mit Psychologen und Gutachtern immer öfter welche aus ihren Familien raus – und stecken sie in Heime. 80.000 sind es derzeit, die in diesen schrecklichen Einrichtungen verwahrlosen (während ihre Mütter an diesem Gewaltakt irre werden). Daneben wird auch der Erwerbszweig „Pflegefamilie“ immer lukrativer für gewissenlose Ehepaare, die sich damit eine  anständige Verdienstmöglichkeit verschaffen. Das Internet ist voll mit Fällen über diese „Kinderaubzüge“ der Jugendämter. Ähnlich grauenhafte Ergebnisse zeitigt die  Privatisierung der Krankenhäuser und Altersheime. Kurzum: Der Sozialstaat, der die Gesellschaft zusammenhalten soll, ist auf dem besten Wege, ein gigantischer Asozialenapparat zu werden.

 

 

„Zeit ist in der kleinsten Hütte!“ (Tomas Schmit)/Lichtenrade

 

 

Teurer Algorithmus

Pigasus, die „Polish Poster Gallery“ in der Berliner Torstraße 62, ist eine Ausgliederung des Clubs der polnischen Versager. Der Laden in Berlin-Mitte gehört Joanna und Mariusz Bednarski, die dort seit 2003 polnische Plakate, Musik-CDs und DVDs von klassischen Filmen aus dem Ostblock verkaufen. 2010 schickte ihnen der Hauseigentümer eine Mieterhöhungsforderung: Statt sechs Euro sollten sie zukünftig 25 pro Quadratmeter zahlen.

Das war schon schlimm, aber kurze Zeit später, im November 2010, kam es noch dicker: Da bekamen sie eine Abmahnung vom holländischen Elektrokonzern Philips. Der hatte in ihrem Laden zehn russische Filme des Brüssler DVD-Verlags Russian Cinema Council (RussCiCo) gekauft – und dabei eine DVD erworben, die angeblich ohne Lizenzgebühr für ein Philips-Patent gepresst worden war. Dafür verlangte die vom Konzern beauftragte Anwaltskanzlei 1.700 Euro, außerdem sollte das Ehepaar Bednarski eine Unterlassungserklärung unterschreiben und alle im Laden und zu Hause liegenden DVDs – etwa 750 – herausgeben und zur Vernichtung freigeben. Diese Filme stammten von allen möglichen Vertrieben, Verlagen und Presswerken. Sie schrieben dem Philips-Anwalt in Hamburg, dass sie seit 2003 nur zwei DVDs (mit dem sowjetischen Film „Die kleine Vera“), bei denen angeblich keine Lizenzgebühr vom Presswerk bezahlt worden war, verkauft hätten: eine an privat und die andere eben an den Philips-Konzern. Außerdem hätten sie alle anderen Filmtitel von RussCiCo zurückgeschickt, damit sie überprüft werden können.

Einen Tag vor Weihnachten 2010 erschien des ungeachtet ein Gerichtsvollzieher mit einem Lastwagen und fünf Arbeitern. Er hatte eine einstweilige Verfügung vom Landgericht Hamburg dabei und nahm alle 703 DVDs im Laden mit.

Bei der Gerichtsverhandlung in Hamburg am 31. 3. 2011 machten die Philips-Anwälte dann einen Vergleichsvorschlag: Das Ehepaar Bednarski sollte 6.004 Euro zahlen, alle Rechnungen, Speditionsbriefe und Lieferscheine herausrücken, alle beschlagnahmten DVDs zur Vernichtung freigeben und keine weiteren Schritte gegen Philips unternehmen. Im Übrigen behauptete der Konzern vor Gericht, „dass er täglich große Verluste erleide wegen unserer illegalen Aktivitäten“, berichtet Joanna Bednarska.

„Wir waren mit dem Vergleich nicht einverstanden – und ich habe daraufhin recherchiert, wer bei der Herstellung unserer DVDs eventuell ein Philips-Patent verletzt hat.“ Auf der Internetseite von Philips fand sie eine Liste von DVD-Presswerken, die von Philips lizensiert wurden. Diese Firmen erstellen für jede einzelne Pressung ein sogenanntes LSCD-Dokument. „Als wir die Presswerke um diese Dokumente baten, sagten sie, das müssten die Verlage bei ihnen anfordern, und sie würden das an Philips weiterleiten. Das haben wir auch in die Wege geleitet. Aber bis heute haben wir von Philips nichts bekommen – sie seien dazu nicht verpflichtet, teilten sie uns mit.“

Dafür bekamen die Bednarskis jedoch von drei Presswerken, die etwa 95 Prozent ihrer DVDs hergestellt hatten, eine Bestätigung, dass sie die Lizenzgebühr für die Pressung ihrer DVDs bezahlt hätten. Über die restlichen DVDs informierte sie der Verlag, von dem sie stammten, in jeweils welchem Presswerk sie hergestellt worden waren. Diese Werke gab es jedoch nicht mehr.

Die gesammelten Unterlagen schickten die Bednarskis an den Philips-Konzern, „damit sie nicht unsere ganzen DVDs vernichten, die legal hergestellt wurden“. Sich gegen Philips zur Wehr setzen konnten sie nicht, da der Streitwert auf 100.000 Euro festgelegt worden war, was für die Bednarskis mehrere Zehntausend Euro Anwalts- und Gerichtskosten hätte bedeuten können: „So viel Geld haben wir nicht. Unser Jahreseinkommen beläuft sich nur auf etwa 10.000 Euro.“

Im Juni 2011 kamen einige Philips-Leute nach Berlin und prüften die beschlagnahmten 707 DVDs. 46 behielten sie ein, „die anderen bekämen wir wieder zurück, sagten sie, wenn wir 5.000 Euro Strafe zahlen, die Unterlassungserklärung unterschreiben und unserer Auskunftspflicht nachkommen würden. Im Weigerungsfall drohten sie uns ein Strafverfahren und Zwangsvollstreckung an. Also haben wir den ,Vergleich‘ unterschrieben und sie um Ratenzahlung gebeten. Danach haben wir die restlichen 660 DVDs abgeholt – und dabei festgestellt, dass die Prüfer von Philips etwa 220 kaputt gemacht hatten, sie waren damit unverkäuflich geworden.“

Zu den einbehaltenen 46 DVDs teilte Philips dem Ehepaar Bednarski mit, dass sie zwar in einem von ihnen lizensierten Presswerk hergestellt wurden, diese Lizenz sei aber im September 2010 ausgelaufen. „Wir hatten die DVDS aber bereits 2009 gekauft. Dazu schrieb uns Philips: Da das Presswerk ihnen noch Lizenzgebühr schulde, seien auch die DVDs, die ,vor diesem Zeitpunkt ohne Lizenz‘ gepresst wurden, illegal.“

Zusammengefasst: Man hat bei Pigasus eine verdächtige DVD gefunden – und dafür mussten die Ladenbesitzer insgesamt 8.000 Euro an Anwalts- und Gerichtskosten zahlen, außerdem konnten sie sieben Monate keine DVD verkaufen. Wegen der bei der Prüfung zerstörten 220 DVDs reduzierte Philips zuletzt seine Anwaltskosten in Höhe von 5.000 Euro auf 1.000 Euro – diese Summe müssen die Bednarskis nun in Raten abbezahlen. Bei dem ganzen Verfahren handelt es sich um eine Verletzung des europäischen Patents EP 0745 254. Dieses sogenannte EFM-Patent betrifft die „Kanalmodulation des Datenstroms von optischen Datenträgern“, konkret geht es dabei um einen Algorithmus.

Ob der in der Software des Presswerks gegen Zahlung einer Lizenzgebühr zur Anwendung kam, darüber klärt bei jeder Pressung einer DVD das oben genannte LSCD-Dokument auf: „Diese Unterlage bräuchten wir, um zu wissen, womit wir überhaupt handeln, es ist aber weder von Philips noch von den Presswerken, noch von den DVD-Verlagen beziehungsweise -Vertriebsfirmen zu bekommen.“ Das Hamburger Landgericht, bereits berühmt-berüchtigt für seine restriktive Einstellung zu „Diebstahl von geistigem Eigentum“, hatte sie gewarnt: Wenn sie noch einmal eine illegal gepresste DVD verkaufen würden, dann müssten sie bis zu 250.000 Euro Strafe zahlen oder bis zu zwei Jahre ins Gefängnis gehen.

Jetzt versteht man vielleicht, warum sich weltweit Millionen Menschen dafür einsetzen, dass solche oder ähnliche Algorithmen Allgemeinbesitz werden. Bei der Internetallmende Wikipedia heißt es dazu: „Algorithmen für Computer sind heute so vielfältig wie die Anwendungen, die sie ermöglichen sollen. Vom elektronischen Steuergerät für den Einsatz in Kraftfahrzeugen über die Rechtschreib- und Satzbaukontrolle in einer Textverarbeitung bis hin zur Analyse von Aktienmärkten finden sich Tausende von mehr oder minder tauglich arbeitenden Algorithmen. Als Ideen und Grundsätze, die einem Computerprogramm zugrunde liegen, wird Algorithmen in der Regel urheberrechtlicher Schutz versagt. Je nach nationaler Ausgestaltung der Immaterialgüterrechte sind Algorithmen der Informatik jedoch dem Patentschutz zugänglich, sodass urheberrechtlich freie individuelle Werke, als Ergebnis eigener geistiger Schöpfung, wirtschaftlich trotzdem nicht immer frei verwertet werden können.“ Dies war beziehungsweise ist der Fall beim Philips-Algorithmus. Das letzte Wort dazu soll deswegen das dadurch schwer geschädigte und gedemütigte Ehepaar Bednarski haben: „Unser Anwalt riet uns, diese Geschichte nicht an die Presse zu geben. Philips könnte das als eine neuerliche Geschäftsschädigung begreifen – und dann würde das richtig teuer werden.“

Ein Sprecher der Piratenpartei Berlin, um eine Stellungnahme gebeten, meinte: Der springende Punkt an der Geschichte sei der, dass der Philips-Konzern nur die eine DVD hätte einkassieren dürfen, bei der sich nach seinem Testkauf von zehn DVDs der Verdacht erhärtet hatte, dass sie ohne Lizenzgebühr für ein Philips-Patent gepresst wurde. „Die Philips-Anwälte haben da mit gerichtlicher Hilfe eine Art DVD-Sippenhaft praktiziert. Das ist so, als würde man bei einem Buchladen, der ahnungslos einen Raubdruck verkauft, gleich alle Bücher konfiszieren.“ Die Betreiber der Postergalerie Pigasus hätten auf der anderen Seite den Vergleich nicht unterschreiben dürfen.

Das Ehepaar Bednarski hat inzwischen eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht: Da sie nicht genug Geld haben, hätten sie keine Chance auf ein unabhängiges Gerichtsverfahren gehabt. Zudem fühlten sie sich als polnische Händler, die russische Filme verkaufen, diskriminiert – immer wieder bekamen sie zu hören: „Ja, wenn Sie mit der russischen Mafia zusammenarbeiten … Kein Wunder.“


Inge Klüver hat es im neuen Berlin nicht mehr ausgehalten. Sie ist in die Rhön gezogen. „Hier gibts auchn Kudamm!“

 

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„And so on and so on,“ wie Zizek immer sagt. Ein Jahr Tahrirplatz-Event. Das westdeutsche Intelligenzfeuilleton feiert dieses Jubiläum derart, dass man den Eindruck hat, ohne bezug auf das arabische Aufstandszentrum in Kairo lassen sich bald überhaupt keine staatlichen Fördertopfgeburten auf dem Kultursektor mehr einleiten. Der FAZ-Rezensent des Nachwuchs-Filmfestivals von Saarbrücken will selbst dort ganz deutlich gespürt haben: Alle „Filme künden vom kommenden Aufstand“. Demnächst in diesem Theater quasi. Also hier und heute. Die Gruppe „Tiqqun“ gab bereits den Ton vor. „Die Zeit“ titelt gerade: „Bitte neu anfangen“ und meint damit: „Auch wenn die Krise mal Pause macht – das Gebot bleibt bestehen: Der Kapitalismus kann so nicht bleiben.“

Die stellen also selbst da in Hamburg schon das ganze Gesellschaftssystem in frage. Man muß sich fragen: Ob man im Gegensatz zu ihnen die ganze Zeit geschlafen hat. Oder hören die das Gras wachsen? Dass ein Aufstand in der Luft liegt. Nur weil hier die staatlichen „Rettungsschirme“ nicht so recht greifen und da in Amerika derzeit „im Kampf um das geistige Eigentum die alten Medien gegen die neuen verlieren“, was bedeutet, „dass sich gegen das Netz keine Politik mehr machen läßt“, wie „Die Zeit“ ahnt, die deswegen bereits davon spricht, dass „Hollywood besiegt ist“. Schön wärs, leider kämpft dort nur das alte Hollywood gegen das neue: Google, Youtube, Youporn, Twitter, Wikipedia, Facebook…Bei letzteren, dem aggressivsten Kapitalisierer der gesammelten „Daten“, sind wir mit der „Facebook-Generation“ (800 Mio „active users“) wieder mittenmang den Aufständischen auf dem Tahrirplatz.

Hinzu kommen livehaftig „Stuttgart 21“, „Occupy“ und „Heiopei“ – die Piratenpartei usw.. An den Berliner U-Bahnhofsausgängen, von denen aus es zu den „Jobcentern“ geht, ließ das Wirtschaftsministerium neulich schon große Plakate kleben mit der Aufschrift „Noch nie gab es so viele Jobs wie heute. Danke Deutschland!“ Die Bundesregierung signalisierte uns damit, dass sie notfalls zum Äußersten bereit ist: zur blanken Lüge. Dazu paßte auch ihre nächste Meldung, dass die Zahl der Kinder, die unterhalb der Armutsgrenze leben, sich glatt halbiert habe. Das müssen wir noch mal genau nachzählen, hat sich da so mancher „Hartz IV“ler gedacht. Zeit hat er ja genug dafür. Wie tief die sogenannte „Unzufriedenheit“ reicht, zeigt sich aber nicht nur am routinierten Gejammer der ruinierten Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz („Mir hatte et nich vom Ausjebe, sondern vom Behalde!“), sondern an der stillen Verzweiflung der Prekären, deren schiere Masse inzwischen Macht generiert – so dass die Sozialpsychologen sich bereits besorgt fragen: „Wieviel Globalisierung vertragen wir überhaupt?“.

Und wie lange noch? Es ist schwierig, sich in der heutigen Gemengelage der Befindlichkeiten zu orientieren, so viel ist daran richtig. „Neue Unübersichtlichkeit“ nennt Jürgen Habermas sie. Die Süddeutsche Zeitung meint, dass die Einwohner von Pompeji einst in in der Mehrheit auf den Vesuvausbruch „nicht panisch genug“ reagierten. Während die FAZ vermeldet, dass die italienische Regierung jetzt „sogar die Privatisierung der weltberühmten Ausgrabungen“ dort plant. Einen schönen „Schlüsselroman“ – aus der mit „Bologna“ vom Humboltschen Bildungsideal „befreiten“ Neo-Universität Freiburg – hat die dort wirkende Dozentin Annette Pehnt veröffentlicht: „Hier kommt Michelle“. Es geht darin um eine Abiturientin (Michelle), die sich durch die Bachelor-Module kämpft, aber drumherum geht es auch um das Elend des heutigen akademischen Rahmenpersonals. Zuvor hatte bereits Tom Wolfe das selbe Thema in seinem „Campusroman“ (Der Spiegel) „Ich bin Charlotten Simmons“ bearbeitet.

„Die „Badische Zeitung“ rezensierte Annette Pehnts realzynische „Campuserzählung“ unter dem Titel: „Die Universität brennt“. Liegt also wirklich ein Aufstand in der Luft? Die EU-Staaten bauen jedenfalls schon mal ihre Überwachungstechniken aus. Eine „Medienenexpertin“ der Grünen erklärt sich mit den bereits überwachten Kadern der Partei „Die Linke“ solidarisch, indem sie erklärt: „Ich will auch elektronisch überwacht werden“. Alle Hoffnungen und Befürchtungen werden sofort aufs Internet verlagert, wo sie sich in endlose Debatten über Datenschutz und -eigentum auflösen. Auch dort stellt sich jedoch die Frage – mit den Worten des Wissenshistorikers Michel Foucault: „Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“

P.S.: Inzwischen hat Annette Pehnt ein weiteres Buch veröffentlicht: „Chronik der Nähe“.

 

 

Wie immer ausgelassen – feierte die taz Genossenschaft heuer ihren 30. Geburtstag.

 

Bedürfnisbefriedigung

In seiner Untersuchung „Bäuerliche Gesellschaften und die Vorstellung von begrenzten Ressourcen“ stellte der US-Ethnologe Foster die These auf, „daß bei Bauern in der ganzen Welt die Vorstellung verbreitet ist, die Menge der Güter sei begrenzt, und was einer dazugewinne, müsse einem anderen notwendig verloren gehen. Von dieser Vorstellung ausgehend entwickeln Bauerngesellschaften Strategien, die die Akkumulation von Reichtum bei einzelnen verhindern,“ so der Agrarsoziologe Gerd Spittler in einem Aufsatz über den russischen Agrartheoretiker Tschajanow (1888-1939). Darin erwähnt er auch den Soziologen Jorin, der 1984 in einem französischen Fischerdorf die „starke Einkommensnivellierung“ ebenfalls auf solche Strategien zurückführte: „Jorin erklärt damit nicht nur die Egalisierung des Lebensstandards, sondern auch das Fehlen von Investitionen“.

In Ostafrika gehören zu diesen Strategien magische Praktiken, wie der Ethnologe David Signer herausarbeitete – in seinem Buch: „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“. Für Signer sind die magischen Praktiken kein psychologisches, sondern ein soziologisches Phänomen. Wenn Frantz Fanon von eine „magischen Überbau“ sprach, dann könnte man nun mit David Signer von einem „magischen Unterbau“ reden. Dieser bewirkt jedenfalls nachhaltig – bis in Migration und Urbanisierung hinein, eine „Egalisierung“ der Gesellschaft.

In der russischen Agrardiskussion vor und nach der Revolution spielte laut Spittler die Frage, ob die Bedürfnisse der russischen Bauern relativ stabil sind und unter welchen Bedingungen sie sich entwickeln, eine wichtige Rolle: Bei Tschajanow finden sich „Bemerkungen, die auf ein fixes Bedürfnisniveau hinweisen, das allerdings unter dem Einfluß städtischer Kultur veränderbar ist…In seiner Modellkonstruktion geht Tschajanow jedoch von einer individuellen Bedürfnishierarchie aus. Die Bedürfnisse sind im Prinzip unbegrenzt, werden aber nach Prioritäten geordnet.“ Spittler meint, „diese Auffassung steht in Einklang mit modernen Bedürfnistheorien, die auf dem Engelschen Gesetz basieren, sie ist aber nur schwer mit den Daten vereinbar, die bei höherem Ertrag nicht eine Ausweitung der Bedürfnisse, sondern einen Rückgang der Arbeit zeigen.“ Das Engelsche Gesetz ist laut Wikipedia die von dem Statistiker Ernst Engel (1821 – 1896) erstmals beschriebene Gesetzmäßigkeit, „dass der Einkommensanteil, den ein Privathaushalt für die Ernährung ausgibt, mit steigendem Einkommen sinkt. Dies ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass die Einkommenselastizität der Nachfrage nach Nahrungsmitteln kleiner als 1 ist.“

Wie Tschajanow ermittelte, arbeiten die russischen Bauern durchschnittlich 132 Tage im Jahr: „Sie empfinden die Arbeit als so mühselig, daß sie nur zu einem geringen Arbeitseinsatz bereit sind. Ihr geringer Wohlstand wäre dann weniger mit ihren begrenzten Bedürfnissen als mit ihrer Unlust bei der Arbeit zu erklären. In der Tat heben schon die sprachlichen Formulierungen bei Tschajanow die negative Seite der Arbeit hervor. Auch die strikte Gegenüberstellung von ,Arbeit‘ und ,Bedürfnis‘ betont den Gegensatz. Im Modell von Tschajanow stehen sie ausschließlich in Opposition zueinander, die Arbeit kann nur sehr eingeschränkt zum Bedürfnis werden.“

Unter den sowjetischen Schriftstellern hat sich insbesondere Andrej Platonow Gedanken über eine Zusammenführung von Bedürfnis und Arbeit in der (sozialistischen) Landwirtschaft gemacht. Durchaus inspiriert vom utopischen Sozialisten und Genossenschaftstheoretiker Charles Fourier, der die Leidenschaft in seinem Kommunemodell (Phanlanstère) an die Stelle von Leistungsdruck setzte – so konsequent, dass Marx und Engels seine Werke immer wieder mit Vergnügen lasen und André Breton im Exil nichts anderes.

„Wünscht sich nicht jeder, die Arbeit in Lust zu transformieren (und nicht etwa die Arbeit zugunsten der Freizeit nur auszusetzen)?“ fragt sich Roland Barthes – in „Sade, Fourier, Loyola“. Die mit Leidenschaft ausgeübte Tätigkeit findet ihren Sinn in sich selbst, im Gegensatz zu der von oben oktroyierten Leistung, also Leidenschaft versus Leistung. Fourier entwarf eingedenk dessen eine kollektive Wirtschaftsweise, deren „Ziel in der Anziehungskraft der Arbeit besteht – also darin, dass das Vergnügen daran uns zur Landwirtschaft locken wird, die heute für die Menschen aus guter Familie eine Strafe ist. Diese Tätigkeit, das Pflügen zum Beispiel, erfüllt uns verständlicherweise mit einer Abneigung,“ schreibt er, „die an Abscheu grenzt. Dieser Widerwille werde jedoch durch die unwiderstehliche Anziehungskraft der Arbeit völlig überwunden.“ Und mehr noch – aus Fouriers Wirtschaftsplan ergibt sich, „wie überall in der genossenschaftlichen Ordnung, ein erstaunliches Resultat: je weniger man sich um den Gewinn kümmert, um so mehr verdient man.“

 

Das Bild zeigt den ersten Chefredakteur der taz (Freigestellter genannt), wie er seine Gurkentruppe ein letztes mal  zusammenscheißt. 

 

 

Bonus-Material:

 

Berliner Untergrund – over und under ground

In den Siebzigerjahren waren die linken Zeitungen (wie Bambule, Hundert Blumen usw.) im „Underground Press Syndicate“ (UPS) organisiert und bezogen ihre Nachrichten vom „Underground“ später „Liberation News Service“, den eine New Yorker Aktivistengruppe zusammenstellte. Nachdem sie aufs Land gezogen war, wurde dieser Nachrichtendienst eingestellt, in dem u.a. ausführlich über die Kämpfe japanischer Bauern gegen den Bau eines Flughafens berichtet wurde. Einer aus der Gruppe veröffentlichte wenig später ein Buch mit dem Titel „Was die Bäume sagen“. Anschließend gründete er eine Öko-Underground-Zeitung in Kalifornien.

Eine ähnliche Bedeutungsverschiebung erlebte ich neulich in der Kneipe „Rumbalotte“. Hier trifft sich für gewöhnlich der sogenannte „DDR-Underground“, die Dichter- und Punk-Scene des Prenzlauer Bergs – so sie nicht ab- oder ausgewandert, auf- oder abgetaucht oder sonstwie gestorben ist – und nur noch in einer „Wanderausstellung“ des Goethe-Instituts als „Poesie des Untergrunds der DDR“ existieren. Immerhin reicht es in der Kneipe noch für vier untergründige Zeitungen – „Konnektör“, „Floppy Myriapoda“, „Drecksack“ und „Gegner“, die dort vor und hinter der Theke unregelmäßig entstehen. Ich wurde gebeten, ein Buch zu besorgen – über „Das unterirdische Berlin“. Es hieß „Die Stadt unter der Stadt“. Sofort erschienen vor meinem geistigen Auge die besten Szenen aus Andrej Wajdas Film über den Warschauer Aufstand: „Der Kanal“, die riesigen Katakomben von Odessa in dem sowjetischen Film „Für die Deutschen uneinnehmbar“ und „Underground“ von Emir Kusturiza. In allen drei Filmen geht es um antideutsche Partisanen.

Sollte es auch im Herzen der Bestie in Berlin ein Leben im Untergrund geben oder gegeben haben? Ich wußte nur vom Clubheim der Rockergruppe „Phönix“ im unbenutzten U-Bahnhof Döblinplatz nahe der Oranienstraße und von einigen Überlaufkanälen und Dükern in Tempelhof und Marienfelde, die Arno Funke alias „Dagobert“ für seine Geldübergabeorte und Fluchtwege benutzt hatte.  Neben dem Berlinbuch „Die Stadt unter der Stadt“ war im selben Verlag – Jaron – auch noch ein Buch über „Geisterstätte“ erschienen. Darin ging es gewissermaßen um den ans Tageslicht gekommenen Untergrund – in Form aufgegebener Immobilien, die nun langsam überwuchert werden, d.h. früher oder später dem trüben Blick wieder entschwinden: Die riesige Anlage der Beelitzer Heilstätten, die American Field Station Teufelsberg, das Ballhaus in Grünau, die Siemensbahn samt Bahnhof, das Futtermittelwerk Rüdersdorf, der Spreepark usw.. Letzterer scheint jedoch eher nicht dem „Untergrund“ geweiht zu sein: Grad erst sah ich einen Film über das junge neue Pächterehepaar dort und gestern beim Spaziergang bemerkte ich beim Blick über den Zaun überall Spuren der Wiederinbetriebnahme des Spreeparks. Sogar die Hecken waren geschnitten.

Offensichtliche „Geschäftigkeit“ ist ja immer das genaue Gegenteil von klandestiner Tätigkeit im Untergrund. Um Geschäftigkeit geht es auch im Buch über „Das unterirdische Berlin“ – und zwar um eine vergangene. Erwähnt seien das „vergessene Rohrpostnetz“, die Grüfte u.a. der Hohenzollern, etliche Festungs- und Brauereikeller, die unterirdischen Zivilverteidigungs-Schutzräume und die WK-Zwo-Bunker, z.B. unter dem Alexanderplatz und dem Potsdamer Platz. Letzterer war nach 1989 einige Jahre öffentlich zugänglich – als Untergrundclub, in dem u.a. avantgardistische Videoclips – z.B. von allen Explosionen in James-Bond-Filmen – gezeigt wurden. Jetzt findet Ähnliches im Keller des „Köpis“ statt.  All diese über- und unterirdischen Verlassenheiten und Verließe verdanken ihren Aufschluß „historischen Spaziergängen“, wie man das heute nennt. Auf diese Weise entdeckte man bereits das alte „lesbische“ und das „jüdische Berlin“ sowie ganze Geisterautobahnen und – städte der US-Army im Grunewald.

Erst kürzlich stieß ich bei einem solchen „historischen Spaziergang“ hinterm S-Bahnhof Priesterweg auf ein riesiges verlassenes Bahngelände, das von Denkmalschützern, Botanikern und Ökokünstlern als „Schöneberger Südgelände“ gegen ein geringes Eintrittsgeld für die Allgemeinheit zugänglich gemacht wurde: „Das Gelände beherbergt heute wertvolle Trockenrasen, Hochstaudenflure und ein urwüchsiger Wald sowie eine Vielzahl seltener und vom Aussterben bedrohter Tiere und Pflanzen.“ Es gibt sogar ein Café dort. Als ich Platz nahm, kam der taz-Kairo-Korrespondent vorbei. Er erklärte zwei älteren Herren gerade die Geschichte des „Südgeländes“.

Ich wähnte ihn eigentlich in Ägypten, von wo aus er täglich über den Arabischen Aufstand berichtet.  Als ich der Auslandsredakteurin davon erzählte, sagte sie nur „Quatsch“. So ähnlich reagierte auch die Chefredakteurin, nachdem sie in einem Text von mir gelesen hatte, dass Norbert Blüm – aus ihrem Büro kommend – mit einem flotten Arbeitnehmerspruch in den taz-Fahrstuhl gestiegen war, mit dem ich gerade nach oben fahren wollte, er aber damit nach unten fuhr. Da ich an meiner Wahrnehmung nicht zweifel, bleibt nur der Verdacht, dass die beiden quasi unterirdisch unterwegs gewesen waren. So etwas gibt es. Man nennt das Bilokation – sie gehört zu den, wenn auch seltenen menschlichen Fähigkeiten.

 

Unbekannter Apfelschäler. Photo: Katrin Eissing

 

„Wunderkammer“: Eine Ausstellung in Stettin im Rahmen der „Polska Biennale“, die kürzlich in 50 Städten stattfand und demnächst in Berlin gezeigt wird

Wunderkammern – das waren ab dem 16.Jahrhundert Sammlungen von ausgestopften Tieren, Fossilien, wissenschaftlichen Geräten, Münzen, Steinen, geschliffenen Kristallen, Herbarien usw.. Man unterschied dabei zwischen künstlichen und natürlichen Objekten: „Die einen waren das Werk des Menschen, die anderen galten als das Werk Gottes. In ihrer Gesamtheit sollten sie den Kosmos verbildlichen,“ wie es in der Besucherinformation der Wunderkammer des Salzburger Dommuseums heißt. Was haben aber nun im 21. Jahrhundert die drei Kuratoren der Stettiner Ausstellung „Wunderkammer“ an Objekten gesammelt? Sie haben 12 deutsche und 11 polnische Künstler ausgewählt und diese mußten nicht lange überlegen, denn, so einer der Kuratoren,  „unter dem Begriff Wunderkammer kann man schier alles fassen“.

Und so wählte der Berliner Künstler Thomas Kapielski z.B. einen goldenen Kartoffelstampfer aus – signiert und datiert. Dieser ähnelt dem Amtssiegel Ludwig XVI, der auf der Guillotine endete, während gleichzeitig die Kartoffel in Europa eingeführt wurde. Die Stettiner Künstlerin Agata Zbylut baute einen Guckkasten, in dem man eine noch zuckende Fliege sieht – auf einem Video Loop. Auch Alexandra Ska entschied sich für ein Video, es zeigt, wie sie sich mit einer elektrischen Zahnbürste gründlich  die Zähne putzt.

Der Kölner Matias Bechtold hat für seine Mirabilie wohl die meiste Arbeit aufgewendet: Drei Handstaubsauger, die er auswaidete und bis ins Interieur zu Weltraumfahrzeugen umrüstete. Die Kinder unter den Ausstellungsbesuchern waren begeistert. Eher abgestoßen waren sie dagegen von einer gesellschaftskritischen Installation: einem völlig verfetteten Reh in einem Eisenkäfig, das Artur Malewski von der „Artistic Society of Lódz“ quasi überausstopfte.

Apropos: Die Hafenstadt Stettin ist (noch) nicht derart mit Kunst-Events vollgestopft wie Berlin, deswegen war der Besucherandrang in den Räumen des ehemaligen staatlichen Autohauses Polmozbyt vis à vis der Kunsthochschule auch enorm, zudem waren viele Besucher extra aus Berlin angereist. Dem ursprünglichen Anspruch der Wunderkammern, den Kosmos zu verbildlichen, versuchte Agata Michowska aus Poznan mit einer einzigen Arbeit gerecht zu werden. Sie bestand aus „Fünf Elementen“: verchromte Stahlstangen auf Stativen, die mit Silikonfäden verbunden waren – und hieß „Erster nicht gelungener Versuch, die Welt zu erschaffen“. Eher auf das Gegenteil – die Zerstörung der selben – zielte die Arbeit von Olaf Brzeski aus Breslau: ein innenbeleuchteter Atompilz auf einem runden Perserteppich, der seinerseits Welthaltigkeit symbolisierte. Die Berlinerin Katrin Hoffert zeigte dagegen die Arbeit an einer vorsichtigen Zerlegung der Welt, wenn man so sagen darf. Sie stellte als einzige „richtige“ – gemalte – Bilder aus, „Forschung“ betitelt. Auf ihnen sind Weißkittel im Labor porträtiert. Sehr schön machte sich daneben die „private Kunstsammlung“ von Kamil Kuskowski, die aus rund 100 z.T. abgestempelten Briefmarken bestand, auf denen die „größten“ Gemälde der Welt im Miniformat zu sehen sind. Ebenfalls winzig waren die aufgesockelten Wirbeltiere von Andreas Koch. Sie wirken wie aus Elfenbein geschnitzt, bestehen jedoch aus zusammengefalteten Milchhäuten – dennoch sehen sie sehr kostbar aus.

Die Welt wird ja sowieso immer kleiner. Besonders anschaulich zeigte das Lukasz Skapski aus Krakau – mit seinen 20 Wappen von „nicht [mehr] existierenden Staaten“ vornehmlich aus Osteuropa und Afrika. Photos gabs auch zu sehen – von den Berliner Künstlerinnen Ingeborg Lockemann und Elke Mohr. Ihre Serie „Reihenreigen“ zeigte sie als nicht-polnische Erntehelfer – tanzend zwischen endlosen, mit Plastikfolie abgedeckten Spargelbeeten.

Man hat die Zeit, in der die Wunderkammern entstanden, die erste ließ der Erzherzog von Tirol 1564 zusammenstellen, als das „Jahrhundert des Staunens“ bezeichnet. In Stettin  staunten wir nunmehr, wie einfach man eine schöne und interessante Ausstellung kuratieren kann.

(Die „Internationale Ausstellung zeitgenössischer Kunst – Wunderkammer“ ist noch bis zum 12.10.2012 in Stettin zu sehen, ab dem 18.1. dann in Berlin, im Forum Factory hinter der taz)

Einer der drei Kuratoren der Stettiner Ausstellung – Peter Funken (auf dem Land mit Ziege und Kind):

 

Die Aufnehmerin Katrin Eissing (mich im Wedding vor Blumenladen photographierend):

 

 

 

 

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