Seen und gesehen werden:
Im Berliner Umland gibt es 1000 Seen, behauptet jedenfalls das Stadtmagazin „Tip“, wobei es natürlich darauf ankommt, wie weit man den Umland-Kreis zieht…
Es gibt eine Theorie, wonach jeder der Seen im Umland von je einem besonderen Menschenschlag sommers belagert wird. Wahr ist, daß die Vermischung der Szenen eher in den Badeanstalten stattfindet als entlang der freien Gewässer, wo man sich an den kleinen Sandstränden und schilffreien Uferplätzen schnell wie auf einer falschen Party vorkommen kann.
Am Zehlendorfer Schlachtensee treffen sich vor allem die Beamte der Freien Universität und ihre Studenten – zum Joggen und ebenso sportlichen Schwimmen. Hier wird selten vergnügt geplanscht, man diskutiert auf imaginären Bahnen zur Seenmitte-Boje hin – und wieder zurück. Gleich daneben, an der Krummen Lanke, massieren sich die exzessivsten Ecstasy-Endverbraucher und -Dealer, die neuerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu jungen Türken stehen.
Wir, d.h. Dorothee Wenner und ich, fragen Thomas, einen Ökonomen von der Humboldt-Universität, wo er denn baden gehe. „Früher sind wir immer an den Liepnitzsee gefahren, da sind jetzt zu viele Westler. Mit meiner Frau fahre ich jetzt meist an den Bötzsee. Da muß man am S-Bahnhof Petershagen aussteigen.“ Wie die meisten Westberliner sind wir es noch nicht gewohnt, das Umland, auch „Speckgürtel“ genannt wegen seiner vielen FKK-Strände voller dicker Einheimischer, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erkunden. Beim Anblick von ländlichen Bushaltestellen und Vorortbahnhöfen denken wir unwillkürlich an Autopannen. Zum Glück ist unser gemieteter Golf GTX generalüberholt.
Nur leider erweisen sich Thomas‘ Wegbeschreibungen als zu grob. Mehrmals umrunden wir das Zentrum von Eggersdorf. Erst als man uns quer durch die Verkaufsstände des Wochenmarktes weist, geraten wir auf den Bötzsee-Parkplatz. Es gibt dort viele schattige Buchten, wo man abgewickelte NVA-Offiziere aus Strausberg trifft, deren angenehme Badesitten mit ihrem unaufdringlichem Bodybuilding korrespondieren. Aber dieser positive Gesamteindruck kann auch mit unserer generellen Sympathie für die (nackten) Verlierer einer Systemschlacht zusammenhängen.
Das Aufspüren von Seen-Geschichten erweist sich indes als äußerst schwierig. Jeder ist vollauf damit beschäftigt, sich zu erholen. Wir haben jedoch Glück: Heuer forscht ungefähr jeder zweite Frontstadtjournalist an Binnengewässern herum. Beim Bootsverleih treffen wir gleich mehrere. Einer, von der Stadtzeitung Zitty, hat sich für diese Saison auf Gedenkstätten an Seen kapriziert. Am Bötzsee ist es die des ersten kommunistischen Bademeisters, Hans „Jupp“ Bötz, der dem See seinen Namen gab. Demnächst soll der See jedoch wieder rückbenannt werden, das Bötz-Denkmal ist bereits geschliffen.
Das Kleist-Denkmal am Kleinen Wannsee, die Gerhart-Hauptmann-Weihestätte am Flakensee, die Thälmann-Gedenkstätte am Krossinsee und das Brecht-Weigel-Haus am Buckower See hat der Zitty-Redakteur bereits abgeklappert. Und Brechts Werbe-Haiku für den Bootsverleih in Buckow: „Es ist Abend. Vorbei gleiten / Zwei Faltboote; darinnen / Zwei nackte junge Männer: Nebeneinander rudernd / Sprechen sie / Sprechend / Rudern sie nebeneinander“, kennt er nicht nur auswendig, sondern er weiß auch, daß der Sechszeiler eigentlich auf einer Beobachtung der Frau des Bootsverleihers basiert. Der kurzsichtige Brecht, an dem Tag ohne Brille mit der Frau am Steg stehend, konnte nämlich gar nicht so schnell das Geschlecht der beiden Paddler erkennen.
Der Buckower See wirkt als „Perle der Märkischen Schweiz“ anscheinend wie ein Magnet auf Westberliner Rechtsanwälte und ihre Lebenspartnerinnen, die, wie auch andere Gutverdiener unter der großstädtischen Intelligenz in diesem „Super-Sommer“, vor allem auf der Suche nach einem Immobilienschnäppchen in Ufernähe sind. Schon zu DDR-Zeiten waren die Datschen am Buckower See jedoch so ordentlich, geradezu rechtmäßig parzelliert und mit kunstvollen Schmiedezäunen verbarrikadiert, daß das Schweizerische ein überaus passender Name für diesen Teil des Flachlands ist. Wer sich erst in diesem Sommer um ein Häuschen im Grünen bemühte, war gut beraten, sich an die Fersen jener 68er zu heften, die mit archäologischem Eifer „Russenobjekte“ im Umland aufspürten, um daraus „Ökoprojekte“ zu entwickeln.
Es gibt auch noch einen Kriegsgewinnler ohne Kaufabsichten. Er fährt regelmäßig mit dem Fahrrad zum Templiner See, wo er, am Caputher Fährhaus bei einem alkoholhaltigen Erfrischungsgetränk, den Sportwagen zuschaut, wie sie forsch auf die Fähre fahren: „Und dabei fast immer mit der Ölwanne aufhauen. Die Porsche erwischt es meist ganz übel!“ Das freut den militanten Mountainbiker und ist ihm bereits Erholung genug. Über dieses Hobby hat er sich jüngst mit seinem Freund verkracht, dessen Interesse auf die allabendlichen Bademodenwettbewerbe an der Westseite des vormals geteilten Sacrower Sees schrumpfte.
Tatsächlich entdeckten wir dort eine regelrechte Zusammenrottung von „Beach-Queens“ (The Observer) in neonschockfarbenen Ein- und Zweiteilern. Diese Beobachtung läßt uns schnurstracks ins Seen-Soziologische abschweifen. Ein BZ-Seen-Reporter erzählt von den nackten Obdachlosen und Alkoholikern („schräge Vögel“) am Bullenwinkel des Halensees, die dort aufräumen und dafür campieren dürfen. Eine Mitarbeiterin der Modezeitschrift Sibylle weiß Details über das Treiben rund um das vornehme Strandhotel am Wandlitzsee. Kreuzberger Künstlerinnen hätten dort das anspruchsvolle Ambiente als Kulisse für einen erotomanischen Fotoroman entdeckt. Beim Knipsen geriet ihnen die heiter inszenierte Promiskuität so realistisch, daß die Geschichte in einen ernsten Dokumentarfilm rund um den Rheinsberger Schloßsee ausuferte.
Dem bärtigen Berlin-Korrespondenten der Angel-Woche fällt dazu der Frauensee hinter Königs Wusterhausen ein. Dort seien schon mehrmals Kindern beim Rudern „so dicke Karpfen“ ins Boot gesprungen. „Wieso nur Kindern?“ fragen wir. Der Fischexperte führt dies auf ein zentrales Jugendlager der FDJ am Ufer zurück. Früher wurde es vom Werk für Fernsehelektronik verwaltet. Nach der Wende übernahm es der Betriebsrat und machte daraus ein Feriendorf für Kinder.
Viele kommen aus Dänemark, der Betriebsratsvorsitzende ist selbst Däne und ständig auf der Suche nach Feriengruppen, um das Riesenobjekt zu belegen. Schon sind wir beim heiklen Thema „Ausländer“ (an Seen). Dazu fällt uns als erstes ein Grunewaldspaziergang mit einem in Berlin stationierten G.I. ein. Je näher wir dem Teufelssee kamen, wo die Müllcontainer von zerlesenen Hamburger Wochenzeitungen überquellten, desto nervöser wurde der Ami. Wir konnten uns das nicht erklären. Schließlich rückte er damit raus, daß dieser See, weil dort alle nackt baden würden, für Armeeangehörige „off limits“ sei. Daß dort in letzter Zeit sehr viele Russinnen hingehen, weil sich in der Nähe einige Fortbildungseinrichtungen befinden, mochten wir ihm dann gar nicht mehr erzählen.
Der Vietcong und seine Familie baden hingegen oft und gerne an der Kaulsdorfer Kiesgrube, „Kauli“ genannt. Ein flacher, proletarischer Mehrzwecksee von durchaus zweifelhafter Wasserqualität und allzu vielen Muskel- beziehungsweise Milchdrüsenprotzern, aber dafür lauwarm und kinderfreundlich, mit zwei Eisautos am Parkplatz und vielen aufgeblasenen Riesendinos.
Ähnlich werktätig, mit Arbeitslosenbräune durchsetzt, sieht es auch an der „Bürgerablage“ am Heiligensee aus. Gleich dahinter gelangt man jetzt auf den ehemaligen Grenzstreifen, der sich hier bis fast nach Hennigsdorf am See entlangschlängelt als ein quasi von der DDR-Geschichte geformter Sandstrand.
Auf halber Strecke trafen wir dort, in einem Datschen-Gartencafé, ein Dutzend Ostfriesen. Ab und an rief einer „Das Grün nach oben!“ zu einigen weiblichen ABM-Kräften hinüber, die gerade dabei waren, den Todesstreifen mit Kiefernbäumchen zu bepflanzen. Die Frauen fanden es aber nicht sonderlich komisch, daß man jetzt einfach die Ostfriesenwitze auf Kosten der Ostler recycelt.
Ihre schlechte Stimmung hielt uns davon ab, sie über die örtliche Wildschweinpopulation auszufragen. Im Westen hatten sich die sommernächtlichen Begegnungen mit Säuen an Seeufern zu regelrechten urban tales entwickelt, insbesondere die von der „Schlacht mit der Luftpumpe“ auf dem Parkplatz des Schildhorn-Restaurants am Wannsee. Als eine Neuberlinerin aus Eberswalde in dem CDU-Ausflugslokal wieder davon anfing, wurde sie jäh von einem Alteingesessenen unterbrochen, die Geschichte kursiere schon seit 1987.
Er wartete daraufhin mit einer aktuellen Version auf, in der statt Wildschweinen eine Gruppe Punker an der Lieper Bucht plötzlich aus dem Gebüsch hervorgestürmt waren. „Die Punker treffen sich aber doch immer am Tegeler Flughafensee“, konterte die gekränkte Brandenburgerin, die sich mit dieser wohlplazierten Szenekenntnis durchaus rehabilitieren konnte.
„Und die Neonazis versammeln sich in einem Ex-FDGB-Heim am Krummen See“, ergänzte ihr Begleiter, der sich dabei auf die Seen- Berichterstattung der Berliner Zeitung berief. Tatsächlich werden dort andauernd nächtliche Neonazitreffen vermeldet. Die Stadt hatte dafür sogar schon eine Wasserschutzpolizeistaffel mit zivil getarnten Schnellbooten ausgestattet.
Wir fühlten uns bemüßigt, hier und jetzt noch einmal zwischen links und rechts zu unterscheiden: „Linkssein heißt nach oben treten und nach unten ducken, und Rechtssein ist das Gegenteil davon: nach oben ducken und nach unten treten.“ Das fand die Schildhorn-Runde nun gar nicht, und außerdem seien „links“ und „rechts“ doch längst überholte Kategorien, „besonders bei solch einem Jahrhundertwetter.“
Na gut. Wo gehen nun aber die Neonazis wirklich baden? „Am Seddinsee, bei Kähnsdorf, wurde gerade ein illegales Campinglager ausgehoben. Jetzt wird gegen mehrere Jugendliche wegen des Verwendens von verfassungswidrigen Kennzeichen ermittelt.“ Ach du Scheiße: Ausgerechnet in Kähnsdorf! Dort hatte sich gerade ein jüdischer Filmemacher aus England, Andrew Hood, genauer gesagt: seine Freundin, die prima Ärztin Dorothea Ridder, ein Grundstück mit Wochenendhaus gekauft. Von einem blinden Kähnsdorfer Bauern, der, um seine kleine Land- und Gartenwirtschaft zu bestellen, überall Drähte gespannt hat, an denen er sich orientiert.
Gleich am nächsten Tag rufen wir die beiden an. Sie wissen noch nicht einmal von der Neonazi-Razzia nebenan, und erzählen statt dessen von ihrem Ärger mit einer Umweltschützerin, die sie davon abhalten wollte, den zum Grundstück gehörenden Fischteich von Wasserpflanzen zu befreien, um besser darin baden zu können. „Kommt doch einfach vorbei, wir grillen heute abend Hähnchen.“ Das müssen wir leider ablehnen, weil wir bereits eine Thaiessen- Einladung von Zeit-Mitarbeiter Michael Sontheimer haben, der sich neuerdings in ein Haus am Krimmicksee eingemietet hat.
Auf dem Weg dorthin verirren wir uns jedoch und landen an der Müggelspree, der Verbindung zwischen Dämritz- und Müggelsee – im Rialto-Café. Und da nehmen wir erst einmal Kaffee und Kuchen zu uns. Wie es der Zufall will, serviert man uns dazu eine neue brandheiße Seen-Geschichte. Sie betrifft die Wasserfreunde-Gemeinschaft „Energie e.V.“, die 1973 angefangen hatte, das Gelände trockenzulegen, Kanäle anzulegen, und sich Datschen und Bootshäuser zu bauen.
Im April kam die Erbin eines dieser Grundstücke aus dem Westen zurück und sperrte den Zufahrtskanal zur Müggelspree ab, weil der Lärm der Boote sie störte. Die 50 davon betroffenen Bootsbesitzer alarmierten den Radiosender 100,6, der seinerseits den Umweltsenator zu einer Stellungnahme aufforderte. Der erklärte die Absperrung für unrechtmäßig. Schon begannen die Bootsbesitzer Loblieder auf den Rechtsstaat zu singen. Aber dann kam es erst zu einer Anhörung und zu einem Widerspruch vor dem Verwaltungsgericht sowie zu einer Reihe weiterer Amtsvorgänge. Kurzum: „Die Absperrung ist bis heute noch nicht weg, aber der Sommer ist vorbei. Ist das Gerechtigkeit?“ wurden wir von einem älteren Herrn am Nachbartisch barsch gefragt. Ein bißchen so, als wären wir mitschuldig.
Am Ende der Badesaison schließen wir nun unsere Recherche ab: Der Liepnitzsee bei Wandlitz – von 13 unterirdischen Quellen gespeist, mit klarem, grünem Wasser – ist unser diesjähriger Lieblingssee. Damit gehören wir zu jener Karawane von Westlern, die an diesem „Seen-Geheimtip“ (SFB, Wochenpost, Tagesspiegel) das dort immer noch harmonisch wirkende Ost-Soziotop aufmischt. Mitten im Liepnitzsee gibt es eine Insel mit einem Dauercamper- Areal. Wer sie besuchen will, kommt kurz rübergeschwommen. Auch Lebensmittel werden von den Zeltern im Ameisenverkehr mit Luftmatratzen auf die Insel transportiert.
Ihnen lange dabei zuschauend, inspiriert uns das zu einem neuen „citybag“-Modell mit aufblasbaren Wulsten an der Seite. Diese grandiose Idee versuchen wir bei nächstbester Gelegenheit gleich der taz, genauer gesagt: ihrer Abteilung für Abonnement-Werbegeschenke, zu verkaufen. Die winkt aber nur müde ab: „Ist zu spät für dieses Jahr. Im nächsten Sommer vielleicht.“
Das Terrassen-Raumschiff „Family“
Wer sich, in Berlin lebend, mit seinen westdeutschen Eltern oder mit dem, was ihm davon noch geblieben ist, einen schönen Nachmittag machen will, der fährt an den Wannsee. Dort ist es im Sommer am allerberlinischsten. Und wenn die Sonne blaßrot hinter Preußens Arkadien zwischen Sacrower Kirche und Cecilienhof im Jungfernsee versinkt, dann sitzen sie alle auf den „Wannsee- Terrassen“ und proben über Schwarzwälder Kirschtorten wie verrückt den herrschaftsfreien Dialog. Sogar der Regiermeister Eberhard (Diepgen) trifft sich dort mit seiner Mutter, und deswegen ohne Leibwächter, nackt quasi.
Drei Tische weiter sitzt eine solariumgoldene Schreibkraft mit ihrem „Daddy“, der aus einem Dorf östlich von Husum angereist ist. Seine Tochter hat es mittlerweile bis zur Boden-Stewardeß bei der Lufthansa gebracht und schämt sich des „Outfits“ und der „Outsprache“ ihres sie liebenden Vaters. Sie vereist geradezu, wenn er sie anfaßt: „Nun hab dich doch nicht so!“ „Es wird kühl, wollen wir nicht langsam gehen?!“
Vor mir flüstert eine süddeutsche Mutter mit ihrer etwa vierzigjährigen Tochter, beide haben dicke blonde, etwas wirre Haare. Die Tochter ist Freigängerin mit Pillen-Picknick-Packung aus einer psychiatrischen Klinik, will ihrer Mutter aber partout nicht die Schuld an ihrem ganzen jetzigen Unglück geben, trotzdem meint sie doch noch einmal anmerken zu müssen: „Wenn du mich damals nicht im Stich gelassen hättest, wäre alles anders gekommen, aber ich will ja nicht wieder davon anfangen!“ Die Mutter möchte etwas erwidern, läßt es dann aber, weil bereits alles x-mal von den beiden durchgekaut worden ist. Statt dessen streicht sie ihrer Tochter schuldbewußt durchs Haar. Das wirkt. Jedenfalls vorübergehend.
Rechts von den beiden erklärt ein schnurrbärtiger Formbauer seinem Vater aus Pirmasens anhand einiger Handzeichnungen vor ihnen, wie die Yacht aussehen wird, nachdem er sie umgebaut hat. Der Vater wollte das so genau eigentlich gar nicht wissen. Immer wieder schaut er sinnend auf das aufs tessinischste glühende Gelände zum See hinunter und über die vielen Segelboote. (Das Tag-Fahrverbot für Motorboote muß jeden Augenblick enden!)
Nachdem das generell biotopfreundliche Auto-Fahrverbot der Rot-Grünen für die Havelchaussee wieder aufgehoben worden war – zugunsten der dort ansässigen Amüsier-Soziotope (genannt sei das Schildhorn-Ensemble, ein Pärchentreff in allen Einkommensklassen)-, pollerte man zum kompromißlerischen Ausgleich die Uferstraße mit Halteverbots- Schildern zu, und zwar so großzügig, daß man jetzt eigentlich nur noch mit dem Auto durchbrackern kann. Zusätzlich wurden viele Parkplätze noch mit Zäunen aus Eichenbalken abgesperrt. Im Grunde hat man damit das genaue Gegenteil von dem erreicht, was einmal mit der Chaussee- Sperrung gewollt war. Erschwerend kommt nun noch hinzu, daß die GI-Bataillone nicht mehr da sind, die bisher immer, mindestens einmal im Jahr, den Wald links und rechts der Chaussee geharkt hatten – eine alte Manöverauflage aus dem Kalten Krieg, als die „Berlin-Brigade“ noch fit wie ein Turnschuh zu sein hatte. Die Amis besuchten auch immer wieder gerne die Wannsee-Terrassen, zumal wenn ein „Holiday“ mit Frau und Kindern auf dem Programm stand. Die Einführung des Eisbechers „Challenger“ dort geht auf sie zurück, ebenso der Name eines „Gedeck-Angebots“: „Quality-Time“ – „koffeinfreier Kaffee und ein „Amerikaner“.
P.S.: Die Thälmann-Gedenkstätte am Krossinsee wurde inzwischen abgewickelt und die Wannsee-Terrassen sind abgebrannt – auch sonst hat sich seit diesen zwei Seen-Touren einiges im Umland verändert.
Zum Beispiel wurde das „John Heartfield Sommerhaus“ in Waldsierversdorf am Däbersee mit Mitteln des EU-Landwirtschaftsfonds und Unterstützung der Akademie der Künste rekonstruiert und befindet sich nun – auf ewig abgesichert – in Gemeindeeigentum. Am Sonntag, den 21. Juli 2013 wurde dort ein schöner Film von Helmut Herbst aus dem Jahr 1977 gezeigt: „John Heartfield Fotomonteur“, mit daran beteiligt waren Jürgen Holtfreter, der bereits in den Sechzigerjahren in Stuttgart und Frankfurt mit Fotomontagen arbeitete, zuletzt war er 20 Jahre für das Layout des „Freitag“ zuständig, ferner Eckhard Siepmann, der 40 Jahre lang das Werkbundarchiv im Gropiusbau leitete und Tom Fecht, der in seiner Elefantenpress das Buch zur Ausstellung über „John Heartfield herausgab.
Mit seiner inzwischen liquidierten „Elefantenpress“ und insbesondere dem Heartfield-Katalog (verkaufte Auflage 120.000) wurde er im übrigen so vermögend, dass er nun auf seiner Yacht in Südfrankreich lebt, während die anderen drei Heartfield-Projektmacher sich als mehr oder weniger arme Rentner im „John Heartfield Sommerhaus“ zur Vorführung ihres Films einfanden. Zu diesem Sommerhaus gehört auch noch eine etwa wohnwagengroße Hütte, die 2012 der Künstler Hans Winkler nachbaute und im Garten der Akademie der Künste aufstellte. Dazu recherchierte er zusammen mit Kurt Lanthaler und Martin Hanni ihre Geschichte, die sie in dem Buch „Franz Held: Vordadaistische Texte aus Jenesien“ (einem Ort bei Bozen) veröffentlichten: Es war das letzte Wohnhaus der Eltern von John Heartfield – Franz und Alice Held – gewesen. Auf Wikipedia heißt es über die beiden und ihre Kinder:
„Franz Held (ursprünglich Herzfeld) kam aus einer der führenden rheinischen Unternehmerfamilien. Sein Vater Jakob Herzfeld war der Sohn von Jonas Herzfeld, Begründer der Baumwollfabrik Herzfeld in Neuss am Rhein, später unter dem Namen Herzfeld & Söhne in Düsseldorf ansässig.
Mit 14 Jahren gewann Franz Herzfeld 1876 den Dramen-Wettbewerb der Stadt Düsseldorf. Das Stück wurde aufgeführt und bejubelt. 1882 verließ er das Gymnasium und studierte Jura in Bonn, später in Leipzig und München, schließlich in Berlin. Sein Studium beendete er nicht, unternahm stattdessen Reisen nach Paris und Italien. Ab 1887 veröffentlichte er Gedichte und andere literarische Arbeiten, fortan unter dem Pseudonym Franz Held.
Auf einer Streikveranstaltung lernte Franz Held in den 1880er Jahren seine spätere Frau, die Textilarbeiterin und Anarchistin Alice Stolzenberg, kennen, die dort als Rednerin auftrat. Das Paar lebte in Schmargendorf bei Berlin; das erste von vier Kindern, Helmut, der sich ab 1916 John Heartfield nannte und ein bedeutender Grafiker und Fotomonteur war, wurde 1891 geboren.
1895 wurde Franz Held wegen Gotteslästerung angeklagt. Das Urteil des Amtsgerichts München, ein Jahr Gefängnis, wurde in Abwesenheit gesprochen; Franz Held befand sich zu diesem Moment bereits im Untergrund. Nach Erhalt der gerichtlichen Vorladung floh er mit seiner Frau und den inzwischen drei Kindern zunächst in die Schweiz. In Weggis im Kanton Luzern lebte die Familie völlig verarmt, dort kam auch 1896 sein zweiter Sohn Wieland zur Welt, der seinen Namen 1914 in Wieland Herzfelde änderte und später den Malik-Verlag gründete.
Nach Wielands Geburt wurde die Familie aus der Schweiz ausgewiesen und lebte fortan auf einer Almhütte auf dem Gaisberg in Aigen, südlich von Salzburg. Franz Helds letzte literarische Arbeit, das erzählende Gedicht Der Würfel Petri, erschien 1898.
Im Sommer 1899 verschwanden die Eltern über Nacht spurlos und ließen die inzwischen vier Kinder in der Berghütte zurück. Nach vier Tagen wurden sie dort vom Aigener Bürgermeister Ignaz Varnschein aufgefunden, der auch zunächst die Ziehvaterschaft übernahm. Vormünder der Kinder wurden der Schriftsteller Max Halbe und Franz Helds älterer Bruder, der Berliner Rechtsanwalt und Reichstagsabgeordnete der SPD, Joseph Herzfeld. Der Verbleib der Eltern blieb für die Kinder lange Zeit unbekannt; erst 1977 erfuhr Wieland Herzfelde Näheres zum weiteren Schicksal seines Vaters.
Der Grund für das Verschwinden der Helds und ihr weiterer Weg liegen überwiegend im Dunkeln. Im Jahr 1900 wurde Franz Held in Gries bei Bozen aufgegriffen und in eine Bozener Irrenanstalt eingeliefert. Er starb am 4. Februar 1908 in der Nervenheilanstalt Valduna in Rankweil (Vorarlberg).“
Vom Verbleib der Mutter weiß der Wikipedia-Einträger anscheinend nichts, in dem 2012 erschienenen und bereits erwähnten Buch über Franz Held und sein prädada-dichterisches Werk heißt es, dass sie ebenfalls in einem Irrenanstalt eingeliefert wurde, wo sie neun Jahre später starb. Der Obrigkeit war bewußt, dass das Ehepaar und besonders der anarchistische Schriftsteller Franz Held sich um „Land und Leute in Tirol“ verdient gemacht hatten, dennoch wurden sie nacheinander weggesperrt – mit der Begründung, dass ihr „Benehmen“ in der Öffentlichkeit „sich unangenehm bemerkbar“ gemacht habe. Südtirol und Salzburg machten sich gerade für den damals beginnenden Alpen-Tourismus von vor allem wohlhabenden Bürgern fit. Mindestens Franz Held muß jedoch nicht unbedingt unglücklich gewesen sein über seine Psychiatrisierung, wofür ausgerechnet sein literarisches Vorbild Hendrik Ibsen sorgte, so dichtete er in der Anstalt z.B. „Auf der Bozener Wassermauer“, wo es heißt:
„Ich fühle mir Schwingen schwellen
in lässiger Frühlingsnacht. –
Und über die Blütenwellen
hab ich mich aufgemacht.
Mein Flug geht zum Rosengaden,
…“
(Dieses Wort – Rosengarten, in der Psychiatrie gedacht, griff Joanne Greenberg für ihren antipsychiatrischen Heilungsbericht „Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen“ auf, der 1964 veröffentlicht wurde. 2012 lud der “Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt” in das „Haus der Demokratie“, um seine Dokumentation über “Alternativen zur Psychiatrie” vorzustellen, die er “Auf der Suche nach dem Rosengarten” betitelte.)
1912 erschienen „Ausgewählte Werke“ von Franz Held, der Buchumschlag war die erste veröffentlichte Arbeit von John Heartfield, die obige Einbandzeichnung darauf – eine Art Schwan mit Ledabrüsten – entwarf der älteste Sohn von Franz Held, der in München künstlerisch tätige aber relativ unbekannt gebliebene Helmut Herzfeld. 1914 veröffentlichte Wieland Herzfelde, der während des Ersten Weltkriegs den Malik-Verlag gründete, in der Zeitschrift „Die Aktion“ einen Text, den er „Die Ethik der Geisteskranken“ betitelte. Darin heißt es: „Der Geisteskranke ist künstlerisch begabt…Der Geisteskranke ist immer Held, immer Persönlichkeit, nicht nur im Traum.“ Wieland Herzfelde siedelte ebenso wie sein Bruder John Heartfield nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem englischen Exil in die DDR über, wo er dann durch Vermittlung von Brecht das Grundstück am Däbersee erwarb, dort baute er sich ein Haus, und später für seine Kinder auch noch die Berghütte seiner Eltern nach, die der Künstler Hans Winkler dann noch einmal für die Akademie nachbaute.
Die Filmveranstaltung jetzt – mit Helmut Herbst, Eckhard Siepmann und Jürgen Holtfreter – kam über den Filmemacher Henner Winckler zustande, einem ehemaligen Schüler von Helmut Herbst. Er wohnt an den Wochenenden zusammen mit etwa 40 Leuten in Waldsieversdorf in einem gepachteten ehemaligen DDR-Kinderheim am See, das jetzt „Kunst- und Familienhaus“ heißt. Vor der Filmvorführung auf dem Grundstück des John Heartfield Sommerhauses gab es bei Henner Winckler auf dem Hof noch Kaffee und Kuchen und Schwimmen im See.
Anschließend fuhren wir von Waldsieversdorf mit dem regionalprivatisierten „Ferkeltaxi“ nach Müncheberg. Dort befindet sich das „Leibniz-Zentrum für Agarlandforschung“ und das „Senckenberg Deutsches Entomolgisches Institut“. Es wurde 1920 von Erwin Baur gegründet und war das erste Institut in Deutschland, wo Pflanzenzüchtungsversuche angestellt wurden. Ab 1928 hieß es „Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung, zu DDR-Zeiten: „Deutsche Akademie der Landwirtschaftswissenschaften zu Berlin, Institut für Acker- und Pflanzenbau“. Man beschäftigte sich dort dann vorwiegend mit Bodenkunde und schließlich mit Ökologie. 2009 hatte ich mir dort eine – leider sehr unkritische – Monographie über den obersten DDR-Biologen, den Züchtungsforscher und vormaligen Nazi-Genetiker Hans Stubbe gekauft. Das damals in Müncheberg noch neue Bio-Restaurant mit Hotel ist inzwischen schon wieder pleite gegangen.
Vom Bahnhof Müncheberg fuhren wir mit der konzernprivatisierten „Heidekrautbahn“ nach Lichtenberg und von dort mit der S-Bahn nach Hause.
Eigentlich hatten wir noch vorgehabt, das Ehepaar Kaminer am Glücklitzsee zu besuchen, aber das war verkehrstechnisch an dem Sonntag nicht mehr drin. Hier muß es deswegen genügen, ein Auszug aus Wladimirs Buch „Diesseits von Eden“ reinzustellen. Das Buch handelt vom Wochenend-Leben des Ehepaars Kaminer auf seinem Seegrundstück in Glücklitz:
Unser Schwanensee
„Jedes mal, wenn wir zum Garten fahren, mache ich als erstes einen Kontrollrundgang um nachzuprüfen, ob noch alles beim Alten ist. Die Fische im Teich, das Grass auf der Wiese, die Pflanzen, die Löcher der Maulwürfe, die Katzen, das Brennholz. Zuletzt schau ich nach, ob der Nachbar, Herr Köpke, noch da ist, beziehungsweise, ob der Adventskranz an seinem Küchenfenster leuchtet. Bei Herrn Köpke leuchtet nämlich der Adventsskranz nicht nur zur Weihnachtszeit sondern das ganze Jahr über in der Küche. Ich hatte mich nie getraut, nach dem Grund dafür zu fragen. Vielleicht hat ihm die Lichtdekoration beim Aufhängen vor dreißig Jahren so gut gefallen, das er sie nicht mehr abnehmen will. (…)
Aus Berlin kommen regelmäßig Frau Hartmann und ihre drei Freundinnen, sie laufen sofort als erstes Schwäne gucken. Neben der alten Ziegelei am verwildertem Ufer des Glücklitzer Sees haben sich zwei Schwäne ein Nest gebaut, ich glaube sie kamen aus dem Nachbardorf. Dort ziehen jede Woche Touristengruppen vorbei, es gibt drei Seen und die Gemeinde bemüht sich sehr, die Natur unter Kontrolle zu halten. Überall haben sie in Handarbeit erstellte Verbotstafeln in der Gegend verteilt, um den Menschen klar zu machen was sie nicht dürfen. Die meisten Verbote kreisen um das Thema „Nicht klettern“ und „Füttern verboten“. Auf dem letzten Schild ist sehr realistisch ein durchkreuzter Schwan abgebildet. Die Vögel sind nicht dumm, selbst wenn sie nicht lesen können, verstehen sie die Zeichen gut. Wahrscheinlich dachten die zwei Schwäne, die gesetzestreuen Deutsche wollten sie verhungern lassen und siedelten zu uns rüber. Hier stört sie keiner.
Nur wenn uns Frau Hartmann mit ihren Freundinnen besuchen kommt, gehe ich mit ihnen Schwäne füttern. Denn diese Frauen haben in gewisser Weise ihre Laufbahn selbst als Schwäne angefangen. Frau Hartmann kennen wir bald zwanzig Jahre, sie ist ungeheuer biegsam, sie kann sich, wenn sie es wollen würde, mit dem großen Zeh des rechten Fußes am Hinterkopf kratzen. Das macht sie natürlich nicht, um die Menschen nicht zu erschrecken, aber die Grazie, mit der sie sich bewegt, lässt sofort eine ehemalige Ballerina erkennen. Auch ihre Freundinnen Stella, Natella und Leila sind Balletttänzerinnen. Sie kommen alle aus der gleichen Stadt: Baku, einst die Hauptstadt der sozialistischen Republik Aserbaidschan, und besuchten dort alle vier die Ballettschule.
Baku war zwar sozialistisch, aber schon damals eine durch die Sitten der Muslime stark geprägte Region. Die Männer schätzten bei den Frauen in erster Linie nicht die Schönheit oder Fröhlichkeit, die Jungfräulichkeit war ihnen das wichtigste. Diese Männer hatten von Frauenrechten nie etwas gehört. Jedes Mädchen war verpflichtet, bis zur Hochzeit und nachher weiter lange Röcke zu tragen und zu Boden zu schauen, man durfte nicht einmal in der Öffentlichkeit lächeln, wer Zähne zeigte wurde als Nutte abgestempelt. Es gab keine Diskotheken und keine Klubs, in den Kinos ging das Licht im Saal niemals aus. Die Ballettschule, die dem Theater gehörte, war in dieser strengen schwarzen Stadt ein kleiner Tunnel, der zum Licht führte. Frau Hartmann und ihre Freundinnen Stella, Natella und Leila liebten das Ballett, sie tanzten jeden Tag nach der Schule auf der großen Bühne des Theaters. Allerdings haben die jungen Frauen es nicht zu einer großen Solokarriere gebracht. Die eine war etwas zu mollig, die andere konnte nicht hoch genug springen, bei der dritten waren die Beine vielleicht ein Millimeter zu kurz und bei der vierten die Brüste etwas zu umfangreich. Der Höhepunkt ihrer Karriere war der Tanz der kleinen Schwäne im Schwanensee. Frau Hartmann war die zweite von rechts.
Auf der anderen Seite der Stadt befand sich die Internationale Akademie der Kriegsmarine, dort wurden die zukünftigen Marineoffiziere aus den Ländern des sozialistischen Lagers ausgebildet, unter anderen mehrere Deutsche aus der ehemaligen DDR. Die DDR war nicht nur der verlängerte Arm des sowjetischen Regimes, ein Vorposten der Russen in Europa, sie war nebenbei auch ein unabhängiger Staat mit Zugang zum Meer mit einer eigenen Kriegsmarine, mit schweren Kreuzern, U-Booten und dazugehörigen Kapitänen, die in Baku ihre Ausbildung absolvierten. Am Wochenende saßen die Jungoffiziere ratlos vor ihrer Kaserne und wussten nicht, wohin mit sich. Die Gürtelschnallen glänzten, die Schuhe ebenfalls, die Uniform machte besondere Menschen aus ihnen, sie saß wie angegossen. Von der Leitung der Akademie bekamen sie Ausgang in die Stadt genehmigt, bloß die Aussicht, wieder am Ufer alleine spazieren zu gehen und später in der Kantine Tee zu trinken war frustrierend. Für Tee trinken war die Uniform einfach zu schade. Mehr aus Verzweiflung als aus Interesse an der Kunst landeten vier ostdeutsche Offiziere der Kriegsmarine im Balletttheater von Baku in einer Schwanensee-Aufführung und verliebten sich auf der Stelle in die kleinen Schwäne.
Die kleinen Makel der Frauen, die sie hinderten eine Solokarriere auf der Tanzbühne zu beginnen, gefielen den Offizieren besonders gut. Sie heirateten die kleinen Schwäne und nahmen sie nach Deutschland mit. In der DDR wurden die jungen Offiziersfamilien in Bad Sülze einquartiert, einem kleinen Kaff in der Nähe von Rostock. Bad Sülze hatte, wie der Name schon verrät, nichts mit Ballett am Hut. Die Tänze gehörten ab sofort der Vergangenheit an, die Schwäne zeigten große Tapferkeit. Aus Erfahrung weiß man, dass Frauen sich besser neuen Lebensbedingungen anpassen können – sie sind flexibler und toleranter als Männer, sie machen weniger Ärger, vielleicht leben sie deswegen auch länger. Die Schwäne suchten nach einer neuen Arbeit, in dieser neuen Welt.
Wenige Monate nach ihre Umsiedlung ging die DDR wie ein abgeschossenes U-Boot für immer unter, das Land wurde aufgelöst. Die jungen NVA-Offiziere mussten sich ebenfalls einen neuen Job suchen, sich umschulen und an die neuen Anforderungen anpassen. Der eine wurde Polizist, der andere Zollfahnder, der dritte kam als Sicherheitsexperte bei der deutschen Botschaft in der Ukraine unter und der vierte wurde Fähnrich bei der Bundeswehr. In den Irrungen und Wirrungen dieser postsozialistischen Zeit, in der alle alten Werte vermischt und neu definiert wurden, wen man nicht füttern und wohin man lieber nicht klettern sollte, zerbrachen viele Familien, weil man das Gefühl hatte, alle Verpflichtungen und Zugeständnisse von früher zählten nichts mehr. Mit den neuen Jobs haben die ehemaligen NVA Offiziere andere, der neuen Zeit angemessene Frauen kennengelernt.
Der Polizist verliebte sich in seine Polizeichefin, der Zollfahnder verliebte sich ganz romantisch in eine vietnamesische Zigarettenverkäuferin, der Sicherheitsexperte in eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft in der Republik Ukraine. Die Mitarbeiterin war eine Einheimische mit sehr tiefem Ausschnitt, sie beugte sich jeden Morgen tief über das Personalbuch, in dem sie eine Unterschrift zu leisten hatte. Der Sicherheitsexperte saß neben der Schranke und beobachtete die Lage. Der wichtigste Teil der Arbeit eines Sicherheitsexperten ist die Lage zu beobachten und scharf zu beurteilen. Einmal hat er in den Ausschnitt hinein beobachtet, scharf geurteilt – und schon war es um ihn geschehen. Der Fähnrich verlor sein Herz an eine junge Rekrutin.
Nach nicht einmal zehn Jahren nach der Wiedervereinigung waren alle kleinen Schwäne alleinerziehend. Sie haben sich inzwischen in der neuen Realität eingelebt, alle arbeiten irgendwo, verdienen genug Geld und einige haben neue Lebenspartner gefunden. Die Vergangenheit soll vergessen sein, die dummen Tänze, die naiven Träume von damals. Nur wenn sie einmal in Monat zu uns nach Glücklitz raus fahren, runter zum See laufen und die Schwäne füttern, kommt die Vergangenheit wieder hoch. Dann stehen sie stundenlang am Ufer und reden schlecht über deutsche Männer.“
Noch mal Schwäne
Das große Wasserbecken auf dem Gelände des Tierheims in Falkenberg (hinter Marzahn-Nord) hat keinen Seenamen, es schwimmen einige Enten darin. Wir waren wegen der Schwäne dort, die angeblich regelmäßig im Tierheim angeliefert werden. Wir, das war die taz-Praktikantin Andrea Rodi und ich. Sie hatte die Aufgabe übernommen, über das Tierheim, eines der größten Europas, zu berichten und ich über die dortigen Schwäne, da ich Andrea einerseits zu „betreuen“ hatte und andererseits gerade an einem Büchlein über „Schwäne“ schrieb, im Rahmen der Engstlerverlags-Reihe „Kleiner Brehm“. Nur leider fanden die „Berlinkultur“-Redakteure zu keiner Zeit Platz auf ihren Seiten für unsere zwei Texte:
1. Das Tierheim Berlin beherbergt 1.700 Tiere – wie geht es ihnen dort? Wenn man sich bei Google die Bilder vom Tierheim in Hohenschönhausen ansieht, macht es von oben den Eindruck eines Klärwerks. Manche, die schon da waren, vergleichen seine Architektur mit einem Gefängnis. Das erste, was man vom Tierheim sieht, ist eine große, graue Betonwand. Sie wurde mit farbigen Tiersilhouetten aufgehübscht – vergeblich. Im Empfangsraum gibt es das Gegenprogramm dazu, Man wird an einem knallroten Schalter, der ein bisschen an einen Flughafen erinnert, begrüßt und es werden Tierspielzeuge und Halsbänder in allen Farben zum Verkauf angeboten. Im Büro der Pressesprecherin Stephanie Eschen steht ein Hundekorb, Tiere mit zur Arbeit zu bringen ist hier logischerweise kein Problem.
So grau und trostlos diese „Stadt der Tiere“ auch von außen aussehen mag, in den Katzenhäusern erfährt man neben dem Empfangsraum bereits das zweite Gegenprogramm dazu: Überall gibt es bunte Spielzeuge und Kratzbäume, die Sessel und Stühle erinnern fast an ein menschliches Wohnzimmer. Die meisten Katzen leben zu zweit oder dritt in einer geräumigen Box. Die Tiere wurden entweder von Besitzern abgegeben oder ausgesetzt oder entlaufen aufgefunden. Zunächst kommen sie in die Tiersammelstelle auf dem Gelände, wo sie ein paar Tage lang bleiben. Manchmal meldet sich der Besitzer, aber sehr oft auch nicht. Dann werden die Katzen dem Tierheim übergeben. „Die Zeit, in der die Tiere in der Tiersammelstelle sind, wird vom Staat bezahlt. Bei Katzen sind das drei, bei Hunden fünf Tage. Das ist aber auch der einzige staatliche Zuschuss. Alles andere, das Futter, die ärztliche Versorgung und die Löhne für 140 Mitarbeiter, werden von Spenden und Mitgliedsbeiträgen des Tierschutzvereins finanziert.“
Katzen, die besonders zuwendungsbedürftig oder schüchtern sind, bekommen regelmäßig Besuch von ehrenamtlichen KatzenliebhaberInnen. Das Seniorenkatzenhaus ist schon fast luxuriös. Dort leben die Katzen in kinderzimmergroßen Räumen. Die Tiere, die nicht (mehr?) mit ihren Artgenossen klar kommen, haben einen eigenen, abgetrennten Bereich darin. Jedes bekommt seine Lieblingsnahrung. Je älter die Katze desto schwerer ist sie vermittelbar. Manche haben aber noch etliche Jahre vor sich, die sie wahrscheinlich im Tierheim verbringen müssen.
In Berlin gibt es ungefähr 70.000 freilebende Katzen. Nicht wenige werden vom Tierschutzverein an Futterstellen, auf Friedhöfen z.B., versorgt. Damit sich ihr Bestand nicht weiter erhöht, werden kranke Katzen eingefangen, kastriert und anschließend wieder freigelassen. Andere gewöhnt man in einem speziellen Außengehege an Menschen, um sie vermitteln zu können.
Am Rand des Geländes befindet sich ein Tierfriedhof: Er sieht erstaunlich bunt aus – mit Windrädern und Blumen. Neben den Privatgräbern findet man dort einen Grabstein mit der Aufschrift: „Euer Leid ist unsere Schuld. Den Versuchstieren“ in Gedenken an die vielen Opfer der Forschung. Man hat ihn am Internationalen Tag des Versuchstiers 2002 aufgestellt.
2008 wurden die „Nutztier-Notaufnahme“ und das „Tierische Klassenzimmer“ eröffnet. Hier warten einige Schweine, Ziegen, Pferde, Schafe, Hühner und Enten auf ihre Vermittlung. In jedem Stall befindet sich ein abgetrennter Bereich, in dem Tierschutzunterricht für Schulklassen stattfindet.
Im Exotenhaus leben Primaten und Reptilien. Die Affen stammen aus schlechter Zirkushaltung oder wurden beschlagnahmt und werden nicht an Privatpersonen vermittelt. Die Reptilien sind meist kleine Tiere, aber man findet auch riesige Echsen und sogar eine Königspython. „Viele Leute kaufen die Tiere frisch aus dem Ei geschlüpft und wissen nicht, dass sie ausgewachsen sehr groß werden können. Dann werden sie bei uns abgegeben“, meint Frau Eschen. Aber Reptilien werden zum Teil schneller als Katzen vermittelt, es sei wohl ein Trend, sich ein Reptil als Haustier zu halten.
Die meisten Besucher kommen wegen der Hunde. Für diese ist es jedoch Stress, wenn dauernd Menschen an ihnen vorbeigehen, um sie zu begutachten. „Es ist zwar ein freundliches Bellen und nur in den seltensten Fällen ein aggressives, aber die Hunde bellen fast immer, wenn ein Mensch vorbeikommt. Auch, um auf sich aufmerksam zu machen. In der Gruppe ist das noch stärker. Ein Hund wird eher bellen, wenn er mit Artgenossen zusammen ist. Auch bei Hunden gibt es so etwas wie Gruppenzwang.“ Die Hunde haben alle in ihren Räumen die Möglichkeit, nach draußen in ein Außengehege zu gehen. Die Architektur erinnert wieder an ein Gefängnis. Es gibt drei frei zugängliche Hundehäuser, eine Hundekrankenstation, ein Fundhundehaus, eine Welpenstation und das Trainings- und Rehazentrum. Für verhaltensauffällige Hunde gibt es dort ein Verhaltenstraining, damit sie leichter vermittelt werden können. Außerdem werden dort alte und chronisch kranke Tiere ärztlich versorgt.
Im Vogelhaus herrscht lautes Gezwitscher. Seit 2007 gibt es dort eine Partnervermittlung für Graupapageien. Besitzer können ihre Vögel dorthin bringen, in der Hoffnung, dass sie sich in ein anderes Tier verlieben. Dann dürfen sie das Paar mit nach Hause nehmen. Allerdings kann es bei Graupapageien zwei bis drei Jahre dauern, bis sie sich für einen Partner entschieden haben.
Das Tierheim ist definitiv kein Knast, auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht. Es ist eher ein Obdachlosenheim für Tiere, in dem man sich liebevoll um sie kümmert und alles mögliche dafür tut, damit sie schnell vermittelt werden können. Nach einer Vermittlung wird regelmäßig nachgesehen, ob das Tier in gute Hände geraten ist. Und auch wenn es nicht so schnell vermittelt werden kann, hat es im Tierheim genug Platz, Futter und Kontakt mit Artgenossen. Letzteres ist in privaten Wohnungen sogar oft weniger der Fall.
2. Kurz vor Weihnachten begann am Kreuzberger Urbanhafen und an der Spree in Treptow eine Serie von Attentaten auf Schwäne mit meist tödlichem Ausgang. Die Presse vermutete „sadistisch veranlagte“ und „grausame Tierquäler“ als Täter.
Die noch lebenden Schwäne würde man auf die „Schwanstation“ bringen, erklärte ein Feuerwehrmann. Er meinte die Kleintierklinik der FU in Zehlendorf, wo man u.a. auch verletzte Schwäne behandelt. Daneben gibt es noch das Tierheim in Falkensee und die NABU-Wildtierstation in Marzahn, aber die einen sind auf Papageien und die anderen auf Greifvögel eingestellt. Im Tierheim Berlin hat man nicht nur Tierärzte, sondern auch ein Wasservogelhaus. Früher wurden zwischen 60 und 70 verletzte Schwäne jährlich dort eingeliefert. Da es so schien, als würden es immer mehr werden, ließ die Tierheimleitung 2002 das Haus mit einem Garten drumherum und einem Wasserbecken errichten. Das Haus ist zeltförmig und heißt „Tippi“, weil der Schwan bei den Indianern ein heiliger Vogel war, wie uns erklärt wird. Aus unbekannten Gründen werden jedoch seit einiger Zeit immer weniger verletzte Schwäne eingeliefert – nur noch 10 bis 15 Tiere im Jahr. Die Verletzungen der Schwäne rühren meist von Angelhaken her, gelegentlich haben sie aber auch Flügelverletzungen, waren im Eis festgefroren und wurden befreit oder sie leiden an Butulismus, eine Algenbakterienvergiftung.
Im „Tippi“ befindet sich zur Zeit ein Schwan. Der Sturm hatte ihn am Tag zuvor in eine Baumkrone gedrückt und er war abgestürzt, hatte sich jedoch nichts gebrochen, aber vielleicht so etwas wie eine Gehirnerschütterung davongetragen, weswegen man ihn ein paar Tage zur Beobachtung da behalten wollte. Er macht einen gesunden Eindruck.
1875 schrieb der tschechische Schriftsteller Jan Neruda in einem Reisebericht aus Berlin: Ebenso wie das „Lausitzer Volkslied“ habe sich auch der „Berliner Witz verflüchtig“. Er sei „kalt und langweilig geworden. Man denkt dabei an die den Wasserspiegel der Spree zierenden traurigen Schwäne, die allesamt gebrochene Flügel haben.“
Die preußischen Könige hatten sie angesiedelt, indem sie die Vögel „durch Abnehmen der Hand zeitlebens flugunfähig“ machen ließen, das selbe geschah dann mit den Jungen. Nach dem Ersten Weltkrieg waren nicht die Hohenzollern, sondern auch „ihre“ Schwäne in Berlin und auf den umliegenden Havelseen nahezu verschwunden, man hatte sie und auch ihre Eier „gestohlen“. Die neue Republik wollte unbedingt den Schwanenbestand wieder auffüllen, 1922 beauftragte die Potsdamer Stadtverwaltung Oskar Heinroth damit. Der „Vater der Ethologie“ war Schwanexperte, zudem stellvertretender Leiter des Zoodirektors. Heinroth stahl eine Anzahl bebrüteter und frischer Höckerschwan-Eier am Lucknainer See in Ostpreußen. Von den daraus geschlüpften Schwänen ließ er jedoch nur noch einer Hälfte „die Hand eines Flügels“ abnehmen, dem anderen Teil beließ er die „Flugkraft“. Weil die Schwäne zusätzlich auch noch durch ein neues Gesetz ganzjährig geschützt wurden, gelang Heinroth schließlich die „Neubesiedlung der Potsdamer Gewässer“. Die Hamburger Bürger verfuhren ebenso mit ihren „Alsterschwänen“ – seit 1664 bereits.
Aber auch in Berlin kümmert man sich heute um die Schwäne, so wurde z.B. ein schon lange im Charlottenburger Lietzensee ansässiges Schwanenpaar von den Anwohnern liebevoll „betreut“. Als eines seiner fünf Jungen einen Angelhaken im Bein stecken hatte, brachten sie das Tier in die Kleintierklinik. Währenddessen landete ein junges Schwanenpärchen in ihrem Lietzensee-Revier. In dem darauffolgenden Kampf tötete „der Neue“ einen der Jungschwäne. Diese Aggressivität ging den Anwohnern zu weit – sie griffen ein. Es wurden dann jedoch nicht die Revier-Eindringlinge, sondern die alteingesessene Schwanenfamilie inklusive ihres aus der Klinik als gesund entlassenen Jungen von der Initiative „Aktion Tier“ in den Wannsee „umgesetzt“, wo der „Revierdruck“ geringer sei. Die Lietzensee-Anwohner sollen derzeit „noch ein wenig böse auf das neue Schwanenpaar“ sein, meinte die Sprecherin der „Aktion“, aber sie hoffe, „dass sie die beiden neuen Höckerschwäne auch bald in ihr Herz schließen werden. Schließlich folgen diese Vögel auch nur ihren natürlichen Instinkten,“ fügte die Ornithologin beschwichtigend hinzu. Den Biologen fällt die Kulturkritik anscheinend noch immer leichter als Naturkritik.
Little Italy hinter Köpenick
Die aufs malerischste mit Kanälen verbundene Bootsbesitzer- Datschensiedlung Neu-Venedig, an der Müggelspree zwischen Dämeritz- und Müggelsee, entstand in den dreißiger Jahren als Arbeitsdienstmaßnahme.
1973 wurde dort und drumherum per DDR-Ministerratsbeschluß weiteres Wochenend- Siedlungsgebiet ausgewiesen. Die Gemeinde Rahnsdorf vergab es an verschiedene Betriebe. An Wassersport interessierte Mitarbeiter machten sich sodann daran, das Land trockenzulegen, indem sie Kanäle aushoben, 5.000 Erlen fällten und meterweise beim Forst ablieferten, Eisenbahnschienen und -schwellen für die Uferbefestigung organisierten und schließlich das ganze Areal mit 30.000 Kubikmeter Erde auffüllten. Zum Schluß wurden noch 30 Brunnen ausgehoben und ein Gemeinschaftskredit zum Bau von 50 Wochenendhäusern aufgenommen. Dann konnten die Siedler, die diesen Arbeitseinsatz durchgestanden hatten, endlich ihrem Bootshobby nachgehen. Das „Datschengesetz“ der Bundesregierung sorgte unlängst dafür, daß das – pachtzinsgünstig – auch bis zum Jahre 2004 so bleibt.
Das dachte jedenfalls die im Verein „Energie e.V.“ organisierte Gemeinschaft der Wasserfreunde in der Datschengemeinschaft Rahnsdorf-Süd. Doch am 22.April sperrte eine nach der Wende aus dem Westen zurückgekehrte Anwohnerin ihnen den Kanal zur Müggelspree mit Eisenstangen ab: Sie fühlte sich durch die Boote gestört. Die Siedler waren empört, Radio 100,6 schaltete sich ein und ließ einen Sprecher des Umweltsenators erklären: Laut Wassergesetz ist eine solche Absperrung genehmigungspflichtig, sie wäre nie genehmigt worden und muß also in jedem Fall wieder entfernt werden. Es handelt sich dabei um eine öffentliche Wasserstraße. Daraufhin kam es zu einer Anhörung, wobei die Anwohnerin einen Termin verstreichen ließ. Dem folgte eine Aufforderung, die Sperre abzubauen. Dagegen legte sie beim Verwaltungsgericht Widerspruch ein. Das
Gericht lehnte diesen jedoch ab.
Am 21. Juli ging das Urteil an den Umweltsenator. Der konnte nun die Maßnahme vollziehen, hatte jedoch zuvor noch einen Kostenvoranschlag einzuholen: 3.000 DM sollte das Abräumen der Sperre kosten, zuzüglich einer Ordnungsstrafe in Höhe von 500 DM. Mitte August wird es nun wohl soweit sein. Dann haben die 50 Boote der Datschensiedlung Rahnsdorf-Süd wieder Anschluß an die Müggelspree. Durch die Schikane der Anwohnerin ist ihnen jedoch ein Vierteljahr Bootsfahr-Vergnügen, und das mitten im Sommerurlaub, versaut worden. Dafür ist zwar ihr Vereinsleben wieder reger geworden (eventuell wird man eine Siedlungschronik zusammenstellen, und fast täglich kommt der Wasser-KOB vorbei und erkundigt sich nach dem neuesten Stand der Dinge), aber ein unmißverständliches Zeichen gegenüber der Anwohnerin, daß man sich nicht alles gefallen läßt, hält der „Energie e.V.“ doch für sinnvoll. Nur was für eins?
Die schwarzen Junker
Nach der Wende wurde den LPGs, die sich wider Erwarten umgewandelt hatten, mit dem Kampfbegriff „Rote Junker“ das Überleben vermiest. Auf einer Veranstaltung von LPG-Funktionären am Glienicker See vor der Brücke links von Berlin aus gesehen meinten diese dagegen: „Alle sagen, der alte Adel kommt wieder – er ist längst da!“. Nach Abschluss des volkseigenen Wald-, Jagd- und Feldverkaufs bzw. der Verpachtung fanden leer stehende Schlösser und Gutshäuser in Brandenburg allerdings auch Interessenten unter nichtadligen Anwälten, Bankern und Immosammlern. Sie werden als schwarze Junker bezeichnet. Eigentlich dürfen sie nicht landwirtschaftlich tätig werden, oftmals ist ihr Land auch zu klein dafür. Wem es jedoch gelingt, genug dazuzupachten, der stellt einen Verwalter ein und gibt selbst – meist zusammen mit seiner bezaubernden jungen Ehefrau – nur an den Wochenenden den schwarzen Junker. So wie auch immer wieder gerne kleine, aber feine Schlossfeste bzw. kulturelle Abende.
Inzwischen gibt es nicht nur täglich in den Städten irgendwo ein Filmfestival, man kann sich auch von einem Schlossevent zum anderen hangeln. Zu den Highlights gehören die neualten Ostimmobilien wie die Wartburg, Schloss Wiepersdorf, Ferch, Rheinsberg. Wo der Staat versagt, springen zur Not die Banken ein – beim Schloss Neuhardenberg und beim Liebenberger Schloss zum Beispiel. Letzteres gehört nun der bayerischen Landesbank-Tochter Deutsche Kreditbank, die Ländereien – Äcker, Wälder und Seen – lässt sie von einer Diplomlandwirtin bewirtschaften.
Neben dem Managerschulungsbetrieb wirft auch das Hotel noch etwas ab. In der Verwaltung betont man aber, kein Kapitalist zu sein. Ich habe das so verstanden, dass das Objekt, wozu auch noch eine Kirche, ein von Lenné angelegter Park und ein Seehaus gehören, eher Repräsentations- als Renditeaufgaben erfüllt. Obwohl man auch hier davon ausgeht, die Betten bald bis zu 60 Prozent auszulasten (in Brandenburg sind 30 Prozent normal).
So wie der Plauener Hof am Plauener See in Mecklenburg ein bevorzugter Lesbentreff wurde, könnte das generalüberholte Liebenberger Seehaus einer für männliche Homosexuelle werden. Besonders die Berliner Schwulen, deren Zentralorgan Siegessäule heißt, knüpfen gerne an preußische Traditionen an. Im Seehaus hub einst die preußische Männerliebe an, indem der Bauherr, Philip Fürst zu Eulenburg, dort im Kaminsaal zusammen mit Wilhelm II. zur „Liebenberger Tafelrunde“ lud. Der Kamin ist noch immer da. Ferner lebte dort die 1942 als Widerstandskämpferin der Roten Kapelle hingerichtete Libertas, die mit Harro Schulze-Boysen verheiratet war, der als Herausgeber des Gegners von vielen Freunden, unter anderem von Robert Jungk, als „unwiderstehlich“ bezeichnet wurde – besonders beim Zusammenbringen kontroverser Gesprächskreise.
Zur gleichen Zeit verkehrte im Seehaus auch Hermann Göring. Der jetzt im „Kutscherhäuschen“ wohnende Neffe der Widerstandskämpferin Libertas und Hubschraubertestpilot im Ruhestand, Baron von Engelhardt, erzählt: Einmal habe Göring ihn auf seinen Schoß gezerrt, aber er habe dem Reichsmarschall eine Ohrfeige verpasst. Die Sowjets übergaben 1945 ganz Liebenberg der SED, die aus dem Seehaus ein ZK-Gästeheim mit Kino machte. Bald benutzte es das zusammen mit Ulbricht in Ungnade gefallene ZK-Mitglied Alfred Neumann als Privatrefugium. Der von Partei und Frauen enttäuschte Spanienkämpfer ging gerne jagen. Zuletzt war die ganze Empfangshalle des Seehauses mit Trophäen dekoriert. Auf jeder zweiten stand: „Erlegt: A. Neumann“.
Die bayrischen Banker haben die Halle gründlich ausgekehrt und die Sauna rausgerissen. Dafür stehen jetzt nach hinten raus lauter Zitronenbäume auf der Veranda. Überhaupt wurde das ganze Ambiente gleichsam vegetarisiert. Obwohl man auf fleischorientierte Jagdgesellschaften und Reiterspiele setzt. Nur gelegentlich stehen Dichterlesungen auf dem Programm. Neulich war Wladimir Kaminer geladen. Er las mit dem Rücken zum Kamin – vor einem überwiegend reifen Publikum, das aus der Umgebung angereist war. Jedoch nicht mehr aus dem nahen Liebenberg, dessen Bewohner einst das DDR-Staatsgut bewirtschaftet hatten und sich in der Wende, „endlich nach 80 Jahren“ erneut den Seezugang zwecks Angeln und Baden erkämpft hatten.
Während der Interimszeit, da Treuhand und Land mit dubiosen Geschäftsführern das gesamte Objekt verwalteten, verlegten auch die Liebenberger ihre Feiern ins Seehaus. Nun hat die Klientel noch einmal gewechselt – wie so oft in der Vergangenheit des 300 Jahre alten Schlossgutes und des 1906 gebauten Seehauses. Nach der Lesung, als wir noch müßig auf dem Bootssteg herumsaßen und Nachtigallen sowie Fröschen zuhörten, kamen allerhand wandernde Fontanefans paarweise in das Seehaus-Restaurant. Wir besichtigten zuletzt noch eine nahe Straußenfarm. Eine volle Stunde lang berichtete uns der Bauer Frank Winkler dort von den Schwierigkeiten der Straußenzucht im Allgemeinen und im Besonderen. Wir waren ziemlich beeindruckt, das muss man sagen. Wladimir machte sich die ganze Zeit Notizen.
Als ich mit einer taz-Kollegin unlängst noch einmal im Seehaus einkehren wollte, war dieses wegen einer „privaten Feier“ geschlossen. Dazu gehörte auch ein inzwischen gebautes Bar- und Grillhäuschen direkt am See, das von mehreren Bodyguards bewacht wurde – wir durften dort nicht einmal mehr in den See steigen, um uns kurz zu erfrischen.
Die Besserleger
Ein Bekannter, der früher bei einer Versicherung gearbeitet hat, verdient jetzt sein Geld als Golfballtaucher. Die meisten Golfplätze in und um Berlin befinden sich an einem See, daneben gibt es auf ihnen oft auch noch einen kleinen künstlichen See. Nach der Wende wurden in Hauptstadteuphorie und Unternehmensgründungsfieber rund um Berlin 81 Golfplätze projektiert, und beim Potsdamer Umweltministerium zur Genehmigung eingereicht, wie ein ehemaliger leitender Mitarbeiter, Dr. Friedrich von Bismarck, sich erinnert. Genehmigt wurden dann 12. Wobei schon klar war, dass einige früher oder später zu kostbaren Bauland umgewandelt werden, so dass das Golfspiel auf den riesigen Flächen nur eine risikolose Zwischennutzung ist. Zu den erfolgreichen Golfplatz-Antragstellern gehörte ein Verwandter von ihm: der Ururenkel des Reichskanzlers, Fürst Ferdinand von Bismarck. Er ist Mitgesellschafter des Golf- und Countryclubs am Seddinsee.
Das Clubgelände wurde mit einem Villen- Neubauviertel verbunden, das man „Klein-Dahlem“ nennt, weil es bereits sehr viele reiche Dahlemer aus der Stadt dorthin „ins Grüne“ zog, wo sie sich nun direkt an der Golfanlage ein neues Haus bauen lassen, für das ein renommierter Düsseldorfer Wachdienst fürderhin Rund-um-die-Uhr-Betreuung garantiert. „Die größten Steuerzahler Berlins sind schon hier“, frohlockte bereits nach einem Jahr Geschäftsführer Nicolai A. Siddig – einer der Gesellschafter, neben der bayrischen Hypo-Bank-Tochter Hyporeal. Rechtsanwalt Siddig hält außerdem Anteile am Fernsehturm auf dem Alexanderplatz, dessen Kuppel an schönen Tagen wie ein riesiger Golfball glänzt. Der Fürst wiederum hat eine Quelle im Sachsenwald, die mit Golfmotiven wirbt. Die Anlage am Seddinsee umfaßt 230 Hektar und bestand einst aus 164 Grundstücken, die die Investoren mühsam „auf dem Verhandlungswege“ erwerben mußten. Das Land war zuletzt von einer LPG bewirtschaftet worden, die Spargel und Obst anbaute. Ein ehemaliger LPG-Vorsitzender, der jetzt Bürgermeister des Ortes ist, setzte sich sehr für den Golfplatzbau ein. Seiner Gemeinde wurde dafür von den Betreibern der Bau einer Kita und einer Schule mit einer Million Mark „gesponsert“, außerdem stellten sie seinen Sohn, einen gelernten Melker, als Greenkeeper ein. Die Genehmigung für die Golfanlage wurde in den diversen Ämtern und Behörden äußerst kontrovers diskutiert. 1993 entschied das Kabinett schließlich positiv. Golfen sei, ähnlich wie Tennis, ein Volkssport geworden, wurde behauptet.
Ich hatte 1985 noch ein schlechtes Gewissen, einer Einladung auf den ersten deutschen „Volksgolfplatz“ – nahe der oberhessischen Kleinstadt Schotten – zu folgen. Er war von einem Polsterer namens Schlapp gegründet worden, zusammen mit seinem „nie auf Feierabend schielenden“ Platzwart Herrn Turke. Am Anfang bestand die Anlage nur aus steinigen Äckern und Hangweiden: Man spielte ums Viereck und über die Diagonale. Auf die Weise kam man irgendwann zwar auch auf die international üblichen 18 Löcher, aber wegen des rauhen Vogelsberg-Greens erlaubte der Vereinsvorsitzende Schlapp bald das „Besserlegen“: eine neue Regel! Viele Golfspieler der ersten Stunde gewöhnten sich mit der Zeit das Besserlegen derart an, daß diese Regel auf dem Volksgolfplatz quasi bis heute gültig ist – wo das Green längst einwandfrei gestaltet wurde.
Ähnliches galt auch für den innerstädtischen „Volxgolfplatz“ auf dem Gelände des Ulbricht-Stadions in Berlin, dieser mußte dann jedoch dem Neubau des Geheimdienstes (BND) weichen. Die „3-Loch-Driving-Ranch“ wurde seltsamerweise ebenfalls von einem Polsterer, Clemens Bayer, gegründet. Gegenüber vom Potsdamer Platz, wo sich bis zum Mauerfall mehrere merkwürdige „Schäferhundabrichte“ halten konnten, eröffnete dann für einige Jahre die Berliner Firma „Golf Global“ eine „Driving Ranch“. Der Tagesspiegel, der inzwischen mit einer „Golfbeilage“ erscheint, erinnerte bei seiner Schließung 2009 durch den Grundstückseigentümer, die halbprivatisierte Bahn AG, daran, dass der Übungsplatz „vor allem wegen seiner grandiosen Kulisse sehr beliebt war.“ Ähnliches behaupten die Spieler auf dem „Minigolfplatz“ am Landwehrkanal in Kreuzberg auch von ihrer Anlage, die mit einem Biergarten verbunden ist. Für sie gilt jedoch nicht, was die Zeitschrift „Capital“ in einer „Exklusivumfrage“ ermittelte: Zwei Drittel aller EU-Geschäfte ab 154 Millionen Mark Auftragswert laufen über Golfplätze, das heißt, werden beim Golfspiel eingelocht, wobei das golfbedingte Umsatzplus branchenspezifisch differiert: von 28 Prozent (bei Chemie, Computer, Pharma) bis zirka drei Prozent (bei Banken, Versicherungen, Maschinenbau).
Um an solche „Global Player“ heranzukommen führten die Betreiber des Motzener Clubs (u.a. der Baukonzern Philipp Holzmann) sogar schon Politiker und Industrielle per Sonderluxuszug an ihr Golf- und Wohnobjekt am See heran. Ihre zwischen Eigentumswohnungen dort heißen „VIP-Lounge“ und „18. Loch“. Den Motzener Heimatverein sponserten sie großzügig, die Dorfchronistin Hilde Waßmuth meinte sogar: „Unser ganzer Ort profitiert von den Herren im Club“.
Der Seddin-Geschäftsführer Siddig bleibt jedoch gelassen: „Der Motzener Golfclub und ähnliche Anlagen sind keine Konkurrenz für uns, die meisten sind zu weit weg für reiche Westberliner.“ Der Kampf um die zahlungskräftigsten Mitglieder wird am Ende vielleicht zwischen seiner und der schon Frankfurt/Oder nahen Anlage in Bad Saarow ausgetragen. Auf dem Gelände des Sporting Clubs am Scharmützelsee planten Bernhard Langer und Arnold Palmer die Golfanlagen, Paul Schockemöhle den Reitbetrieb und Kempinski die Gastronomie. Zu den Investoren zählte der Schlagerstar Jack White, dessen Frau Clubpressesprecherin ist.
Auf einer Konferenz des Westberliner Wirtschaftssenators über die Perspektiven des Wirtschaftsstandorts führte der Berliner Siemens-Vertreter Erich Gérard aus: „Die Nachkommen unseres Unternehmensgründers sind in Bayern, am Starnberger See, groß geworden und fühlen sich heute dort sehr wohl.“ Deswegen müsse „das Havelland auch so werden wie das Münchner Umland“, erst dann könne über eine Rückverlagerung der Konzernzentrale nach Berlin nachgedacht werden. Insbesondere beschwerte sich der Münchner Siemens-Vorposten über die Potsdamer Stadtregierung, die ihm signalisiert hatte: „Wir wollen hier keine Schickimicki-Siedlungen.“ Dabei hatten sie allerdings den Mund zu voll genommen, denn inzwischen ist schon halb Potsdam voll Schickimickisiert.
Am dortigen „Heiliger See“ ergab sich uns vor einiger Zeit diesbezüglich folgender Eindruck: Wir parkten kurz vor dem See – und bemerkten beim Aussteigen, dass wir direkt vor dem Haus von Günther Jauch standen, der gerade in seinem „Living Room“ dabei war, ein kostbares Porzellanservice von KPM hin und her zu tragen. Auf der Wiese am See entschieden wir uns für die mittlere Lage: Vor uns tummelten sich am Wasser dicke Ehepaare mit ihren Kindern und hinter uns unter Bäumen betranken sich etwa zehn muskulöse Neonazis. Etwa alle halbe Stunde glitt ein halbglatzköpfiger Neureicher in weißem Bademantel auf einem ebenso weißen Tretboot über den See – von einem Privatgrundtück zum anderen, links neben sich ein formscharfes Mädchen und rechts einen gutgefüllten silbernen Sektkübel. „Das glaubt uns zu Hause in Kreuzberg wieder keiner,“ jammerte Dorothee Wenner.
Wir packten unsere Badesachen ein und fuhren an den Schwielowsee.
Bisher kannte ich dort nur das Petzower Schloß samt Park, das einst dem FDGB gehörte und dann ein pompöses Manager-Schulungszentrum werden sollte, jetzt besitzt es ein Hotelbetreiber-Ehepaar vom Tegernsee. Daneben gibt es dort aber noch ein Wandertheater, das der Kreuzberger Ingenieur Manfred Rühl betreibt: mit Stücken wie „Leben heißt Leben im Unterstand“ und „Probierbewegungen“ – von Artur Richter.
Der 1951 geborene Ingenieur Rühl ist daneben noch Herausgeber des Copyjournals „Nachrichter“, das Artur Richters Leben und Gesamtwerk gewidmet ist. Der 1895 geborene Richter war Bankbeamter und wurde 1915 trotz einer Selbstverstümmelung mit dem Bajonett als Infantrist an die Front geschickt, wo er mehrmals verwundet wurde. Im Zweiten Weltkrieg zog man ihn zum Volkssturm ein, wobei er im Februar 1945 erneut dreimal verwundet wurde.
1946 wird er als Untermieter in die Graefestraße 30 einquartiert. Er arbeitet als Auswerter von Statistiken und als Gehilfe des Schriftstellers Seibold. 1956 gelingt es ihm, Hauptmieter einer Tiefparterre-Wohnung in der Dieffenbachstraße zu werden („Mutti, über uns wird ’ne Kellerwohnung frei!“ Wolfgang Neuss)
Ab 1960 bekommt er eine Rente. Bis zu seinem Tod, am 1. 7. 1979, bleibt er Mieter in der Dieffenbachstraße 59, Quergebäude. 1976 wird der Ingenieur Manfred Rühl sein Wohnungsnachbar im Tiefparterre. Dazu schreibt der Redakteur des „Nachrichters“, Norbert Kröcher (Knofo), 1995: „Als Richter stirbt, rettet Rühl dessen umfangreichen Nachlaß vor der Vernichtung durch die Müllabfuhr. Seitdem reist Richter mit Rühl. Nach dem Fall der Mauer macht Rühl in den Osten. Richter macht mit.“
In Petzow bei Werder erwirbt Rühl 1992 von der dortigen Obst- und-Gemüse-LPG ein Wohnhaus, dazu noch deren Gemüsezwischenlagerraum, aus dem einmal eine Probebühne werden soll: „um Richter zu spielen!“ Noch ist es aber nicht soweit, bisher gibt es nur die gelegentlichen Gastspiele des Tourneetheaters „Die Hasenheiden“ (Telefon: (0161) 1315127). Ihr Geld verdienen Ingenieur Rühl und Redakteur Kröcher vorwiegend bei der AB-Maßnahme „Kunst und Kultur“ in Lehnin. Daneben arbeiten sie das „gigantische Werk“ Artur Richters auf: „12.167 Manuskriptseiten, 892 Fotografien und fotografische Platten“. Dazu ein 12-Minuten-Film (auf 16 mm) und Dutzende Magnettonbänder – mit z.B. von Richter selbst kommentierten Bundestagsdebatten. Das Gesamtwerk charakterisiert Ingenieur Rühl so: „Artur Richters Welt – ist ein Unterstand, ein Keller, ein Bunker, eine Zelle – deren Wände – Arbeit, Krieg, Wohnung, Familie – heißen.“ Er zitiert dazu zwei fast willkürlich herausgegriffene Sätze aus Richters hinterlassenen Schriften: „Hätte man Geld und könnte das Leben wieder in geordnete Verhältnisse bringen, dann sind nebenstehende Erfahrungen keine Niederlage mit Insuffizienzgefühlen.“ / „Aber wenn ich für eine Wohnung, gedacht als wirkliches Wohnen und Heim, monatlich 300 DM zahlen soll, wo bleibt da das viele glücklich machende Geld.“
Wir entnehmen diesen knappen Zitaten bereits: der „Kontorist, Soldat, Literat, Poet und Notoriker“ Artur Richter war am wirklichen Leben interessiert, Ideenflucht war also seine Sache nicht!
Wir sind jedoch eher am Baden im Schwielowsee interessiert und das kann man von dem von Lenné gestalteten Petzower Schloßgarten aus, in dem sich auch noch ein kleiner See befindet, hervorragend. Und anschließend kann man im Schloßrestaurant gediegen essen und trinken. D.h. man konnte das. Anfang 2013 berichtet die Morgenpost:
Im Schloss Petzow am Schwielowsee sollen Eigentumswohnungen entstehen
Der schillernde Hotelier Hilpert hat an eine Potsdamer Firma verkauft. Die plant Luxuswohnungen im originalgetreu restaurierten Haus. Dahinter stehen zwei Potsdamer Immobilienentwickler: die G+G Bauträger GmbH will das denkmalgeschützte, seit 2011 ungenutzte Anwesen sanieren. Wie deren Geschäftsführer Alexander Gottschald der Berliner Morgenpost bestätigte, sollen in dem seit Jahren leer stehenden Herrenhaus für fünf Millionen Euro bis zu rund 30 hochwertige Eigentumswohnungen entstehen.
Die Landesinvestitionsbank ILB fordert von der Betreiberfirma des Luxusresorts am Schwielowsee nun die komplette Fördersumme von 9,2 Millionen Euro zurück, wogegen Hilperts Anwälte wohl Widerspruch einlegen werden. Sie wiesen die Betrugsvorwürfe zurück und hatten auf Freispruch in dem Verfahren plädiert. Auch für das Schloss Petzow waren öffentliche Fördermittel von mehreren zehntausend Euro geflossen. Ob sie nach dem Verkauf zurückgezahlt werden müssen, ist offen. Der erzielte Kaufpreis für das sanierungsbedürftige Schloss Petzow soll nach Informationen der Berliner Morgenpost rund zwei Millionen Euro betragen haben. Bei Immobilienscout war das Schloss mit 2,3 Millionen Euro angeboten worden.
Der neue Eigentümer, die Firma G+G Bauträgergesellschaft, ist spezialisiert auf die Sanierung von Denkmälern in Potsdams Innenstadt, vor allem in der Yorck- und Wilhelm-Staab-Straße. Der Kaufvertrag ist vor einigen Tagen unterschrieben worden, doch war die Zustimmung von Hilperts Hausbank, die DKB, erforderlich. Die bisherigen Besitzer wollten das Herrenhaus ursprünglich zu einem Luxushotel umbauen. Jahrelang hatten sich Hilpert und Tiedje darum bemüht, doch der Plan scheiterte an der Finanzierung. Axel Hilpert hatte das Anwesen von einem bayerischen Investor gekauft. Auch dieser hatte seine Pläne für das Herrenhaus nicht verwirklichen können.
Der Schinkelbau wird seit Jahren nicht mehr genutzt. Erbauen ließ das Herrenhaus die Familie von Kaehne. Der Gutsbesitzer und Amtsrat Friedrich August Kaehne war seinerzeit der wohlhabendste Mann Petzows. Er ließ 1825 nach den Plänen von Karl Friedrich Schinkel ein repräsentatives Herrenhaus errichten – ein pittoreskes Bauwerk in einem bunten Mix von maurischem Kastell- und englischem Tudorstil. Nach der Enteignung 1946 war das Haus den DDR-Gewerkschaften übergeben worden. Sie nutzten es als Schulungs- und Erholungsheim. Nach 1990 wurde Petzow bis 2003 als Hotel und Restaurant genutzt. Das Haus war schließlich in den vergangenen Jahren nur noch für Filmaufnahmen genutzt worden. Das ZDF drehte dort 2004/2005 die Serie „Bianca – Wege zum Glück“. Auch als Altenheim diente das Schloss in der ZDF-Komödie „Lotta und die großen Erwartungen“. 2011 war der 15 Hektar große Schlosspark Kulisse für den deutschen Märchenfilm Jorinde und Joringel von Bodo Fürneisen.
Den Park hatte 1838 Peter Joseph Lenné gestaltet. Seit dem Jahr 2001 steht auf einer Anhöhe wieder der kurz nach Kriegsende verscharrte Obelisk. Er war 1837 zum 200. Jubiläum der Ankunft der aus Böhmen geflohenen Familie von Kaehne errichtet worden. Im Dorf erzählt man sich, der Obelisk sei damals vergraben worden, um angesichts der einrückenden Rotarmisten Spuren der „Junker“-Familie zu beseitigen. Ganz in der Nähe liegt die Gruft der einstigen Gutsherren.
Zwar wird Schloss Petzow – wie von der Stadt Werder und dem Ortsbeirat Petzow lange erhofft – nicht öffentlich zugänglich sein. Der von Peter Joseph Lenné gestaltete Schlosspark allerdings schon. Er gehört der Stadt Werder. Im einstigen Schlossgarten soll aber ein öffentlicher Obst- und Ziergarten entstehen, der sich teilweise am historischen Vorbild orientiert. Auch ein Garten-Café ist geplant.
Dauercamper an Brandenburger Seen – ein Beispiel:
Autonome favorisieren Action-Grenzcamping mit antirassistischen Heringen – dieses Jahr in Straßburg, Jena, Hamburg und Cottbus. Ich habe dagegen eine Vorliebe für Dauercamper-Areale – nicht als Benutzer, sondern als Spanner. Diese Leidenschaft teile ich mit Susanne Klippel, die einen ganzen Stummfilm auf einem DDR-Zeltplatz drehte, den sie in den Westen schmuggelte und dort vertonte. Zusammen mit Burkhard Scherer und einigen anderen haben wir mal einen ganzen Sommer lang als „taz-Sommerlochteam“ das Dauercamper-Areal des Zeltplatzes am Niedermooser See im Vogelsberg ausgespäht.
Zuletzt war bei mir der Zeltplatz am Eichhof – auf einer Halbinsel bei Feldberg gelegen – dran. Gleich daneben liegt das Fischerdorf Carwitz – ebenfalls auf einer Halbinsel. Hier lebte der Rowohlt-Mitarbeiter und -Autor Hans Fallada, der nach dem Krieg Bürgermeister von Carwitz wurde und vor allem in der DDR immer populär blieb. Heute lebt von seinem Ruhm das halbe Dorf: Es gibt ein Fallada-Museum, eine Fallade-Schule, Fallada-Radwege, -Straßen und -Bootsanleger. Gerade wird mit finanziellen Mitteln von Bund, Land und Gemeinde das „Freigebiet“ um das Hans-Fallada-Haus schön gemacht.
Im Aushang hängt der offene Brief eines Naturschützers, in dem er rät, dabei die Reste der Hecke aus Seidenpflanzen stehen zu lassen. Der Hobbyimker Fallada hatte sie einst für seine Bienen gepflanzt. Heute sei seine Seidenpflanzen-Hecke „das einzige Vorkommen in Mecklenburg-Vorpommern“. Für sich selbst brauchte der Schriftsteller eher harte Drogen und Alkohol. Und zu seinem Gesamtwerk gehören denn auch einige Sucht- und Knastromane. Er war ewig in Geldnot. Bereits die Hälfte dessen, was nun für die Renovierung seines Museums ausgegeben wird, hätte ihn bis zu seinem Lebensende 1947 mit Rauschgift versorgt. Und eine Menge schwacher Texte, die er nur zum Gelderwerb schrieb, wären ihm erspart geblieben. Sie alle werden nun nach und nach einem dankbaren Sommerfrischler-Publikum – während der „Hans-Fallada-Tage“ in Carwitz – serviert. „Ehret eure lebenden Dichter, denn sie werden lange tot sein!“ hatte bereits Gerhard Zwerenz dem Publikum 1981 empfohlen.
Zurück zum Zeltplatz bei Feldberg. Dort haben es sich gerade drei Ortspolizisten im Schatten der Anmeldungshütte des Platzwarts bequem gemacht. Plötzlich bekommen sie einen Anruf: „Am Ortsausgang nach Carwitz wurde ein Pkw von der Fahrbahn abgedrängt“. – „Wir kommen gleich“, antwortet einer der Polizisten und gibt seinen Standort durch: „Wir sind hier am Campingplatz und das dauert noch eine Weile, aber der kann ja nicht weg!“
Der Sturm hat dem Zeltplatz arg zugesetzt: Mehrere Zelte sind zerfetzt worden. Dafür gibt es nun jede Menge Kleinholz für die abendlichen Lagerfeuer. Die Dauercamper haben elektrisches Licht und Fernsehen. Die Holländer haben sogar einen eingezäunten kleinen Zwinger für ihre Hunde elektrisch illuminiert. „Rowdys“ lässt der Platzwart nicht aufs Gelände – und es muss immer genügend Freiraum zwischen den Zelten bleiben. Trotzdem gibt es manchmal Ärger – „zum Beispiel mit jungen Berliner Prolos“: wenn die zu laut und lange feiern. In Feldberg ist spätestens um zehn Uhr Ruhe. Dann plätschert nur noch der See, und die Lagerfeuer prasseln leise. An der Pferdewiese spielen noch einige Ehepaare beim Schein von Hochdruck-Spirituslampen Schach. Und zwischen vier winzigen runden Zelten diskutiert eine Gruppe amerikanischer Ladys leise über Jetlags. Die Nachtschwimmer haben derweil die Nacktbader abgelöst. Ein Haubentaucherpärchen ist noch immer auf Fischfang.
An der Bootsanlagestelle hocken acht Mädchen um eine Feuerstelle und backen sich kleine Brötchen, die sie an langen Stöcken über die Flamme halten. Dies ist der letzte Akt einer Kindergeburtstagsparty, die bereits mittags begann. Immer wieder sinken den Kleinsten aus Müdigkeit die Brötchen in die Glut, aber sie geben nicht klein bei.
Die Maßlosigkeit am Binnenmeer
Die mecklenburgische Seenplatte ist nur was für gereifte Aktivurlauber. Den größten deutschen Binnensee, die Müritz, kann man mit Paddelboot von Berlin aus erreichen. Meine Begleiterin Dorothee Wenner lotst mich nach Malchow, wo noch die Besatzung des Biergartens „Warener Bros.“ am See zusammensitzt.
Überall sind die Saison-Arbeitsplätze fest in Frauenhand. Hier heißen sie Tatjana, Mandy, Doreen, Inge und Moni. Und dann gibt es da noch einen gebürtigen Gothaer, zuletzt Zerspaner in Plau am See, der auf Kosten des Arbeitsamtes den Hilfskoch macht: Michael. Die Damen attestieren ihm „Engagement“. Er selbst meint, trotz der arbeiterfeindlichen Zeiten, das „Niveau“ auf untere Hälfte Oberkante halten zu können, und schwenkt dazu ein Glas mit Markenweinbrand. Gerade als die Damen lauthals anfangen, all sein Bemühen als unattraktiv abzutun, legt eine Yacht namens „Bounty“ an. Sie gehört zwei Einheimischen, die sich unaufdringlich an „Miami Vice“ orientieren, auch wenn sie eher mit dem Verbrechen liebäugeln. Der eine saß bereits zu DDR-Zeiten „wegen Arbeitsverweigerung“ im Knast, und der andere behauptet, schon eine „Gänsehaut zu bekommen“, als Michael ihm von seiner alten ehrlichen Arbeit erzählt. Die beiden Endzwanziger sind jetzt „Müritzpiraten“ – und Dorothee möge doch mal einen Film über sie machen.
Erst einmal führen sie jedoch dem Anpassler Michael die ganze Vergeblichkeit seines Tuns vor Augen: „Haste ’ne Yacht? Nee! Haste ’n Haus? Nee! Haste ’n Auto? Nee! Ich fahre einen Kia!“ „Das ist doch kein Auto!“ „Ich habe auch nichts, bin ich deswegen niemand?“ schlägt sich Mandy überraschend auf die Seite des Gothaers, der von den beiden Mecklenburgern nun auch noch wegen seines Dialekts attackiert wird – aber ruhig bleibt.
Die anderen Frauen bilden bei diesem Wortwechsel über den geraden und den krummen Weg der Wende so etwas wie einen stummen antiken Chor. Es ist das alte Lied – von Odysseus bis zu den Meuterern auf der Bounty: verschwinden, alle Gelegenheiten ergreifen – aber dann doch wieder „heimkehren“.
Der immer sauber gebliebenen Landratte aus Thüringen, mit kurzer Grenzer-Erfahrung an der Berliner Mauer, ist zwar der „windige Profit an den Blitz-Deals“ der beiden Müritz-Piraten suspekt, aber Heim und Herd sind doch auch ihm – als altem Leistungslöhner – Goldes wert: „In drei Monaten hatte ich schon das Geld für die Schrankwand zusammen!“ Dorothee und ich betrinken uns – begeistert von diesem nächtlichen Nord-Süd-Dialog. „Aber zwei schöne Kinder haste“, springt Moni Michael bei, der daraufhin einen Jacobi ausgibt. Vielleicht liegt es an der DDR-Substanz der Streitenden, daß trotz all ihrer banalen Intentionen die Intensitäten so gut durchkommen?
Heiße Nacht am Glienicker See
Neben einem von Thomas Pynchons Pennemünde-Roman „Gravity’s Rainbow“ inspirierten Journalisten, der ich ebenso wie der Regisseur bin, sollte ich an einer Stelle auch noch kurz einen amerikanischen Offizier spielen.
Es handelte sich dabei um eine Partyszene – auf dem Orginalschauplatz: „Truman-Villa“ in Potsdam-Babelsberg, wo die vier Besatzungsmächte den Sieg feiern. Die Villa liegt am Glienicker See, und dort will Pynchons Romanheld Slothrop – als „Rocketman“ verkleidet – einen dicken Klumpen Haschisch im Garten der Villa ausgraben. Dabei sieht ihn die Hauptdarstellerin, die die Party verlasst hat und auf die Veranda getreten ist. Einer der amerikanischen Offiziere – ich – ist ihr jedoch gefolgt. So weit so gut. Da aber die amerikanische Uniform 2500 Euro kosten sollte, hatte sich der Produzent auf die Schnelle für eine billige russische Uniform entschieden: für eine weiße, wie sie Stalin immer gern getragen hat. Mit und von dieser Uniform angetan, folgte ich also der Dame auf die Veranda, was später rausgeschnitten wurde, so dass man leider nur noch sieht, wie ich aus einem alten Beute-DKW steige und die Empfangstreppe hinaufgehe, wo mich die Gastgeberin begrüßt. Sie besaß einen Hund, und dieser spielte ebenfalls mit – auf der Empfangstreppe.
Er machte das hervorragend: Während wir – Menschen – mehrmals die Treppe raufgehen und uns begrüßen mussten, klappte es bei ihm – dem Hund – auf Anhieb. Während dieser ganzen Drehnacht in, neben und hinter der Truman-Villa, die gerade von der Friedrich-Naumann-Stiftung der FDP gekauft und sauteuer renoviert worden war, weswegen dort dann auch ein Aufpasser von der Stiftung die Dreharbeiten verfolgte, hielten immer wieder Autos mit jungen Leuten vor der Villa, sie guckten kurz – und brausten wieder davon. Es schien sich an ihrem nächtlichen Tankstellentreff herumzusprechen, dass da lauter fancy angezogene Menschen laufend aus chauffeurgesteuerten Oldtimern steigen würden, um eine wilde, bewaffnete Russenparty zu feiern.
Die neugierigen jungen Menschen, die vor der Villa hielten, wurden immer mehr und sahen immer neonazistischer aus. Aber wir dachten uns nichts Böses dabei und hofften bloß auf ein Ende des nächtlichen Drehs, der sich endlos hinzog, weil es angeblich unten am See noch Probleme mit dem Schiff und einem Jeep gab – was dann nachher ebenfalls rausgeschnitten wurde. Erst um drei Uhr konnten wir nach Hause. Später erfuhren wir, dass jemand ein paar Stunden später die Truman-Villa angezündet hatte. Sie war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nun ist sie aber schon wieder rekonstruiert – und zwar schöner denn je. Am Potsdamer Badesee erfuhr ich im Sommer, dass die Brandstiftung inzwischen zu den Großtaten der rechten Potsdamer Politszene zählt und Vorbildfunktion hat: Man will dort mit allen Villen der Westalliierten so verfahren. Das steht aber alles schon in Pynchons V2-Roman: „Die Enden der Parabel – se touchent.“ Der Film – von Robert Bramkamp – hieß dann „Prüfstand 7“.
Erden und Abheben
Der selbe Regisseur Robert Bramkamp sowie die Künstlerin Susanne Weirich haben das Problem des Widerspruchs zwischen Lokalismus und Globalisierung noch einmal in Angriff genommen. Dieses Problem drängt sich auf, es zeigt sich vor allem an der derzeitigen Auflösung der Volkswirtschaften, dadurch, dass die Betriebswirtschaften sich transnational verflüchtigen, während Staat und Nation ans Territorium gefesselt sind und ihnen so nichts anderes übrig bleibt, als ebenfalls betriebswirtschaftlich zu agieren – einmal, indem sie ihr „Tafelsilber“ (die Infrastruktur) verscherbeln, und zum anderen, in dem sie bis runter zu den Regionen und Gemeinden eine absurd konkurrente „Standortpolitik“ betreiben. Das Vergesellschaftungs-Problem bleibt: Wie kann man sich immobilisieren (verankern) und gleichzeitig Welt erfahren (internationalisieren)?
Für Bramkamp/Weirich begann die Beantwortung dieser Frage zunächst mit Ausflügen über Land. Einmal stießen sie auf halber Strecke nach Frankfurt (Oder) auf einen See, an dem Dichter und Intellektuelle kurten. Heute haben sich dort – am Scharmützelsee bei Bad Saarow – die Neureichen aus Berlin mit Golf- und Tennisanlagen eingepflanzt. Aber am Seeende gibt es noch laut Bundeskulturstiftung den alten „sozialen Mikrokosmos ,Seesportclub Wendisch-Rietz'“, wo man auf zweimastigen, noch immer nicht vom Westen offiziell anerkannten DDR-„Kuttern“ seinen Segelschein machen kann. Dies taten die Berliner Freiberufler. Damit hatten sie sich dort schon mal freizeitmäßig verankert. Aber dann kamen sie auch noch mit einem Filmteam an und drehten mit dem sich bereits leicht zur Agonie neigenden Verein und seinen Aktivisten eine Dokufiktion, die sich nun im Internet fortsetzt, wobei der Film wie die Exposition für das Internet-Projekt wirkt.
Im Film fungiert als ABM-Kraft vor Ort und gleichzeitiger sumerischer Schöpfergott Enki, den man quasi in die Scharmützelsee-Topografie projiziert hat, der Schauspieler Schortie Scheumann. Die Lexika zählen Enki zu den halb-anthropomorphen „chtonischen Unterweltgöttern“, dessen Unterleib in ein Boot ausläuft. Er gilt als „Kulturbringer“, weiter heißt es über ihn: „All die verschiedenen Aspekte der von ihm eingesetzten Stadtgötter sind in Enki selbst vereint“, konkret und für den Scharmützelsee bedeutet dies: Er disponiert dort eine wachsende Zahl von „Me“s – und diese wiederum äußern sich, wenn in Funktion, in bestimmten „Fähigkeiten“, die kommuniziert werden, u. a. im Netz. Es handelt sich bei dem Ganzen um ein „Erzählprojekt“- und damit um Kunst. Im Gegensatz zu vielen Internetideen ist es jedoch primär-geerdet – und muss nicht erst über seine Warenform um reale Anerkennung bzw. Clicks ringen.
Zur Premiere des Films „Der Bootgott vom Segelsportclub“ in Duisburg gab es einen Shuttleservice des Vereins. Ins Internet verlängert sich das Projekt nun zum einen mit weiteren „Lokalismen“ (wie die ortsansässigen Fischer, ein Honda-Händler aus der Umgebung, der die Bootsmotoren des Vereins wartet sowie die Klosterbrauerei in Neuzelle mit ihrer Biersorte Enki).
Da es Bramkamp/Weirich um „möglichst unterschiedliche Erzählperspektiven“ geht, kommt dazu noch eine wachsende Zahl von „Internationalismen“ ins Spiel: Auf Mesopotamien spezialisierte Archäologen und verschiedene Künstlergruppen etwa. Das Projekt „Enki100.Net“ ist nach oben hin offen, nach unten fokussiert es die virtuellen Kräfte jedoch, das ihrige zum Erhalt und Ausbau des Soziotops Seesportclub e.V. beizutragen. Das reicht vom Sponsoring (Klosterbrauerei) über „den besten Büchertisch“ (b-books), die individuelle Vereinsmitgliedschaft und die Wasseranalyse eines limnologischen Instituts bis zum gemeinsamen Kampf gegen das Röhrichtschutzgesetz. All diese Netzteilnehmer figurieren als „Me“s im Internet und sind durchnummeriert, wobei ihre Identifikationszahlen sich auch noch mal als Pappschilder in den Sumpf- und Schilf-Rändern des Scharmützelsees wiederfinden, wodurch sie sich gleichsam um das Vereinsheim herum (optisch) verorten.
Einerseits wird der Seesportclub dadurch an die Welt angeschlossen, die er mit dem Ende der DDR scheinbar verloren hatte, und andererseits wird damit die Welt (oder das, was sich dafür ausgibt) am Scharmützelsee gleichsam geerdet. Dadurch soll das vermieden werden, was schon Herbert Achternbusch einst beklagte: „Da wo früher Weilheim und Passau war, ist jetzt Welt … Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen.“
In Berlin stößt man auf Schritt und Tritt auf solche schwarzen Löcher – durch Welt liquidierte Orte, aber auch auf solche, die aufgrund eines fehlenden oder weggefallenen Weltanschlusses in Agonie versinken. Das „Weltniveau“ ist eine Frage des Kapitaleinsatzes (als scheues Reh bzw. gefräßige Heuschrecke), beim Erzählprojekt „Seesportclub“ kommt im Gegensatz zum Recreation Center Bad Saarow vor allem symbolisches Kapital zum Einsatz. Die Teilnehmer sind optimistisch.
„Besser als jeder See“ titelt die „Zitty“ in diesem Sommer investorenfreundlich
..Und meint damit die Ufer an Spree, Havel, Dahme und Panke. Auch die Immobilien-Investoren bekunden ihr Interesse an den Ufern dieser Stadtflüsse. Prominentestes Beispiel ist das „Media Spree“-Projekt, auf das die Kreuzberger mit dem Slogan „Media Spree versenken“ reagieren. Noch ist an diesem Uferabschnitt noch nichts entschieden. Anderswo sind die Ufer bereits mit Bauprojekten zugeklatscht: in Spandau und in Moabit z.B., aber auch ringsum den Tegeler Hafen, wo es daneben noch die Promenade am Tegeler See gibt, die immer noch wie ein Fünfzigerjahre-Zitat aus einem Bodensee-Kurort aussieht.
Vor einiger Zeit war ich im Weddinger Westhafen. In einem der Getreidespeicher dort werden jetzt die Zeitungen der Staatsbibliothek endgelagert. Früher gab es dort noch eine gute Hafenkneipe und eine Seemannsmission – mit Pfarrer. Aber schon damals zog sich seine Gemeinde immer mehr auseinander, das heißt, er war ständig mit einem Boot und Helmut-Schmidt-Mütze auf dem Kopf unterwegs auf den diversen Kanälen und Flussläufen – hin zu den verlorenen Seemanns-Seelen.
Jetzt haben im Westhafen endgültig die Kreativen das Sagen: Schon gibt es jede Menge Ideenskizzen im Internet, für einen „Point No. 6“ zum Beispiel, was immer das sein soll, sowie für „moderne Büroneubauten – nordwestlich des Regierungsviertels“ etc. Anderswo – am Wannsee – wurden dagegen die Ufer eher beruhigt: zum einen durch das Röhrichtschutzgesetz und zum anderen aufgrund von Konsumentenmangel. So ging gerade das 135 Jahre alte Ausflugslokal „Schildhorn“ Pleite, und der seit 1945 beliebte Lesbentreff „Sabine 2“ brannte ab.
Auch die Wasserflächen selbst glätten sich langsam: Mehr und mehr wird der Schiffsverkehr nur noch von Schrottkähnen und polnischen Kiestransportern bestimmt. Letztere kommen von der Oder über den Finowkanal und bringen Baustoff für die neue Betonhauptstadt. Die Kiesgrube samt Ladehafen befindet sich direkt an der Oder – gegenüber der Einfahrt in den Kanal. Nach der ersten Bau- und Abrisskonjunktur ist das Verkehrsaufkommen des neuen Berlin nun in etwa wieder da, wo es schon einmal im 15. Jahrhundert war – nachdem die Hohenzollern Berlin aus der Hanse herausgelöst und ökonomisch unterworfen hatten: auf der selben Höhe wie Frankfurt (Oder).
Und es passiert hier das Gleiche wie im Lausitzer Braunkohlerevier: Die Produktionsstätten wurden stillgelegt und ihre einstigen Anbindungen ans Wasser erst gekappt – dann zu kostbaren Uferimmobilien erklärt, die es zu entwickeln gilt: So enstanden in Spandau, am Tegeler Hafen, am Rummelsburger See und in Alt-Stralau teure Wohnblöcke – mit Bootsanleger. Aus dem Kühlhaus an der Oberbaumbrücke wurde das Fancy-Domizil der Plattenfirma Universal, aus dem Speicher rechts daneben eine Loft-Ansammlung und aus dem links daneben eine vierstöckige Neonazi-Diskothek. Viele dieser edel renovierten Teile mit Blick aufs Wasser stehen leer – wie etwa die Ateliers im Bahnhof Jannowitzbrücke oder in Oberschöneweide. Dazu warten noch zig Kilometer tote Hafen- und Speicheranlagen auf ihre „Entwicklung“. Die landeseigenen Hafen- und Lagerhausgesellschaft Behala will zum Beispiel den überflüssig gewordenen Osthafen an die Münchner Bauwert-Gruppe verscherbeln, deren Motto lautet: „Wir machen Bauwerke zu Bauwerten.“
Weiter oben ließ eine Wasserstadt GmbH kürzlich futuristische „Floating Homes“ entwerfen – für 320.000 bis 540.000 Euro das Stück. Zwar faseln die Developer ständig von Hausbooten, Flußtaxis und regem Schiffsverkehr, aber durch eine Luxusprivatisierung der bebauten Uferflächen wird sich nie ein ähnlich inniges Verhältnis zwischen Wasserstraßen und Bewohnern herstellen wie etwa in Holland. Im Gegenteil kann man von einer noch größeren Verödung der Wasserflächen ausgehen. Sogar die Spezies, die früher als neureiche Feizeitkapitäne oder proletarische Ruderer an den Wochenenden die Seen und Flüsse bevölkerten, zerfällt heute in solche, die dafür Geld, aber keine Zeit haben, und in sone, die vielleicht Zeit haben, aber kein Geld. Selbst aus den freizeitverwöhnten Beamten mit eigener Jolle wurden gehetzte Projektleiter an Computern.
Auch die Revitalisierung der Wasserstraßen ist so ein Projekt. Ähnlich wie die Arbeiterwohnungs-Verwaltungen der stillgelegten Ruhrzechen sich zu international operierenden Grundstücksspekulanten und die Immobilienverwaltungsabteilung der Bundesbahn sich zur Vivico Real Estate mauserten (sie ist jetzt nach der Stadt der größte Developer in Berlin), wurden auch aus dem Krankenhaus-Verwalter „Vivantes“ und der Behala inzwischen reine Immobilienentwicklungsfirmen von Gottes Gnaden – die voller Ideen stecken. Besonders beliebt sind in den oberen Entscheidungsgremien der „Mix“, also Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Kultur, in einem Uferblock und ferner die „Bugarchitektur“: Immer mehr Gebäude – nicht nur an Flüssen und Kanälen – werden in Schiffsform, mit einem Bug also, gebaut. Die Stadt strotzt bereits vor Häusern mit stolzem Bug – und obenauf meist noch eine Art Kommandobrücke, wo – wenn es sich um Firmenkomplexe handelt – die Geschäftsführung ihre wichtigen Entscheidungen trifft.
Meistens auch noch nachts, wenn alle Zeitarbeitskräfte schlafen, weswegen viele dieser neuen Kommandohöhen in der Stadt im Dunkeln weithin leuchten. Dort oben werden nocturn die Weichen gestellt, Flüsse und Kanäle revitalisiert – und überhaupt alles neu durchkalkuliert. So kam man z. B. auf die nachhaltige Parkraumbewirtschaftung, die Nutzung öffentlicher Gebäude und Kirchen als Plakatwände, die öffentlichen Flächen als Werbeträger, das Werbefernsehen in der U-Bahn usw.
Man kann nicht an jedem Wochenende das Berliner Umland erkunden, erst recht nicht ohne Auto, deswegen fuhren Katrin Eissing und ich kürzlich kurzerhand mit der S-Bahn bis Südkreuz und erforschten den Neonaturpark „Schöneberger Südgelände“, wo es weit und breit keine Wasserfläche gibt.
Anschließend schrieben wir darüber Folgendes:
Neu nach Berlin gekommen, kletterten wir aus Heimweh nach den Rändern der kleinen Städte voller nächtlicher Feuer über Gleise und Zäune. Wir aßen Brombeeren, sammelten Brennesseln und knutschten Kunststudenten. Heute machen wir dasselbe, nur dass die verbotenen Gebiete jetzt offizielle Eingänge haben und die Gleise, alten Loks und besprayten Stellwerke in einem Naturschutzgebiet mit aussterbenden Heimtierrassen stehen.
Beim „Natur-Park Südgelände“ handelt sich um ein Gebiet etwa zwischen dem Steglitzer Schuttberg „Insulaner“ und dem Schöneberger „Gasometer“ in Höhe des neuen und alten S-Bahnhofs Priesterweg. Der Verfall der von Menschen kunstvoll arrangierten Technik wird dort nur beobachtet, das Wachstum der „Grünen Hölle“ dagegen geschützt und gefördert. Die Neonatur verbindet sich dabei quasi organisch mit den Resten einer Schwerindustrie, die unmerklich wegrostet und überwuchert wird.
Wie stets noch war es eine Bürgerinitiative, die 1980 eine Verwertung des 1889 in Betrieb genommenen und 1969 stillgelegten Güter- und Rangierbahnhofs als Immobilie verhinderte, indem sie einen Senatsbeschluß zur Rodung des Geländes mittels aufklärerischer Flugblätter, Aktionen und Rechtsmittel zu Fall brachte. Den Rest besorgten dann die Naturschützer, die, wie jeder weiß, keinen Spaß verstehen, wenn es um eine gefährdete Tier- oder Pflanzenart geht, von denen es auf dem „Südgelände“ laut der Beschilderung jede Menge gibt: angefangen von zarten Pflänzchen und noch zarteren Insekten über äußerst seltene Vögel bis hin zu immer mehr kleinen Säugetieren. Inzwischen erinnert der Ort an ein verzaubertes Land, wie in dem fast schon wieder vergessenem Film „Stalker“ von Tarkowsky, oder in den Videoclips über die „Verbotene Zone“ von Tschernobyl. Die Gegend hat auch etwas verboten Feierliches.
100 Jahre war es genau umgekehrt, aber nun sind Menschen hier nicht mehr selbstverständlich, als respektvolle Besucher jedoch gern gesehen. Dafür spricht, dass an den Zugängen Eintrittsautomaten stehen, die bloß die Funktion einer 1-Euro-Spendenkasse haben. Selbst wenn leibliche Abkassiererinnen (von der Landes-Servicegesellschaft „GrünBerlin GmbH) dort stehen, gilt: Man kann , muß aber nicht zahlen. Dies ist wahrlich eine „Zone der Anomalie“. Durch ihre „Grüne Hölle“ gelangt man zu einer großen Dampflok und der ersten Drehscheibe Berlins, zu einem Café namens „Brückenmeisterei“, zu großen Reparaturschuppen, Stellwerken und Werkstätten, zu einem Kiosk, an dem ein taz-Transparent hängt und zu einem riesigen Wasserturm, auf dem angeblich ein Turmfalkenpärchen nistet.
Dann zwischen Birken, Ebereschen, Ahorn- und Weißdornbäumen: Schafe, die wie Ziegen aussehen. Sie weiden auf bunten, artenreichen Wiesen, Plastikschilder weisen auf deren ewigen Wandel hin. Wir treten über schwebende Brücken, die alten Gleisbetten folgen, gerade nicht in die Nester der Zivilisationsnachfolgevögel, empfindliche Bodenbrüter. Stören auch nicht allzu sehr die jungen Wiesen und Wälder, die gerade normal, das heißt zu sich selbst kommen.
Die Menschen erkennen sich als Störer der Weltbalance. Sie inszenieren hier und da ihr eigenes Verschwinden. Mitten in der Stadt bauen sie sich einen Stadtrand, um dann dort die Natur nicht wieder zu betreten. Wer sind wir hier? Es gibt parallel zur „Wilden Grünzone“, getrennt durch Zäune und S-Bahngleise, noch eine „Zahme Grünzone“, die aussieht wie den dortigen Schrebergartensiedlungen gewaltsam abgerungen, um dann vom Jugendsenator „developed“ zu werden. Diese sportive Schneise heißt seit 2002 Hans-Baluschek-Park und besteht laut Wikipedia „im Wesentlichen aus drei Elementen: Wiesenflächen, ein 1,5 Kilometer langer Weg und vier gestaltete Plätze entlang des Weges“. Wir überzeugten uns davon auf dem Rückweg vom Südgelände – zum Bahnhof Südkreuz. In der „Zahmen Grünzone“ spielt sich der übliche Juvenil-Schwachsinn ab: Birkenbäumchen umknicken, Basketball spielen und den Hund währenddessen anleinen, Joggen, Skateboarden, im Gras liegen und Döner essen, sich betrinken, laut Musik hören…
Währenddessen füttern in der „Wilden Grünzone“ verantwortungsvolle junge Väter ihre munteren, klug aus der Wäsche guckenden Babys, engagierte „Bird-Watcher“ stupsen ihr Angebetete an und flüstern: „Hast du eben den Zaunkönig gehört?“ Und ältere Damen in Reformkleidern meditieren für den Frieden. Wir streiten uns an einem Brombeerwall, ob es sich davor um eine „Rispen-Flockenblume“ oder einen „Rauhblattschwingel“ handelt. Es wird schriftlich an die Selbstverantwortung der Jugend appelliert: „Sprayt an den vorgesehen Stellen von 11-16.00 Uhr damit Sprayen weiterhin erlaubt werden kann. Viel Spass!“
Die Zahme und die Wilde Grünzone stehen hier im selben Verhältnis zueinander wie U- zu E-Musik. Deswegen gibt es auf dem Südgelände statt Bewegungsspiele höchstens Sitzveranstaltungen: Zum Einen das Einfrau-Theater „Fräulein Brehms Tierleben“, in dem es angenehm nach Heu duftet. „Das weltweit einzige Theater für gefährdete Tierarten,“ wie Fräulein Brehm behauptet, die nur ausgestopfte Tiere mitspielen läßt und daneben noch Symposien mit Experten veranstaltet – u.a. über Regenwürmer und Wildbienen (von denen es 95 Arten auf dem Südgelände gibt). Zum Anderen das kleine Amphittheater der Shakespeare Company, die den Sommer über „Shakespeare in Grün“ gibt, daneben aber auch noch das Potsdamer Ensemble „Shakespeare und Partner“ mit der „Komödie der Irrungen“ zu Gast hat.
In der Reparaturhalle haben ferner drei Amerikaner ein „White Bouncy Castle“ aufgebaut – eine Hüpfburg, groß und weiß, in der es jedoch im Gegensatz zu den gewöhnlichen U-Luftmonstern um eine „Ernst gemeinte Erprobung von Choreographie im Alltag geht, in der es nur Teilnehmer, keine Zuschauer mehr gibt.“ Man sieht daran: Ganz mag man sich auch auf dem Südgelände nicht auf die bloße Neonatur als Ausflugsziel verlassen. Das Ganze muß noch mit „Kultur“ angereichert werden. Dabei finden dort bereits wie in jeder „Zone der Anomalie“ quasi-natürliche Kulturereignisse statt – Bilokationen z.B.: Gerade als wir im Café-Garten Platz nahmen, ging der Kairo-Korrespondent der taz, Karim El-Gawhary, dort vorbei. Er erklärte zwei älteren Herren die Geschichte des „Südgeländes“. Zugleich befand er sich jedoch auch in Ägypten, von wo aus er uns täglich über den Arabischen Aufstand aufklärt – und zwar äußerst fundiert.
Die Seeumrunderin
Es gibt Leute, die in jedes Museum laufen, und andere, die auf alle Dreitausender steigen müssen. In Berlin kennt man welche, die alle Seen umrunden müssen. Hier soll von einer Seenumrunderin die Rede sein. Sie ist bald 50 und leicht verzweifelt seit der Wende 1989, denn plötzlich eröffnete sich ihr mit dem Mauerfall eine riesige Seenplatte. Und alle Westberliner wollten sofort ihr neues „Umland“ zu erkunden. Das taten die dann auch nach und nach – und tun es noch heute. Die Gastronomie und die Seegrundstückskäufer folgten ihnen auf dem Fuß. Die in Steglitz lebende Seeumrunderin, um die es hier geht, begann 1979 als Studentin, indem sie erst einmal und dann mehrmals in der Woche um die Krumme Lanke joggte.
Nach dem Mauerfall joggte sie auch einmal um den Hönower Haussee und den Wandlitzsee. Dort wurde sie jedoch mit ihrem Outfit sofort als Westlerin erkannt und angesprochen – was ihr unangenehm war. Und am Lietzensee in Charlottenburg wurde sie mehrmals von einer BürgerInnen-Initiative angehalten, die Unterschriften gegen die vielen Hunde am See sammelte. Seitdem joggt sie gar nicht mehr, sondern umrundet einfach nur, wobei sie sich auf Wasservögel und Spaziergänger mit und ohne Hund konzentriert.
Seit 2001 hat die Seeumrunderin selber einen Hund – einen Cockerspaniel: Ein Grund mehr, solange es das Wetter erlaubt, täglich einen See zu umrunden. Zur Abkürzung sind Fähren wie die am Schwielowsee ebenso wie Buslinien erlaubt. Und zur Not tut es auch mal eine Halbinsel wie die Stralauer oder ein Tiergartenteich.
Die Seeumrunderin zählt ihre Seen nicht, ohnehin umrundet sie manche Seen immer wieder – etwa den Schlachtensee, den ihr Hund besonders mag, weil dort viele Hunde mit ihren Leuten spazieren gehen, die meisten ohne Leine. Sie springen ins Wasser, schleppen Stöcker aus dem Wald an und versuchen andere Hunde zum Mitmachen zu bewegen.
Die Seeumrunderin verschlug es einmal an den Weißen See bei Liebenberg, wo sie entgegen ihrer Gewohnheit und verbotenerweise badete, mit Hund. Und danach an den Vielitzsee bei Löwenberg, den sie – ebenfalls entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit – in einem Motorboot sitzend umrundete, ihn gleichsam von der Innenseite aus erkundend. Sie entdeckte dabei etliche Fischreiher, Kormorane und Enten sowie einen Biber. Auch von der Landseite aus hatte die Seeumrunderin sich schon immer für die Schilfgürtel interessiert, wo es unter und über dem Wasser besonders viel „Leben“ gibt.
Von dem zu Westberliner Zeiten reichsten Bauunternehmer der Stadt, Karsten Klingbeil, hatte die Seeumrunderin 1992 erfahren, dass er eigentlich Bildhauer und einst am Wannsee groß geworden sei. Dort hätten sie alle Boote gehabt, und wenn sie sich mit ihren Mädchen vergnügen wollten, dann seien sie damit in die Schilfgürtel gefahren, wo man sie nicht entdecken konnte. Nun hätten die verdammten Grünen es jedoch geschafft, ein „Röhrichtschutzgesetz“ zu verabschieden. Seitdem darf niemand mehr in die Schilfgürtel, die zudem zur Seeseite hin abgepollert und zum Land hin eingezäunt wurden. Er, Klingbeil, sei ja schon alt, aber für die Jugend von heute sei das schwer zu bedauern: Das sei nun eine „verlorene Generation“.
Dieser pessimistische Befund eines von der Stadt vielfach geehrten Bronzebildhauers gab der Seeumrunderin damals zu denken. Heute gibt sie diese „Klingbeil-Anekdote“, wie sie das nennt, nur noch zum Besten, wenn sie mal wieder einen See umrundend auf der Höhe eines Schilfgürtels von einem oder mehreren Spaziergängern auf ihren Hund angesprochen wird. Und das Gespräch von ihm auf den See und das Schilf am Ufer kommt. Dann fällt ihr wieder die „verlorene Generation“ ein. Manchmal trifft sie bei ihren Seeumrundungen auch auf einige Angehörige dieser Generation. Sie sitzen am Ufer, trinken Becksbier, telefonieren mit ihren Handys oder verschicken eine SMS und hören Musik aus kleinen Lautsprechern, die sie sich ins Ohr gesteckt haben. Man erkennt diese „verlorene Generation“, die sich nicht mehr in den Schilfgürteln vergnügen darf, an den Kabeln, die an ihr runterhängen. Ansonsten sind sie jedoch von den ganzen anderen Seeumrundern mit und ohne Hund nicht zu unterscheiden. Sieht man mal von ihren halblauten Bemerkungen über die zumeist älteren Seeumrunder ab: „Ey, kommen die alle zum Sterben hierher?!“ So rächt sich die „verlorene Generation“ an den ganzen „Röhrichtschutzgesetz“-Verabschiedern, die sie zu Recht in den meist feministischen Seeumrundern mit und ohne Hund vermuten.
Facility-Manager-Tagung mit Seeblick
Das erste Mal schickte mich 1986 die taz für eine Sommerloch-Kolumne auf das Dauercamperareal des Zeltplatzes Niedermoos in Oberhessen, wo man unserem Team eine Medaille für sauberen Journalismus verlieh. Zehn Jahre später durfte ich die komplette Nord- und Ostseeküste abklappern und übernachtete dabei in Luxusherbergen, wobei ich jedoch das taz-Spesenkonto gehörig überzog.
Heuer reichte es abokurvenbedingt nur zu einer quasi taz-internen Tour – als Hilfshausmeister. Ich wurde an den taz-Gründer Christian Ströbele erinnert, der seinerzeit als erster taz-Hausmeister ständig den Redakteuren die Aschenbecher geleert und den Müll rausgetragen hatte. Heute ist Nichtrauchen in und Haschisch out, Container ersetzen die vielen Mehrkomponentenwertstofftonnen – es ist also alles einfacher geworden. Deswegen willigte ich sofort ein.
Zudem war die Tätigkeit von der Teilnahme an einer Hausmeisterkonferenz in Plau am See gekrönt. In diesem mecklenburgischen Luftkurort gibt es einen mittelalterlichen Turm mit einem Verließ, in das Okkupanten früher immer wieder Plauer Bürger runterließen, um von der Gemeinde Lösegeld zu erpressen. Heute hat jedes Haus in Plau ein Privatverließ – mit Kellerluken zur Straße hin. Die, einst für Holz und Kohle, waren der eigentliche Grund für die Wahl des Tagungsortes, denn jede ist anders gestaltet – beste Inspirationsquelle für Hausmeister-Bastelkunst, wobei alle Materialien zur Anwendung kamen.
Untergebracht waren wir im Parkhotel Klüschenberg, an dessen Privatisierung auch der alte Hausmeister nicht ganz unbeteiligt war. Heute ist die Herberge das „frauenfreundlichste Hotel“ Mecklenburgs, weswegen dort nun viele frisch verheiratete Lesbenpärchen aus Hamburg bei Candlelight dinieren. Ein paar verirrten sich auch in den lichtbildgestützten Vortrag des Kulturwissenschaftlers Dr. Salm-Schwader über „Hausmeister-Basteleien“.
Am nächsten Tag ging es mit dem Bus nach Güstrow, wo Kurt Siedow, der Exhausmeister des Bundeskanzleramtes, den Stadtführer für uns machte. Der Rentner ist heute Barlach-Experte. Und so ging es zuerst zum Barlach-Museum, wo er uns die drei Formen des Schwebens über der Erde erklärte: 1. die östlich-buddhistische Levitation durch Meditation; 2. die jüdisch-globale Lévytation als Luftmenschen-Existenzialismus und 3. das nordwestdeutsche Schweben durch geistigen Expressionismus, deren Väter Theodor Däubler und Ernst Barlach waren.
Für Hausmeister, so Siedow, sei besonders die letztere Form der Meditation empfohlen – warum, wurde jedoch nicht recht klar. Erst als wir im Güstrower Dom um Barlachs schwebenden Engel herumstanden, leuchtete vielen Teilnehmern ein, warum es als Hausmeister sinnvoll ist, dergestalt den Überblick zu behalten.
Auf der Fahrt zum Güstrower Ökozentrum mit Wolf-Freigehege erzählte Kurt uns noch allerlei Persönliches – unter anderem aus dem Kanzleramt. Zum Beispiel habe sich Helmut Schmidt seinerzeit öfter abends in die Hausmeister-Loge gesetzt, wo auch seine Bodyguards saßen. Er beteiligte sich am Skatspiel und gab manchmal eine Runde Weinbrand aus. Als Kohl an die Macht kam, sei es mit der Gemütlichkeit schlagartig vorbei gewesen: Er habe sie behandelt wie ein Duodezfürst seine Kammerdiener. Hausmeister Kurt hielt das nicht lange aus und ging in Rente. Und dann erzählte er uns noch, dass Helmut Schmidt einmal zu DDR-Zeiten das Barlach-Museum besucht habe. Anschließend stand ein Stadtbummel durch Güstrow auf dem Programm. In der Zwischenzeit war dort jedoch der MfS-Offizier Josef Schwarz mit 1.000 Stasi-Leuten eingerückt. Während die Güstrower in ihren Wohnungen bleiben mussten, hätten die Stasi-Leute in Zivil vibrierendes Stadtleben vor den Kiosken, Gemüseständen und auf allen Plätzen simuliert. Der westdeutsche SPD-Kanzler war begeistert. Und Josef Schwarz wurde zum General der Staatssicherheit befördert. Heute lebt er als Rentner in Erfurt und schreibt Bücher. Eines heißt sehr schön: „Bis zum bitteren Ende“.
Der nächste Referent, Guntram Bräumer, war früher im SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Jetzt ist er Facility-Manager in einem Frankfurter Bankhochhaus. In seinem Vortrag wies er den Blockwart-Vorwurf zurück. Der moderne Haustechniker sei eher so etwas wie ein Pimpf, der jeden Tag mindestens eine gute Tat tut: Ventilator reparieren, Klo entstopfen, Türklinken erneuern: „Überall, wo man mal schnell was reparieren kann, erntet man Lob und Hudel.“ Dennoch gab auch Bräumer am Ende zu: „Nur als Kerkermeister hat ein Hauswart wirklich Schlüsselgewalt!“
Glückliche Wasservögel
Einmal ruderte ich allein auf dem Neuen See im Tiergarten. Es wimmelte von Entenmüttern mit ihren Jungen. Auf den Inseln gab es neue Entenhäuschen zum Brüten, an vielen Stellen hatte man zudem kleine Bretter gebaut, um den Entenküken das Überwinden der Uferböschung zu erleichtern. Ein paar Tage später fuhr ich mit einem Fortbildungsdozenten nach Weimar. Unterwegs hielten wir an einer neuen Raststätte, neben der Abfahrt war in einer Senke ein kleiner Teich entstanden, auf dem man ein Entenhäuschen verankert hatte. „Das ist im Rahmen einer AB-Maßnahme in der Landschaftspflege geschehen“, meinte mein kundiger Begleiter.
Auch in Weimar entdeckte ich dann mehrere Entenhäuschen sowie Kükentreppen an den Gewässern. Dies sei im Zusammenhang der Aufhübschung der Stadt zur Kulturhauptstadt Europas – auf ABM-Basis – geschehen, erfuhr ich von einem Weimarer Galeristen.
Bereits im Jahr zuvor hatte ich anlässlich einer Recherche über die elf „Haustier-Rasseparks“, die im Osten mit ABM-Stellen auf abgewickelten LPG-Ländereien entstanden waren, festgestellt, dass sich die vom Arbeitsamt dafür abgestellten Mitarbeiter bei den Entenhäuschen für die Wasservögel jedes Mal besonders viel Mühe gegeben hatten. Damals maß ich dem keine besondere Bedeutung bei. Nun wurde mir jedoch klar, dass die Enten besonders von der Treuhand-Abwicklungspolitik und dem darauf folgenden ABM-Wahn profitiert hatten.
Einen Dämpfer verpasste mir dann aber der Lokalforscher Dr. Burghard Scherer, der in der Stadt mit der höchsten Arbeitslosenquote – in Bremerhaven – lebt. Auch mit ihm war ich auf den Seen des dortigen Bürgerparks rudern gegangen. Und richtig, auch dort gab es jede Menge Entenhäuschen sowie Kükentreppen, die man in Bremerhaven jedoch Entenrutschen nennt. Diese entenfreundlichen Einrichtungen waren ebenfalls auf ABM-Basis installiert worden. Gleiches galt für die Museumsschiffe in den ehemaligen Häfen: sie wurden und werden von arbeitslosen Werftarbeitern auf ABM-Basis hergerichtet – und sind insbesondere für Möwen eine wahre Wohltat. Dr. Scherer und ich, wir waren uns einig: All diese Maßnahmen zugunsten von Wasservögeln haben die ins Abseits geratene Industrie- und Handelsstadt ansehnlicher gemacht.
Scherer gab jedoch zu bedenken, dass dabei noch allzu oft die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. So hätten die entenfreundlichen Maßnahmen dazu geführt, dass diese Vögel sich wie blöd vermehrten. Man erwog den Abbau der Entenhäuschen, mindestens den Rückbau der Entenrutschen, der Arbeitssenator schlug das Einsammeln ihrer Eier vor – ebenfalls auf ABM-Basis. Schließlich konnte sich aber die zuständige karrierefeministische Abteilungsleiterin im Umweltsenat durchsetzen: Die allein erziehende Mutter hatte beobachtet, dass die Erpel sich überhaupt nicht um die Aufzucht der Küken kümmern und noch dazu den armen Entenmüttern auflauern – um sie zu vergewaltigen, was oft mit dem Tod der Küken einhergeht. Flugs verfügte sie, nahezu die gesamte Erpelpopulation einzufangen – und schnöde zu vernichten. Gesagt, getan!
Ähnliches ist nun auch im Tiergarten geplant. Die Spiegel-Edelfeder Matussek will angeblich mit einer Erpel-Rettungs-Kampagne dagegenhalten. Für die Bremerhavener Erpel kommt seine Schreibhilfe jedoch zu spät.
Was den Journalisten das „nosing around“ ist den Dichtern das „cruising up and down“:
Im Herbst kreuzte zum drittenmal ein „D.-P. Poetendampfer“ auf der Oder: mit etwa 40 Dichtern, Journalisten und Politikern beiderlei Geschlechts und Nationalität an Bord. „D.-P.“ steht für „deutsch-polnisch“, nach dem letzten Krieg stand es für „displaced person“. Dieser Status gilt für viele Dichter noch immer – insbesondere für die polnischen.
Nunmehr beginnt sich jedoch die erste Generation – vom Ausland aus – zu artikulieren, die nicht mehr aus dem politischen Untergrund ins Exil entwich, sondern wegen der sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Der Jungdichter Krzysztof Zaluski zum Beispiel lebt bereits seit etlichen Jahren am Bodensee, nach dem er auch sein erstes Erzähl-„Tryptichon“ benannte, das ihn in Polen auf Anhieb berühmt machte. Er hat nicht genug Geld, um sich einen Sprachkursus in der nächsten (schwäbischen) Volkshochschule leisten zu können, dennoch schafft er es, eine polnische Literaturzeitschrift – namens Bundesstraße 1 (B1) – herauszugeben.
Auf dem „Poetendampfer“, der diesmal wegen der Flutkatastrophe nur Kurzstrecken, und das auch nur mit einem kleinen Patrouillenboot des Stettiner Wasserwirtschaftsamtes, abfuhr, wurde eine Fusion der Zeitschrift B1 mit der deutsch-polnischen Jahresanthologie „WIR“ verabredet. Die „WIR“ wird von einigen in Berlin lebenden polnischen Schriftstellerinnen herausgegeben.
In Warschau erzählten mir neulich zwei Englisch sprechende Gymnasiasten, daß sie nach dem Abitur sofort auswandern wollen. Sie begründeten das mit der zunehmenden Zahl von „Men in Sportswear“. Männer in Sportbekleidung gibt es jedoch überall auf der Welt – im Zusammenhang der postkommunistischen Globalisierung und dem Verschwinden echter Männerarbeitsplätze wachsen sie sich langsam, aber sicher zu wahren Heerscharen aus. Wenn irgendwo in Amerika, Europa oder Asien heute ein Handarbeiter-Delikt begangen wird, kann man sicher sein, daß die Täter mindestens Turnschuhe trugen. Wenn die Billigkopien mit einem bereits existierenden Logo auf dem Markt kommen, machen sich die Newcomer strafbar. In den deutschen Zoll- containern an der Oder warnen derzeit Plakate vor dem Kauf von Sportjacken der Marke „Chiemsee“: „Sie brauchen zwei Wochen, der Zoll erkennt die Fälschung sofort.“ Daneben hängt noch ein weiterer aufschlußreicher Hinweis: „Dieser Betrieb bildet Jugendliche aus. Bitte haben Sie dafür Verständnis, daß sie noch nicht alle Amtshandlungen alleine ausführen dürfen!“
So hatte sich die deutsch-polnische Verständigungsintelligenz die „Bekämpfung“ von Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel eigentlich nicht vorgestellt, denn nichts behindert die postmodern-geforderte Quivive-Mobilität so sehr wie diese extrem antimodernen Personenkontrollen an den absurden Oder-Grenzübergängen, die man inzwischen auch noch stolz als „die sichersten der Welt“ bezeichnet. Oben in Swinemünde kämpfen die Bürgermeister der deutschen Nachbargemeinden Heringsdorf und Ahlbeck sogar politisch gegen den Abbau der Grenzschikanen. Und unten in Guben scheiterte unlängst eine deutsch-polnische Kulturveranstaltung auf der Gubiner Neiße-Insel, zu der man als Eintritt ebenso viele Sloty wie Mark verlangen wollte: Die Gubener Stadtverwaltung fand keine einzige deutsche Bank, die ihr hernach das polnische Geld ordentlich verbuchen wollte. Auf polnischer Seite kann man dagegen nahezu rund um die Uhr fremde Währungen eintauschen und mit Mark sogar fast überall zahlen.
Die wahren Abgründe deutscher Eigenart, mit der man sich hier vor dem Anderen schützt, erkennt man jedoch erst im Rückblick – „von drüben nach hüben“ quasi: die beiden Busfahrer, die für den Landtransport der Mannschaft des Poetendampfers sorgten, das Personal und die Besitzerin der Segler-Pension „Cypel Pod Lipa“ in Moryn, die Stadtbilderklärerin von Chojna, eine dichtende Sportlehrerin, die Chefin des Stettiner Wasserwirtschaftsamtes, der Verwalter des Strandbades am Moryner See, Herr Dudek… Sie alle gehören nach ihrem Einsatz wie selbstverständlich mit zur Poetentruppe, erwerben deren Veröffentlichungen und bleiben zum Essen, übernachten gar im Hauptquartier der deutsch-polnischen Verständigung, wo einfach noch ein Bett mehr für sie aufgestellt wird. Seine schönsten Blüten treibt dieser fast völlig fehlende Hang zur Distinktion bei den Lesungen in polnischen Kultureinrichtungen. Sie beginnen stets mit einigen hochoffiziellen Reden von Politikern und Kulturvermittlern, die dem Ort und den Dichtern schmeicheln. Darauf folgt eine kleine musikalische Einlage und gegebenenfalls, wie etwa in Moryn, der Auftritt eines siebenköpfigen Frauenchors. Hier stimmen bereits die ersten polnischen Schriftstellerinnen ein – so sie gesangeskundig genug sind.
Bei späteren Auftritten des Frauenchors machen auch einige mutige Männer (wie „Country- Dudek“) mit, und immer mehr Leute tanzen dazu. Währenddessen geht langsam das Bier zur Neige. Ein Jungdichter, der sich in Hamburg auf dem Bau seinen Rücken kaputtgemacht hat, dessen Frau jedoch gerade einen gutbezahlten Job an einer ostdeutschen Universität bekam, macht sich auf und besorgt alkoholischen Nachschub. Der Chor singt längst erschöpft nur noch im Sitzen, die Stimmung wird aber immer ausgelassener. Eine Sängerin wagt den Übergang von alten ukrainischen Volksliedern zu Adaptionen neuerer Madonna-Songs. Ein Mitarbeiter der Neuen Gesellschaft für Literatur erkundigt sich bei der Pensionschefin, was es kostet, wenn er noch einmal, diesmal mit Familie, wiederkomme (20 Euro pro Doppelzimmer).
In den kontemporär-existentialistischen Kellerbars der Kulturhäuser kommen auch die exzessiv- expressiven Gedichte der polnischen Jungdichterinnen, die jedes Wort prononciert ausprägen, gut zur Geltung. Namentlich erwähnt seien die Philologin Anna Janka, geboren 1957, sowie die Philosophin und Pianistin Ewa Sonnenberg, geboren 1967: „Eine neue Hoffnung Polens“, wie mir einer ihrer männlichen Kollegen versicherte. Die Kulturhausparty wird nach Mitternacht im Billardsaal der Segler-Pension forgesetzt – mit Bandoneon-Liedern von Stefan Krawczyk. Auch danach kann man tanzen, auf dem Tisch sogar. Am nächsten Morgen wirkt einzig der derzeit in Berlin exilierte serbokroatische Dichter Stevan Tontic etwas angeschlagen: „Ich bin eigentlich Weintrinker!“ entschuldigt er sich.
Die Dampferorganisatorinnen bzw. -betreuerinnen – Monika, Anna, Ewa und Maria: vier in Berlin lebende Deutschdolmetscherinnen – haben für diesen Tag eine Lesung nebst Diskussion in Stettin organisiert. Zwischendurch soll dort auch noch ein „Künstlerbuch“ auf amerikanisch versteigert werden, für das bereits Tage zuvor nahezu jeder Teilnehmer eine Seite zusammenstellte. Der Erlös ist für eine bei der Flutkatastrophe zerstörte Bibliothek gedacht. Für etwa 700 Mark wird das DIN A3 große Unikat schließlich von der Stettiner Bibliothek erworben, wobei der Auktionator etwas nachhilft. Der dabei ausgebootete polnische Dichter „Kuba“ macht jedoch gute Miene zum bösen Spiel.
Auf der von Klaus Schlesinger gestalteten Seite des „Künstlerbuches“ geht es um die Bearbeitung der „Flutkatastrophe“ durch die Massenmedien. Sie beeinflussen die Öffentlichkeit in Deutschland weit mehr als in Polen, wo diese Aufgabe noch immer eher von einsamen Dichtern und Schriftstellern wahrgenommen wird. Der im Oderbruch lebende Schlesinger notierte sich von einem TV-Kommentator, „live“ auf dem überfluteten Deich, unter anderem die neue Variante einer alten Kaiser- Wilhelm-Sentenz: „Jetzt gibt es keine Ossis und Wessis mehr, sondern nur noch Mitmenschen!“ Und ferner, daß man aufgrund der danach einsetzenden Spendenflut der „inneren Einheit“ ein gewaltiges Stück nähergekommen sei.
Dieser Begriff geht Schlesinger zufolge auf Heinrich Heine zurück. Im „Wintermärchen“ berichtete der Dichter, daß die deutschen Grenzorgane ihn – aus dem Westen kommend – tüchtig gefilzt hatten (das taten sie übrigens mit uns am Schluß – aus dem Osten wieder nach Deutschland einreisend – ebenfalls), worauf ein Mitreisender ihm erklärte: Während die äußere Einheit durch den preußischen Zollverein garantiert werde, würde die innere – geistige – durch die Zensur gebildet: sie erst stifte eine „Einheit im Denken und Sinnen“.
So oder so ähnlich „bearbeitete“ das 1994 unter anderem von Erich Loest mitangeschobene jährliche Subventionsereignis „deutsch-polnischer Poetenpott“ (auch wenn es kein Narrenschiff sein kann, weil Dichter stets dem Sinn verpflichtet bleiben; und auch kein Proletendampfer, weil es eher den Stromtourismus kultiviert als Fabriken, Agrarbetriebe oder Grenzmärkte anzusteuern) dann doch immer wieder die Geschichte bis in ihre tagesaktuellsten Ausprägungen hinein. Das ist übrigens auch der jungen polnischen Literatur, sofern sie sich von Deutschland aus artikuliert, eigen, die – wie zum Beispiel Zaluski – den alten (Groß-)Schriftstellern vorwirft, ihre Leser mit dem „deutschen Überfall“ sowie mit „Auschwitz und dem Gulag“ inzwischen nur noch medial erfolgreich zu traktieren.
Neben den derzeitigen deutschen Überheblichkeiten thematisieren die Jungen dagegen auch die neuesten Amerikanismen – bis in die Gesten hinein. Volksbühnen- Intendant Frank Castorf sagte es neulich so: „Der Osten ist ein Stück Asien – in allem. Das ist auch ein Vorteil, weil man nicht alles an sich rankommen läßt, vielleicht auch kräftiger ist, wenn das Ungewohnte auf einen zukommt.“ Von allen Einwanderern haben die polnischen die wenigsten Probleme, sich in Deutschland zurechtzufinden, berichten übereinstimmend kommunale Sozialbehörden. Zwar ist inzwischen auch umgekehrt Polen für die Deutschen zum drittbeliebtesten Auswanderungsland (nach Frankreich und den USA) aufgerückt: 1995 zogen 6.290 Bundesbürger dorthin; dennoch gehen immer noch die meisten diesbezüglichen Initiativen von Polen aus, und sprechen immer noch unvergleichlich viel mehr Polen Deutsch, als Deutsche das Polnische auch nur verstehen.
Dies gilt auch noch für die nun schon im dritten Jahr zwischen Breslau, Görlitz, Schwedt und Stettin aufkreuzenden Poeten, bei denen es immerhin zur Höflichkeit gehört, daß die Deutschen unter ihnen die polnischen Ortsnamen verwenden, die Polen dagegen die ehemaligen deutschen Ortsnamen. Vielleicht wird man es einmal sogar als einen wahren Glücksfall ansehen, daß die Sowjets einst Polens Grenzen von Osten nach Westen verschoben – und so gewissermaßen eine Durcheinanderzone zur neutralisierenden Vermischung schufen. Schon jetzt zählen einige Gemeinden mit Grenzmärkten zu den reichsten in Polen. Und immer mehr Quasi-Berliner ziehen nach „drüben“, dafür geht im Umland von Stettin der Zuzug inzwischen mehr und mehr in die andere Richtung.
Der polnische Ferienort Moryn, 110 Kilometer nördlich von Berlin, liegt auf einer Halbinsel im See:
Der Anfahrtsweg könnte einem Militärtouristen Freude machen: die Frankfurter Allee runter, an den Seelower Höhen vorbei, über die Oderinsel und die Warthe – an diversen Kriegsdenkmälern vorbei -, durch das 1945 völlig zerstörte Küstrin immer geradeaus. Auf dem Weg nach Szczecin geht es dann links ab nach Moryn: Eine Halbinsel im Morzycko-See, die vor rund tausend Jahren zu einer Wehrburg ausgebaut wurde. 1433 zerstörten vorbeiziehende Hussiten die damalige Bastion des Deutschritterordens. 1945 beendete dort die Rote Armee die deutsche Herrschaft – hoffentlich für immer! Denn im Gegensatz zur touristisch-gastronomischen Region Brandenburg, hat zum Beispiel das Tagesspiegel-Leckermäulchen Elisabeth Binder hier, in diesem südlichen Teil der Wojewodschaft Szczecin, noch so gut wie keine Deutungsmacht und kann also auch nicht – wie neulich im SFB – den Bewohnern dummdreiste Zensuren gegeben für den Grad ihrer Kapitulation vor westdeutschen Dienstleistungsstandards und Kotzen-Nutzen-Rechnungen.
Im Ferienort Moryn gibt es nur ein Restaurant, in der Ortsmitte, das mit einem riesigen Neonkrebs auf dem Dach wirbt – aber schon lange geschlossen ist. Ersatz bietet eine Bierpinte, ein kleines Café und – vor allem – die Minibar, die fast rund um die Uhr knackevoll ist. Schon morgens kommen die nostalgisch gestimmten jungen DDR-Pärchen in Parka und Minirock hierher und stellen sich ihren Frühstücksersatz in Plastebechern zusammen. Schlechte Laune gehört dabei zum Genuß: Das ganze Dorfambiente atmet noch die an Gastverachtung grenzende Schlichtordnung eines realen Sozialismus. Dazu zählen auch die Trabis und Wartburgs auf dem Holperpflaster und die vielen schönen Blumen in den Gärten vor den kleinen alten Tagelöhnerhäusern und auf den öffentlichen Plätzen. Wobei insbesondere die Cosmea, Stockrosen, Dahlien, Tagetes und Cannae auch insofern sozialistisch blühen, als es sich dabei um Züchtungen handelt, die gärtnerisch noch nicht der derzeitigen Westmode unterworfen wurden.
Außer kurz in Hinterpommerns tiefsten und saubersten, aber auch kältesten See zu baden und lange spazierenzugehen gibt es in Moryn zum Glück kaum Freizeitangebote. Dies ist jedoch verwunderlich, denn rings um den See wimmelt es von Datschen- und Feriensiedlungen und stattlichen Villen, inklusive zweier sozialistischer Urlaubssilos im Zustand von Investitionsruinen. Aber die Touristen wollen hier anscheinend nur ihre Ruhe haben. Die meisten Mercedes-, Audi- und BMW-Limousinen mit Berliner oder Ruhrgebiets-Kennzeichen gehören Polen. Deutsche kommen mit dem Zug oder dem Bus. Obwohl alles sehr billig ist – wir zahlten für ein Bett (im Partyraum einer Pension) umgerechnet 22 Mark -, verpflegt sich fast jeder selbst. Das macht gepflegte Gastronomie nicht nur entbehrlich, sondern fast gefährlich. Wir sahen mehrere alleinerziehende DDR-Mütter, die seufzend ihrem Kind in der Minibar ein Eis spendierten. Der Imbiß ist in gewisser Weise das Zentrum des Ortes. Wer dort nicht früher oder später aufkreuzt, will entweder zur Polizeiwache rechts davon oder in das kleine Wohnhaus links davon: eines der vielen Rätsel von Moryn. Zwei ganz normale Familien wohnen dort, aber ununterbrochen kommen Grüppchen junger Leute raus oder gehen hinein: Wir zählten an einem Abend 42 Personen.
Nicht nur die Architektur der wenigen Nachkriegsgebäude sieht mediterran aus, die Polen sind auch mindestens so gesellig und benutzen ihre öffentlichen Räume dementsprechend gerne und oft. Welch ein Kontrast zu den mittlerweile alle à la Tauberbischofsheim renovierten Marktplätzen märkischer Kleinstädte, die außer von einigen besoffenen Jungprolos und verängstigten Vorruheständlern so gut wie niemand außerhalb der Marktzeiten freiwillig frequentiert! Die unglückliche Kolonialisierung der DDR und ihre fatal-sozialen Folgen springen einem geradezu ins Gesicht, wenn man die etwa 110 Kilometer von Berlin durch Brandenburg ins Pommernland fährt, das wirklich noch „frei“ ist von Multi- und Gewerbecentern und sonstiger Westinvestorenbeglückung.
Moryn wurde im Krieg kaum zerstört, und die polnische Regierung fing erst in den siebziger Jahren an, ihre Westgebiete zu entwickeln. Jetzt wäre die schöpferische Zerstörung Aufgabe von Privatleuten, die während der Woche zwischen Oder und Rhein ihr Geld verdienen, aber sie halten sich klugerweise zurück. So besteht fast die gesamte touristische Infrastruktur der Halbinsel aus einem einzigen Mikrowellenherd – in der Minibar. Das ist schon einen Ausflug wert!
Die taz-Reiseredakteurin hatte irgendwann Mitleid mit uns autolosen – und spendierte uns nun, da es keine deutsch-polnische Grenze mehr gibt, eine Fahrt von Swinemünde die Oder und die Neiße runter bis nach Zittau, wobei wir die beiden Flüsse so oft es ging kreuzen sollten, um von polnischen und deutschen Dörfern dort anschließend berichten zu können, was wir dann auch prompt taten:
Swinemünde/Swinoujscie
„Swinemünde war, als wir im Sommer dort einzogen, ein unschönes Nest,“ schrieb Theodor Fontane 1827. Der Ort im Mündungsgebiet der Oder entwickelte sich dann aber doch zum größten und beliebtesten Seebad der Berliner, gleichzeitig zu einem wichtigen Marinestandort, weswegen die Stadt 1945 von alliierten Bombern nahezu zerstört wurde. Als wir nach der Wende das erste Mal im Auftrag der taz dorthin kamen – mit dem Taxi von Ahlbeck, mußte man an der Grenze noch aus- und in ein polnisches Pferdefuhrwerk umsteigen, das einen an die riesige Swinemünder Strandpromenade brachte, wo es von Händlern mit Billigware, Hütchenspielern und Abschleppern für die Bordelle der Stadt wimmelte. Auch heute ist die Promenade noch laut und grell, die umliegenden 65 Hotels, meist in prachtvollen Villen, sind jedoch inzwischen genauso protzig restauriert wie die in den „Kaiserbädern“ Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck auf deutscher Seite. Diese vier Orte auf Usedom sind heute mit einem 12 Kilometer langen „Ostsee-Boulevard“ verbunden – und geben sich touristisch immer weniger.
Weder im Atol, Artemis, Adonis, Nautilus noch in der Villa Roma oder Medusa und auch nicht bei Ana Lisa war ein Zimmer frei und wir fuhren leider immer weiter fort von der Promenade voller polnischer Familien in Badeklamotten mit aufblasbaren Plastiktieren und deutschen Rentnern auf Klappstühlen, durch Kiefernwälder erst nach Ahlbeck und dann in das dicke, fette Heringsdorf. Dort sieht es im Prinzip genauso aus, allerdings ist alles weisser, es gibt weniger Kinder und die Rentner scheinen westdeutsche Zahnärzte oder Juristen zu sein. Sie schaukeln ihre dünnen Hintern in weiten Leinenhosen durch die Gegend und haben ihr Leben lang nur gegessen, was ihnen geschmeckt hat.
Misdroy/Miedzyzdroje
Ein Teil von Swinemünde befindet sich auf der Insel Wolin, die man 1960 mit ihren alten Eichen- und Buchenwäldern, eingehegten Wisenten und ausgeschilderten Kliffküsten (von denen aus man auf das Stettiner Haff und das Swinedelta blickt) zu einem Nationalpark erklärte. Das dazugehörige Museum ist in Misdroy/Miedzyzdroje. Der Ort an der Pommerschen Bucht wurde einst „Die Badewanne Berlins“ genannt. 1997 konnte ich dort noch mäkelig zwischen Dutzenden von privaten und staatlichen Quartieren wählen – heute ist in der Saison auch hier alles ausgebucht.
Das selbe gilt dann auch für Anklam, wo gerade am Peeneufer ein großes „Hansefest“ stattfindet.
Als wir ankommenen in Anklam bin ich noch Schweinemünde. etc.. Hier gibt es ein Hotel, das hat bestimmt was frei – ist gross: sagt eine Anklamerin mit Luftballon. Doch hier ist alles wie der Parkplatz und der künstliche kleine Pool, der mit einer gigantische Eisentreppe zum Hineinsteigen völlig belegt ist.
Ich heule fast vor Müdigkeit und mach Helmut irgendwie auch noch dafür verantwortlich, als wäre er dazu gedacht für mich Schappi und Schlafplätze anzuschleppen. Aber es gefällt ihm ja, er kümmert sich gern um andere, besonders Frauen, und mag, wenn ich hilflos bin. Er fährt ja auch toll Auto. „Sei mir aber nicht böse, dass wir kein Hotel finden…ja?“ …Ich Jane, Autoradio, Karat:
„Manchmal greift man nach der ganzen Welt,
manchmal meint man, dass der Glücksstern fällt.
Manchmal nimmt man, wo man lieber gibt,
manchmal haßt man das, was man doch liebt.“
Bei einer umgewidmeten Riesentankstelle oder auch früheren Schweinemast durch deren grosse Fenster neue (rote! ein Zeichen für Geld hier in der Gegend!) Schweineledersofas schimmern, steige ich aus, um um Hilfe zu klingeln. „24 Stunden check in“ steht neben der „Nachtklingel. Es ist ein bisschen wie in Tegel (Knast). Der Vorraum hat zwei Türen, Gegensprechanlage und Kamera. Aus dem Lautsprecher kommt genervtes Ächzen, die Kamera zittert und zoomt zart hin und her, eine Mücke. „Belegt“ das Schild kann ich erst jetzt sehen. Ich eine einsame Frau in der Nacht, schlabbriges, buntes Halstuch. Jedenfalls erscheint ein Typ im Bademantel, der sofort verschwindet, als er Helmut sieht. Dass mir das in meinem Alter noch passiert ist irgendwie trostvoll. Aber bloß weil ich nicht allein bin, und trotz, sonst KungFu.
„Über sieben Brücken musst du gehn, sieben dunkle Jahre überstehn, siebenmal wirst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein.“
Riesig rot leuchtet ein Wort durch die Nacht. Wir wachen wieder auf, kreischen als wär das der Leuchtturm im Sturm, verfahren uns in dunklen Einfamilienhaussiedlungen mit Bewegungsmeldern an den Lampen. Licht aus, Spot an, ja .. cruisen rum, mache es jetzt aber kurz, also: HOTEL mit Parkplatz, für Schwimmbad und Knutschen zu müde. Plopp.
Nächster Tag: Der Auszubildende am Frühstücksbuffet heisst Bauer und wundert sich wahrscheinlich wie ich auch, wieso er hier jetzt für mich Eier brät. Besame… Besame mucho – (Küsse mich, küsse mich viel, der spanische Schlager „Besa me“. Wir haben in einer umgebauten Besamungsanstalt geschlafen.
Eine junge, blonde Frau ist dort auch „eher rein zufällig hingeraten“, obwohl sie „nicht aus der Gastronomie kommt“. Mehrere männliche Bedienstete geben wohl grad zum zehnten Mal auf, die Blonde mit dem Pferdeschwanz anzubaggern. Sie hängen zahlreich unter einem Schild auf Barhockern rum. Aus Langeweile fangen sie dann aber wieder damit an, „Mensch Kerstin, nu sach doch mal“.
Auf dem Schild (Achtung! Schilder sind wichtige Zeichen um die Wirklichkeit zu erfassen! Ich vernachlässige das zu oft!) steht: „Es ist verboten zu rauchen oder den Bullen beim Besamen durch lautes Lachen zu erschrecken.“ Ich fotografiere das Schild und uns beide gespiegelt darin. „Is irgendwie ja auch fies,“ sag ich zu der Frau. Wir kichern. Dann gibt es noch ein Kugelzentrum, „das ist eine Klassenbezeichnung!“ (Beim Kegeln) „Aha“. Draußen Streichelzoo mit Lama, Minischienen, eine kleine Eisenbahn fährt darin, heute nicht. Alles menschenleer. Den Schäferhund, der böse bellt, wenn ich aber mit ihm spreche sofort sehnsüchtig mit dem Schwanz wedelt, würde ich gern mit zum Meer nehmen. Die Pappeln, die klappern beim Rauschen.
Auf der Strasse Werbung für das Hotel: “Zum alten Schafsstall“. Wieso gibt es hier soviele Hotels aber keine Schlafplätze, gute Strassen, kleine Eisenbahnen, Lamas, gebratene Eier, keine Arbeit?
Wir fahren durch Alleen und verpennte kleine Dörfer. Alleen, Alleen, Birnen, Kirschen, Äpfel, Pappeln, Kastanien, Eichen, Ulmen, sogar dicke alte. Wir staunen über die vielen Wasservögel auf wiederversumpften Weiden, deren Senken nicht mehr entwässert werden: Graugänse, Kiebitze, weiße Reiher und jede Menge Enten. Helmut will jetzt das Zentrum finden.
Löcknitz
Der Turm – Rest der Slawenburg „Lokenitza“, Bollwerk und Fluchtstätte. „Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) wurden Pommern und Brandenburg mehrfach von den verschiedenen Kriegsparteien wechselseitig besetzt, geplündert und verwüstet.- Pommern verlor während dieser Zeit etwa zwei Drittel seiner Bevölkerung, in Brandenburg lagen die Bevölkerungsverluste zwischen 40 und 75 Prozent.“ heißt es dazu.
Jetzt ist der Turm berühmt für Fledermäuse und zwar aller möglichen Arten. Sie sehen gruselig und fremd aus, dabei sind sie nun wirklich von hier. Auf ihm ist die Pommersche Fahne gehisst. Im „Kaffee Traum“ daneben geht das Gespräch ums Angeln, aber auch um Persönliches:
„Na, Paulchen was macht der Fisch?“
„Der schwimmt noch.“
„Angeln is doch Zeitverschwendung, sitzte bloss blöd rum.“
„Mensch Mandy… Muss man machen. die Stille und so und was de dann so hörst, das de mal auf andre Gedanken kommst.Guck ich erzähl mal wat: Is Nacht ne. Ick sah Norbert, Norbert sah mich. Ich keen Biss, er keen Biss. So. Stunde um Stunde bis denn der Höps, der schreit, dass dat übern ganzen See schallt. So nachts, dat schallt ja. Da wusstens alle. Dat spricht sich rum. Min Schwager och.“
„Halt auf!“
„Dat Schwein, ich bring den um!“
„Lass den in Ruhe. Darüber wolln wir nicht mehr reden.“
„Na gut. Die Pointe is ja die vom dicken Höps und dem Alten mit dem Klumpfuss. der Deibel der.“
„Lass gut sein. wir haben alle Fehler gemacht.“
„Ich sag nur wies is, was soll man glauben.“
„Kraut, Frankieboy, Mandy, Nadine alle am Nacktbaden. Und der immer. Nee och, eklig. na ist vorbei. Zeit vergeht und Licht verbrennt.“
Anschließend im Auto streiten wir uns, um was es da ging im Gespräch. Helmut: Das drehte sich um die Privatisierung der Fischerei-Genossenschaft am Löcknitzer See, bei der damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Zudem würde der jetzige Fischer, Seepächter alle ehemaligen Genossen anzeigen, die ohne Angelschein nächtens im See fischen. Und das wäre nicht rechtens.
Stettin/Szczecin
Die Haupt- und Universitätsstadt der Woiwodschaft Westpommern befindet sich noch immer im Übergang von der Arbeits- zur Freizeit-Metropole. Die Werftindustrie ist schon fast abgewickelt, die Hafenanlagen will man komprimieren – und stattdessen den Maritim-Spaß ausbauen: mit Regatten und Segelschiffparaden, der Erschließung der Flußinseln für den Tourismus und dem Anlegen von „Floating Garden“.
Auch mit dem im ehemaligen Fort von Stettin produzierten hochwertigen Wodka der Firma Polmos will man Touristen in die Stadt locken. Diese kommen aus ganz unterschiedlichen Motiven, erfahren wir in einem Restaurant am Hafen: Die Franzosen aus sentimentalen Gründen, weil seit den napoleonischen Kriegen etliche Franzosen hier hängen blieben. Die Deutschen wegen der Wellness- und Fitness-Angebote sowie auch wegen der vielen Zahnkliniken. Die Norweger wegen der Golfplätze. Die Dänen und Schweden wegen der Campingplätze. Die Italiener und Spanier, weil ihr Söhne oder Brüder hier auf einem Nato-Stützpunkt stationiert seien. Die Russen, weil man in Westpommern unkomplizierter Angeln kann als z.B. in Deutschland. Und die Finnen – wegen des billigen Alkoholangebots. Dazu würden jedoch nicht die Polmos-Wodkas der Marke „Starka“ zählen, von denen die teuerste Flaschenabfüllung über 150 Euro kostet.
Vom Turm des Schlosses der Herzöge von Pommern aus versuchen wir uns vorzustellen, wie Stettins Maritim-Spaß an und auf der Oder aussehen könnte. Am Schloßberg wird derzeit erst einmal die im Krieg völlig zerstörte Altstadt wieder neu aufgebaut.
Gartz
Auf dem Weg zu diesem kleinen Oderhafen auf der deutschen Seite kommen wir an den riesigen Anlagen eines Biogas -und Spritkonzerns vorbei. Gartz, etwas unterhalb von Stettin gelegen, scheint heute nur noch von den Wanderern auf dem Oder-Neiße-Radweg zu leben. Der 1249 gegründete Ort – nun inmitten des Nationalparks Unteres Odertal gelegen – hat eine noch z.T. erhaltene Stadtmauer, im Torwärterhaus wurde 1990 ein Ackerbürger-Museum eingerichtet.
Das interessiert uns, denn diese Form mittelalterlicher Semi-Urbanität könnte unsere postmoderne Zukunft sein: Ackerbürger, heute würde man sagen: Ökobürger, das waren damals die Gartzer, die nicht vom Handel leben konnten, denen aber auch der Garten hinterm Haus nicht genug zum Leben abwarf, weswegen sie noch einige Äcker und Weiden samt Scheunen und Ställe außerhalb der Stadtmauern unterhielten. Ähnlich war es bei den Ostfriesen: um Bürger von Emden zu werden, mußte man sogar mindestens ein paar Ziegen besitzen, notfalls auf Kredit angeschafft, die auf dem eingedeichten Land vor der Stadt gehütet wurden.
Heute, so hat der Biologe Josef Reichholf festgestellt, findet bei den Städtern und der Stadtentwicklung, ganz besonders bei den Berlinern, in ökologischer Hinsicht ein „Öffnungsprozeß zur Landschaft hin“ statt, während „bei den Dörfern die historische Entwicklung bis in die allerjüngste Zeit fast genau umgekehrt verlaufen ist“: Aus der „Eingebundenheit in das Umland wurde eine zunehmend stärkere Trennung; eine Isolation, die durch scharfe Trennung zu den monotonen Maisfeldern oder anderen großflächigen Monokulturen so verstärkt wurde, dass den Dörfern oft ihr Wesenszug abhanden kam“ – vor allem wenn in ihnen auch noch die Viehwirtschaft industrialisiert und in Zweckbauten separiert wurde sowie drumherum riesige Anlagen zur Energiegewinnung errichtet wurden – und werden.
Das Gartzer Ackerbürger-Museum entpuppt sich als eine Zusammenstellung von Wohnungseinrichtungsgegenständen aus dem 18. und 19.Jhd., wie sie heute jeder Ökobürger gerne für seine Datsche oder ausgebaute Remise sammelt. An der Kasse kaufen wir zur Vertiefung des Ackerbürgergedankens einige Broschüren sowie ein Glas Holunderblütengelee: selbst hergestellt von den Museumsfrauen – und gehen an den Fluß.
Die Frau vom kleinen Imbiss an der ehemaligen internationalen Brücke weiß auf meine Badefrage… es ist so heiß:
„Da ist noch immer die gleiche Stelle hinter dem Sportplatz, aber es kommt kaum jemand mehr.“
Ein Weg, genau wie Wege zur Badestelle immer aussehen. Der Boden in Ufernähe ist voller Schlamm und Schnecken. Das Wasser schmiegt sich durch die Strömung eng um mich. Tauchen, gegen die Strömung anschwimmen, sich abwärts treiben lassen. Wie ein grosses lebendiges Wesen ist so ein kühler, schöner Fluss, Dreck ist egal. Helmut liest Strittmatter und wartet auf mich.
Der Ort wurde im Krieg fast völlig zerstört und 1958 mit einer riesigen Erdöl-Raffinerie zu einer Stadt erweitert – bestehend vor allem aus Plattenbauten, von denen heute viele leerstehen und nach und nach abgerissen werden. Die personalreduzierte „PCK Raffinerie“ gehört jetzt natürlich einigen Westkonzernen, eine kilometerlange Magistrale führt an ihr vorbei – sie endet vor dem Säuleneingang des Schwedter Theaters.
Die Klänge von „Tränen lügen nicht“, russischer Akzent, ziehen uns quer über den Theater-Parkplatz zu einem Plätzchen unter Platanen auf dem dicke Frauen begeistert und fein elegant miteinander und umeinander herum tanzen.
„Die grosse Stadt, lockt mit ihrem Glanz, mit schönen Fraun, mit Musik und Tanz, es ist nie zu spät, komm entscheide dich, dreh dich mal um, Tränen lügen nicht.“
Die Frauen lachen glücklich mit ihren Freundinnen. Männer sitzen um sie herum und warten darauf, dass sie sich das auch trauen. Ein Gruppe meist blonder und wahrscheinlich deutscher oder jedenfalls deutschrussischer Kinder bemalt sich gegendseitig die Gesichter. Sie bereiten sich darauf vor „die Geschichte vom Maulwurf, der beim Fussball ausgeschlossen wird, weil er nicht so gut sieht“ zur Vorführung zu bringen. Mein „Das ist doch sicher ziemlich heiss in den dicken Fellen“ erntet müde Blicke. Die Geschichte endet für den Maulwurf gut, weil alle ihre Meinung ändern und jedes Tier verschieden ist. Hinter der Kindertheatergruppe spielen andere und ausschliesslich schwarzhaarige und dunkelhäutige Kinder Fussball.
Lieblingsmannschaften: Real Madrid, Galata Serail, Barcelona, Brasilien. Wieso spielen die deutschen Kinder nicht mit? „Es können nicht immer alle mitspielen. Manchmal spielen wir auch zusammen.“ Zwei Polizisten wippen schattengesprenkelt mit den Füssen. Sie stehen hinter einem der dicken Bäume auf dem Festplatz, als suchten sie Halt, oder auch um ihre Uniformen nicht so leuchten zu lassen. „Hier ist ja ganz schön was los“ sag ich. Sie antworten: „Heute sind in der ganzen Stadt Feste, deshalb ist es hier nicht so voll.“ Und meinen ausserdem, dass sie und wir und alle hier auf dem „Fest der Immigration“ sind.“ Fest der Integration, verbessern sie sich. Noch genauer: „Kreisintegrationsfest“.
Hinter der Bühne auf der Uferpromenade steht das Wahrzeichen von Schwedt: eine Meerjungfrau. Sie hält jedoch nicht wie ihr Vorbild – die Warschauer Sirene – ein Schwert in der Hand, sondern ein Kind, dem sie gerade das Schwimmen beibringt. Die Hugenottenwiese drumherum heißt so, weil der brandenburgische Kurfürst hier sowie auf der anderen Oderseite ab 1685 rund 20.000 protestantische Vertriebene aus Frankreich, vornehmlich Tabakbauern, ansiedelte.
In der wiederaufgebauten kleinen Altstadt: Das „kleine Bistro“. Eine Französin hat es mit ihrem deutschen Freund und dem Erbe ihres Schwedter Onkels aufgemacht, steht auf einem Aushang im Schaufenster. „Ich habe hier viele nette Leute kennengelernt, aber vermisste doch ein Kino mit gutem Programm.“ Schade, jetzt ist sie weg. Den guten Apfelsaft aus einem der zahlreichen Biohöfe der Gegend gibt es aber noch.
Ich finde Schwedt unglücklich, Katrin gefällt die Stadt – überhaupt hat sie diese Mischung in den ostdeutschen Städten – zwischen Platte und Altstadt gern: Das hat ein menschliches Maß und ist überhaupt nicht mit dem Autowahnsinn westdeutscher kriegszerstörter Städte, die der Wiederaufbau völlig zerrissen hat, zum Beispiel Kiel, zu vergleichen. Tapfer die Schwedter nach diesen schrecklichen Invasionen: Erst der dreissigjährige Krieg, dann die anderen und dann die Wende. Und nun: Schwedter zu Flugscharen.
Um auch noch das zweite hugenottische Siedlungsgebiet mitzunehmen, fahren wir nach Polen rüber. Hinterm Grenzdorf Krajnik Dolny – das aus nicht viel mehr als einem müden Polenmarkt besteht – biegen wir nach einer Weile rechts ab und gelangen schließlich auf eine Uferstraße, die zum „Tal der Liebe“ (Dolina Milosci) führt, das Teil des deutsch-polnischen Projekts „Europäischer Hugenottenpark“ ist.
Helmut kurvt die Kurven so schön, besonders wenn er Zigaretten dreht und mit den Knieen steuert. Die Strassenoberflächen hier sind oft brüchig, um zu bewirken, dass man die Alleen besser sehen und geniessen kann. Sie leuchten dunkelgrün, weil den Bäumen unten rum nicht ständig die Zweige gekappt werden, wie in Brandenburg.
Dieses Liebes-Tal, das genaugenommen eine Anhöhe ist, wurde jedoch so wie sich das Ensemble heute darstellt nicht von Hugenotten angelegt, sondern 1850 von einer Gutsbesitzergattin. Die Deutschen wurden 1945 von dort auf die andere Flußseite vertrieben.
Hier möchte ich bleiben, aber für immer, flüster ich vor mich hin. Na träum weiter kleiner Freund. Ach nein, das Lied geht ja: „flieg nicht so hoch mein kleiner Freund“. Jedenfalls: kleiner Freund.
Wir fahren weiter direkt an der Oder entlang. Hinter einem kleinen Dorf sehen wir neben der Straße Gänse in einem kleinen, schwarzen Viereck eingesperrt. Gleich auf der anderen Seite der Straße ist der Fluss. „Oh guck mal wie gemein! Die riechen ja das Wasser schon und können nicht hinein.“ sagt Helmut. Er hat ein so grosses Herz – wie die Ostsee.
In Polen ist an der Schnellstrasse mindestens so viel los wie in unseren Fußgängerzonen. Und auf der schönen, breiten Autobahn, die sandig ist, weil sie keiner fegt, also alle Besseres zu tun haben oder das Abendlicht so satt und sanft scheint, sind ausser uns und anderen Wochenendmüden auch Radfahrer mit Angeln unterwegs. Golden leuchtende Wände aus aufeinandergestapelten Honiggläsern entzücken am Rande. Eimer voller gelber Pfifferlinge bieten sich selber feil, oder sind Ergebnis des heissen Tages und die Pflücker warten neben ihnen auf Kundschaft oder um abgeholt zu werden… Man kann es nicht wissen. Auch nicht, was all diese hübsch angezogenen Mädchen und manche schmuddeligen Säufer heute abend noch vorhaben. Jedenfalls balancieren sie in jedem Dorf herum, die Mädchen auf ihren Beinen und die Säufer auf ihren Füssen und erzählen. Noch luftiger als Luft. Manchmal, an Ampeln, kommen ihre zischende Worte in Fetzen durchs Fenster. Die Farben der Häuser sind pastellig. manchmal kriegen die Häuser vom Geldverdienen aufgeregte Wangen, denn die Farben der Häuser mit Läden darin sind knallgrellorange oder Magentarot. Wir wechsen die Oderseite – und das Land.
Criewen
Da wir nun schon mal im Nationalpark Unteres Odertal sind, wollen wir auch sein Zentrum sehen. Dabei handelt es sich um eine pompöse Schloßanlage derer von Arnim, inmitten eines von Lenné gestalteten Parks. Im penibelst renovierten Schloß befindet sich u.a. ein „deutsch-polnisches Umweltbildungszentrum“. In einer der Stallungen des dazugehörigen Gutshofs ist das Nationalpark-Museum untergebracht. Mit Stelltafeln, Aquarien und Mikroskopen, an denen Katrin photographiert werden will, wird dem Besucher Fauna und Flora des Unteren Odertals nahe gebracht.
Worum es beim Nationalpark aber eigentlich geht, erklärt ein Film: Wie an der Nordseeküste einst mit Eindeichungen und Pumpwerken dem Wattenmeer Land „abgerungen“ wurde, hat man auch hier zwischen 1906 und 1932 nach friesischem Vorbild mit einem holländischen „Poldersystem“ aus Sümpfen und Auen Ackerland geschaffen. Einen Teil dieser Flächen, die insgesamt 1172 Quadratkilometer umfassen, haben die deutschen und polnischen Naturschützer ab 1995 der Bewirtschaftung durch die Landwirtschaft entzogen: „An die Stelle des künstlichen ist ein natürlich-dynamisches Flutungssystem getreten,“ heißt es im Film. Einen anderen Teil dürfen die Bauern erst nach Ende der Brutsaison der dort ansässigen Vögel nutzen. Nach und nach möchte man mindestens die Hälfte der Nationalparkfläche „der Natur zurückgeben“. Auf den im Winter und im Frühjahr überfluteten Flächen halten sich Millionen von Zugvögel auf – und die ziehen wiederum tausende von „Bird-Watcher“ an.
Auf polnischer Seite hat man an den Rändern der Überflutungsflächen Beobachtungsplattformen für sie errichtet. Auch Säugetiere – wie Fischotter und Biber – dürfen sich im Nationalpark wieder ausbreiten, was in der Uckermark bereits zu Antibiber-Protesten unter den Bauern geführt hat.
Stolpe
Mit dem Auto kommen wir den Baumnagern natürlich nicht nahe, stattdessen lesen wir uns aus Josef Reichholfs Buch über das „Comeback der Biber“ vor – als wir in Stolpe einkehren: im „Hotel zum Grützpott“, einem ehemaligen Betonwerk direkt am Finowkanal, der Oder und Havel verbindet. Weil gleich daneben eine Fußgängerbrücke über den Kanal führt, die von vielen Radfahrern benutzt wird, lockt das Hotel mit einer „E-Bike-Ladestation“ auf der Veranda. Der Name „Grützpott“ bezieht sich im übrigen auf einen slawischen „Wohnturm“ aus dem 13.Jahrhundert in Stolpe.
Hohenwutzen
Hier war ich schon mal: Während des Hochwassers 1997, als der Deich unterspült wurde, aber hunderte von Bundeswehrsoldaten und freiwillige Helfer mit neun Millionen Sandsäcken eine „Flutkatastrophe“ verhinderten. Die Säcke liegen heute auf der Müllkippe bei Wriezen. Vom Gartencafé gleich hinter dem Deich in Hohenwutzen aus koordinierte damals „Deichgraf“ Platzek die Rettungsaktionen.
Weil dort alle Tische besetzt sind, kehren wir am Ende des Dorfes im „Bahnhof Nr.1“ ein: Bis 1965 verkehrte hier ein Zug, der über die Oderbrücke bis zu einer Papierfabrik am anderen Ufer führte. Zuletzt wurden dort alle amtlichen Nazi-Dokumente hergestellt, erklärt uns ein alter Mann, der sich noch daran erinnern kann, wie „die Deutschen“ die Brücken sprengten und „die Russen“ erst die Fabrik stürmten, dann mit Booten über die Oder setzten und Hohenwutzen einnahmen. „Als erstes befahlen sie uns, alle Leichen einzusammeln und zu beerdigen. Das war so wie ABM heute: Wir bekamen was zu Essen dafür.“
Das immer noch halb zerstörte Werk beherbergt heute einen riesigen Polenmarkt – das „Oder Center Berlin“. Dieser Markt erstreckt sich bis auf das dahinterliegende Dorf Osinow Dolny – und ist ein „Vergnügungsort der Armen“, meint die Berliner Zeitung. Der Slawist Karl Schlögel behauptet jedoch, die „Basarphase“ sei fast überwunden. Das gilt jedoch nicht für Osinow Dolny, wo immer noch alles billiger ist als auf der deutschen Seite – nicht zuletzt das Benzin, das hier fast 30 Cent pro Liter weniger kostet.
Der „Bahnhof Nr 1“ ist ein Lokal so knallorange wie die Läden in Polen. Eisbein mit Schwabbel wird am Tisch nebenan serviert. – Es sieht sehr interessant aus, wie sich die einzelnen Muskeln vom Knochen lösen lassen. Ja und irgendwie menschlich dies Bein das vom Teller in die Abendluft ragt. Das sehr süsse Kind kaut längere Zeit auf so einem übriggebliebenen, schwabbeligen Speckstück herum. Dann finden wir alle einen grossen Käfer und spielen ein bisschen mit ihm. Der Junge gibt mir den schwarzen Käfer noch einmal zum Angucken in die Hand, bevor er ihn ins Gras zurücksetzt.
Golzow
Es wird dunkel und einsam, ein paar Fernseher blinken durch die Nacht. Die Alleen machen Schatten wie gierige Finger mit krummen Ästen. Sie verfolgen uns durch das Oderbruch, das hinter Hohenwutzen beginnt.
Für den US-Historiker David Blackburn begann im 18.Jahrhundert mit der Trockenlegung dieser natürlichen Auenlandschaft auf Anordnung von Friedrich II.eine „epochale Umgestaltung der Landschaft“. Mit der Verwandlung der sich ständig verändernden Sümpfe in geometrisch angelegtes Siedlungsland ging die Vernichtung bzw. Vertreibung der Schädlinge einher – von Wolf und Biber über Spatzen bis zur Malariamücke und von slawischen Fischern über Deserteure und gesuchte Kriminelle, die sich im Bruch versteckt hielten. Goethe hat diesen Kultur-„Kampf“ 1830 am Ende seiner Tragödie „Faust II“ thematisiert.
Inzwischen hat sich der Kampf jedoch umgedreht: Im Streit zwischen den heutigen Oderbruch-Bewohnern und den Umweltschützern geht es darum, auch diese einst völlig denaturierte preußische Landschaft wenigstens teilweise wieder versumpfen zu lassen. Die Biber wurden dort – quasi als Pioniere – bereits 1986 wieder angesiedelt. In Golzow stemmt sich eine der modernsten Großlandwirtschaften ihrer schleichenden Kulturlandvernichtung entgegen: Die einstige Vorzeige-LPG und jetzige „Landwirtschaft Golzow GmbH & Co KG“. Sie bewirtschaftet im Oderbruch 7000 Hektar und ist nach den Berliner Stadtgütern der zweitgrößte EU-Subventionsempfänger in Brandenburg. Ihr Standort wurde überdies durch die längste filmische Dokumentation, von 1961 bis 2007, weltweit bekannt. „Die Kinder von Golzow“, wie sie heißt (ebenso auch die Golzower Grundschule), kann man sich nun kapitelweise im Gemeindezentrum ansehen. Das Zentrum ist bereits geschlossen, als wir in Golzow ankommen, aber wir haben die meisten Teile schon auf der Berlinale gesehen. Das Gasthaus mit Pension „Wagner“ hat noch auf.
Uns wird vorm Schlafengehen noch Rex-Bier und ein großer Teller Aufschnitt im Raucher-Garten serviert – mit toller, echter Golzower Wurst. Leider bin ich im Bahnhof Nr. 1 Vegetarierin geworden, aber ich rieche trotzdem mal dran. Im Bad unseres Doppelzimmers wimmelt es etwas und Helmut sagt: Pass auf, tritt nicht auf die schwarzen Käfer.
Blumen, Landschaften, Mädchen am Fluss im Abendlicht, wunderbare Originale: Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen prangen, ja das kann man sagen: sie prangen im ganzen Haus. Der Künstler ist Golzower Brigadeführer der Maler und Anstreicher gewesen, er war daneben Kunstmaler und der Opa des Wirts.
Am nächsten Morgen sind wir etwas zerstochen: Die Mücken hat man wahrscheinlich nie ganz weggekriegt im Oderbruch. Nun kommt auch noch der Energiekonzern Vattenfall dazu: Er will die Emissionen seines neuen Braunkohlekraftwerks „Jänschwalde“ über eine Rohrleitung in das Oderbruch pumpen. Im Protest gegen dieses „CO2-Endlager“ sind sich dort Natur- und Kulturschützer einig.
In Golzow ist auf allen Straßen etwas mehr Leben, es gibt einen wimmeligen Schulhof. Kleine, hopsige Schüler kicken. Das sind schon die Enkel derer von Golzow.
Küstrin/Kostrzyn
Von der ehemaligen preußischen Festung, die ihr letzter deutscher Kommandant noch hielt, als die Russen schon längst die Oder überquert hatten, ist nicht mehr viel zu sehen. Zudem wurden die Steine nach dem Krieg für den Wiederaufbau von Warschau und Danzig benutzt. Die polnischen Trümmerfrauen und -männer begründeten wenig später den Ort neu – als Kostrzyn, die Warthe mündet dort in die Oder. Inzwischen hat ein Investor vor der Ruine, deren Resterampen gerade kostspielig restauriert werden, einen festungsähnlichen Hotelkomplex errichtet, den er „Bastion“ nennt. Und da man heuer den 300jährigen Geburtstag von Friedrich II. feiert, hat das Berliner Künstlerhaus Bethanien zusammen mit dem Festungsmuseum und dem Kostrzyner Bürgermeister zehn Künstler auf die preußisch-deutsche Ruine geschickt, um dort „Denk-Zeichen“ zu setzen. Der Vater von Friedrich II. ließ 1730 nicht nur den besten Freund seines damals 18jährigen Sohnes – Hans-Hermann von Katte – köpfen, weil die beiden sich heimlich ins damals liberale England absetzen wollten, sondern tötete zuvor auch noch dessen Lieblingskaninchen.
All das geschah auf der Festung Küstrin, wohin sein Vater ihn wegen seiner lyrischen Grillen bis 1732 verbannt hatte. Die Ausstellung dort ist noch bis zum 9.September zu sehen. Die Ausstellungsmacher meinen, Küstrin befinde sich derzeit noch in einem „Zwischenstadium“. Gerade ging dort das schlammige Umsonst-und-Draußen-Festival „Przystanek [Haltestelle] Woodstock“ am Rande von Küstrin zu Ende, in diesem Jahr wurde es von mehr als 500.000 Jugendlichen besucht.
Ich mache auf der Festung ein Photo vom Denkmal für Friedrichs Lieblingskaninchen – mit Helmut, wie er sich gerade am Kopf kratzt.
Osno
Wir bleiben in der Woiwodschaft Lebus (im Lebuser Land) und fahren in die Kleinstadt Osno, wo 1879 die Maiglöckchen quasi erfunden wurden. Diesen Exportschlager, bis hin zu Parfüm mit Maiglöckchenduft, gibt es dort seit 1945 nicht mehr, dafür jedoch eine Differenz zwischen deutschen und polnischen Gartenblumen, die man rund um den Röthsee (Reczynek) am Rande des Ortes studieren kann: An der einen Seite des Sees haben sich lauter „Mischlinge“ niedergelassen, so nennen sich dort die deutsch-polnischen Ehepaare; an der anderen Seite leben die alteingesessenen Polen. Diese lieben und pflanzen alte Blumensorten, gediegene Vorkriegsware sozusagen, während jene die neuen hochgezüchteten und immer grelleren Sorten aus den Blumengroßmärkten bevorzugen. Ansonsten passiert jedoch nicht viel in dem 4000-Seelenort, der vom polnischen Fremdenverkehrsamt in Berlin wegen seiner gut erhaltenen Stadtmauer empfohlen wird.
Lagow
In diesem zwischen zwei Seen, zwei Diskos, einem Schloßberg und drei Kinos eingezwängten Ort ist dagegen im Sommer der Teufel los: Es sammeln sich dort alljährlich die Motorradfahrer und die Gymnasiasten aus ganz Polen. Und seit 1969 findet Ende Juni im Ort ein Filmfestival statt – was dem Lagower Camping- und Badeleben einen pädagogisch wertvollen Inhalt beschert. Zumal hier wirklich noch über die Filme diskutiert wird – meist in einem der vielen Cafés und bis weit nach Mitternacht. In fast jedem Haus kann man billig Zimmer mieten, ferner gibt es jede Menge Bootsverleihe und einen Reiterhof. Als ich zuletzt, 1997, das Filmfestival besuchte. lud die damals noch staatliche Firma Polmos zu einem Empfang ins Schloß, auf dem zum einen ihr schon etablierter proletarischer Wodka „Siwucha“ (Schwarzmarkt) und zum anderen ihr neuer edler Tropfen „Polska wodka“ präsentiert wurde – bis zum Umfallen.
Wir begnügen uns heuer in dieser „Sahara-Hitze“ mit Apfelschorle in einem der nicht mehr ganz so überfüllten Cafégärten. Dort erfahren wir von einem Hobbyornithologen, dass es nach wie vor einen kleinen deutsch-polnischen Grenzkrieg gibt – und zwar zwischen Nachtigallen, die westlich der Oder siedeln und ihrer Schwesternart, die Sprosser, deren Verbreitungsgebiet östlich der Oder beginnt. Die beiden Arten haben sich im Laufe der Zeit derart entfremdet, dass sie sich nicht mehr verstehen. Seit einigen Jahren, vielleicht seit der Öffnung der Oder-Neiße-Grenze 2007, drängen jedoch immer mehr Nachtigallen nach Osten – und versuchen auch, sich hier und da mit Sprossern zu verpaaren: „Es kommt jedoch nichts dabei raus“ – „noch nicht!“ fügte der „Bird-Watcher“ hoffnungsfroh hinzu.
Slubice/Frankfurt
Der polnische Teil der „Doppelstadt“ bestand bis vor einigen Jahren im Zentrum fast nur aus einem „Polenmarkt“ und einigen Bordellen. Nun hat man den Markt verlegt und die Hauptgebäude der Universität „Viadrina“ dort errichtet. Weil aber auch im deutschen Teil nicht viel los ist, wohnen die meisten Studenten in Berlin und studieren bloß an der Oderstadt. Auch für den dort geborenen Dichter Heinrich von Kleist war Frankfurt seit dem Tod seiner Mutter 1793 „kein Aufenthalt der Freude mehr“. In dem ihm gewidmeten Museum finden dennoch „Kleist-Festtage“ statt – allerdings erst im Oktober.
Oh ja. Wie sehr mag ich Frankfurt! ich bin selbst völlig überrascht. Der Ort aus hässlichen Bauten wirkt so geschichtslos auf mich. Eine echte Stadt, wo an jeder Ecke etwas ganz komisches, Fremdes passieren kann. Der perfekte Ort für nichts. Frei.
„Es schlägt ein brennendes Herz irgendwo in der Stadt- gefangen in der Einsamkeit verlorener Träume. Irgendwo gar nicht weit…sucht es nach Geborgenheit.“
Die meisten Frankfurter halten sich dieser Tage wahrscheinlich am „Helenesee“ auf, einer ehemaligen Braunkohle-Tagebaugrube, die 1958 geflutet und zu einem „Freizeitparadies“ umgestaltet wurde. Nach der Wende wurde es von einem Stadtpolitiker aus Westberlin in übler Weise einem anderen Westberliner zugeschanzt, der daraus eine profitable „Helenesee AG“ machte – und seitdem für alles Eintritt verlangt. Eine Initiative von Dauercampern und engagierten Kommunalpolitikerinnen versucht dieser „AG“ mit einem „Alternativen Helenesee-Konzept“ etwas entgegen zu setzen (die taz berichtete). Wir fahren am See mit Eintritt vorbei – weiter in Richtung Süden.
Eisenhüttenstadt
Die Innenstadt von Eisenhüttenstadt wirkt futuristisch aber: jeder „wohnt im Denkmal“ (also alt?) schreibt die städtische Hausverwaltung. Alles erinnert an Anfang. Gute Architektur ist zeitlos. Neben uns im Cafe (rot), Erdbeerkuchen (rot) – ist der Hit, sitzen zwei ungewöhnlich hübsche Handwerker mit spitzen Nasen, die sich von einer Discoprügelei in die ihre alten Kumpels: Nazis, sich und andere verwickelten, erzählen. Zeit haben die Schönen wie Heu, so kann das ja nichts werden. Sozialismus bitte, komm doch wieder und schaff Ordnung! Mit diesem Aufbauwillen der Nachkriegszeit. Ach Freunde… gehen wir hier zusammen in die Disco und warten auf die Folgen des Krieges.
“Manchmal geh ich meine Straßen ohne Blick,
manchmal wünsch ich mir mein Schaukelpferd zurück.
Manchmal bin ich ohne Rast und Ruh,
manchmal schließ ich alle Türen nach mir zu.
Manchmal ist mir kalt und manchmal heiß,
manchmal weiß ich nicht mehr, was ich weiß.
Manchmal bin ich schon am Morgen müd
und dann such ich Trost in einem Lied.“
Ab 1950 entstand hier bei Fürstenberg auf Druck der Sowjets das „Eisenhüttenkombinat Ost“ (EKO) und drumherum eine „sozialistische Wohnstadt“. Der Ort mit seinen heute 30.000 Einwohnern existiert gestern wie heute nur dank des Stahlwerks, das nach der Wende gegen alle Widerstände der westdeutschen Stahlindustrie und der EU vom belgischen Konzern Cockerill Sambre übernommen wurde, der seinerseits erst vom französischen Stahlkonzern Usinor und dieser dann von der Luxemburger Arcelor Gruppe aufgekauft wurde. Heute gehören all diese Stahlwerke samt den polnischen einem indischen Milliardär: Lakshmi Mittal. „In Eisenhüttenstadt formte die gemeinsam erlebte Aufbauzeit eine starke Identifikation der Menschen mit dem Werk und ihrer Stadt und erzeugte gleichzeitig ein besonderes Eigentümerbewusstsein“, heißt es in einer Festschrift des Stahlwerks. Das hindert die jungen Leute heute jedoch nicht, ihr Glück woanders zu suchen. Ganze Stadtteile mit Plattenbauten wurden abgerissen und es gibt immer noch viel Leerstand.
Wir besuchen das „Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR“. Dort wird derzeit in einer Sonderausstellung gezeigt, was die DDR alles aus Plaste (Kunststoff) machte – nachdem auf einer Parteikonferenz 1958 verkündet wurde: „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“ und die Designer der Hochschule für industrielle Formgestaltung Burg Giebichenstein sich daraufhin den neuen Werkstoff vornahmen.
Neuzelle
Was in Eisenhüttenstadt das Stahlwerk ist ein paar Kilometer weiter in Neuzelle das Kloster. Zwar leben keine Zisterziensermönche mehr darin, aber der ganze Ort lebt von dieser für den Tourismus immer mehr aufgemotzten Anlage. Der – wie ein Künstler meint: schnell zusammengetragene – Barock-Kitsch der Klosterkirche wurde neu vergoldet und sogar den großen Klostergarten, der steil zur Oderaue abfällt, hat man wieder auf Barock getrimmt. Ein Gebäude beherbergt heute ein Internat, das privat betrieben wird – ein Schuljahr kostet 16.000 Euro. Auch die Klosterbrauerei wurde privatisiert – an einen älteren aber noch unternehmungslustigen Unternehmer. Eine Ladenkette heisst „Bei der heiligen Schwester“.
Guben/Gubin
Die ehemals reiche Textilstadt an der Neiße wurde 1945 zu einer Art Festung erklärt und von SS-Truppen verteidigt – mit der Folge, das der Ort noch heute halb zerstört wirkt. Zwar baute die DDR die Textilfabriken wieder auf, aber diese wurden nach der Wende bis auf ein neues Chemiefaserwerk alle stillgelegt. Von der Hutfabrik blieb ein kleines Museum übrig. In eine andere Fabrik zog 2006 der Mediziner Gunther von Hagens mit seinem geschmacklosen „Plastinarium“, in dem nun ehemalige TextilarbeiterInnen Innereien für die Ewigkeit präparieren. Ihre Arbeiten kann man in einer Ausstellung nebenan besuchen, was den brandenburgischen Schülern jedoch verboten wurde, auch wir verkneifen uns den Grusel. Als der „Plastinate GmbH“-Chef 2010 an Parkinson erkrankte, wurden 90 von 130 Mitarbeiter entlassen, nun hat jedoch sein Sohn Rurik das Geschäft übernommen und will es weiterführen.
Ein Plastineur, eine Strasse voller alter Villen, die Hälfte dieser Schuppen hat Schilder und irgendetwas mit Suchthilfe zu tun, die andere mit dem Plastinarium. Dieser Leichenfledderer berufen sich doch tatsächlich auf die im Grundgesetz garantierte Wissenschaftsfreiheit. Was hat sinnlose Leichenschändung mit Wissenschaft zu tun?
Fragen, Fragen, immer nur Fragen, willst du die Antwort, da kann ich nur sagen: Da musst du jemand anders fragen.“ Wie im Märchen „vom Teufel mit den drei goldenen Haaren“ der Teufel kann ich jetzt endlich sagen: Ich rieche, rieche Menschenfleisch.
Wir gehen wieder über eine Brücke – nach Gubin. Alles ist wieder ein bisschen schrottiger und lebendiger in Polen. „Komm! Frau! hier! kauf!“ Hätte so gern ein paar leckere Himbeeren mitgenommen, oder Pfifferlinge. Goldener Honig. Ich war einfach zu schüchtern.
Die Bürgermeister hüben und drüben arbeiten schon seit der Wende zusammen, dabei kam u.a. eine gemeinsame „Europaschule“ heraus, die in Guben steht (während das McDonald’s in Gubin aufmachte). In der Unterstadt gibt es gleich drei linke Jugendzentren und ein rechtes in der Oberstadt. Zwischen ihnen herrscht eine Art Burgfrieden. Von den langsam zerfallenden jüdischen und deutschen Unternehmervillen kann man noch immer einige für 1 Euro kaufen. Sind diese Informationen immer noch gültig oder hat sich seit dem letzten Mal, da ich hier war, schon wieder was verändert? Es ist nicht so, dass sich in Guben/Gubin nichts tut.
Forst
Auf dem Weg nach Forst, das bis zur Wende ähnlich wie Guben eine Stadt der Tuchfabriken war und sich jetzt eine „Rosenstadt“ nennt, suchen wir ein Landgasthaus – und kommen im Ortsteil Bohrau an einem „Hotel zum blauen Dach“ vorbei. Es hat tatsächlich ein Dach mit hässlichen blauen Pfannen. Das sahen auch die Bohrauer, die alle in Häusern mit roten Pfannen wohnen, als eine Dorfverschandelung an. Aber der Hotelbesitzer war derart verstockt, das er auch noch sein Hotel danach benannte.
Ausziehen und ab in die Neiss, die hier an einer zerstörten Brücke durch eine breite Aue fließt. Die Auwiesen sind voller hoher Kräuter und Schmetterlinge. Das verbliebene Wasser fliesst hier schneller als die Oder in Gartz, weil schmal und mäandernd. Warum entstehen in einem Fluss welche Geraden und Kurven? Warum sind sie an manchen Stellen tief, an anderen breit und flach?Ich treibe. Man kann das ausrechnen. Es gibt eine Rennfahrer- und eine Geschossperspektive. Die Oder und die Neisse sind im Verlauf ein System zwischen Sumpf und Überschwemmung. Alle Flüsse fliessen ins Meer.
Das flitzt so vorbei, glitzert und lässt das Flussbett aus meinem Kopf mäandern. Es ist nur Licht auf den Blättern der kleinen Buchen, die zwischen den hohen, glatten Kiefernstämmen stehen. Wie kommt es, dass man überhaupt räumlich sehen kann? und dass es so eine Lust oder auch Luft bereitet sich all diese Form und sich selbst mitten darin bewegt vorzustellen? In all diesen Schleifen und Formen? Wenn man Filme sieht, entstehen dadurch ja auch räumliche Gefühle, Schwindel oder Leichtigkeit, dabei ist ganz klar, dass es sich um zweidimensionale bewegte Bilder handelt. Es ist die Erinnerung, die die Räume baut? Aber das Glitzern der Blätter und dies gleichzeitige Erfassen ihrer Form, der Form, die sie bauen? Es hat etwas damit zu tun, wie der Körper im Fluss leichter wird. Materie und Gedächtnis. Ich möchte eigentlich weiter baden, sozusagen weiter forschen, aber Helmut möchte auch forschen und anders. Er will jetzt unbedingt nach Neu-Horno, weil er das alte noch kennt.
Zu Forst, das im Krieg ebenfalls zu einer befestigten Stadt erklärt und deswegen zu 85% zerstört wurde, gehört jetzt auch das Dorf Horno (auf sorbisch Rogow, das 2004 dem Braunkohleabbau weichen mußte, obwohl die Sorben seit der Wende Siedlungsschutz genießen und der Ministerpräsident Stolpe ihnen seinerzeit versprach: „Wenn ihr nicht weichen wollt, dann müßt ihr auch nicht.“ Die taz berichtete mehrmals über den 15 Jahre währenden Widerstand der Hornoer gegen die Abbaggerung ihres Dorfes, und einer der Aktivisten, der Wahlsorbe Michael Gromm, schrieb ein dickes Buch über diesen „Kampf um Horno“. So heißt nun auch eine Ausstellung im neuen Forster Ortsteil Neuhorno. Für die Hornoer war die Zwangsumsiedlung bitter, mehrere alte Leute überlebten sie nicht und die Tauben und Bienen wollten nicht bleiben, für die Forster Lokalpolitiker war sie dagegen süß, denn die staatlichen Zuwendungen eines Ortes bemessen sich nach der Einwohnerzahl und die sank in Forst seit der Wende kontinuierlich, was man durch eine „Eingemeindung“ nach der anderen ausglich.
In einem Café an der menschenleeren Uferpromenade kommen wir mit einer Forsterin ins Gespräch. Auf unsere Frage, warum man in den ganzen Kleinstädten bis hin nach Vorpommern laufend auf Läden stößt, die „Gitte’s Imbiß“, „Rosie’s Salon“, „Irmi’s Café“ „Katrin’s Treff“ und „Blumen Elvira“ heißen, meint sie: „Die Frauen sind eben flexibler. Die haben sich leichter umschulen und weiterbilden lassen als die Männer, deren Identität mit ihrem ursprünglichen Beruf verbunden ist, dem sie erst mal nachtrauerten – als ein Betrieb nach dem anderen dicht machte. Und in den Dienstleistungsbereich wollen sie schon gleich gar nicht abgeschoben werden, da mag ihnen der Coach im Jobcenter noch so gut zureden.“
Aber hier handelt es sich um ganze Existenzgründungen – um kleinunternehmerische Projekte, nicht um Jobs, warf ich ein. „Ja,“ bekamen wir zur Antwort, „und dazu muß man sich nicht nur einmal coachen lassen, sonst bekommt man weder eine Förderung noch einen Bankkredit. ‚Frauen sind die neuen Männer,‘ singen die Prinzen, dies Lied spielen sie auf MDR den ganzen Tag, kennen Sie das nicht?!“
Und was machen derweil die Männer? fragte ich die Frau, die Eisenbahningenieurin gewesen war und dann selber eine Existenzgründung gewagt hatte: eine Pension bei Görlitz. Aber sie war zu schnell gewesen: „Jetzt wäre es eine Goldgrube, 2000 war ich die Schulden leid – und hab den Bankern den ganzen Krempel vor die Füße geschmissen, nachdem mich auch noch mein Partner verlassen hatte… Ach, die Männer…Wenn sie mal genau hinkucken, dann sehen Sie an vielen abgewickelten und teilweise bereits eingefallenenen Betrieben kleine Schilder, auf denen ‚Suchthilfe‘ oder ‚Anonyme Alkoholiker‘ oder ‚Suchtberatung‘ steht. Da haben Sie die Männer. Ich übertreibe. Aber nur etwas.“ Als wir die Frau nach der immer noch nicht wiederaufgebauten Brücke über die Neiße fragen, wo wir kurz gebadet hatten, bekommen wir zur Antwort: „Die Dinge verändern sich hier im Osten weiterhin bedeutend schneller als in Westdeutschland, wo alles immer noch halbwegs festgezurrt wirkt. Deswegen stemmen sich die Leute, Männer wie Frauen, hier eher gegen neuerliche Veränderungen. So haben die Forster, nach dem Verlust ihrer ganzen Industriearbeitsplätze und als dann auch noch das Hochwasser kam, woraufhin ihnen der Ministerpräsident Stolpe den Wiederaufbau der Brücke in Aussicht stellte, entsetzt gesagt: ‚Um Gottes Willen. Was wir jetzt am Dringendsten brauchen ist: Ruhe!'“
In Neu Horno sieht es aus, wie es immer in neuen Siedlungen aussieht. Und kein einziges Kind spielt auf dem Metallspielplatzgerippe. Es ist auch einfach zu heiß. Grosse Bäume mit schattigen Cafes unter ihnen gibt es noch nicht.
Bad Muskau/Leknica
Im Muskauer Park stehen die grössten Bäume, die ich je gesehen. Der Park ist ein Ort, an den man sich ewig erinnert. Eine perfekte Traumlandschaft. Wir werden im Herbst noch einmal hinfahren. Fürst Pückler verbrachte alleine eine Nacht in der Familiengruft. Es gibt einen Text von ihm dazu:
„… im zweiten Sarg unter goldbestickten Lumpen streckt sich ein langes Gerippe hin, das eines Feldobristen, der im Dreißigjährigem Krieg unter Pappenheim gegen die Schwedter zu Felde gezogen ist. Woher die eisige Angst vor dem was einst leben hatte und uns wieder erscheint ohne Fleisch und Bein- Wenn man jung ist, will man alle Angst besiegen.“
Das Fürst Pückler-Eis ist wirklich lecker, ich werds demnächst mal aus dem Buch: „Der grüne Fürst“ nachfrieren. Es wurde jedoch nicht vom Fürsten, sondern von einem cleveren Cottbusser Konditormeister kreiert, lese ich.
Auf der anderen Neisse-Seite gibt es noch einen kleinen Polenmarkt, den wir auch nicht auslassen wollen.
Rothenburg
Es gibt viele Rothenburg in Deutschland, dieses hier erreichen wir nach einer endlosen Strecke durch einen langweiligen Nutzforst, den die Bundeswehr als „Truppenübungsplatz Oberlausitz“ kassiert hat. Dazu gibt es am Rande von Rothenburg sogar einen Flugplatz. Der Ort wurde uns wegen des dort ansässigen „Martinshofs“ empfohlen, zu dem ein freundliches „Hotel zur Krone“ gehört. Daneben gehören zu dem vom evangelischen Diakoniewerk betriebenen Arbeits- und Wohn-Komplex für behinderte, alte, kranke und in Not geratene Menschen auch noch etliche Gästezimmer in einem „Brüderhaus“, dazu ein italienisches Restaurant und eine Bildungs- und Begegnungsstätte. Mit seinen über 600 Mitarbeitern ist der 1898 gegründete Martinshof einer der größten Arbeitgeber in der Region, wobei sich die Einrichtungen über den ganzen Kreis Görlitz verteilen. In Rothenburg befindet sich sein Zentrum, es verchristlicht den ganzen Ort. Im Gegensatz zu unserem nächsten Haltepunkt in der Neißeaue:
Die Kulturinsel Einsiedel
Dabei handelt es sich eher um das Wirkungszentrum von Neogermanen. Wir wären an diesem aus skurrilen Holzplastiken und einem Baumhaushotel bestehenden Freizeitpark zu beiden Seiten der Zentendorfer Straße glatt vorbeigefahren, wenn wir nicht auf einer Koppel ein totes Pferd gesehen hätten – das sich bei näherem Hinsehen jedoch als ein schlafendes Kamel erwies. Als wir uns das weitläufige „Erlebniscenter“ näher anschauten, gewannen ich den Eindruck, dass es ziemlich heidnisch angelegt wurde und betrieben wird: Erwachsene zahlen 11 Euro 50 Eintritt, für Kinder sind die Preise nach Gewicht gestaffelt – maximal 8 Euro 50. Initiator dieses „Folklorums“ ist ein künstlerischer Holzgestalter.
Katrins Vermutungen gingen eher in die andere Richtung: Künstlerhippies oder ehemalige Baustudenten haben mitten in einer völlig öden Gegend ein Mittelalter-Computerspiel zum Begehen aufgebaut. Mit Ebenen, Trollen, Strickleitern, Riemensandalen und Stampftanzen im feministischen Mittelalterrundbau. Ein paar Kinder gehen zum Kamel, der einzigen Person, der die Hitze gefällt. Wer hier aufwächst, hat bestimmt sein Leben lang Sehnsucht nach rechtem Winkeln.
Görlitz/Zgorzelec
Die spätgotisch-renaissance-barocke Altstadt, die die DDR eigentlich abreißen wollte, wurde nach der Wende – so sagt man – mit Kamelhaarpinseln renoviert, und gehört nun emiritierten westdeutschen Professoren mit ihren ebenso genußkundigen Gästen, während drumherum zwischen den Plattenbauten die Neonazis dumpf vor sich hin brüten und gelegentlich wüten. Auf der polnischen Seite findet dagegen munterer Handel und Wandel – also das Leben – statt, wenn auch auf sehr viel ärmlicherem Niveau. Immerhin, so sehen wir dann selbst, hat man, um sich gegenüber den Deutschen nicht lumpen zu lassen, die alte Zgorzelecer Häuserzeile am Neiße-Ufer inzwischen ebenfalls aufgehübscht. Darunter das Wohnhaus des Schusters Jakob Böhme (1575 – 1624), dessen Philosophie Marx so gelobt hat, das die DDR ihre „Produktionsgenossenschaft des Orthopädie-Schuhmacher-Handwerks“ (PGH) nach ihm benannte. Auch einige Ufer-Restaurants auf der polnischen Seite stehen denen auf deutscher Seite in nichts mehr nach – außer dass sie nur halb so teuer sind.
Dafür gibt es dort so gut wie keine Läden, die wie drüben Schnickschnack für Leute mit zu viel Geld anbieten. Erwähnt sei ein „Senfladen“ und schräg gegenüber ein schlesischer Porzellan-Buchladen mit revanchistischer Heimatliteratur. Aber daneben befindet sich ein „Schlesisches Museum“, das „Einblicke in tausend Jahre Kulturgeschichte“ bietet – u.a. in Form von Glas-, Keramik- und Goldschmiede-Arbeiten, daneben wird die schlesische Hauptstadt Breslau und ihr Beitrag zur klassischen Moderne gewürdigt. Am 26. September liest dort der ehemalige taz-Redakteur Kolja Mensing aus einem Buch über seinen Großvater, der in Oberschlesien lebte und als „Beutekamerad“ der Wehrmacht bis nach Oldenburg verschleppt wurde, wo 1971 sein Enkel geboren wurde.
Im Museum rät man uns, unbedingt noch Bautzen mitzunehmen. Diese „Kulturhauptstadt der Sorben“ ist berühmt wegen ihrer Senffabrik, die es noch immer gibt, weswegen dort im Spätsommer alljährlich die „Senfwochen“ stattfinden, und berüchtigt wegen ihres Stasi-Gefängnisses – das „Gelbe Elend“ genannt, in dem zu DDR-Zeiten u.a. das Magazin „Frösi“ – „Fröhlich sein und singen“ – hergestellt wurde. In Bautzen gibt es ferner den sorbischen Verlag Domowina, der jährlich etwa 60 sorbische Bücher herausgibt. Weil die Deutschen diese slawische Minderheit eigentlich in den Osten zum Straßenbau deportieren wollte, wurden sie von den Sowjets 1945 als erste Körperschaft anerkannt und ab da von der SED großzügig gefördert. Die BRD mußte dies nach 89 zähneknirschend fortführen, reduziert inzwischen jedoch laufend ihre finanzielle Unterstützung, die seitdem gleichumfänglich auch von der friesischen Minderheit in Deutschland gefordert wird. All das ist nicht uninteressant, aber Bautzen liegt an der Spree – und wir wollen an der Neiße bleiben.
Katrin will jedoch wenigstens einen Eindruck von der auf einem Granodiorit-Sockel gelegenen Stadt mitnehmen: Von weitem sieht der Tafelberg aus wie ein Vulkan mit dem Gefängnis als heiße Lava, das sollte wohl der Abschreckung dienen. Ein Schandblock. Oder eine Krone.
An einer Fabrik mit einem Rieseninnenhof steht ganz groß „Bombardier“ – in Görlitz gab es den „VEB Waggonbau“, der u.a. die beliebten Doppelstockwagen, sog.Sputniks, baute. Sie wurden nach der Wende auch von der Bundesbahn geordert. Die 1849 gegründete Fabrik übernahmen zunächst Spekulanten – der Private Equity-Investor Advent International, und dann der kanadische Konzern „Bombardier“.
„Manchmal scheint die Uhr des Lebens still zu stehn,
manchmal scheint man immer nur im Kreis zu gehn.
Manchmal ist man wie vom Fernweh krank,
manchmal sitzt man still auf einer Bank.
Über sieben Brücken musst du gehen. Sieben dunkle Jahre überstehn, Sieben Mal musst du die Asche sein, aber einmal auch der helle Schein.“
Ein junger Landstreicher mit Gitarre meditiert am Dom über den Fluss in den Himmel. „Es gibt dich wirklich?“ er guckt verwirrt. Dann mache ich ein Foto. Manchmal ist es dennoch echt schade, für wie abbildbar man die Welt seit Neuestem hält. Wir finden dann einen Platz am anderen Ufer von Görlitz, also in Polen und gucken wieder über den immer gleichen und immer anderen Fluss und die nagelneue Brücke zum Dom hinauf.
Erst sieht das helle Flackern während der Dämmerung aus wie ein Feuerwerk über Görlitz, dann kommt der Wind, dann Regen und viel Rosa mit Krachen. Leute sitzen in teuren Restaurants während wir klatschnass, barfuss vorbei zurück zum Auto laufen. Eine Braut in einem weissen Kleid das sie zu einem Schwan machen soll und das Kleid schafft das!, wird wie eine Pusteblume verweht, sie versteckt sich schnell. Auf einer Araltankstelle zieht Helmut in dunkelblauem Licht den nassen Anzug aus und seinen gestreiften neuen Anzug an. Dann krempelt er die Ärmel hoch. „Wie sieht das aus?“ „Cool. So als könntest du dazu farbige Schuhe und ein rosa Hemd tragen.“ Du meinst meine Zahnlücke passt dazu?“ „Ja schick, Zigeunerzahnlücke. Natürliche Eleganz.“
Zwei Zigeuner in der Nacht, singen zur Gitarre, spielen meine Sehnsucht wach. Wo sind all die Jahre? Zu dem Lied aus alter Zeit rauschen leis’ die Bäume . Und ich seh unendlich weit . Längst verlor’ne Träume. Zähne.
Herrnhut
Hier war Fürst Pückler als Kind vier lange Jahre im Internat. Er beschreibt sie als grauenvolle Zeit voller Willkür und Brutalität.
Der Ort verdankt sich dem Grafen von Zinzendorf, der 1772 den Böhmischen Brüdern erlaubte, sich dort anzusiedeln. Sie waren aus den kämpferischen Hussiten hervorgegangen, die zwei Kreuzzüge siegreich überstanden, dann jedoch als „Glaubensflüchtlinge“ überall wo die Gegenreformation griff, vertrieben wurden. Pietistisch gemäßigt nannten sie sich „Brüdergemeine“.
Die Mitglieder ihrer „Moravian Chruch“ missionierten fortan von Herrnhut aus die ganze Welt und alle Andersgläubigen. Dies jedoch mit viel Charme und Geschick. In Südamerika waren sie ziemlich erfolgreich, indem sie Sklaven freikauften, alphabetisierten und entlaufenen Sklaven, u.a. in Surinam, die Menschenrechte verklickerten. Das brachte die Brüdergemeinen immer wieder in Konflikt mit den Kolonialherren, was nicht wenigen Missionaren das Leben kostete. Auch die Dänen waren nicht froh, als sie anfingen, die Eskimos auf Grönland zu missionieren. In Nordamerika widmeten sie sich der Indianer-Bekehrung und das auf eine Weise, die sie bei vielen Stämmen beliebt machte, auch wenn bis 1900 nur wenig „Mährische Indianer“ dabei rüberkamen.
Im Herrnhuter Missionsmuseum, heute Völkerkundemuseum genannt, sind all diese Aktivitäten in Form ethnologischer Objekte gesammelt. Erhalten haben sich daneben aber auch noch Kirchengemeinden in vielen Ländern, bis hin nach Afrika, Holland und Neuköln sowie Reste von Senffabriken in Russland, von Herrnhuter Brüdern einst gegründet und der von ihnen eingeführte Kartoffelanbau im Himalaja. Der Spiegel spricht von „seriöser Entwicklungsarbeit“. In der DDR waren sie beliebt wegen ihrer Weihnachtssterne. Mir sind sie die liebste religiöse Sekte, wegen ihrer Bescheidenheit, aber auch, weil sie einst in ihrer hussitischen Hochburg Tabor Kommunismus und Kommunion wieder ineins setzten. In den letzten Jahren wurden die Herrnhuter, ausgehend von den Brüdern in Prag, von einem Schisma heimgesucht – das sich bis in Eigentumsklagen vor tschechischen Gerichten niederschlug: Es geht dabei um trunkene Charismatik versus nüchterne Frömmigkeit. Ein Dualismus, an dem sich auch schon die Romantiker – u.a. Friedrich Schleiermacher – abarbeiteten, dessen Text „Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ mir schon allein vom Titel her immer gefallen hat.
Zittau/Porajow
In dieser Stadt geht die nicht mehr sichtbare deutsch-polnische Grenze in die deutsch-tschechische über. Und der einstige Exerzierplatz der Zittauer Kaserne Großporitsch auf der anderen Neißeseite ist heute eine polnische 1500-Seelengemeinde namens Porajow – mit einer neuen katholischen Kirche. Viel mehr ist darüber nicht zu sagen. Einst schlossen sich die Zittauer mit den Bautzenern, Görlitzern, Laubanern, Löbauern und Kamenzern zum „Oberlausitzer Sechsstädtebund“ zusammen, um Adel und Raubritter abzuwehren. Stattdessen kamen jedoch 1424 die eher proletarisch-bäuerlichen Hussiten mit neuen Kampftechniken – und nahmen prompt Zittau ein. Seitdem ging es wirtschaftlich bergab mit der damals noch reichen Stadt. Bis heute wanderte fast die Hälfte ihrer Einwohner ab, was auch durch immer mehr Eingemeindungen, schon zu DDR-Zeiten, nicht ausgeglichen werden konnte. Ebensowenig durch aufwendige Gebäuderestaurierungen nach der Wende, durch die Umbenennung der städtischen Bühnen in die „Gerhart-Hauptmann-Theater GmbH“, mit der „Landesgartenschau“, dem „Sachsen-Tag“ oder der Staats-Feier anläßlich der Einstellung aller Grenzkontrollen 2007.
Diese und weitere Spektakel können nicht über die Tragik hinwegtäuschen, die nach der Wende mit der Entlassung von 5389 Arbeitern beim Nutzfahrzeughersteller „VEB Robur-Werke Zittau“ verbunden war, wo nur 11 Mitarbeiter übrig blieben. Selbst der einstige Exportschlager – die gelbe Zittauer Riesenzwiebel, die zuletzt von der „Gärtnerischen Produktionsgenossenschaft ‚Edelweiß'“ angebaut und vornehmlich nach Ostberlin geliefert wurde, ist so gut wie niemandem mehr eine Nachfrage wert. Auch wir denken nicht daran – im „Freizeitcenter ‚Alle Neune‘ (früher „Kegelsporthalle ‚Gut Holz'“), als wir dort das Stammessen „Biergulasch mit Weinkraut und 4 böhmischen Knödeln“ für 3 Euro 20 bestellen.
Beim anschließenden Kaffee kommen wir mit einer Zittauerin ins Gespräch, die ein noch billigeres Seniorengericht bestellt hatte. Wir sind von der tagelangen Kreuzfahrt die Oder und Neiße hoch etwas angeschlagen – und verhehlen ihr gegenüber nicht unseren Mißmut über das triste Zittau, als sie nach unseren Eindrücken fragt. Als Antwort erwarten wir etwas Lokalpatriotisches, sie sagt jedoch: „Ich habe am Nummernschild Ihres Autos gesehen, das Sie aus Berlin kommen…Wenn Sie so an der ehemaligen Grenze entlanggondeln, dann sehen Sie mit Glück vielleicht da und dort das Sein, aber nie das Werden, dazu müßten Sie sich länger irgendwo aufhalten. Dann würden sie merken, dass sich doch ganz schön viel tut, auch Unterschiedliches und Gegenstrebiges. So gibt es z.B. bei jedem Großprojekt – egal ob Braunkohletagebau, Truppenübungsplatz, Schweinemast-, Biogasanlage oder Windkraftpark – überall Pro- und Contra-Lager – bis hin zu Bürgerinitiativen. Die einen versprechen sich davon Arbeitsplätze, Aufschwung, das es weiter geht – irgendwie, die anderen sehen darin jedoch bloß eine weitere Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die fast unterirdischen Rangeleien all dieser Kontrahenten, die sieht man nicht – oder höchstens, wenn sie Transparente raushängen – ‚Für eine Umgehungsstraße‘ oder ‚Gegen ein Rieseneinkaufscenter‘. Und das sind nur die sozusagen politischen Bewegungen. Die wirtschaftlichen, die damit gelegentlich verquickt sind, die sieht man noch weniger, obwohl oder weil sie tagtäglich stattfinden – und zwar bei einigen nicht selten bis zum ‚Burnout‘.“
Die Dame hat recht: Im Oberlausitzer Kurier finden wir wenig später nicht weniger als acht Annoncen von „Therapeuten für Burn Out in Zittau“.
Alle Photos, auch die noch fehlenden: Katrin Eissing
Und hier müssen außerdem noch einige fehlende See-Geschichten aus dem Umland nachgereicht werden:
Der Wandlitzer See, in dessen Nähe sich die gated community der DDR-Führungsspitze befand, wurde laut Wikipedia um 1830 aus dem Besitz der preußischen Adligen an Privatkäufer veräußert. Diese nutzten seinen Fischreichtum und das Schilf des Sees, ansonsten konnte lange Zeit unentgeltlich gefischt und geangelt werden. Vom Fischfang ernährten sich auch zahlreiche Familien des Dorfes. Außerdem war jede Art von Sport wie Schwimmen, Tauchen, Rudern oder Segeln möglich. Mit dem Wachstum des Ausflugsverkehrs aus der Großstadt Berlin verkehrten sogar motorisierte Ausflugsschiffe auf dem See, wie eine historische Ansichtskarten von 1910 beweist. Am Nordostufer des Sees entstand durch die ab 1900 einsetzende rege Bautätigkeit der neue Ortsteil Wandlitzsee. Eine Seepromenade lud die Berliner zur Erholung ein, auch ein Seebad wurde 1923 eröffnet. Zu dieser Zeit wurde Wandlitz Kurort.
Unmittelbar im Bereich des alten Dorfkerns entstand am Ufer des Sees eine kleine nicht bewirtschaftete Badestelle, um die sich der eigens gegründete Verein Illvera 1929 kümmerte.
Nach WKZwo wurden die Seebesitzer enteignet und das Gewässer kam in den Besitz der Berliner Forsten, wo es bis zu seinem Verkauf im Jahr 2003 verblieb. Bei Gründung der DDR war der See damit Volkseigentum.
Die Wende brachte auch für den Wandlitzer See einen großen Umbruch: das alte Strandbad mit dem angeschlossenen ehemaligen Strandcasino wurde für 2,5 Millionen Euro total umgebaut – unter anderem erhielt die Badeanstalt 1998/99 einen neuen Steg und einen modernen Sprungturm – und das Strandcasino wurde verpachtet. Unter dem alten Namen Strandrestaurant erwartet es nun wie eh und je die Ausflügler.
Der Einigungsvertrag sah für volkseigene Seen einen Eigentumsübergang an den Bund vor. Und dieser wurde zur Privatisierung der unter anderem rund 300 Seen in Brandenburg verpflichtet.
So führte die bundeseigene Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) deutschlandweite Verkaufsausschreibungen durch und ein Mindestgebot wurde festgelegt (420.000 Euro). Die Immobilienfirma Teutonia mit dem Düsseldorfer Rechtsanwalt Werner Becker erwarb den Wandlitzer See daraufhin im Jahr 2003. Der Gemeinde Wandlitz (damals nur der heutige Ortsteil Wandlitz) hatte man zwar ein Vorkaufsrecht eingeräumt, das Eigenkapital und Privatspenden erbrachten jedoch nicht die geforderte Mindestsumme. Weil die weitere öffentliche Nutzung des Sees durch das Strandbad, durch freie Uferwege und durch den nichtmotorisierten Wassersport im Verkaufsvertrag festgeschrieben wurden, unterstützte auch das Land die Kaufbemühungen der Gemeinde nicht.Becker versprach die weiteren Nutzungen unter Einhaltung des Brandenburgischen Wassergesetzes: „Eingriffe in die derzeitige Nutzung des Sees sind nicht beabsichtigt.“
Allerdings kamen die neuen Besitzer auf ein einträgliches Geschäft, nachdem sie eigens die Wandlitzsee-Aktiengesellschaft gegründet hatten: Jeder Besitzer eines Bade- oder Bootssteges am See sollte Aktien kaufen oder eine jährliche Miete zahlen (z. B. für den Steg der Badeanstalt wurde eine Jahrespacht von 10.000 Euro gefordert, für einen normalen Steg bis zu 30 m Länge sollten bis zu 100 sogenannte Vorzugsaktien zu je 75 € erworben werden). Im Jahr 2004 gab es rund 120 Stegbesitzer am Wandlitzer See. Sechs Grundstücksbesitzer machten von diesem Angebot Gebrauch. Für die Stege der Badeanstalt kam es nach einem Rechtsstreit im Jahr 2005 zu einem Vergleich: Gegen Einmalzahlung von 50.000 Euro und einer Nutzungsentschädigung für zweimal 10.000 Euro wurde die Dauernutzung im Grundbuch fixiert.Nach Auskunft von Anwohnern ist auch bei Entnahme von Wasser aus dem See eine Zahlung an den Eigentümer fällig. Die früher häufig benutzten Hauswasserwerke, die Wasser aus dem See pumpten und filtrierten, sind damit unwirtschaftlich und stillgelegt worden.Darüber hinaus erhebt die Wandlitzsee AG Anspruch auf einen etwa 30 Meter breiten Uferstreifen, der aus der rückläufigen Wasserfläche des Sees resultiert. Als Verkaufsgrundlage dienten die Vermessungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts.Ausführlicher wird die Privatisierung des Wandlitzer Sees in einer fünfteiligen Fortsetzung der Zeit-online mit dem Titel „Die Seeschlacht“ im Juni 2011 dargestellt.
In Potsdam kam es in den letzten Jahren zu einer Seewegschlacht – am Griebnitzsee und am Großglienicker See. Der Tagesspiegel berichtete im November 2011:
Potsdam enteignet Besitzer von Privatgrundstücken
Nach jahrelangem Streit zwischen der Stadt Potsdam und Grundstücksbesitzern am Groß Glienicker See hat die Stadtverordnetenversammlung die Enteignung beschlossen. Ein Report von der erbittert umkämpften Konfliktzone Uferweg.
Hinter den noblen Fassaden herrscht Wut. Am Mittwochabend hat sich die Stadtverordnetenversammlung in Potsdam mit großer Mehrheit für Enteignungen am Groß Glienicker See ausgesprochen. Die von den Enteignungsplänen Betroffenen kündigen bereits Klage dagegen an. Ein Anlieger, der den Uferweg auf seinem Grundstück für die Öffentlichkeit gesperrt hat, sagte Morgenpost Online: „Meine Frau und ich sind uns einig: Wir werden unser Recht bis zur letzten Instanz durchfechten.“ Der Villenbesitzer, der zur Jahrtausendwende aus Berlin nach Groß Glienicke gezogen ist, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Stadt. Er bittet darum, dass sein Name nicht im Internet erscheint.
Seit mehrere Anwohner wie am Griebnitzsee ihren Teil des Uferwegs für die Spaziergänger und Radfahrer gesperrt haben, kam es immer wieder zu Attacken. Manche Villenbesitzer erhielten Drohungen oder wurden sogar körperlich angegriffen. Um den von ihr vorgesehenen Uferweg am Groß Glienicker See durchzusetzen, will die Stadt noch im November für 41 Grundstücke entlang des Ufers beim Brandenburger Innenministerium die Enteignung beantragen. Betroffen sind 26 private Eigentümer, es geht aber auch um 15 Grundstücke des Bundes, verwaltet von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Wie am Griebnitzsee haben auch in Groß Glienicke Anwohner den jahrelang öffentlich genutzten Spazier- und Radweg gesperrt. Hier gibt es aber einen gültigen Bebauungsplan.
Dass die Stadt nun ernst macht mit den Enteignungen, überrascht die betroffenen Anwohner nicht. Dennoch sind sie wütend. „Wir sind nur wenige und unsere Position ist nicht populär, aber es gelten in diesem Staat dennoch Eigentumsrechte“, sagt der Anlieger, der aus Westberlin an den See gezogen ist.
Über das Kaufangebot der Stadt lächeln die Grundstückseigentümer nur. „Wer akzeptiert in Deutschland acht Euro für ein Wassergrundstück?“ so der Anlieger. „Wir warten ab, wie das Innenministerium mit dem Antrag der Stadt auf Enteignung verfährt“, sagt er. „Notfalls werden wir alle juristisch zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausschöpfen.“ Das schließe sogar den Europäischen Gerichtshof ein. Selbst die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, deren Grundstücke die Stadt auch haben möchte, hat mit Verweis auf ihr Wirtschaftlichkeitsgebot erklärt, dass sie das Kaufangebot der Stadt nicht annehmen könne. Es sei ein Markt für Ufergrundstücke entstanden. Private Interessenten wollen zum Teil höhere Kaufangebote abgeben. Die Bima will bald ein Ufergrundstück an private Interessenten veräußern. Oberbürgermeister Jann Jakobs vertritt die Auffassung, dass der Landeshauptstadt Vorkaufsrechte zustehen.
Über das Kaufangebot der Stadt lächeln die Grundstückseigentümer nur. „Wer akzeptiert in Deutschland acht Euro für ein Wassergrundstück?“ so der Anlieger. „Wir warten ab, wie das Innenministerium mit dem Antrag der Stadt auf Enteignung verfährt“, sagt er. „Notfalls werden wir alle juristisch zur Verfügung stehenden Rechtsmittel ausschöpfen.“ Das schließe sogar den Europäischen Gerichtshof ein. Selbst die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, deren Grundstücke die Stadt auch haben möchte, hat mit Verweis auf ihr Wirtschaftlichkeitsgebot erklärt, dass sie das Kaufangebot der Stadt nicht annehmen könne. Es sei ein Markt für Ufergrundstücke entstanden. Private Interessenten wollen zum Teil höhere Kaufangebote abgeben. Die Bima will bald ein Ufergrundstück an private Interessenten veräußern. Oberbürgermeister Jann Jakobs vertritt die Auffassung, dass der Landeshauptstadt Vorkaufsrechte zustehen.
Viele Bürger begrüßen den Enteignungs-Beschluss. Karin Langmesser zum Beispiel. Die Sprachdozentin, die vor einem Jahr hier herzog, sagt: „Ich bin erleichtert, dass sich die Stadt durchgerungen hat.“ Für sie ist es „unverhältnismäßig, aus egoistischen Gründen den Weg am See zu sperren“. Eine andere Neu-Bürgerin, Romy Streitenberger, sagt: „Ich fände es schön, wenn man mit dem Fahrrad um den See fahren könnte.“
Ende Mai 2013 berichtete der Tagesspiegel noch einmal über den Stand der Privatisierungs-Auseinandersetzungen an den Brandenburgischen Seen:
Brandenburg hat vom Bund viele Gewässer gekauft, um deren Privatisierung zu verhindern. Aber wie soll es nun weitergehen? Naturschützer, Fischer, Angler und der Städte- und Gemeindebund streiten darüber. Der Streit entzündet sich an einem Vorschlag vom Geschäftsführer des Bundes.
Eine Pleite wie beim Wandlitzer See wollte man nicht noch einmal erleben. 2003 wurde der Badesee von der bundeseigenen Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) für eine Mindestgebot von 420 000 Euro zum Verkauf ausgeschrieben. Weil die Gemeinde Wandlitz (Barnim) das Geld nicht aufbringen konnte, erhielt ein Düsseldorfer Rechtsanwalt den Zuschlag. Fortan wurden für die Seenutzung Gebühren verlangt.
Um weitere Privatisierungen zu verhindern, hat Brandenburg 2012 von der BVVG 65 Seen für 3,74 Millionen Euro gekauft. Doch über deren Zukunft ist ein Streit entbrannt: Fischer, Angler und der Städte- und Gemeindebund planen „Privatisierung durch die Hintertür“, behaupten Naturschützer.
Die Beschuldigten wiederum fürchten um Nutzungsrechte, sollten 14 Seen wie geplant dem landeseigenen Naturschutzfonds unterstellt werden. Der Streit entzündet sich an einem Vorschlag, den Karl-Ludwig Böttcher, Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes Brandenburg, Ende April auf den Tisch gelegt hatte: Alle Seen sollten einer privatrechtlichen Stiftung unter Federführung des Fischerei- und des Anglerverbandes sowie des Städte- und Gemeindebundes übertragen werden. „Nur so können die öffentliche Zugänglichkeit und die Rechte der Gemeinden für alle Seen gewahrt werden“, findet Böttcher.
Die Stiftungsidee stellt bisherige Pläne auf den Kopf. Erst vor wenigen Tagen hatte Finanzminister Helmuth Markov (Linke) erklärt, geplant sei, 45 Seen anliegenden Kommunen unentgeltlich zu übertragen, sechs Gewässer unter Aufsicht der Forste zu stellen und 14 der Stiftung Naturschutzfonds zu übergeben. Vorsitzende des Stiftungsrates ist Umweltministerin Anita Tack (Linke). „Da sind wir natürlich hellhörig geworden. Wir wollen keine Abschottung zu Naturschutzzwecken“, sagt Böttcher. Die Stiftungsidee habe man bereits einigen Bürgermeistern, aber auch Infrastrukturminister Jörg Vogelsänger und Ministerpräsident Matthias Platzeck (beide SPD) vorgestellt. Alle hätten sich aufgeschlossen gezeigt.
Naturschützer aber warnen, eine Übertragung an eine privatrechtliche Stiftung widersprächen einem Landtagsbeschluss vom August 2012. Dieser stehe unter der Überschrift „Seen in öffentlicher Hand – Gemeinwohlbelange gesichert“, hatte der Landesvorsitzende des Naturschutzbundes, Friedhelm Schmitz-Jersch, auf Böttchers Vorschlag gekontert. Trotz Naturschutz seien Angelsport, Fischerei und Tourismus weiter möglich – unter Vorbehalt naturschutzrechtlicher Vorgaben. Ausgeschlossen seien etwa der Besatz der Gewässer mit Fischen, die nicht in den Lebensraum passen, das Anfüttern von Fischen oder das Verwenden von Fanggeräten, in denen geschützte Tiere wie Biber zu Tode kommen könnten, zählt Bernhard Schmidt-Ruhe, Geschäftsführer des Naturschutzfonds, auf. Auch Fischfresser wie Fischotter und Kormorane müssten geduldet werden.
Auch Fischer und Angler seien quasi Naturschützer, meint Lars Dettmann, Chef des Landesfischereiverbandes. „Wir leben von intakten Gewässern, sind also gezwungen, sie nachhaltig zu bewirtschaften.“ Den Vorwurf einer Privatisierung durch die Hintertür findet er unfair.
Eine Verpflichtung, die Seen bei der öffentlichen Hand zu halten, gibt es im Landtagsbeschluss nicht. Es heißt lediglich: Die Frage der Eigentumsübertragung dürfe nicht „Gegenstand ideologisch geprägter Betrachtungen werden, in der Nutzergruppen von vornherein grundsätzlich ausgeschlossen oder alleinig bevorzugt werden“. Bei einigen Abgeordneten kommt Böttchers Modell gut an. So hat Dieter Dombrowski, CDU-Fraktionschef, Unterstützung signalisiert.
SPD-Umweltexpertin Martina Gregor Ness ist so eine Lösung lieber, als das Seenpaket weiter zu zerlegen. Denn noch ist nicht klar, wie viele Kommunen Interesse an einem See haben. Schließlich ist das Eigentum mit Kosten verbunden. „Bislang liegen rund ein Dutzend Anträge auf Übernahme vor“, heißt es im Finanzministerium. Sei eine Kommune nicht interessiert, werde der See anderen möglichen Nutzern angeboten – Anglern oder Fischern.
Das Greenpeace-Magazin berichtete über den Mellensee:
In Ostdeutschland werden seit Jahren Badeseen privatisiert und an Investoren verkauft. Meist bitten die neuen Besitzer Anlieger und Nutzer danach kräftig zur Kasse. In Brandenburg jedoch will sich der kleine Ort Am Mellensee den Ausverkauf seines Wahrzeichens nicht gefallen lassen. Der Protest zeigt Wirkung…
Opa, Opa!“, ruft der kleine Philipp und stürmt auf Jochen Oehler zu, der im Schatten eines Apfelbaumes sitzt. Der Vierjährige fällt seinem Großvater in die Arme, reißt sich aber gleich wieder los. „Wir gehen paddeln!“, ruft der Junge. Er will raus auf den Mellensee, mit seinen Eltern. Vom Garten der Oehlers sind es nur wenige Meter bis zum Ufer.
Als Jochen Oehler so alt war wie sein Enkel heute, ist er auch durch diesen Garten gerannt, vorbei an den Obstbäumen, über die Feuchtwiese und hinüber zum Stichkanal, der das Grundstück mit dem See verbindet. „Im Sommer“, erinnert sich Oehler, „kauerte ich oft stundenlang auf dem Steg und schaute Dreistacheligen Stichlingen beim Nestbau zu.“ Die Tiere und Pflanzen im Garten und drüben am See haben Oehler schon immer fasziniert.
Inzwischen ist Oehler 66 Jahre alt und Professor für Verhaltensbiologie. Er lehrt und forscht an der Technischen Uni Dresden. „Ich bin geprägt von diesem Grundstück, von dieser Landschaft“, sagt Oehler. Noch heute fährt er mit seiner Frau jeden Freitag die 170 Kilometer aus Sachsen hierher, um das Wochenende am See zu verbringen. Der Mellensee, eine Oase in der brandenburgischen Steppe, ist seine Heimat – doch Jochen Oehlers Heimat soll nun verkauft werden. Das ist der Plan der Bodenverwertungs- und
-verwaltungs GmbH (BVVG).
Der Staatsbetrieb mit dem sperrigen Namen privatisiert ehemals volkseigene Äcker, Wälder und Seen in den neuen Bundesländern. Bisher wurden rund 14.000 Hektar Seen und Teiche „verwertet“, wie es im Fachjargon heißt. 15 Millionen Euro flossen auf diese Weise in die Staatskasse. Weitere 15.000 Hektar, darunter der 270 Hektar große Mellensee, sollen noch verkauft werden. So will es das Treuhandgesetz.
Ein reicher Spekulant kauft den See – für Oehler eine schreckliche Vorstellung. Erst vor zehn Jahren hat er mit einer Handvoll engagierter Nachbarn den Verein „pro Mellensee“ gegründet. Unser See soll schöner werden – so lässt sich das Ziel des Vereins beschreiben: Mit wenig Geld und viel Einsatz legen die Mitglieder Wanderpfade an, basteln Schautafeln und suchen nach Wegen, die Wasserqualität zu verbessern. „Dass unser See ver-kauft werden soll, wurde uns erst vor zwei Jahren klar“, erzählt der Fischer Jochen Gebauer, der seit 37 Jahren in Mellensee lebt und wie Oehler zum Vorstand des Vereins gehört.
Zusammen mit der Gemeinde wollte der Verein am Nordufer einen Steg bauen. „Die Fördermittel waren schon beantragt“, sagt Gebauer. „Doch die BVVG verweigerte uns die Genehmigung: Veränderungssperre, Antrag abgelehnt.“ Ein zukünftiger Käufer des Sees könnte ja etwas gegen den Steg haben. Ein Schock für den Verein und die Gemeinde: Schließlich hätte man dringend einen öffentlichen Steg gebraucht, an dem Kanu- und Kajakfahrer anlegen können. Dann, so hoffen sie hier, kämen endlich mehr Touristen in die strukturschwache Region.
Jochen Oehler wollte den drohenden Verkauf nicht akzeptieren. Im Namen von „pro Mellensee“ schrieb er Briefe an Landes- und Bundesministerien und bat die Politiker, den Ausverkauf der Seen zu stoppen. „Die Resonanz war erschreckend“, sagt Oehler heute. „Wir sind nicht der richtige Ansprechpartner,“ hieß es in einem Schreiben aus dem Ministerium von Wolfgang Tiefensee, der immerhin Regierungsbeauftragter für die neuen Bundesländer ist. „Wozu haben wir denn einen Ost-Minister“, fragt sich Oehler, „wenn er sich nicht um die Probleme der Menschen hier kümmert?“ Die restlichen Antworten lauteten sinngemäß meist so: Auch nach einer Privatisierung könnten die Bürger einen See ungehindert nutzen. Abgesehen vom Eigentümerwechsel bleibe alles beim Alten. Doch das wollen Jochen Oehler und Jochen Gebauer nicht glauben. „Wer kauft denn einen See?“, fragt sich Gebauer. „Und vor allem: warum?“
So manchem Investor geht es schlicht ums Geld: Vor zwei Jahren etwa wurde der Wolziger See versteigert, er liegt nur wenige Minuten vom Mellensee entfernt. Den Zuschlag erhielt für 167.000 Euro damals ein Privatmann, der laut Gebauer die Pacht für die Fischereirechte umgehend verdreifachte. Doch das war dem Neueigentümer offenbar nicht genug: „Mittlerweile hat er den See weiterverkauft“, sagt Gebauer. Innerhalb kurzer Zeit wurde ein öffentliches Gewässer zum Spekulationsobjekt. Am Mellensee haben die Menschen Angst, dass es bei ihnen ähnlich laufen könnte – oder noch schlimmer, wie 62 Kilometer weiter nördlich, am Wandlitzsee. Den machte die BVVG vor sechs Jahren zu Geld. Sie forderte 450.000 Euro von der Kommune. Zuviel, zumal der Landkreis eine Kreditaufnahme untersagte. Wozu auch? Schließlich ändere ein Verkauf nichts, dachten damals alle. „Eine klassische Fehleinschätzung“, sagt Udo Tiepelmann heute.
Den Zuschlag bekam der Düsseldorfer Anwalt Werner Becker. Seither ist rund um den See nichts mehr, wie es einmal war.
Zur Erklärung ruft der Wandlitzer Bürgermeister – Schnauzbart, Brille, kurzärmliges Hemd – am Computer ein Luftbild des Wandlitzsees auf. Darin eingezeichnet sind die Grenzen der anliegenden Grundstücke. „Hier ist die Flurstücksgrenze“, sagt Tiepelmann und fährt mit der Maus über eine schwarze Linie, die ein Seegrundstück begrenzt. Dann überquert der Zeiger eine rot schraffierte Fläche, ehe er das Blau des Sees erreicht: „Und dazwischen ist Land!“ Seit der letzten amtlichen Vermessung im Jahr 1906 sei der See – wie die meisten stehenden Gewässer in Brandenburg – stark verlandet. „Und das ist fast am gesamten Ufer so“, sagt Tiepelmann, während er auf das Luftbild schaut: Rund um den See erkennt man eine rot schraffierte Pufferzone: Sie ist eine No-Go-Area für die Anlieger und eine Goldgrube für Werner Becker. Denn wer weiterhin von seinem Grundstück ans Wasser wollte, musste er den Uferstreifen abkaufen. Je nach Größe der Verlandungsfläche kassierte Becker bis zu 50.000 Euro. „Und das ist noch immer der Fall“, sagt Tiepelmann.
Werner Becker hatte sich den See ursprünglich als Altersruhesitz zulegen wollen. „Andere kaufen sich einen Ferrari, ich habe mir einen See gekauft“, sagt er. Doch jetzt freut er sich über die guten Geschäfte: „Die Investition habe ich schon lange wieder drin“, gibt er ohne Zögern zu. Zudem bat Becker auch die Gemeinde zur Kasse: Für das Ufer und den Steg des öffentlichen Strandbades forderte er 150.000 Euro. „Wir haben schließlich einen Vergleich geschlossen“, sagt Tiepelmann leise. Mit den Jahren scheint er seinen Ärger unter Kontrolle zu haben. 60.000 Euro flossen von Wandlitz nach Düsseldorf. Was Tiepelmann nur ungern erzählt: Die Gemeinde musste dem Düsseldorfer Anwalt zudem eines der raren Seegrundstücke abtreten. „Allerdings zum Marktpreis“, betont der Bürgermeister.
Beckers noch unbebautes Grundstück liegt am Nordostufer, direkt neben dem Badeverein Illvera. Der Verein pachtete hier ein winziges Grundstück von der Gemeinde. So können auch Anwohner, die nicht direkt am See wohnen, schwimmen gehen. Auf dem Vereinsgelände stehen hohe Bäume über Rhododendren und saftigem Gras, ein schmaler Steg führt durch den Schilfgürtel in den See, durch dessen Wasser kleine, graurote Fische gleiten. Am Ufer patrouillieren Libellen, ein Blesshuhn paddelt vorüber.
Der ehemalige Vereinsvorsitzende Ulrich Bergmann, 68, steht im Schatten der Bäume und blickt aufs Wasser. Der Frauenarzt ist ein schwerer Mann mit grauem Vollbart – Alter und Gewicht haben Spuren an seinen Hüft- und Kniegelenken hinterlassen. Mit schweren Schritten umrundet er einen Schuppen und zeigt auf einen rosafarbenen Holzpflock im Gras. „Das ist der Grenzpfosten, den Herr Becker eigenhändig eingeschlagen hat.“
Was folgte, hat den Verein zerrüttet. Becker hatte das Grundstück vermessen lassen. Auch hier gehörte die Hälfte ihm. Er versprach dem Verein zwar, man werde sich einigen. Doch dann wurde es kompliziert: Die Gemeinde kündigte den Pachtvertrag, da dieser nur noch für die halbe Fläche gelte. Der Verein schaltete Anwälte ein und spielte auf Zeit, um Becker den Uferstreifen abzukaufen. Doch der forderte, der Verein solle für die 220 Quadratmeter innerhalb von 14 Tagen 50.000 Euro zahlen, sonst erhalte jemand anderes den Zuschlag – der Badeverein bliebe ein Klub ohne Wasserzugang, eingekeilt zwischen Seepromenade und Spekulantengier.
Um den Klub zu retten, schlug Bergmann vor, jede Mitgliedsfamilie solle 500 Euro zahlen. Nur die Hälfte aber war dazu bereit. Die Zeit verrann, es musste eine Lösung her. Die Vereinsversammlung beschloss, die Umlage zu verdoppeln, wer nicht zahlt, würde ausgeschlossen. Von über 100 Familien beteiligten sich 58
– genug zwar, um Beckers Forderung zu begleichen, zu wenig allerdings, um den Vereinsfrieden zu retten. „Herr Becker ist ein cleverer Geschäftsmann“, sagt Bergmann sarkastisch. „Seine Gewinnmarge liegt bestimmt auf Ackermann-Niveau.“ Bergmann trat als Vorsitzender zurück.
Inzwischen streitet sich am Nordwestufer des Sees auch der Wandlitzer Segelclub mit Becker. Dessen neues Vereinsheim mit Veranda und rustikalen Tischen steht friedlich im Schatten von Kiefern. „Dieser Frieden ist in Gefahr“, sagt Peter Eisenach. Der Vereinsvorsitzende blickt durch seine getönte Brille auf einen Stapel Gerichtsakten: Becker zwang den Verein per einstweiliger Verfügung, Bootssteg und Slipanlage, mit der Boote ins Wasser gelassen werden, abzubauen. Beides stehe auf seinem Seegrundstück und sei ohne seine Genehmigung errichtet worden. Das Amtsgericht Bernau teilte Beckers Sicht. Nun müssen die Segler bis zu den Hüften durchs Wasser waten, bevor sie mit ihren Booten auf den See hinausfahren können. „Zum Rausziehen der Boote brauchen wir mindestens drei Mann“, sagt Eisenach.
Er hatte sich darauf verlassen, dass der Verpächter des Vereinsgeländes den Uferstreifen von Becker abkauft. Das Geschäft war schon eingeleitet, doch dann wollte Becker nicht mehr. „Als es um den Verkauf ging, war nie die Rede davon, dass hier ein Segelclub einzieht“, rechtfertigt er sich. Plötzlich standen Steg und Slipanlage im Schilfgürtel. „Ich lasse mich nicht verscheißern,“ sagt Becker. Seither reden beide Parteien nicht mehr miteinander.
Seit die Fehde mit Becker begonnen hat, ist die Zahl der Mitglieder von 80 auf knapp 50 gesunken. Es wird immer schwieriger, die laufenden Kosten zu decken. „Wir könnten die Beiträge erhöhen“, sagt Eisenach. „Aber wir wollen kein Schickimicki-Club werden.“ Hier trinken die Leute noch Sprudel und Berliner Pils aus der Flasche. „Doch wenn es nicht bald eine Einigung gibt, dann war’s das hier.“
Obwohl Werner Beckers Handeln juristisch einwandfrei ist und von mehreren Gerichten bestätigt wurde – soweit wie am Wandlitzsee will es die Gemeinde Am Mellensee bei sich nicht kommen lassen. Das sieht auch die BVVG so und verweist auf das kommunale Vorkaufsrecht und entsprechende Klauseln, die künftige Kaufverträge enthalten sollen. Mellensees Bürgermeister Frank Broshog mag daran nicht glauben: „Wie soll das mit den Klauseln denn funktionieren? Ein Investor will schließlich sein Geld wieder reinholen.“ Und was nützt einer überschuldeten Gemeinde schon das Vorkaufsrecht? Broshog, zwei Meter groß und gebaut wie ein Gewichtheber, fühlt sich machtlos: „Der Mellensee würde über 400.000 Euro kosten. Mit unserem Investitionsetat von 600.000 Euro könnten wir uns das niemals leisten.“ Das Geld benötigt er dringend für andere Dinge, für die Infrastruktur etwa, die DSL-Versorgung und den Ausbau der Kita-Plätze. „Die Leute hätten auch gar kein Verständnis dafür, dass die Gemeinde ihr knappes Geld für einen See ausgibt, der ohnehin schon dem Staat gehört“, erklärt Broshog. Das Ganze sei absurd, eine reine Umverteilung innerhalb des Staatshaushaltes von einer
Tasche in die andere.
Völlig verquer wurde die Situation am Mellensee aber erst letztlich vor gut einem Jahr: Das Bundesamt für offene Vermögensfragen entzog der BVVG die Zuständigkeit für den Mellensee. Er sei Teil einer Landeswasserstraße und folglich Eigentum des Landes Brandenburg. Dagegen hat die BVVG geklagt. Das Verfahren vor dem Berliner Verwaltungsgericht läuft seit
über einem Jahr, das Ende ist nicht abzusehen.
In ihr Schicksal fügen wollten sich Broshog und der Verein „pro Mellensee“ allerdings nicht. Sie sammelten tausende Unterschriften gegen die Seenprivatisierung und lieferten Lokalzeitungen bereitwillig Informationen und Interviews. Anfang April luden sie auch Brandenburger Bundestagsabgeordnete zur Diskussion ein. Quer durch die Parteien waren plötzlich alle einer Meinung: Der Seenverkauf muss gestoppt werden.
Als Ende Mai die Grünen im Bundestag dann beantragten, den Verkauf der Seen zu stoppen, wähnte der Verein sich fast am Ziel. „Doch die Parlamentsdebatte war ein Witz“, empört sich Jochen Oehler. „Der CDU-Abgeordnete sprach nur über geflutete Tagebaulöcher, und der von der SPD konnte sich an keinen See erinnern, dessen Privatisierung zum Problem wurde.“ Der Antrag der Grünen wurde am Ende deutlich abgelehnt.
Die Wende brachte dann eine Online-Petition, die der Brandenburger BUND-Vorsitzende Carsten Preuß initiiert hatte. Fast 29.000 Bürger forderten, den Verkauf der Seen zu stoppen und sie kostenlos den Ge-mein–den zu übertragen. Nun machte das Thema auch über-regional Schlagzeilen. Und als im August Journa-lis-ten vom „Heute-Journal“ in Mellensee drehten, entdeckten auch Spitzenpolitiker das Thema. Wolfgang Tiefensee ließ nun per Pressemitteilung verbreiten, er fordere einen Verkaufsstopp.
Für Jochen Oehler, dessen Briefe und Argumente über Jahre beiseite gewischt wurden, sind derartige Parolen keine Genugtuung. Was sind sie schon wert in Zeiten des Wahlkampfs? „Bislang sind das nur Solidaritätsbekundungen. Was fehlt, sind feste Zusagen.“ So lange die nicht vorliegen, werden Oehler, Gebauer und Broshog weiter um die Seen kämpfen.
Verwertet und verkauft
Sieben Fragen, sieben Antworten zur Privatisierung der Seen
Welche Gewässer werden privatisiert?
Grundsätzlich alle ostdeutschen Seen und Teiche, die während der Bodenreform 1945/46 verstaatlicht und in der DDR zu Volkseigentum wurden. Ausgenommen sind Gewässer, die Teil von Landeswasserstraßen sind oder überwiegend touristisch genutzt werden. Diese werden den Ländern beziehungsweise Kommunen kostenlos übertragen.
Wer verkauft diese Seen?
Die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG). Die bundeseigene
Gesellschaft wurde 1992 aus der Treuhandanstalt ausgegliedert, um landwirtschaftliche Flächen zu privatisieren. Sie hat rund 77 Mitarbeiter.
Wie viele Seen werden noch verkauft?
Bis Mitte 2009 hat die BVVG Gewässer mit einen Gesamtfläche von knapp
14.000 Hektar privatisiert. Gut ein Drittel ging an Naturschutzverbände. Die BVVG verwaltet noch gut 15.000 Hektar Gewässerfläche. 3000 Hektar werden der Stiftung Nationales Naturerbe übertragen, sodass in den kommenden Jahren noch rund 12.000 Hektar Seen und Teiche verkauft werden. Die betroffenen Gewässer liegen vor allem in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Derzeit stehen der
Fahrländer See (250 Hektar) in Potsdam und der Schulzensee (gut sechs Hektar)
bei Fürstenberg zum Verkauf.
Wie viel kostet ein See?
Die BVVG lässt Sachverständige den Wert bestimmen. Verkaufspreise liegen zwischen 400 und 6000 Euro pro Hektar. Die BVVG bietet einen See zuerst der Kommune an. Will oder kann sie den See nicht kaufen, darf der örtliche Fischer zugreifen.
Kauft auch er nicht, wird der See öffentlich ausgeschrieben. Bisher hat die BVVG
mit dem Verkauf von Seen schätzungsweise 15 Millionen Euro eingenommen.
Warum werden Seen den Kommunen nicht kostenlos übertragen oder
zu einem symbolischen Preis verkauft?
Laut BVVG ist sie durch das Treuhandgesetz und die Bundeshaushaltsordnung
verpflichtet, die Seen zu Marktpreisen zu verkaufen.
Kann ein Käufer das Baden im See verbieten?
Nein. Durch die Landeswassergesetze ist der sogenannte Gemeingebrauch garantiert: Jeder darf auch in einem privaten See schwimmen, darauf segeln und paddeln.
Er muss nur irgendwie ans Wasser kommen. Was nach einer Privatisierung schwierig werden kann: Der Käufer erwirbt die Gewässerfläche, die oftmals vor Jahrzehnten im Liegenschaftsbuch eingetragen wurde. Da laut BVVG viele Brandenburger Seen teilweise verlandet sind, muss man ehemalige Wasserflächen überqueren, um ans Ufer zu kommen. Und das kann der See-Eigentümer verbieten oder finanziell ausnutzen.
Und welche kommunalpolitischen Probleme gibt es zudem?
Die Gemeinde gibt ihre Gestaltungshoheit aus der Hand. Will sie zum Beispiel
eine Anlegestelle für Kanu- und Kajaktouristen bauen, muss der private
Eigentümer zustimmen.
Text: Philipp Jarke
Niederlausitz aktuell.de meldet:
Nach Protesten aus den neuen Bundesländern, insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, hatte sich die BVVG auf Initiative von SPD und Linke im August 2009 bereit erklärt, im Rahmen eines Moratoriums die weitere Privatisierung von Seen aus dem Treuhandvermögen vorerst einzustellen und Verhandlungen mit den Ländern aufzunehmen.
Brandenburg verfügt über rund 100.700 Hektar Gewässerfläche, davon rund 50.000 Hektar Seenfläche (3.200 Seen über fünf Hektar).
Quelle: Ministerium der Finanzen
Das Rostocker 0381-magazin.de schrieb 2009:
In Ostdeutschland wurden in den letzten 7 Jahren ca. 10.000 Hektar Seen an private Eigentümer verkauft. Insgesamt für 15 Millionen Euro. In den nächsten Jahren sollen 10.000 Hektar folgen.
Eine Privatisierung der Gewässer kann für die Allgemeinheit vieles bedeuten. Wenn der Besitzer eines Sees vielleicht nur an den Fischereirechten interessiert ist, ändert sich für die Anlieger oder Badebesucher nicht viel. Sie könnten den See weiterhin uneingeschränkt zum Baden, Spazierengehen oder für den Wassersport nutzen.
Dass es leider aber auch andere Beispiele gibt, zeigt der Wandlitzsee bei Berlin. Nachdem der See an einen Düsseldorfer Anwalt durch die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) verkauft wurde, versprach der zunächst, in die Nutzung des Gewässers nicht eingreifen zu wollen. Was er jedoch verlangte war Geld – und zwar von den Anliegern, deren Stege in sein Eigentum – das Wasser – ragten. Viele, so auch die Gemeinde, die am See ein Strandbad betrieb, hatten keine Lust auf einen Rechtsstreit und zahlten.
Momentan gibt es Bestrebungen, den Mellensee bei Zossen im Kreis Teltow-Fläming zu verkaufen. Um dies zu verhindern und um eine gesetzliche Regelung zu erlangen, die Seen kostenlos an Kommunen und Länder zu übergeben, wurde eine Petition auf die Internet-Seite des Bundestages gestellt. Initiator ist Carsten Preuß, Fraktionschef der Linken im Zossener Stadtparlament. Unterstützung erhält er allen Seiten – CDU, SPD, der Piratenpartei, Naturschützern und vielen Anderen.
Im Mai 2013 fand eine „Fachtagung“ zum Problem der Seen-Privatisierung in Potsdam statt, auf der Internetseite der Grünen Liga heißt es dazu:
Im August 2012 einigte sich das Land Brandenburg mit der BVVG über den Kauf von 65 Seen. Zuvor hatte es Proteste gegen den Verkauf von Seen an private Käufer gegeben. 120.000 Bürger unterstützten 2009 eine Petition an den Deutschen Bundestag, die Gewässer an Gemeinden, Städte, Kreise oder Länder zu übertragen.
Im Januar 2013 stimmte die Landesregierung Brandenburg dem Kauf eines ersten „Seenpaketes“ zu. Insgesamt 3,74 Millionen Euro stellt das Land dafür zur Verfügung. Über weitere 36 Seen wird derzeit mit der BVVG verhandelt.
Wie soll es mit den Seen nun weitergehen? Welche Lösungen für die Trägerschaft und die Nutzung werden angestrebt? Die ReferentInnen der Fachtagung werden sich mit diesen Fragen auseinandersetzen…
Was daraus wurde, wird man später erfahren – erst einmal ist „Sommerpause“, mindestens bei der Seen-Berichterstattung.
Photo: Galerie Wandmalerei