Falkland-Karakara
1. Ameisen
Die staatenbildenden Insekten hatten schon den „ersten Naturforscher“ Aristoteles an die „Demokratie“ erinnert. Seitdem mußten sie nacheinander als Beispiele für Tyrannenherrschaft, Monarchie, Republik, Kommunismus, Faschismus, Maoismus usw. herhalten. Der Kulturwissenschaftler Niels Werber schreibt in: „Ameisengesellschaften“ 2013: „Von den Wissenschaften, in der Literatur, in den Medien wird notorisch der Eindruck erweckt, die Erforschung sozialer Insekten betreffe stets auch den Menschen und seine Gesellschaft.“ Der nationalsozialistische Staatsrechtler Carl Schmitt war sich mit dem sozialdarwinistischen Insektenforscher Karl Escherich, dazumal Rektor der Münchener Universität, einig: „Sowohl der Menschen- als auch der Insektenstaat muß sich darauf einstellen, dass seine Bürger ganz im Sinne eines ’survival of the fittest‘ der Einzelnen eher ihren eigenen Nutzen zu mehren suchen, als dem Gemeinwohl zu dienen.“ Ein Ameisenstaat kann „nie ein Rechtsstaat sein,“ die sozialen Insekten haben das Problem biologisch gelöst. Und die Nazis machten sich anheischig, es ihnen nachzutun. Escherich lehrte 1934: „Das oberste Gesetz des nationalsozialistischen Staates ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ ist im Insektenstaat bis in die letzte Konsequenz verwirklicht.“ Dieser „Totalstaat reinster Prägung“ ist bei den Menschen „bisher noch nicht erreicht.“ Nämlich wegen des leidigen „Individualismus“, den auch Carl Schmitt für „unsozial“ und „gefährlich“ hielt und der „verschwinden“ müsse. Schmitt gelangte damit zu einer „speziesübergreifenden Soziologie“, in der die „Gesellschaft“, als „schwirrende, unorganisierte Masse“, dem „Staat“ als eine ebenso umfassende wie feste Einheit entgegengesetzt wird.
Der vor etwa 50 Jahren in den USA entstandenen „Soziobiologie“ geht es nach wie vor um das vergleichbare Sozialverhalten von Ameisen und Menschen. Niels Werbers „Faszinationsgeschichte“ beginnt mit einem Dialog zwischen dem ehemaligen „Disney“-Chef Michael Eisner und dem „Microsoft“-Gründer Bill Gates, die in der Comicserie „Family Guy“ mit einem Jet-Pack über eine Großstadt fliegen: „Die Leute sehen wie Ameisen aus von hier oben,“ bemerkt Eisner, Gates korrigiert ihn: „Nein Michael, es sind Ameisen.“ Die Mathematiker entwickelten inzwischen „Ant-Algorithmen“, die in der Logistik, der Kriegsführung usw. zum Einsatz kommen. Wenn „Amazon“ Bücher mit der Bemerkung empfiehlt, „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben… kauften auch…“, dann war da ein solcher „Ameisenalgorithmus“ am Werk, den der Konzern so weiterentwickeln will, dass er Waren auswählt, die einem derart gut gefallen könnten, dass Amazon sie sogleich zustellt – ohne dass man sie bestellt hat.
Die heutigen „Ameisenpäpste“, die Soziobiologen Edward O. Wilson und Bert Hölldopler, sagen Sätze wie „Ameisen wie Menschen haben die Fähigkeit zum äußersten Opfer“. Sie erforschten u.a. afrikanische „Weberameisen“, deren Kolonie sich auf mehrere Baumnester verteilt, die sie mit Darwin als einen „Superorganismus“ begreifen. Ihre Nester bauen sie aus Blättern, die sie vereint umbiegen und dann ihre Larven packen, sie zur Ausscheidung von Seide veranlassen und damit die Blätter vernähen. Bei den „Blattschneiderameisen“, die sich von einem Pilz ernähren, den sie in ihren riesigen unteirdischen Bauten mit zerkauten Blättern füttern, gibt es neben den „Kasten“ Arbeiterinnen, Königin und Männchen noch Soldatinnen, die besonders groß und wehrhaft sind. Bei den „Stöpselkopfameisen“, der einzigen hier lebenden Ameisenart mit einer Soldaten-Kaste, haben diese einen so dicken und harten Kopf, dass sie damit bei Gefahr die Nesteingänge verstöpseln können.
Es gibt etwa 13.000 Ameisenarten, in Europa leben 200. Bei etlichen haben die Arbeiterinnen keine Eierstöcke mehr. Der Frankfurter Zoodirektor Dr. Grzimek kritisierte einmal im Fernsehen einen US-Film, der von „Horrorameisen“ handelte, die alles Lebendige niedermachen: So etwas sei unmöglich, der Regisseur habe aus zwei verschiedenen Arten – „Blattschneiderameisen“ und „Treiberameisen“ – eine gemacht. Dadurch würden die nützlichen Ameisen in Verruf geraten. Inzwischen gibt es „Ameisenschutzwarte“ und einen „Ameisen-Wiki“, auf dem man neue Forschungsergebnisse findet, z.B. über die Bakteriensymbiosen im Darm von Ameisen; oder über eine Ameisenart, bei der die Verpaarung – zwischen Männchen und Arbeiterinnen mit entwickelten Geschlechtsorganen – oft tödlich ist, weil sie nicht mehr voneinander loskommen.
Ameisen bilden eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen aus, von nomadischen „Jägern“ über „Sammler“ und „Vieh-“ bzw. „Pilzzüchter“, daneben gibt es „sozialparasitäre Ameisenarten“, die „Sklaverei“ betreiben, indem sie Ameisenlarven anderer Arten entführen und später für sich arbeiten lassen oder indem die Weibchen bei einer anderen Art einwandern und ihre Nachkommen von diesen aufziehen lassen. Wieder andere Arten haben sich für die Vermehrung durch Bildung von Tochterkolonien „entschieden“. Der Bienenforscher Jürgen Tautz hält diese „Nesterteilung“ für „eine im Tierreich seltene extravagante Strategie.“ Derart breitet sich z.B. die „Pharaoameise“ aus, deren Populationen bis zu 300.000 Tiere umfassen kann. Sie ist aus dem Orient eingewandert, weil sie hier nicht im Freien überleben kann, baut sie ihre Nester fast immer an oder in Häuser. Sie wird als Schädling verfolgt; in Hospitälern und in Computern kann diese kleinste Art großen Schaden anrichten. Bert Hölldopler berichtete: „An der Harvard University musste einmal sogar der Bau eines Hochsicherheitslabors zur Genmanipulation gestoppt werden, weil das Gebäude von Pharaoameisen befallen war. Man fürchtete, dass die Tiere durch die elektrischen Leitungskanäle dringen und dann genmanipulierte Bakterien hinausschleppen könnten.“
In den USA ist die aus Brasilien eingeschleppte „Feuerameise“ eine Plage, der sich mehrere Forschungsinstitute widmen, um sie zu bekämpfen – bisher erfolglos, deswegen auch ihr Name: „Solenopsis invicta“ – die Unbesiegte. Man setzte sogar Kampfbomber ein, die Insektizide versprühten, zuletzt eine winzige Buckelfliege, die auf Feuerameisen aus ist und ihrer Duftspur folgt, um ein Ei in sie zu injizieren. Ihre Larve frißt sich durch den Körper bis in den Kopf, wo sie sich verpuppt und dann durch den zuvor entfernten Schädel ins Freie fliegt. Die Feuerameise dehnt sich mit ihren Kolonien über große Gebiete aus und verdrängt alle anderen Ameisenarten, ihr Biß ist sehr schmerzhaft.
Die hiesige „Rote Waldameise“ gilt dagegen als nützlich, weil sie Waldschädlinge, wie Raupen, vertilgt. Daneben mag sie aber auch die süßen Ausscheidungen der Blattläuse, die sie richtiggehend „melkt“ – und hütet. In den Tropen gibt es einige Arten, die auf ähnliche Weise von einem Baum versorgt werden, der süßen Saft ausscheidet, und den sie durch Besiedlung vor seinen Feinden schützen. Die Art Pseudomyrmex ferrogineus wird durch den Saft ihres Akazienbaumes abhängig von ihm. Als eine der schlimmsten invasiven Arten gilt die „Argentinische Ameise“, die es inzwischen überall gibt, gern in Menschennähe. Ihre größte Kolonie befindet sich an der Mittelmeerküste, wo diese sich 2007 bereits über 6000 Kilometer erstreckte. Man spricht dabei von „Superkolonien“, was anscheinend die Steigerung von „Superorganismus“ ist. Es ist höchste Zeit, die Ameisenforschung endlich zu entnazifizieren, d.h. die Gesellschaftsforschung zu entbiologisieren.
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Blauohrhonigfresser-Paar
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2. Ameisenbär und Erdferkel
Die beiden Tiere haben vieles gemeinsam: Sowohl der in Südamerika lebende Ameisenbär als auch das afrikanische Erdferkel leben von „staatenbildenden Insekten“. Ersterer leckt mit seiner 60 Zentimeter langen Zunge bis zu 30.000 dieser Insekten am Tag auf, letzterer bricht mit seiner Schnauze ihre Nester und Bauten auf.
Die Erdferkel wurden wegen ihrer Nahrungsvorliebe zunächst zu den Ameisenbären gezählt, ihr Erstbeschreiber 1766 war der russische Naturforscher Peter Simon Pallas. Im Alter bezog er ein Haus in der Kreuzberger Friedrichstrasse, dort, wo jetzt die taz ihr Redaktionsgebäude errichtet, das aber nur nebenbei.
Inzwischen gilt das Erdferkel als einzige Art in der Ordnung der „Röhrenzähner“, und der Große Ameisenbär ist eine von vier Arten in der Ordnung der „Zahnarmen“. Dieser ist stark behaart hat einen langen buschigen Schwanz, in den er sich zum Schlafen einringelt; jener ist fast nackt, sein Schwanz ist fleischig und er gräbt sich Erdhöhlen, dazu dienen ihm seine grabschaufelähnlichen Vorder- und Hinterfüße. Der Ameisenbär hat eine lange nach vorne dünner werdende Schnauze, das Erdferkel eine eher kurze, die sich vorne verdickt. Der eine ist am Tag unterwegs und der andere Nachts. Beide sind Einzelgänger mit großen Revieren. Zwar sind sie nicht miteinander verwandt, aber beide zählen zu den ganz wenigen Säugetieren, die sich vor allem von Ameisen und Termiten ernähren.
Über den Ameisenbär erfährt man hierzulande vor allem dank seiner witzigen Erforscherin Dr. Lydia Möcklinghoff, die alljährlich ins brasilianische Überschwemmungsgebiet Pantanal fährt, wo sie mit Machete, GPS, Bewegungskameras und sportlichem Durchhaltevermögen Feldforschung betreibt, um unser Wissen über Ameisenbären zu mehren. In ihrem letzten Buch „Die Supernasen“ (2016) nennt sie ihre jahrelange Tätigkeit „Erbsenhirnparalleluniversumsforschung“. Auf einem TV-„Scienceslam“ zeigte sie 2013 Photos von Ameisenbären, die an Baumstämmen Kratz- und Geruchsspuren „lesen“ und auch selbst welche hinterlassen, um sich untereinander zu verständigen.
Die Kölner Ameisenbärforscherin, die sich beim Karneval als Ameisenbär verkleidet, ist ihrem Forschungsobjekt ähnlich fast eine wissenschaftliche Einzelgängerin, wie sie in einem „Zeit“-Porträt klagte: „Tierforscher gibt es viele auf der Welt, sie erkunden alles von der Ameise bis zum Elefanten. Aber kaum einer interessiert sich für den Ameisenbären. Dabei ist der eine ansehnliche Erscheinung, Protagonist vieler südamerikanischer Mythen, ein beliebtes Zootier. Und doch ist nur wenig über ihn bekannt. Ihm widmet sich keine Forschergemeinde und es gibt kaum Fachliteratur über ihn: Insgesamt gibt es fünf größere Studien über sein Verhalten. Vier davon sind Jahrzehnte alt.“ Die Verhaltensforscherin hat kein Team und kein Geld, sie ist auf „Fund-Raising“ angewiesen. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft in Brasilien und den Nachbarstaaten ist der Große Ameisenbär inzwischen zu einer gefährdeten Art geworden, zum Glück schmeckt er weder den Leoparden noch den Menschen, obwohl er gelegentlich doch ihr Opfer wird, durch letztere vor allem im Straßenverkehr: „Er ist eben nicht gerade der Hellste“.
Bei den afrikanischen Erdferkeln sieht die Forschungslage nicht besser aus. Die Erdferkel sind als Art noch nicht gefährdet. Aber Genaueres weiß man nicht, denn laut Wikipedia „muß die Lebensweise des Erdferkels trotz seiner weiten Verbreitung als eher wenig erforscht angesehen werden.“ Und auch „das Sozialsystem ist kaum näher erforscht“. Zum Teil überschneiden sich die Reviere zwischen den Geschlechtern. „Der Grad der Territorialität ist aber unbekannt, Begegnungen zweier gleichgeschlechtlicher Tiere sind bisher äußerst selten beobachtet worden.“ Ihre soziale Kontakte sind jedoch wohl „auf kurze Treffen von maximal 10 Minuten beschränkt, danach widmen sich die Tiere wieder der Nahrungssuche.“
Mein erstes Buch über sie erwarb ich 1993 – eine Bildergeschichte von Hilke Raddatz mit dem Titel „Helmut das Erdferkel“ – das war keineswegs ein „Erbsenhirn“-Tier. Damit konnte ich mich identifizieren, die Autorin hatte ein sehr freundliches Bild vom Erdferkel gezeichnet. Um es auch als echtes Tier in betracht zu ziehen, ging ich in das Berliner Naturkundemuseum und kuckte mir das ausgestopfte Exemplar an, es wirkte verstaubt. Um ein lebenderes zu sehen, ging ich auch noch in den Westberliner Zoo, wo man im Nachthaus ein Erdferkel hielt. Das Tier in seiner spärlich beleuchteten Kunstgrotte mit Schaufensterglas davor machte auf mich einen deprimierenden Eindruck. Es schien nicht zu wissen, was es in diesem kleinen geschlossenen Raum überhaupt sollte. Irgendwann muß dort aber noch ein zweites Erdferkel dazu gekommen sein, denn 2010 meldete die Hauptstadtpresse: „Erdferkel-Baby ist neue Attraktion im Berliner Zoo. Es hat einen schweineartigen Rüssel, hasenartige Ohren, einen unbehaarten Schwanz und kuschelt am liebsten mit einer flauschigen Decke.“ Da die Mutter ihr Baby nicht angenommen hatte, war es vom Tierpfleger mit der Flasche großgezogen worden. Auf Photos sah man, wie die beiden auf einer Wiese spielten, da war es schon etwa so groß wie ein Absetzschwein und auch so munter.
In Freiheit legen die Erdferkel in ihrem Revier, in dem sie tagsüber „im Zickzack“ langsam und aufmerksam unterwegs sind, etliche Erdbauten an – aus Sicherheitsgründen, obwohl sie „vom Menschen abgesehen, nur sehr wenige Feinde“ haben, wie das „Tierlexikon“ versichert. Man hat 101 Erdbaue auf einer Fläche von 15.000 Quadratmetern gezählt, manche haben mehrere Eingänge. Der Tierhändler Hermann Ruhe aus Alfeld hat in seinen Erinnerungen die Schwierigkeiten berichtet, die seine afrikanischen Helfer hatten, eins auszugraben und in die Transportkiste zu kriegen. Alfred Brehm schrieb bereits: „Der Jäger, welcher ein Erdferkel wirklich überrascht und festhält, setzt sich damit noch keineswegs in den Besitz der erwünschten Beute. Wie das Gürtelthier stemmt es sich, selbst wenn es nur halb in seiner Höhle ist, mit aller Kraft gegen die Wandungen derselben, gräbt die scharfen Klauen fest ein, krümmt den Rücken und drückt ihn mit solcher Gewalt nach oben, daß es kaum möglich wird, auch nur ein einziges Bein auszulösen und das Thier herauszuziehen. Ein einzelner Mann vermag dies nie; selbst mehrere Männer haben genug mit ihm zu thun.“
Das Erdferkel frißt an einem Ameisen- oder Termitennest laut Wikipedia meist nur kurze Zeit: zwischen zehn Sekunden und zwei Minuten. „Dadurch kann es rund 25 verschiedene Nester in einer Stunde oder etwa 200 innerhalb einer Nacht aufsuchen, die gefressene Menge an Insekten beläuft sich auf schätzungsweise 50.000 Individuen täglich.“ Indem das Erdferkel nur kurz an den Ameisen- und Termitennestern räubert, werden diese nicht zerstört, ihre Bewohner werden vielmehr nachhaltig vom Erdferkel genutzt, indem es nur ihre Ausbreitung beschränkt – was den Beutetieren bzw. -pflanzen der Ameisen und Termiten zugute kommt. Erdferkel haben einen interessanten „Nachnutzer“: den Erdwolf, aus der Familie der Hyänen, die zu den Freßfeinden der Erdferkel zählen, der Erdwolf ernährt sich jedoch von Termiten. Vor allem im Winter, wenn sich die staatenbildenden Insekten zurückziehen, folgt er dem Erdferkel und geht an die von ihm aufgebrochenen Nester und Bauten. Aus Sicht der staatenbildenden Insekten sind sie zusammen genommen staatsgefährdend.
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Elfenblauvogel-Paar
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3. Axolotl und Grottenolm
Der Sowjetautor Nikolai Ognjow veröffentlichte 1929 das fiktive Tagebuch eines Studenten: „Kostja Ribzew auf der Universität“. Darin findet sich ein Abschnitt über die Schwanzlurche Axolotl: Ein Moskauer Jura-Professor erwähnt in seiner Vorlesung das Experiment eines Sowjetprofessors. Ihm sei es gelungen, ein Axolotl, dessen Lungen kaum entwickelt sind, „was ihn von der höheren Art derselben Gruppe, dem Ambystoma, unterscheidet“, in einen Ambystoma zu verwandeln, indem er ihn mit einer Schilddrüsensubstanz fütterte. So ähnlich wie dieser „biologische Prozeß“ verlaufe, müsse man sich auch das neue Sowjetrecht und sein Eindringen in das Bewußtsein der Massen vorstellen.
Es meldet sich daraufhin ein Milizionär zu Wort, er ist nicht an der Universität, um die Studenten zu überwachen, sondern selbst Student. Er meint, dass es auch noch eine andere Möglichkeit gäbe, aus einem Axolotl ein Ambystoma zu machen. Indem man „die biologischen Voraussetzungen“, seine Umwelt, ändert – und sich dabei fragt: „Warum sind die Lungen des Axolotl nicht entwickelt? Weil im Wasser mit all seinen Pflanzen genug Sauerstoff enthalten ist.“ Der Milizionär hatte deswegen die Pflanzen in seinem Axolotl-Aquarium zu Hause entfernt und immer mehr abgekochtes Wasser zugegeben. Das Axolotl starb daran nicht, sondern entwickelte währenddessen Lungen – dabei wurde es zu einem Ambystoma. Wobei sein Züchter zugeben mußte, dass er es ordentlich gequält hatte in seinem lamarckistisch inspirierten Versuch, „eine höhere Art zu bekommen, aber das Ambystoma lebt – bis auf den heutigen Tag“.
Man hat diese Metamorphose beim Axolotl inzwischen schon oft mit dem Schilddrüsenhormon Thyroxin hervorgerufen, „denn ihr embryonales Aussehen beruht auf einer Schilddrüsenunterfunktion,“ wie der Wissenschaftsjournalist Michael Miersch (in: „Das bizarre Sexualleben der Tiere“ 1999) schreibt. Gelegentlich soll eine solche Umwandlung auch bei frei lebenden Axolotl vorkommen – eventuell wegen zu viel Medikamentenrückstände in ihren Gewässern. Sie leben nur im Xochimilco und im Chalco-See bei Mexiko-City. Die Seen waren bis zur Zerstörung durch die Spanier Teil eines ausgedehnten Gewässersystems der Azteken, von denen auch das Wort „Axolotl“ kommt, das so viel wie Wassermonster heißt. Das erste in Europa zu sehende Exemplar brachte Alexander von Humboldt mit, der es dem Pariser Museum für Naturgeschichte vermachte. Die am Gewässergrund lebende „Dauerlarve“ ist hier und heute bei jungen Aquarianern, die auch nicht erwachsen werden wollen, sehr beliebt. Für Auf- und Nachzucht-Probleme und neueste Forschungsergebnisse gibt es bereits mehrere „Axolotl-Foren“ im Internet, dort führt man übrigens den plötzlichen „Mitgliederzuwachs“ auf den Bestseller „Axolotl Roadkill“ (2009) von Helene Hegemann zurück, die darin ebenfalls mit dem Altern hadert – so wie auch einige Feuersalamander bei dem Züchter Wolfgang Sauer, die im Larvenstadium verbleiben. Bei Hegemanns Buchtitel handelt es sich aber um ein Mißverständnis, denn das aquatisch lebende Kiementier geht nicht an Land und kann folglich auch nicht von Autos überfahren werden. Es sei denn, es verwandelt sich in ein lungenatmendes Ambystoma (Querzahnmolch auf Deutsch). Ungefähr so, wie wir es bei der Metamorphose von Kaulquappen zu Fröschen und Kröten kennen. Von denen werden wirklich alljährlich bei ihren Wanderungen über Land Zigmillionen zu „Roadkills“. Der mexikanische Axolotl ist zwar vom Aussterben bedroht, aber er stirbt nicht auf der Straße, sondern an dem zunehmend verdreckteren Wasser seiner Seen.
In Europa gibt es einen blinden Axolotl-Verwandten: den Grottenolm. Er lebt in den unterirdischen Gewässern slowenischer Karsthöhlen, wo es auch noch einen blinden Käfer gibt – mit Namen Anophthalmus hitleri. Er ist unter rechten Sammlern so begehrt (bis zu 1000 Dolar kostet ein Exemplar), dass er inzwischen zu den gefährdeten Arten zählt. Der blinde Grottenolm kann aufgrund seiner trägen Lebensweise und mit reduziertem Stoffwechsel bei Nahrungsmangel fast 100 Jahre alt werden. Er wird bis zu 40 Zentimeter lang, ist rosafarben, hat gefiederte Kiemen, gehört zu den Salamanderverwandten und kann sich, obwohl er wie der Axolotl nur im Larvenstadium existiert, fortpflanzen.
Berühmt wurde er durch ein Experiment des Wiener Amphibienforschers Paul Kammerer in den Zwanzigerjahren. Erst kürzlich hat man eine neue Biographie über diesen Biologen veröffentlicht: „Der Fall Paul Kammerer“ von Klaus Taschwer. 1972 war bereits eine Kammerer-Biographie von Arthur Koestler erschienen: „Der Krötenküsser“, sie wurde 2010 wieder neu aufgelegt. Im Nachwort schrieben die Herausgeber: „Kammerers Biologie hat, anders als die heutige Wissenschaft, noch nicht mit ‚Modellorganismen‚ operiert, sondern mit Tieren. Seine Forschung an Schwanz- und Froschlurchen steht im Blick von Tieren – im Fall der sehend gemachten blinden Grottenolme provoziert Kammerer ihn auf nachgerade gespenstische Weise.“
Kammerer hatte schon als Jugendlicher großes Züchtungsgeschick bewiesen, seine blinden Grottenolme aus Slowenien hielt er in einem Becken seines Labors in der Wiener „Forschungsanstalt für experimentelle Biologie ‚Vivarium‚“ und setzte sie weißem Deckenlicht aus. Daraufhin entwickelten sie Pigmentflecken an den Stellen, wo einst ihre Augen waren. Kammerer beleuchtete ihr Becken als nächstes mit Rotlicht, wie es Photographen in Dunkelkammern benutzen. Dieses Licht bewirkte, dass die Augen hervorkamen – und die Tiere wieder sehend wurden, auch ihre Nachkommen. Das Experiment machte Kammerer überaus populär, es folgten Einladungen zu Vortragsreisen nach Amerika. Die Sowjetunion bot ihm ein eigenes Forschungsinstitut in Moskau. Aus London kam die Nachricht, dass die Beweise für eines seiner älteren Experimente – mit Geburtshelferkröten – gefälscht seien. Ein Skandal. Kammerer ging daraufhin in den Wiener Wald und erschoß sich.
Die Biologin Lisa Signorile schreibt (in: „Mißgeschicke der Evolution“ 2014) im Kapitel „Grottenolme“, dass deren Augen „degeneriert“ seien und nach den ersten vier Monaten unter der Kopfhaut verschwinden, einige „Sehpigmente“ würden sich jedoch erhalten. „Sie werden in ihrer Funktion durch die Zirbeldrüse unterstützt,“ diese sei zwar kleiner als bei anderen Lurchen, „aber sie enthält das auf Rotlicht reagierende Pigment.“ Man erfährt nicht, ob es da einen Zusammenhang mit Kammerers Wiener Rotlicht-Experiment gibt.
Der sowjetische Volkskommissar für Kultur, Anatoli Lunatscharski drehte nach Kammerers Tod 1928 einen Spielfilm über dessen philosophisch vielversprechende Amphibien-Experimente mit dem Titel „Salamandra“, in dem er den reaktionären deutsch-österreichischen Akademikern, Adligen und Klerikern die Schuld an seinem Selbstmord nachwies. Der Film, eine deutsch-sowjetische Koproduktion, wurde daraufhin in Deutschland verboten. Obwohl dem sozialistischen Realismus verpflichtet, hat er dennoch ein Happy-End: Kammerer wird im letzten Augenblick von einer wissenschaftlichen Abordnung gerettet und in die Sowjetunion gebracht, wo er ungestört seine lamarckistisch-revolutionäre Forschung fortsetzen kann. Im Nachwort der wiederveröffentlichten Kammerer-Biographie von Koestler heißt es: „Kammerer ist eine Art Gegenheld zur etablierten Wissenschaft. Und je mächtiger diese Wissenschaft erscheint, desto mythischer, böser und fremder müssen, so Thomas Pynchon, ihre Gegenhelden sein.“ In der neuen 2016 erschienenen Biographie wird Kammerer aber bereits als Pionier der „Epigenetik“ wissenschaftlich wieder eingemeindet.
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Aquarien im Restaurant des Tierparks Friedrichsfelde
4. Dodo
2013 eröffnete in Kreuzberg die Kneipe „Dodo“. Die Berliner Zeitung berichtete: „Hier leben Dinge weiter, von denen man glaubt, sie seien längst ausgestorben“ – wie der große auf Mauritius einst lebende flugunfähige Vogel. Nun gibt es auch noch eine ganze Ausstellung über den Dodo im 2010 eröffneten „Centrum“ – der Neuköllner Galerie für junge Kunst. Sie verdankt sich dem auf Mauritius geborenen Logistiker Rainer Dombromsky, der schier manisch Dodo-Objekte sammelte und vielleicht immer noch weiter sammelt. Dazu gründete er einen „Internationalen Dodoverein“ und sein Bruder eine „Dodo House Band“. Sie lebten und arbeiteten im Moabiter Künstlerhaus Huttenstrasse, aber dann wurde ihre Miete erhöht und sie mußten ausziehen, woraufhin die Kuratorin Lisa Gordon die Dodo-Sammlung für das „Centrum“ aufbereitete. Auch diese Galerie bekam eine Mieterhöhung; durch Abtrennung und Vermietung zweier Räume als Büro und Atelier konnten sie aber – verkleinert – bleiben.
Im Schaufenster steht nun ein großer, ausgestopft wirkender Dodo auf einem Sockel und an der Rückwand hängt ein riesiger Dodo-Schrein der Künstlerin Anne Oemig. Dazwischen werden im Raum etwa 100 Objekte mit Dodo-Motiven gezeigt – in 4 Abteilungen: „Mauritius“ – wie alles anfing; „Otherworldliness“ – Dodos überall; „Collecting“ – „Nicht selten stellt sich dabei eine besondere Beziehung zwischen Sammler und Gesammeltes her“; und -mittendrin unter Glas: alles über den Dodo in „Alice im Wunderland“. Mit dem hat sich der Autor, der charmante Päderast Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll, in seiner Geschichte selbst porträtiert, denn er nannte sich unfreiwillig, weil stotternd „Do-Do-Dodgson“. Seine wunderbare Geschichte für kleine Mädchen produzierte ab 1865 laufend neue Sammelobjekte – mit „Alice and the Dodo“.
Zu hören ist in der Ausstellung ein Audiostück der Komponistin Yoko Hamabe Wylegala „Willkommen im Dodoland“ sowie die „Dodo House Band“ – gleich nebenan in der Kneipe „Sandmann“. Zu sehen sind die Noten von „Dodo-Liedern“, Infos über den New Yorker Tanz „The Dodo Dawdle“, außerdem Dodo-Figuren in allen möglichen Größen und Materialien, Dodo-Gemälde, -Farbdrucke, Dodo aus Muscheln geklebt, aus Holz geschnitzt, -Zeichnungen, -Skelettphotos, -Stiche, – Plattencover, -Werbung: darunter eine der Austral Airlines, die Mauritius anfliegt und über die Ausrottung des Dodos schreibt: „Perhaps it was for the best.“ In Kamerun gibt es „Dodos to go“ – bestehend aus frittierten Kochbananen.
Die Madagaskar vorgelagerte Insel Mauritius, berühmt wegen der teuersten Briefmarke der Welt, die „Blaue Mauritius“, ist etwa doppelt so groß wie Berlin. Sie war lange Zeit nur von friedlichen Tieren bewohnt, die keine Scheu kannten und wurde nur gelegentlich von Piraten und arabischen Händlern aufgesucht. Aber dann kamen nacheinander die Portugiesen, die Holländer, die Franzosen und die Engländer – und beanspruchten sie als Eigentum, siedelten Leute dort an, holten Sklaven aus Afrika und „Vertragsarbeiter“ aus China und Indien, rodeten den Wald, legten Platagen an und töteten alle Dodos, den letzten 1681. In der Ausstellung hangen Stiche, die zeigen, wie die holländischen Siedler die handzahmen und langsamen Dodos fingen und zubereiteten. Mit der Zeit dachte man, das es sich bei diesen Vögeln wie bei den Sirenen des Odysseus bloß um einen Mythos handeln würde, aber dann fand man 1865 auf der Insel einige Knochen von Dodos – und begann sich näher damit zu befassen, was eine ganze Dodo-Bibliothek hervorbrachte, einige Bücher befinden sich in der Ausstellung. 2005 stieß eine holländisch-mauritische Forschergruppe auf eine Erdschicht, in der sich ein „Massengrab“ von Dodos befand: „Dieser jüngste Fund wird eine erste wissenschaftliche Erforschung und Rekonstruktion der Welt des Dodo (Raphus cucullatus) ermöglichen,“ verkündeten sie. Mauritius wurde erst 1968 selbständig, die gemischte Inselbevölkerung lebt vor allem vom Tourismus. Auf ihren Briefmarken, die natürlich in der Ausstellung zu sehen sind, druckt sie gerne ein Bild von einem Dodo ab.
In einem Aufsatz über ausgestorbene und aussterbende Tiere schreibt der Ökologe Josef Reichholf: „Wer ‚tot wie ein Dodo‘ ist, ist wirklich tot.“ Inzwischen gibt es jedoch in England und Amerika immer mehr „Frozen Zoos“, in denen Gewebestücke von stark gefährdeten Arten bei minus 195 Grad in Flüssigstickstoffbehältern gesammelt werden. Die Journalistin Elizabeth Kolbert interviewte in ihrem Buch „Das 6. Sterben“ (2015) eine Biologin,die in dem „Frozen Zoo“ des Tierparks von San Diego arbeitet. Sie sprach u.a. über ihr erstes Objekt: ein toter Po’ouli, eine Art Gimpel, von denen es zuletzt nur noch drei Männchen auf der Hawaii-Insel Maui gab. Als man ihr den Kadaver schickte, dachte sie: „Das ist unsere letzte Chance. Das ist der Dodo.“ Gemeint war damit der Dodo als Metapher für die kümmerlichen Überreste einer verschwundenen Tierart, aus dessen letzten Gewebestückchen die Genetiker schon in naher Zukunft das ganze Tier wieder auferstehen lassen wollen. Der Philosoph Vilem Flusser schätzt, dass erst mit der Herstellung solch lebender, d.h. „selbstreproduktiver Werke“, das Zeitalter der wahren Kunst beginnt. In dieser Perspektive wäre die Dodo-Ausstellung eine Vorwegnahme als magisch-künstlerische Praktik.
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Blaukopfara
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5. Einzelkuh
„Die objektive Kuh gibt es nicht!“ meint der Wissenssoziologe Bruno Latour, aber es gibt „Einzelkühe“. Ein staatliches Ensemble der DDR führte 1958 ein Tanzspiel mit dem Titel „Die Einzelkuh“ auf, das für die ländliche Bevölkerung gedacht war und mehrfach zur Aufführung kam: Die Mitglieder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft freuen sich über den guten Erlös ihrer gemeinsamen Arbeit und beginnen zu tanzen. Daneben plagt sich ein Bauernpaar mit seiner ‚Einzelkuh‘, die von Tag zu Tag widerspenstiger wird. Denn die Kuh hat längst die Vorteile der genossenschaftlichen Arbeit auf dem Land erkannt. Als sie endlich über den Zaun springt, kann auch das Bauernpaar nicht mehr widerstehen, zieht hinterher und wird von den Mitgliedern der Genossenschaft freudig aufgenommen und zum Tanz eingeladen.
In der Sowjetunion war mit der Kollektivierung der Landwirtschaft Anfang der Dreißigerjahre bestimmt worden, dass die Bauern außerhalb der Kolchosen nur noch maximal einen Hektar und eine Privatkuh (nebst Kalb) besitzen durften. Von diesen Einzelkühen in Familienställen erwähnt der sowjetische Schriftsteller Wassilij Grossman zwei in seinen „Kriegstagebüchern 1941-1945“: „Nächtliches Weinen über eine Kuh, die beim blauen Licht des gelben Mondes in einen Panzergraben gestürzt ist. Die Weiber heulen: ‚Sie lässt vier Kinder zurück.‘ Als ob sie ihre Mutter verloren hätten.“ Eine Bäuerin erzählt ihm: „‚Ach, jetzt ist Krieg, ich habe bereits 18 Männer bedient, seit mein Mann weg ist. Eine Kuh halten wir zu dritt, aber nur ich darf sie melken, die beiden anderen akzeptiert sie nicht‘. Sie lacht. ‚Ein Weib ist jetzt leichter zu überreden als eine Kuh.‘ Sie lächelt.“
In der DDR waren die Privatkühe nicht auf ein Tier beschränkt, man konnte so viele halten wie man wollte und mußte nur zusehen, wo man das Futter her bekam. Alles Land war an die LPG verpachtet und man konnte höchstens von der Gemeinde für 5 Mark das Straßenbegleitgrün pachten. Die Privatkühe gingen trotzdem höchst ungern in die LPG-Ställe, wo sie in große Herden gezwungen und mit Lohnabhängigenbewußtsein wie am Fließband gefüttert und gemolken wurden. Sie gaben weniger Milch und wurden schneller krank. Kluge LPG-Vorsitzende fanden Auswege. Die aus Sachsen-Anhalt stammende Schriftstellerin Beate Morgenstern erzählt in einem ihrer „Dorfromane“: Als nach Gründung der LPGen langsam alles kollektiviert wurde, riet der Vorsitzende Hetzel den Mitgliedern, ihre Kühe zu Hause zu lassen und selbst zu versorgen: „Weil es ehmt so ist, dass die Tiere in ihren Ställen auch eine Gemeinschaft bilden und untereinander ihre besondere Sympathie oder Abneigung haben. So hat es die LPG in späteren Jahren unterlassen, private Tiere aufzukaufen, um die staatlichen Vorgaben zu erfüllen, weil sie aus Heimweh nach ihren früheren Ställen eingingen. Lieber erfand man ‚Luftkühe‘ und war dann in der Milchleistung und im Fleischaufkommen etwas schlechter. Hetzel hat sich erst aus dem Nachwuchs von den Kühen aus den Familienställen seinen Bestand für eine größere Anlage gezogen. Aber die Familienställe, wo die Kühe von einer Frau versorgt wurden, bildeten bis zum Schluß eine Stütze“ – auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht.
Ähnlich sieht das heute auch die an der Newcastle University tätige Biologin Catherine Douglas, als sie 516 britische Milchbauern über ihre Einstellung zum Verhalten und Wohlergehen der Kühe befragte. Dabei kam heraus: 46 Prozent der Befragten gaben ihren Kühen Namen – und diese gaben im Jahresdurchschnitt 258 Liter mehr Milch als Kühe, die nur wie eine unter vielen behandelt wurden. „Genauso wie Menschen stärker auf persönlichen Kontakt reagieren, fühlen sich auch Kühe entspannter und wohler, wenn man ihnen ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenkt“, erklärte die Wissenschaftlerin.
Solch eine Kuhforschung, in der das Wohlbefinden mit steigender Leistung verkoppelt wird, indem die Milchmenge als Indikator für Wohlbefinden gilt, gab es nach der erfolgten Kollektivierung der Landwirtschaft auch in der Sowjetunion. Der Agraringenieur Hanns-Peter Hartmann schrieb an der Hochschule für LPG in Meißen eine Diplomarbeit über „Vorschläge zur Erweiterung und rationelleren Nutzung moderner Milchproduktionsanlagen“. Als Quelle benutzte er eine noch nicht ins Deutsche übersetzte russische Studie der Zoologen Admin und Savzan aus dem Versuchsbetrieb Kutusowka. Die beiden lyssenkistisch inspirierten Rinderforscher hatten herausgefunden: Wenn man den Färsen zwei mal täglich ihre noch kleinen Euter streichelt und massiert, erhöht das später als Kühe ihre Milchleistung um gut einen Liter täglich. Als LPG-Produktionsleiter nahm Hartmann diese Empfehlung jedoch selber nicht ernst: „Wer hätte dafür Zeit gehabt, allen Tieren die Euter zu massieren und wieviel das gekostet hätte – dieses zwei mal tägliche Als-Ob-Melken?! Außerdem standen unsere Färsen in den Offenställen, in denen sie frei herumliefen: da wäre man alleine gar nicht an die rangekommen.“
Zwei Schweizer Wissenschaftlerinnen des Instituts für biologischen Landbau in Frick forschen nun in die selbe Richtung – ausgehend von dem Nachweis, dass Kühe mit ruhigem Charakter weniger krankheitsanfällig sind als unruhige, schreckhafte Tiere, und dass beides vom Verhalten des Menschen abhängt, begannen sie ein „Streichelprojekt“ mit den Kälbern eines Rinderzüchters, die sie bereits in den ersten Tagen nach ihrer Geburt „wissenschaftlich“ – nach der (an Pferden entwickelten) amerikanischen „Tellington-TTouch-Methode“ – streichelten.
Im Friedenauer „China-Club“ lief ein Film von Guan Hu über eine Einzelkuh: „Cow“. Die Hauptrollen spielten der Volksschauspieler Huang Bo – als Kleinbauer Niu Er – und seine friesische Milchkuh Duo Niu: Sie ist eine Spende aus Holland zur Verbesserung der Versorgung der Roten Armee. Es ist das Jahr 1940 im Dorf Yizhen. Alle Bewohner wurden in Krieg und Bürgerkrieg getötet, nur Niu Er und Duo Niu haben überlebt. Mal rettete der Bauer die Kuh, mal rettete sie ihn…
Das passiert auch hierzulande gelegentlich: Im thüringischen Bischofferode, wo die Bergarbeiter 1993 gegen die angeordnete Schließung ihrer Kaligrube durch die Treuhandanstalt in einen langen Hungerstreik getreten waren, aber den Kampf letztlich verloren hatten, erfuhr ich von einer Mitkämpferin, der Pastorin Christine Haas, dass in der Region nun lauter alte z. T. reaktionäre Volksbräuche wiederbelebt werden: „Es ist aber auch eine deprimierende Situation“, entschuldigte sie die resignativ gestimmten Kalikumpel: „Während der Auseinandersetzungen, so anstrengend sie waren, ging es fast allen gut. Danach fiel alles auseinander. Vier starben sogar, viele wurden krank, einer bekam ein Stück Land wieder und kaufte sich eine Kuh – als die ein Kalb bekam, ging es ihm wieder besser.“
Das dem sozialistischen Realismus verpflichtete Tanzspiel „Die Einzelkuh“ des „staatlichen Dorfensembles“ war seiner Zeit voraus, denn demnächst wird es Tierschutzgesetz, dass Herdentiere nicht mehr einzeln gehalten werden dürfen. Das gilt selbst für Meerschweinchen. Für die „Botschaft“ des Stücks gilt jedoch eher das, was der sowjetische Dissident Boris Jampolski 1975 über die linientreue Literatur sagte: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie.“
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Buntmarder
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6. Eisbär
„Der Eisbär gehört zur Familie der Bären. Dieses größte Landraubtier bewohnt die nördlichen Polarregionen.“ heißt es auf Wikipedia. Wegen der Klimaerwärmung soll es den Polarbären dort immer schlechter gehen. Nicht weil die Wärme ihnen zusetzt, sondern weil ihre Jagd auf Robben an Eislöchern durch den Rückgang an Packeis dadurch erschwert wird. „Bei Gelegenheit erbeuten sie nun auch lebende Delfine, wie Forscher erstmals beobachtet haben,“ berichtete „spektrum.de“, und gelegentlich fressen sie sich laut „Spiegel“ sogar gegenseitig. Daneben stoßen sie auch in bewohnte Gegenden vor. Auf einer WWF-Internetseite heißt es: „Bei den Siedlungen treffen die Eisbären auf Menschen, die mit dem Problem heillos überfordert sind. Gelingt es uns nicht, diese fatale Entwicklung zu stoppen, werden auch die letzten Eisbären bald Geschichte sein.“ Dann gibt es sie vielleicht nur noch in den Zoos, wo man versucht, sie nachzuzüchten.
Wie schon mehrmals in der Zoogeschichte lag der private in Hamburg mal wieder vorn: „Der Höhepunkt im Tierpark-Jahr 2012 war zweifelsohne die Eröffnung des neuen Eismeeres,“ heißt es auf der Internetseite der Stiftung Hagenbeck. Während die zwei Berliner Zoos sich – seit Jahrzehnten schon – nur ein dumpfes Kopf-an-Kopf-Rennen mit einem Eisbär-Baby im Osten und einem im Westen (ohne „neue Eismeere“) liefern. Eigentlich stammen beide Tiere aus dem Osten. Tosca, die Mutter des berühmten Eisbärjungen „Knut“, der den Westberliner Zoo Millionen einbrachte, gehörte der Eisbärendompteuse Ursula Böttcher. Sie hatte sich beim Staatszirkus der DDR von der Putzfrau zur Raubtierdresseurin hochgearbeitet, zunächst arbeitete sie mit Löwen – bis der Generaldirektor sie vor die Wahl stellte: „Entweder übernehmen Sie die alten Bären – oder Sie kriegen eine Hundenummer!“ Zu den alten Eisbären bekam Ursula Böttcher noch etliche junge dazu, am Ende arbeitete sie mit zwölf Tieren – und wurde damit weltberühmt. Ihre Autobiographie diktierte sie dem Germanisten Siegfried Blütchen, das Buch „Kleine Frau, bärenstark“ erschien 1999; im selben Jahr wurden mit dem liquidierten Staatszirkus auch ihre Eisbären von der Berliner Treuhandanstalt verkauft und sie arbeitslos.
Eigentlich wollte der „Circus Busch-Roland“ mit ihrer Bärennummer auf Tournee gehen, auch Zirkus Krone hätte sie gerne für fünf Jahre unter Vertrag genommen und ihre volkseigenen Bären dazu erworben, aber der Treuhand-Zirkusliquidator ließ sich darauf nicht ein, sondern verkaufte die Tiere an Zoos, zwei übernahm der Westberliner Zoo. Ursula Böttcher wurde „aus betriebsbedingten Gründen“ gekündigt: „Nach 47 Jahre Zirkus und einer Weltkarriere mit eineinhalb Zeilen.“ Laut Berliner Zeitung kombinierte der Pressesprecher des „Circus Busch-Roland“, der 1999 vergeblich gegen den Bärenverkauf geklagt hatte: „Des Liquidators engste Liquidierungsberaterin heißt Ursula Klös. Schwiegertochter des früheren Berliner Zoodirektors und heutigen Aufsichtsratsvorsitzenden von Zoo und Tierpark, Heinz-Georg Klös. Ihr Mann wiederum arbeitet in leitender Stellung im Zoo,“ und der Eisbärenkurator „Heiner Klös“ ist der Sohn von Heinz-Georg Klös.
Die Eisbärin Tosca wurde zunächst an den Zoo Nürnberg verkauft, wahrscheinlich nur zum Schein, denn danach kam auch sie in den Westberliner Zoo, wo sie 2006 ein männliches Junges bekam, das sie aber nicht annahm und das deswegen von seinem Pfleger aufgezogen wurde: Knut. Der kleine Bär wurde zusammen mit seinem Pfleger so berühmt, dass der kleine Westberliner Zoo mit ihm erstmalig mehr Besucher zählte als der vier Mal größere Ostberliner Tierpark. Knut starb 2011 – vierjährig, sein Pfleger im Jahr darauf. Der Regierende Bürgermeister ließ verlauten: „Wir alle hatten den Eisbären ins Herz geschlossen.“ Auch der Präsident des Deutschen Tierschutzbundes, Wolfgang Apel, äußerte sich betroffen, zugleich übte er Kritik an der Haltung des Tieres: „Das kurze und qualvolle Leben von Knut zeigt erneut, dass Eisbären nicht in den Zoo gehören, auch wenn sie Knut heißen.“ Der Liquidator hatte zuvor gerade den Verkauf der Zirkus-Eisbären an Zoos mit der Notwendigkeit einer „artgerechten Haltung“ rechtfertigt.
Knuts Leiche kam in das Naturkundemuseum und wurde dort vom Chefpräparator Detlef Matzke ausgestopft: „Knut wird unsterblich,“ titelte der Tagesspiegel. Die japanische Dichterin Yoko Tawada veröffentlichte seine Biographie „Memoirs of a Polar Bear“ („Etüden im Schnee“): Beginnend mit der Großmutter, die aus der Sowjetunion stammte und nach Kanada emigrierte, wo ihre Tochter Tosca geboren wurde, die dann in die DDR ging, wo sie zunächst im Zirkus arbeitete und dann in Westberlin einen Sohn namens Knut bekam.
Der jetzige Direktor des Westberliner Zoos, Knieriem, der zugleich Direktor des Ostberliner Tierparks ist (wobei man jedoch den Verdacht haben könnte, das er dessen verdeckter Liquidator ist), teilte 2016 der Presse mit: Der präparierte „Knut wird Artenschutz-Botschafter“. Zur gleichen Zeit, da diese tierverlächerlichende Idee im Westberliner Zoo geboren wurde und die städtischen Gaswerke mit einem Eisbären warben, gebar im Ostberliner Tierpark eine Eisbärin zwei Junge, von denen eines überlebte; es wurde Fritz genannt. Ihn nahm seine Mutter an. Fritz wird deswegen nicht so zahm wie Knut sein. „Die Zeit“ fragte: „Könnte dieses Eisbärenbaby der neue Knut werden?“ Andere Berliner Zeitungen meinten: Das Eisbärenbaby Fritz sei eine Chance für den Tierpark, wenn nicht die letzte. Hoffentlich stimmt diese Einschätzung nicht, denn einen Monat nach seiner öffentlichen Benamung starb „Fritz“, woraufhin die Tierschutzorganisation „Peta den Verantwortlichen vorwarf, rein aus Marketing- und Profitgründen Eisbärenbabys zu züchten und auf einen neuen „Knut-Effekt‘ zu setzen“, heißt es in einer Mitteilung der Tierrechtsorganisation. „Die Haltungsbedingungen in Zoos sind derart unnatürlich, dass ein großer Teil der Eisbärenbabys die ersten Monate nicht überlebt – teilweise aufgrund der mangelhaften Haltungsbedingungen, teilweise aufgrund der schweren Verhaltensstörungen der Muttertiere. Hinzu kommt, dass die Haltung von Eisbären in Gefangenschaft keinen Beitrag zum Artenschutz darstellt, da im Zoo geborene Tiere grundsätzlich nicht ausgewildert werden können.“ Der Schweizer Blick wollte sich so einer populärwissenschaftlichen Sichtweise nicht anschließen und titelte: „Der Eisbären-Fluch von Berlin“. Der Deutsche Tierschutzbund riet: „Zoos sollten auf Eisbären verzichten“. Erwähnt sei noch, dass eine Woche darauf der Eisbär „Tips“ im Osnabrücker Zoo ausbrach, woraufhin er erschossen wurde. Und dass das neugeborene Eisbärenbaby im Münchner Tierpark Hellabrunn einen Namen mit „Q“ bekommen soll, über den die Öffentlichkeit abstimmen wird.
Auf Wikipedia heißt es über die 2010 gestorbene Eisbärendompteuse Ursula Böttcher: „Sie war nur 1,58 Meter groß und die erste und einzige Frau weltweit, die in einer Manege Dressuren mit Eisbären zeigte (die z.T. mehr als doppelt so groß waren). Sie trat dabei mit bis zu zwölf Tieren gleichzeitig auf. Berühmt wurde sie für den sogenannten „Todeskuss“ (der auf einer DDR-Briefmarke abgebildet wurde). Er bestand darin, dass sie einen Eisbären von Mund zu Mund mit einem Stück Fleisch fütterte. In den USA wurde sie als ‚Princess of Bears‚ gefeiert. Sie wurde mit mehreren Zirkus-Preisen ausgezeichnet und bekam den „Nationalpreis der DDR“. In der „Ruhmeshalle“ des „internationalen Artistenmuseums Klosterfelde“ sind einige Requisiten und Fotos von ihr ausgestellt – dazu ihr im Naturkundemuseum ausgestopfter „legendärer Eisbär ‚Nordpol‚“. Als sie einmal beim Tanz mit der Eisbärin „Nixe“ von dieser zu Boden geworfen und in die Schulter gebissen wurde, rettete ihr Assistent ihr das Leben, aber sie machte sofort weiter und ging erst nach der Vorstellung ins Krankenhaus: „Man darf so etwas nicht durchgehen lassen. Wenn das Tier merkt, dass es seinen Willen behaupten kann, ist es für diese Arbeit verloren.“ Ein Dompteur muß über dem Alphatier stehen, das „Superalphatier“ in einer Eisbärengruppe zu sein, ist besonders schwierig, weil Bären in optischer und akustischer Hinsicht extrem ausdrucksarm für uns sind. Dennoch und trotz aller Angriffe und Fehlinterpretationen darf beim Dompteur keine Angst aufkommen. Darin besteht laut dem Zürcher Zoodirektor Heini Hediger „das wesentliche ‚Geheimnis‘ von Ursula Böttcher im Umgang mit den sie hoch überragenden arktischen Riesen.“
Inzwischen befragt man nicht nur Zoos und Zirkusse im Hinblick auf ihre artgerechte Haltung der Tiere. Die Frankfurter Rundschau fragte den für seine Tierdokumentationen geadelten Regisseur David Attenborough, ob seine Arbeits-„Methoden“ denen seines Bruders, des Spielfilmregisseurs Richard, ähneln würden. Attenborough antwortete: „Wir sind vollkommen verschieden. Er erfindet Geschichten, während ich Geschichten filme.“ – Oder filmen lasse. Nachdem er in einem Interview zugegeben hatte, die im Zoo gefilmte Geburt eines Eisbären in eine Sendung eingebaut zu haben, die diese Tiere in der arktischen Wildnis zeigte, war es zu einem „Attenborough-Skandal“ gekommen. Der des Betrugs Bezichtigte verteidigte jedoch nicht nur seine Täuschung, sondern gab gleich noch weitere zu. Die Tierfilmproduzenten sprangen ihm bei: Seine „Eisbären-Methode“ entspreche den „Redaktionsanforderungen“, sie sei „Standard“ bei der Produktion von „Natural History Programmen“. Wahrscheinlich haben wir es bald nur noch mit zusammenmontierten Eisbären zu tun.
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Chapman-Zebra
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7. Elefanten
Die Wissenschaft ist grobschlächtig, das Leben subtil, deswegen brauchen wir die Literatur, meinte Roland Barthes. Und bei der Tierforschung brauchen wir die Erzählungen der Tierpfleger bzw. Wildhüter. Die mit Elefanten beschäftigten Pfleger gelten bei ihren Kollegen als privilegiert und die Elefantenforscher kooperieren schon lange, wenn auch manchmal notgedrungen, mit ihnen. Der Elefantenpfleger des Ostberliner Tierparks Patric Müller wechselte die Seite – von der Hand- zur Kopfarbeit: Er begann ein Biologiestudium – sinnigerweise bei Professor Elefant an der Humboldt-Universität, und forschte dann auch über Elefanten. Frühere Kollegen von ihm im Tierpark, Bodo Förster und seine Frau Lia, engagierten Mahuts und machten sich in Thailand mit einem „Elefantencamp“ selbständig. „Einmal Elefantenmann immer Elefantenmann, meint Patric Müller. Bei ihm begann das so: „Als ich 1986 in Tierpark anfing, ließ Professor Dathe ein neues Elefantenhaus bauen. Es wurde 1989 fertiggestellt, im Vorfeld kamen aber schon die Elefanten: zwei aus dem Moskauer Zoo und vier junge aus Zimbabwe. Dort hatte man die Herden abgeschossen, weil es zu viele geworden waren, die Jungtiere aber behalten, die waren natürlich mehr oder weniger traumatisiert, als man sie an die Zoos verkaufte, aber aus denen sind trotzdem tolle Elefanten geworden. Es ist dabei wichtig zu wissen, erstens dass man eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen muss, um mit denen umgehen zu können, weil Elefanten einem ja schon von ihrer Physis her überlegen sind, Masse mal Beschleunigung. Zweitens haben Elefanten eine Sozialstruktur, die hierarchisch geordnet ist, das heißt, es gibt ein Alphatier und das ist bei ihnen meistens eine Kuh. Elefanten erfordern generell eine individuelle Pflege. Ich will das nicht vermenschlichen, aber für das Vokabular, um Charaktereigenschaften bezeichnen zu können, bleibt mir ja nur das von den Menschen.“ Dieses ergibt sich bei den Elefantenpflegern auch dadurch, dass sie – anders als die Pfleger in anderen „Revieren“ – nach Feierabend immer noch im Tierparklokal zusammenkommen: „Da wurden dann am Biertisch auch alle Probleme angesprochen, die sich um die Elefanten drehten: „Was vorgefallen ist am Tag oder in der letzten Zeit und was zu erwarten ist“ – bei diesem oder jenem Tier.
Die Elefantenpfleger im Westen geben dabei gerne zu, dass die mit Elefanten arbeitenden Mahuts in Indien und Burma z.B. über sehr viel mehr Elefantenwissen als sie verfügen, weil die Tiere, mit denen sie tagtäglich arbeiten mit zur Familie gehören. Ihr Elefant begrüßt trompetend ihren Nachwuchs und trauert mit ihnen um Verstorbene. Verwaiste Jungtiere werden gelegentlich von den Frauen gesäugt. Für die Mahuts ist es selbstverständlich, dass es „unter den Elefanten fleißige Arbeiter gibt und solche, die sich drücken; manche haben freundliche Gemüter, und manche sind ständig schlecht gelaunt. Einige von ihnen transportieren Baumstämme, die bis zu zwei Tonnen schwer sind, ohne zu murren, und andere, die genau so stark sind, stellen sich fürchterlich an wegen eines Hölzchens,“ wie es in einem englischen Bericht heißt. Solch anthropomorphe Interpretationen von Verhalten gelten als unwisenschaftlich, „aber“, gibt die Philosophin Mary Midgley zu bedenken, „würden sie sich nicht an diesen alltäglichen Gefühlen orientieren – würden sie nicht beachten, dass ihr Elefant glücklich, verärgert, ängstlich, aufgeregt, müde, gereizt, neugierig oder wütend ist, sie würden nicht nur ihre Arbeit verlieren, sie wären sehr bald tot.“
Der Zürcher Elefantenpfleger Ruedi Tanner schreibt in seiner Biographie „Mein Leben mit den Elefanten“ (2000) – über „seine“ kinderlose Elefantenkuh Druk: „Oft will sie sogar uns behüten. Ihr höchstes Glück ist, wenn ein junger Elefant oder ein Elefantenpfleger unter ihrem Bauch sitzt.“ Und „trompeten“ tun Elefanten „aus Angst, Übermut oder Wut.“ Als ein Geräusch, auf das alle Elefanten erwartungsvoll reagieren, aber auch alle anderen Zootiere, erwähnt er das Klingeln mit seinem „Schlüsselbund“. Respekt verschaffen die Pfleger sich hingegen mit einem „simplen Besen“.
Ihre Pfleger suchen sich die Elefanten selber aus, wie der Hamburger Elefantenpfleger Karl Kock meinte. So hatten sie im Zoo Hannover z.B. eine besonders vertrauensvolle Beziehung zu ihrem Elefantenpfleger Ramin entwickelt. Als dieser schwer verletzt im Krankenhaus lag, mußte man ihn täglich in den Zoo bringen, „damit die Elefanten angekettet werden konnten.“ 1968 schickte der Zoodirektor Ruedi Tanner auf einen größeren Elefantentransport: Er sollte zwei kleine Elefanten aus Kalkutta im Flugzeug nach Zürich begleiten. Eines der Tiere regte sich unterwegs derart auf, dass auch kein Valium mehr half. Tanner steckte ihm daraufhin zwei Finger in den Mund, „damit es nuckeln konnte.“ Das beruhigte den kleinen Elefanten zwar, aber Tanner mußte deswegen stundenlang auf einem Blecheimer sitzend ausharren. Eine Zürcher Künstlerin machte aus dieser Szene später ein Wandteppich-Motiv. Der kleine Elefant, Chhukha wenig später genannt, wich seit dem Flug nicht mehr von Tanners Seite: „Die ersten Wochen war es besonders schlimm.“ Dafür konnte er bald auch Nachts in das Elefantenhaus gehen, ohne das die Tiere hochschreckten, was z.B. dem Zoodirektor, der Schlafforschung bei Tieren betrieb, nie gelang.
Patric Müller erzählte mir, wie sie versuchten, den Elefanten Abwechslung zu bieten, damit sie nicht in ihrem Gehege verblöden: „Beispielsweise wollten wir mit den Elefanten rausgehen, außerhalb der Elefantenanlage. Nichts Besonderes, einfach auf diese Kippe, wo viel Wald war, da sind wir mit dem Elefantenbullen, als er noch jung war, hin. Das wurde eine Zeitlang auch mehr oder weniger inoffiziell geduldet. Wenn der Direktor Dahte Geburtstag hatte, wurde er von einem Elefanten abgeholt. Wir wollten aber auch weiterhin gerne und auch mit anderen Elefanten rausgehen dürfen. Wir wollten einfach die Erfahrungsmöglichkeiten der Elefanten erweitern, ihr Verhaltensrepertoire vergrößern und ihre Langeweile reduzieren. Wenn der Tierpark zu ist, keine Besucher mehr drin sind, dann ist das ja auch eigentlich kein Problem, kein Sicherheitsrisiko. Wir haben viele Dinge gemacht, die nicht mit der Leitung unbedingt direkt abgesprochen waren, die aber für uns durchaus einschätzbar waren. Wir wollten damit vor allem erreichen, war, dass sie weniger schreckhaft reagierten – auf neue Sachen und Situationen.“
Der Zürcher Elefantenpfleger Ruedi Tanner berichtet ebenfalls von solchen quasi heimlichen Aktivitäten mit den Elefanten – z.B. „wenn unsere Vorgesetzten eine Sitzung hatten.“ In dieser „unbeaufsichtigten“ Zeit führte er u.a. „seinen“ jungen Elefanten, Thaia, durch den Zoo, an einem Vorderfuß mit dem Seil gesichert. Dabei fiel ihm auf, dass sie vor Flugzeuglärm groß Angst hatte. Weil sie auch noch Narben am Hals hatte, war er davon überzeugt, dass sie zwar in Thailand gefangen worden war, aber eigentlich aus Vietnam stammte: „Die Herde wurde mehrmals bombardiert. Deshalb hatte Thaia Angst vor Düsenflugzeugen. Durch Feuer und Entlaubung des Waldes wurde die Herde derart verängstigt, dass sie floh. Gegen Westen nach Thailand. Mit Futter und guten Worten nahm ich dem Tier die Angst vor den Flugzeugen.“
Die Romanistin und Elefantenliebhaberin Christiane Rath erwähnt in ihrem Buch „Die Elefanten zu Köln“ (2008) zwei Arten der Elefantenhaltung. Die im Ostberliner Tierpark und auch in Zürich praktizierte nennt sich „hands on-Haltung“ und die neue in Köln „protected contact“ (pc), dabei bleiben die Pfleger „immer durch Schutzgitter vom Tier getrennt“. Viele Zoomanager hoffen laut Ruedi Tanner, „dass mit dem ‚Geschützten Kontakt‚ die selbstbewußten Elefantenpfleger durch ‚Einheitstierpfleger‘ zu ersetzen seien“ – für die die Arbeit mit Elefanten nur ein „Job“ ist – „mit Ferien und Feierabend“.
Tanner schreibt: „Zoobullen müssen fast immer wegen ‚Bösartigkeit‘ kurz nach Eintritt der Geschlechtsreife getötet werden.“ In Indien ist es genau umgekehrt – antiödipal: Wenn ein Mahut von einem Elefanten getötet wird, übernimmt sein Sohn ihn und sowohl ihm als auch dem Elefanten bringt man großen Respekt entgegen.
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Darwin-Nandus auf der Vikunja-Wiese
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8. Fischliebhaber
Die Innsbrucker Verhaltensforscherin Ellen Thaler taucht regelmäßig in Korallengärten. Auf den Seychellen stieß sie beim Tauchen im Vorriff auf einen drei Meter großen Zackenbarsch. Beide bewegten sich nicht. Ellen Thaler blätterte hastig in ihrem wasserfesten Bestimmungsbuch, der Eintrag „bisher keine Übergriffe auf Taucher bekannt“ beruhigte sie. Der Barsch wurde entspannt von ein paar Putzerfischen bedient, als sie fertig waren, ließ er sich sinken und entschwand ihrem Blick. Aber an der nämlichen Stelle traf sie ihn danach noch viele Jahre wieder. 2010 wurde er jedoch „zu Tode geangelt“, wie sie in ihrer Sammlung von Reiseberichten: „Die Stunde des Chamäleons“ schreibt. In ihrem Buch „Fische beobachten“ heißt es dazu, sie wolle (vor allem den Aquarianern) „zeigen, dass bei all dem umfassenden Wissen über Technik und Systematik allzu oft etwas Wesentliches auf der Strecke bleibt: nämlich die Koralle, der Krebs hier, die Muschel dort und schon gar der Fisch, das Individuum also, an dem wir unsere helle Freude haben sollten!“
Ein ähnliches Erlebnis wie Ellen Thaler hatte die amerikanische Unterwasserfilmerin Julia Whitty, über das sie in ihrem Buch „Riff – Begegnungen mit verborgenen Welten zwischen Land und Meer“ (2009) berichtete: Auf der Südseeinsel Rangiroa lernte sie unter Wasser eine zwei Meter lange Riesenmuräne kennen – „als freundliches und neugieriges Geschöpf“. Die Einheimischen nannten sie Vaihiria. Nachts schwamm diese „Königin der Lagune von Rangiroa“ zum hell erleuchteten Steg des Strandhotels, wo die Urlaubsgäste ihr Brot zuwarfen. Sie bewohnte „eine Ansammlung zerbrochener Acropora-Korallen“. Einmal fand die Autorin sie zusammengerollt in einem versunkenen Boot, wo sie sich von einem Putzergarnelenpaar und einem Kaiserfisch Parasiten entfernen ließ. Anschließend schwamm sie hinter Julia Whitty her: „Es ist immer etwas beunruhigend, mit einer frei schwimmenden Muräne unter Wasser zu sein, vor allem, wenn sie groß ist“, meint die Autorin. Vaihiria folgte ihr, „auch wenn ich mich noch so bemühte, ihr die Führungsrolle zuzuschieben“. Manchmal verschwand sie in einer Riffspalte und kam aus einer anderen wieder heraus – sie kannte sich in der Lagune aus. Aber dann verkaufte der französische Hotelbesitzer das Anwesen an Japaner und die fanden, „dass die große frei umherschwimmende Muräne eine Gefahr für die tauchenden Gäste“ war. Sie beauftragten jemanden, der zu den Korallen rausschwamm und sie mit einem Harpunengewehr erschoß.
Ganz anders als diese Unterwasserbeobachtungen sind dagegen die männiglichen Meeresforschungsberichte: z.B. John Steinbecks „Geschichte einer Expedition: Logbuch des Lebens“: 1944 mietete der Schriftsteller zusammen mit seinem Freund Ed Ricket eine Yacht samt Mannschaft, mit der sie von der Fischverarbeitungsstadt Monterey in den Golf von Kalifornien fuhren. Sein Freund hatte eine Firma, „Pacific Biological Laboratories“ in der Cannery Row. Er ließ Kinder und Arbeitslose Frösche, Schlangen und vor allem Katzen sammeln, die er dann en gros und einzeln oder sogar en détail an Forschungslabore verkaufte. Bei ihrer Expedition ging es um Meerestiere. Während der ganzen Fahrt sammelten, fischten, angelten und erschossen sie Fische, Schnecken, Muscheln, Krabben, Krebse – zentnerweise. Es war eine hemingwaysche Abenteuertour: zwei alte Männer und das Meer, dessen Bewohner sie massenweise zur Strecke brachten. Diese „Strecke“ war vollkommen sinnlos. Zwar bemerkt Steinbeck in seinem „Logbuch“ gelegentlich, dass er diese oder jene gefangene Art kannte oder eine andere Art ihm vollkommen unbekannt war, aber viel mehr als die Namen schien die beiden Männer auch nicht zu interessieren. Zum Teil schmissen sie ihren Fang auch wieder über Bord. Kurzum: Sie hinterließen im Kielwasser eine Spur der Verwüstung maritimen Lebens, kamen sich dabei aber vor wie Darwin auf der „Beagle“. Zwei schreckliche Kindsköpfe, die nach Sonnenuntergang betrunken über die individuelle „Kreativität“ räsonierten. „Rickets Credo“, schreibt Steinbeck, lautete: „Wir müssen mit dem, was uns zu Gebote steht, so viel Freude wie möglich erringen!“ An anderer Stelle heißt es: „Nach unserer Rückkehr machten wir uns sogleich ans Werk, die Tausende aufgesammelten Tiere wissenschaftlich auszuwerten. Unser Bestreben war weniger auf Entdeckung neuer Arten ausgerichtet als auf eine Geographie der pazifischen Fauna.“ Sie hatten den Fangort der Tiere jedoch ebensowenig auf ihren Transportkisten und -gläsern vermerkt wie Charles Darwin seine Sammlung auf den Galapagosinseln. Das immerhin hatten sie mit ihm gemeinsam. Im Gegensatz zu ihm etikettierten sie ihre Tiere nicht einmal: „Etiketten aber, genauer, die Information, die sie enthalten, machen ein gesammeltes Objekt erst zu dem, was es sein soll, nämlich zu einem wissenschaftlichen Gegenstand,“ wie der Insektenforscher Michael Ohl in seinem Taxonomie-Lehrbuch „Die Kunst der Benennung“ (2015) schreibt.
So erbrachte z.B. die einjährige deutsche Tiefsee-Expedition mit dem Dampfer „Valdivia“ (1898-99) eine derartige „Ausbeute“, dass die Herausgabe des wissenschaftlichen Berichts in 24 Bänden erst 1940 abgeschlossen wurde. Im Berliner Naturkundemuseum ist der für Crustacea zuständige Wissenschaftler sogar noch heute damit beschäftigt, die von der Valdivia-Expedition heimgebrachten Flohkrebse zu bearbeiten.
Nicht viel besser als Steinbecks Berichte über Meerestiere sind die des Humanethologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt in seinem 1971 veröffentlichten Bericht über seine Taucherlebnisse auf den Malediven: „Im Reich der Atolle“. Darin heißt es: „Bereits nach wenigen Tagen kannte ich eine Reihe von Fischen persönlich. Mit einem gefleckten Zackenbarsch schloß ich bald Freundschaft.“ Das ist aber wohl nur so dahingesagt, denn zum Einen scheinen ihn, ebenso wie seinen Mittaucher, den Unterwasserfilmer Hans Hass, eher Haie interessiert zu haben, an denen die beiden neue Haiabwehr- Mittel und -Waffen testeten, wobei es Eibl-Eibesfeldt um die Erforschung von „Raubtierinstinkten“ – bei Riffhaien und Finanzhaien – ging; und zum Anderen berichtete er in seinem Buch viel ausführlicher über „Putzerfische“, über die jedoch so viel geforscht wurde und wird, dass seine Bemerkungen über sie nicht viel besagen.
Männer sind vielleicht sowieso besser dafür geeignet, sich mit toten Fischen zu unterhalten. „Die Zeit“ nannte den Angelsport einmal eine „Männerbastion“, es ist das männliche Pendant zum Yoga. Der thüringische Schriftsteller Landolf Scherzer heuerte 1977 auf dem „Fang- und Verarbeitungsschiff „Hans Fallada“ als „Produktionsarbeiter“ an. Die Fahrt ging nach Labrador. Die DDR hatte von Lizenzhändlern eine kanadische Fanglizenz – mit Mengenbeschränkung – gekauft. Als sie in ihrem Fanggebiet ankamen, waren dort schon zwei andere DDR-Fischereischiffe sowie zwei polnische, ein dänisches, ein bulgarisches, und vier westdeutsche. Weil Scherzer die Verarbeitung der Fischmassen auf dem Fließband nicht gleichgültig ließ, führte er manchmal Gespräche mit einem toten Kabeljau. Zuvor hatte er sich auch schon mit einem im sibirischen Baikalsee lebenden Omul (einer Lachsart) unterhalten. Merkwürdigerweise tat das zur selben Zeit auch Peter Schütt, ein der DKP nahestehender westdeutscher Dichter. Beide berichteten anschließend darüber in ihren Sibirien-Reisebüchern. Damals hatte der „Fischfreund“ Breschnew gerade die Rettung des Sees verfügt, erklärte dazu der Dichter seinen westdeutschen Lesern.
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Flamingo-Lagune an der Kamel-Wiese
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9. Fliegen
Insektenforscher werden gerne als „Fliegenbeinzähler“ abgetan. 1948 belegte z.B. der Präsident der Lenin-Akademie für landwirtschaftliche Forschung, Trofim Lyssenko, die mit Fruchtfliegen experimentierenden Genetiker der UDSSR mit diesem Schimpfwort – und sorgte dafür, dass sie alle entlassen wurden. Aber man wußte da schon längst: Fliegen haben sechs Beine. Warum sie sich jedoch selbst in großer Gefahr noch die Zeit nehmen, um sich alle paar Schritte mit ihrem hinteren Beinpaar erst ihre zwei Flügel und dann die Beine zu putzen, das wird tatsächlich seit langem von unzähligen Brachycera-Spezialisten erforscht. Auch ihre vorderen zwei Beine putzen sich die Fliegen ständig, was ihnen, verbunden mit den ruckartigen Laufbewegungen, etwas derartig Nervöses gibt, dass die Forschung darunter leidet.
Bei dem vorderen Beinpaar gehen einige Entomologen-Schulen, ähnlich wie viele Erforscher von Bienen, davon aus, dass – wenigstens die gemeine Stubenfliege (musca domestica), die zur Familie der „Echten Fliegen“ zählt – dort ihre wesentlichen Sinnesorgane besitzt. Erst wenn diese etwas Interessantes signalisieren, Zuckerwasser z.B., wird der Kopf runter genommen – mit den „leckend-saugenden Mundwerkzeugen“, wie es im Wikipedia-Eintrag heißt, dessen Autor sich im übrigen der obigen Entmologen-Schule angeschlossen hat, wenn er schreibt: „An den Fußendgliedern besitzen sie Chemorezeptoren, mit deren Hilfe sie Zucker schmecken können.“ Und weiter: „Ihre Eier legen sie in faulenden Stoffen und Exkrementen ab, von denen sich die Larven ernähren. Fliegen leben 6 bis 42 Tage, die Weibchen meist etwas länger. Ihre Fluggeschwindigkeit beträgt ca. 2,9 Meter pro Sekunde (rund 10 km/h).“
Andere Entomologen, die man zur Schule des Verhaltensbiologen Konrad Lorenz zählen kann, deuten das nervöse Flügel- und Beinputzen als „Übersprungsverhalten“. Dem liegt die Lorenzsche Annahme zweier entgegengesetzter „Instinkte“ zugrunde: Nahrungssuche (Gier, Angriff) und Flucht, wobei die beiden Triebregungen sich blockieren und die „Energie“ auf ein drittes Verhalten (eben das Putzen) überspringt.
Eine weitere Gruppe Entomologen erforscht die Füße, mit denen die Fliege auch auf glatten Flächen Halt findet, für diese Wissenschaftler gilt, dass das Putzen der Beine die Haftfähigkeit der Füße erhöht. Andere Forscher sind von den Augen, besonders der Märzfliege, begeistert. Der holländische Biologe Midas Dekkers schreibt: „Sie sehen aus wie ein runder großer schwarzer Po. Göttlich glänzend und aufreißend stramm, ein Lustobjekt für jeden Entomologen…Bei den Männchen berühren sich die Augen in der Mitte des Kopfes. Bei den Weibchen ist ein Spalt dazwischen. Und wie immer zeigt sich auch hier die Güte Gottes im Detail: Nur bei den Männchen ist die Spalte behaart.“
Ja, in so einer gewöhnlichen und für gewöhnlich lästigen Fliege steckt unendlich viel Forschung. Die Fliegenfänger, auf denen sie kleben bleibt und sich langsam zu Tode strampelt, sind deswegen zu Recht mit der letzten Novellierung des Tierschutzgesetzes verboten worden. Zuvor hatte der Schriftsteller Robert Musil bereits das grausame Sterben auf dem „Fliegenpapier“, wie sein Text hieß, akribisch geschildert. Der Naturforscher Carl von Linné erwähnte in seinem „Vollständigen Natursystem“ Band 1: „Aus Martinique wird ein Fliegenfänger gebracht, der oben braun und unten blaßfärbig ist. Buffon“ Seiner knappen Bemerkung läßt sich dreierlei entnehmen: 1. Der alte Schwede hat sie wohl dem französischen Naturforscher Buffon zu verdanken; 2. Die Erfindung dieses Fliegenfängers stammt aus der Karibik, wo es bedeutend wärmer als hierzulande ist und es deswegen ganzjährig viel mehr Fliegen gibt. Das Verbot klebriger Fliegenfänger bedeutet natürlich nicht, dass man sich der Tiere nicht mehr erwehren oder sie nicht verfolgen darf. Letzteres kann man sogar als die Hauptbeschäftigung der Fliegenforscher bezeichnen.
Zu den hartnäckigsten Entomologen der jüngeren Generation zählt der schwedische Schwebfliegenforscher Fredrik Sjöberg, der ein Buch über seine Jagd auf diese Tiere veröffentlichte: „Die Fliegenfalle“ (2008). Er beschränkte sich dabei auf die Arten, die auf einer Insel vor Stockholm vorkommen. Dazu mußte er sie fangen und dann „zu Tode mikroskopieren“, wie der Naturforscher Ernst Haeckel das genannt hat. Über das Schwebfliegen-Buch von Sjöberg heißt es: „Jeder kennt diesen Moment, in dem man sich fragt: Warum mache ich das eigentlich alles‘ Bei Fredrik Sjöberg war er erreicht, als er sich mit einem Lamm im Arm auf den Straßen Stockholms wiederfand. Das Tier sollte bei einer Theateraufführung mitwirken, der Autor war dafür verantwortlich, dem Regisseur jeden Wunsch zu erfüllen. In diesem Moment brach sich eine lange im Verborgenen gereifte Erkenntnis Bahn: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Im darauffolgenden Jahr ließ er sich auf einer Insel nieder und begann eine lang unterdrückte Passion endlich auszuleben: Fliegen zu fangen und ihr Leben zu studieren.“
In seinem neuesten Buch, das 2016 auf Deutsch erschien, fragte er sich jedoch schon im Titel: „Wozu macht man das alles?“ Zwar hatte er auf seiner Insel mehr Schwebfliegen-Arten als erwartet entdeckt, und bei einigen handelte es sich sogar um noch unbenannte und verwandtschaftlich noch nicht eingeordnete, d.h. um neue Fliegen quasi (laut WWF gibt es wahrscheinlich noch zigtausend nicht-entdeckte Arten), aber als Lebenswerk war Sjöberg das anscheinend doch zu wenig. Deswegen ist in seinem neuen Buch nun mehr von den zwei großen Natur-Benamern und -Sortierern – Carl von Linné und Charles Darwin die Rede.
Bei den Schwebfliegen geht man von 6000 Arten aus. Ihr Charakteristikum ist, dass sie in der Luft auch bei starkem Wind auf der Stelle fliegen können – dann plötzlich zur Seite oder nach vorne schießen und wieder stehen bleiben. Auch dieses Verhalten hat etwas sehr Nervöses. Sie haben laut Wikipedia eine extrem hohe „Flügelschlagfrequenz – bis zu 300 Hertz“. Die Entomologen erforschen die Schwebfliegen jedoch wie gesagt meistens „ruhiggestellt“, d.h. tot auf ihrem Arbeitstisch.
Viele Schwebfliegenarten haben ein hummel-, wespen- oder bienenähnliches Aussehen – „angenommen“ sagen die Insektenforscher und sprechen dabei von „Mimikry“. Als Darwinisten gehen sie stets von der Nützlichkeit aus – und die besteht in diesem Mimikry-Fall darin, dass ein harmloses Tier sich einem wehrhaften aus einer ganz anderen Art in Form, Farbe, Geräusch etc. angleicht. Das ist so einleuchtend, dass Woody Allen darüber seinen besten Film gemacht hat: „Zelig“. Dem gegenüber hat die französische Insektenforscherschule um Roger Caillois versucht, die Mimesis von ihrer darwinistischen Verklammerung mit der “Nützlichkeit” zu lösen – und sie als ästhetische Praxis zu begreifen: So versteht Caillois z.B. die falschen Augen auf den Flügeln von Schmetterlingen und Käfern als “magische Praktiken”, die abschrecken und Furcht erregen sollen – genauso wie die “Masken” der so genannten Primitiven. Und die Mimikry ist für ihn überhaupt ein tierisches Pendant zur menschlichen Mode, die man ebenfalls als eine “Maske” bezeichnen könnte – die jedoch eher anziehend als abschreckend wirken soll. Wobei das Übernehmen einer Mode “auf eine undurchsichtige Ansteckung gründet” und sowohl das Verschwinden-Wollen (in der Masse) als auch den Wunsch, darin aufzufallen, beinhaltet. So oder so stellt die Mimikry jedenfalls einen Überschuß der Natur dar.
Die Fliegen bilden mitunter schon für sich genommen einen „Überschuß der Natur“. Wobei der deutsche Naturschutzbund jedoch zu bedenken gibt, „dass wir in der Stadt inzwischen eher zu wenig Fliegen haben, worunter vor allem die Vögel, besonders während der Aufzuchtzeit, leiden.“ Das Verbot des „Fliegenklebers“ kam also beinahe zu spät. Überdies sind Öko-Varianten davon auch weiterhin erlaubt, u.a. die „giftfreie, spiralförmige Leimfalle aus natürlichen Rohstoffen“. Die ökologische Schädlingsbekämpfung hat überhaupt in Deutschland eine gewisse Tradition: Schon der Biologe Ernst May widmete sich 1942 als Leiter des „Entomologischen Instituts der Waffen-SS“ am KZ Dachau, das zur „SS-Forschungs- und Lehrgemeinschaft ‚Ahnenerbe’“ gehörte, den Fragen der Fliegenbekämpfung, an der „der Reichsführer-SS ein ganz besonderes Interesse hat,“ wie er dem SS-Obersturmführer Dr. Rudolf Schütrumpf schrieb, der dem Entomologischen Institut zugeteilt worden war. May wollte laut der Biologiehistorikerin Ute Deichmann (in: „Biologen Unter Hitler“) untersuchen, ob sich die Fliegen durch Infektion mit dem Pilz Empusa „naturgemäß-biologisch“ bekämpfen ließen. „Himmler, der alternativen Methoden zur Schädlingsbekämpfung gegenüber sehr aufgeschlossen war, ließ anfragen, ob nicht auch Schlupfwespen gegen Fliegen gezüchtet werden könnten, und er bat May, der Frage nachzugehen, ob nicht die Vernichtung ‚der Fliegen oder der Fliegenbrut‘ durch irgendeine Kurzwellenbestrahlung möglich sei.“
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Geierfelsen
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10. Flöhe
„Die Flöhe sind seit langer Zeit Gegenstand der verschiedenartigsten Untersuchungen gewesen: man hat sie vom philologischen und vom satirischen Standpunkte aus beleuchtet, man hat sie wegen ihrer lustigen Sprünge besungen und noch häufiger wegen ihres Blutdurstes verwünscht, man hat sie ‚abgerichtet‚ und so aus ihnen Gewinn zu ziehen gewußt, nur gerade der Zoologe hat ihnen bisher nicht in der gebührenden Weise seine Beachtung geschenkt,“ so schrieb der Parasitologe E. O.Taschenberg 1880. Der derzeitige Wissensstand über die hiesigen Flöhe basiert in erster Linie auf den ökologisch-faunistischen Arbeiten von Peus (zuletzt 1972), heißt es auf der Internetseite der Frankfurter Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, „ergänzende Arbeiten erschienen danach hauptsächlich für einzelne Bundesländer. Die jüngste faunistische Übersicht für das gesamte Deutschland datiert mit Kutzscher & Striese auf das Jahr 2003.“
Der jüngste Flohüberfall geschah im Sommer 2016 in einem Celler Pflegeheim, wo die Bewohner rote Punkte auf der Haut bekamen, die juckten. Die Feuerwehr löste Großalarm aus: Sie riegelte den Ort hermetisch ab – bis die medizinische Hochschule Hannover Entwarnung gab: Flohbisse sind zwar unangenehm aber keine Lebensbedrohung. Das Internetforum „heilpraxis“ erklärte dazu: „Der Speichel des Flohs verhindert, dass das Blut gerinnt. Durch diese Sekrete entzünden sich die Stichstellen und jucken. Wird der Floh gestört, hüpft er ein Stück weiter, so dass die Einstiche sich aneinander reihen“ – meistens sind es wie bei den Wanzenstichen drei. Warum immer drei, weiß kein Mensch! Das Berliner Naturkundemuseum gibt bekannt, seine Flohsammlung umfasse 237 Arten. Im Berliner Tieranatomischen Theater und im Wittstocker Museum des Dreißigjährigen Krieges sah ich Pestflöhe unter dem Mikroskop.
Lebend sind diese flügellosen Insekten, die man paradoxerweise zu den „Fluginsekten“ zählt, äußerst selten geworden. Selbst die Flohzirkusse sind fast ausgestorben – bis auf einen, der alljährlich auf dem Oktoberfest gastiert, wo sich die Kinder unter den Besuchern oft darüber entrüsten, dass diese winzigen Tierchen so große Kutschen ziehen müssen. Gelegentlich bringen Reisende von „Flohmärkten“ im Ausland einige „Siphonaptera“ mit, sie werden hier aber nicht alt. Die Senckenbergischen Naturforscher erwähnen die „sogenannten Sandflöhe“, die in tropischen Ländern die Füße von Warmblütern befallen und dabei die „Tungiasis“ übertragen. Die Berliner Sandflohforscherin Marlene Thielecke setzte sich dieser Gefahr in Madagaskar und Kenia aus, war aber im Gegensatz zu den Einheimischen dank einer Tetanusspritze geschützt: „Als ich den Floh zufällig entdeckte, hatte er sich schon mit seinem ganzen Körper kopfüber in meine Haut gebohrt. Zuerst war er nur ein winziger roter Punkt in der Mitte meiner Fußsohle. Dann ist er Tag für Tag ein bisschen gewachsen, bis er sich als erbsengroße, druckempfindliche Erhebung abzeichnete: der Sandfloh oder in schlau: Tunga penetrans. Er setzt sich wochenlang fest, am liebsten an Ferse und Spann oder unter den Zehennägeln, um dort seine Eier reifen zu lassen. Eigentlich sollte ich ‚sie‚ sagen, denn das machen nur die Flohweibchen.“ Für die Humanmedizinerin ist die Infektion durch den Sandfloh eine „Armutskrankheit: Damit lässt sich kein Geld machen, also investiert auch die Pharmaindustrie nicht in Forschung und Medikamente. Ich wusste: Hier kann man noch vieles herausfinden und bewirken.“
Die US-Ökologen J. F. Masello und P. Quillfeldt fanden in Patagonien unter den Parasiten von Felsensittichen, eine extravagante Flohart, die an den Küken in deren Nasenhöhlen und unter der Zunge parasitiert. Mich haben schon mehrmals Hunde- und Katzen-Flöhe gestochen, aber sie ließen schnell wieder von mir ab. Mein „Lebenssaft“ (Schiller) wirkt bei ihnen empfängnisverhütend, wie die Biologin Lisa Signorile nahelegt, wenn sie schreibt: „Unser Blut stillt ihren Hunger, schmälert aber die Fruchtbarkeit und die Zahl der abgelegten Eier.“ (in: „Mißgeschicke der Evolution“ 2012). Sie fand auf einigen Katzen alle drei Arten: Katzen-, Hunde- und Menschenflöhe. „Unsere“ sind mit den Schweineflöhen identisch. Im Wikipedia-Eintrag heißt es, dass „Flöhe zwar Vorlieben für bestimmte Wirtstiere haben, aber nicht ausschließlich auf diese angewiesen sind. Vielmehr scheinen sie eine größere Bindung zu ihren Nestern zu haben als zu ihren Wirten.“ Und die „Nester“ finden sie außerhalb ihrer Wirte (in Polstermöbeln z.B.), was deren Domestikation und Seßhaft-Werdung geschuldet ist: Ihre Wirte laufen ihnen nicht weg. Als diese noch nomadische Viehzüchter waren, mußten die Flöhe in ihrer Kleidung bzw. im Fell ihrer Tiere mitwandern.
Für alle gilt, dass sie das Blut von jungen Warmblütern besonders bekömmlich finden, denn sie dringen mit ihrem zu einem Stechrüssel umgewandelten Mund leichter durch deren noch dünne Haut. In einer Hamburger Schule für Körperbehinderte bewiesen sie 2005, dass sie auch zählen können: Über 100 Flohweibchen überfielen wie ausgehungert 110 Schüler dort, die dann von der verzweifelten Schulleitung nach Hause geschickt wurden. Ein Sprecher der Bildungsbehörde versicherte: „Ein Befall in diesem Ausmaß ist sehr ungewöhnlich – zumal im November“. Außerdem wurden zwar jede Menge Flohstiche identifiziert, aber kein einziger Floh gefunden. Man forderte daraufhin die Eltern auf, bei sich zu Hause nach den Tieren zu fahnden. Meist ruft man heute bei Flohalarm den US-Weltkonzern „Rentokil“ – danach traut sich lange Zeit kein Floh mehr in das Gebäude. 1998 demonstrierten die ostdeutschen Kammerjäger in Berlin gegen diese ausländische Konkurrenz, die ihren „Lehrberuf“ entwertete, indem sie straflos ungelernte Ungeziefervernichter einstellte.
Einer ihrer „Außendienstmitarbeiter“ erzählte mir, als ich das Gespräch auf Flöhe brachte: „Man kann sie kaum zerdrücken, sie haben einen sehr harten Chitinpanzer, man muß sie mit dem Fingernagel zerknacken. Und erst mal fangen. Sie können in Bruchteilen einer Sekunde losspringen – 30 Zentimeter weit, und das ununterbrochen: tagelang. Ihre Sprünge werden durch die umfunktionierten Flugmuskeln ausgelöst… Aber gegen unsere chemischen Mittel nützt ihnen das alles nichts.“ Auch im Internet erfährt man eher was über das Wie und Womit ihrer Vernichtung, als über das, was sie sonst so treiben. Aber so ist das immer in Deutschland: Wenn man über Parasiten spricht, geht es stets um deren „Bekämpfung“, in Frankreich vermutet man hingegen erst einmal, dass „parasitäre Verhältnisse das System selbst sind,“ wie der Philosoph Michel Serres es ausdrückte. Er scheint ein ähnlich sympathisierendes Verhältnis zu Flöhen zu haben wie ich. Zum einen nannte meine erste Freundin mich „Floh“ und zum anderen besaß ich ein Aquarium und mußte für die Fische laufend Wasserflöhe fangen. Sie hüpften auch unter Wasser und erfreuten mich mit ihrer Munterkeit. Ein Gymnasiast in Ratingen, Lukas Schier, hat unlängst entdeckt, dass sie mit Kaffee noch munterer werden: „Sie hören gar nicht mehr auf, sich zu paaren,“ berichtete er der „Westdeutschen Zeitung“. Die Haustier- und Menschen-Flöhe auch so nicht: „Unter einer halben Stunde ist die Verpaarung nicht fruchtbar,“ meint Lisa Signorile, nicht zuletzt, weil die männlichen Flöhe „die komplexesten Genitalien des gesamten Tierreichs“ haben, und sowieso müssen beide vorher eine anständige „Blutmahlzeit zu sich genommen haben“ – sonst läuft gar nichts.
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Gayal
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11. Haselmaus
„Eine kleine Haselmaus huscht leide durch die Nacht, huscht leise durch die Nacht/Niemals ist ein Mensch davon je aufgewacht,“ heißt es im „Haselmauslied“. Und das stimmt auch: Das von Nüssen und Früchten sich ernährende Nagetier aus der Familie der Bilche ist wirklich leise – im Gegensatz zu seinem Vetter, den Siebenschläfer, der, wenn er Nachts ins Haus eindringt, „so viel Lärm macht, dass dieser auch einem erwachsenen Menschen, etwa einem Einbrecher, zugeordnet werden könnte und nicht einem so kleinen Tier,“ wie es auf Wikipedia heißt. Beide sind nachtaktiv und halten Winterschlaf, aber die kleinere Haselmaus wird immer seltener, weil der Siebenschläfer sie angeblich vertreibt, sie wurde deswegen jetzt zum gefährdeten „Tier des Jahres 2017“ erklärt. Bereits 2011 hatte sich bei Zittau ein Kongreß von Haselmausforschern aus 24 Ländern dem beliebten Kleintier gewidmet, dass Alfred Brehm als das „niedlichste, anmutigste und behendeste Geschöpf unter allen europäischen Nagetieren“ bezeichnete, welches sich durch „Reinlichkeit, Nettigkeit und Sanftheit des Wesens“ auszeichnet. Es sei zwar schwer, sie zu fangen, aber „hält man sie einmal in der Hand, ist sie auch schon so gut wie gezähmt.“ Wie wir und z.B. die Blaumeise, deren Nester sie bisweilen nutzt, ist die Haselmaus ein „Nesthocker“, d.h. ihre Nachkommen sind anfänglich nackt und hilflos und werden gesäugt. Wenn sie größer sind, spielen sie draußen im Gebüsch. Schon im Oktober ziehen die Haselmäuse sich für gut ein halbes Jahr in ihre mit Vorräten gefüllten „Winterlöcher“ zurück, wo sie sich zusammenrollen, ihre Körpertemperatur reduzieren und seltener atmen. Beim Zittauer Haselmaus-Kongreß kam im Wesentlichen heraus, dass über die „Schlafmäuse“ noch viel geforscht werden muß, um sie, so die SZ, zu enträtseln
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Gelbbrustkapuziner
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12. Kartoffelkäfer
Der Kartoffelkäfer heißt auf Lateinisch „Leptinotarsa decemlineata“: „Zehnstreifen-Leichtfuß“ – und kommt aus Amerika, genauer: aus Colorado, weswegen er auch „Colorado beetle“ genannt wird. Dort ernährte er sich still und leise von der „Büffelklette“ – ein Nachtschattengewächs. Aber mit den Siedlern aus Europa, die ein neues Nachtschattengewächs, die Kartoffel, anbauten, wechselte er seine Nahrungspflanze, die bald reichlich vorhanden war, ebenso dann auch der Käfer, der dann umgekehrt nach Europa eingeschleppt wurde: 1788 sichtete man ihn erstmals in den Häfen von Liverpool und Rotterdam (Etwa 200 Jahre später folgte ihm seine alte „Büffelklette“).
In Europa hatte der Kartoffelkäfer keine natürlichen Fressfeinde, seine Warnfarben, die gelb-braunen Streifen, schützten ihn. 1922 vernichtete der Kartoffelkäfer bei Bordeaux auf 250 Quadratkilometer alle Kartoffelbestände. Erst in den letzten Jahrzehnten begannen einheimische Vogelarten, u.a. Fasane, ihn als Beute anzunehmen. Derweil konnte er sich jedoch über die ganze Welt verbreiten. Seine Erforschung ist fast immer zugleich seine Bekämpfung als „Schädling“. Derzeit versucht man, der „Käferplage“ durch Chemikalien und eine gezielte Infizierung mit dem Bacillus thurengiensis Herr zu werden. Auf kleineren Feldern wird er auch heute noch einfach abgesammelt und vernichtet.
Weil der Käfer die Angewohnheit hat, gelegentlich massenhaft aufzutreten, hat man ihn für eine biologische Waffe feindlicher Nationen gehalten, an die man selbst ebenfalls schon gedacht und mehr noch: gearbeitet hat – spätestens seitdem bekannt wurde, was die Vernichtung der Kartoffelfelder 1845 und 1852 in Irland bewirkte – die „Große Hungersnot“, während der Millionen Menschen verhungerten und weitere Millionen auswanderten. Die Deutschen werden von den Türken gerne „Kartoffeln“ genannt, hier hat dann auch die Erforschung des Kartoffelkäfers die absurdesten Blüten getrieben. Das begann damit, dass man im Ersten Weltkrieg den „Erbfeind“ Frankreich verdächtigte, ihn als „B-Waffe“ einzusetzen, um die Deutschen den Hungertod auszuliefern. Tatsächlich kam es in der zweiten Hälfte des Krieges auch zu einer bedrohlichen Lebensmittelknappheit. Vor dem Zweiten Weltkrieg befahl Hitler, der im Ersten von der „C-Waffe“ Senfgas in Belgien vorübergehend erblindet war, dass nur defensive biologische Kriegsforschung und keine offensive betrieben werden dürfe. Verantwortlich dafür war eine Arbeitsgemeinschaft (AG) namens „Blitzableiter“ beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW). Nachdem sich 1943 das Gerücht verbreitet hatte, dass die Amerikaner beabsichtigten, Kartoffelkäfer über Deutschland abzuwerfen, konnte die AG mehr oder weniger heimlich die biologische Waffenforschung in beide Richtungen angehen. Weil einige Forscher gedacht hatten, dass es darum ginge, Kartoffelkäfer gegen England einzusetzen, beschied ihnen das OKW aber zugleich, „daß ein Einsatz von biologischen Kampfmitteln im Angriff gegen England nicht in Erwägung gezogen“ werde. Um trotzdem bio-kampffähig zu sein, plädierte Oberst Münch auf einer Sitzung der AG trickreich für das „Erproben von Ausbringungsverfahren“, Freilandversuche, „damit man wisse, wie der Gegner die B-Mittel anwenden könne,“ wie es in einer Aktennotiz hieß. Der Ministerialdirigent Schumann machte sich dafür stark, den Führer zu überzeugen, dass „Amerika gleichzeitig mit verschiedenen menschlichen und tierischen Seuchenerregern sowie mit Pflanzenschädlingen angegriffen werden müsse.“
Zur landwirtschaftlichen Sektion der „Wehrmachtsabteilung Wissenschaft“ gehörte ein Forschungsinstitut in Kruft (Rheinland-Pfalz), wo unter der Leitung von Martin Schwartz Kartoffelkäfer gezüchtet wurden. Daneben wurde am Kaiser-Wilhelm-Institut für Kulturpflanzenforschung in Wien-Tuttenhof unter der Leitung des später obersten DDR-Biologen Hans Stubbe an Unkrautpflanzen geforscht, deren Samen über England abgeworfen werden sollten. Auf einmal „schien auch der Kartoffelkäfer für einen Einsatz gegen England geeignet,“ wie die Biologiehistorikerin Ute Deichmann in ihrem Buch „Biologen unter Hitler“ schreibt.
Am KZ Dachau gab es noch das „Entomologische Institut der Waffen-SS“, das zur „SS-Forschungs- und Lehrgemeinschaft ‚Ahnenerbe’“ gehörte, hier wurde unter der Leitung des Biologen Ernst May erforscht, ob die malariaübertragende Mücke Anopheles für den Kriegseinsatz tauglich war. Und am „Institut für Wehrwissenschaftliche Zweckforschung der SS“ bekam der Leiter der Entomologischen Abteilung, Reichsärzteführer Kurt Blome, den Auftrag: „Die den Menschen schädigenden Insekten in ihren Lebensgewohnheiten zur Klärung der Frage bestimmter Anwendungen und verstärkter Abwehr zu studieren.“ Was bei dieser Forschung herausgekommen ist, weiß man nicht. Um die „Anwendung“ zu testen, stand der „Flieger-Forstschutzverband“ unter Oberst von Borstell zur Verfügung, im Reichsgebiet wurde aber laut Ute Deichmann „wegen der leichten Verstreuung das Arbeiten mit Kartoffelkäfern und damit die Züchtung der für notwendig erachteten 20-40 Millionen Käfer als problematisch erachtet.“ Dennoch fand im Oktober 1943 „ein feldmäßiger Versuch bei Speyer statt, bei dem 1400 Kartoffelkäfer vom Flugzeug aus abgeworfen wurden. 57 davon wurden wiedergefunden.“ Der Rest sollte im darauffolgenden Sommer „bei der allgemeinen Suchaktion gesammelt“ werden. Damit war der „Kartoffelkäfer-Abwehrdienst“ (KAD) des Reichnährstands gemeint, der mit dem Slogan „Sei ein Kämpfer, sei kein Schläfer, acht’ auf den Kartoffelkäfer!“ jeden zur Bekämpfung des Schadinsekts aufrief. „Die Schulkinder bekamen manchmal schulfrei, um die Käfer einzusammeln. Aus Arbeitslosen oder Schulkindern wurden in den Dörfern Suchkolonnen gebildet, um Felder nach Kartoffelkäfern abzusuchen,“ heißt es auf Wikipedia. Ähnliche Aktionen gab es nach dem Krieg auch wieder in der BRD und der DDR. Im Westen nannte man außerdem die vielen Ost-Flüchtlinge „Kartoffelkäfer“, man kann sich denken warum.
Als um 1950 herum fast die Hälfte aller Kartoffelfelder in der DDR von Kartoffelkäfern befallen wurde, machte die staatliche Propaganda erneut die Amerikaner bzw. die CIA dafür verantwortlich. Gleichzeitig mobilisierte die Regierung alle Schüler und Studenten, um den „Amikäfer“ und seine Larven auf den Feldern abzusammeln. Unterdes forderte die amerikanische Regierung von der BRD, propagandistische Gegenmaßnahmen zu unternehmen. Diese beschloss daraufhin einen Postversand an sämtliche Gemeinderäte der DDR und den Ballonabwurf von Kartoffelkäferattrappen aus Pappe mit einem aufgedrucktem „F“ für „Freiheit“. Diese wenig aufklärerische Aktion bestärkte die DDR noch in ihrer Annahme, es mit einer großangelegten US- bzw. Nato-Sabotageaktion zu tun zu haben, die darauf abzielte, eine Hungersnot in den sozialistischen Ländern herbeizuführen. Bertolt Brecht dichtete: „Die Amiflieger fliegen/ silbrig im Himmelszelt/ Kartoffelkäfer liegen/ in deutschem Feld.“ Noch Jahrzehnte später war der DDR-Dramatiker Heiner Müller davon überzeugt, wenn er es auch inzwischen eher witzig fand, dass die CIA im Kalten Krieg Kartoffelkäfer einsetzte.
Auch Polen wurde 1950 von einer Kartoffelkäferplage heimgesucht: „Unerhörtes Verbrechen der amerikanischen Imperialisten“, titelte im Mai des selben Jahres die „Trybuna Ludu“. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass die deutsche Wehrmacht 1939 den Kartoffelkäfer in Polen eingeschleppt hatte. Die Deutschen hatten dort zuvor, im 18 Jahrhundert, bereits die Kartoffel eingeführt, weswegen man diese Feldfrucht in Polen auch „Berliner“ nannte – die Kartoffelkäfer später „Helmuty“.
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Gelbschnabeltoko
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13. Löwenzahn
Der Spandauer Schuldirektor Christian Sprengel kam 1790 der geschlechtlichen Vermehrung der Blumen durch Insekten auf die Spur. Sein Buch „Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“ (1793) wurde jedoch lange Zeit als „absurd“ und „obszön“ abgelehnt.
Sein prominentester Gegner war Goethe, der Sprengel vorwarf, die Natur zu vermenschlichen. Ähnliches galt für Hegel, als er 1830 in seiner Vorlesung „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ auch „Die vegetabilische Natur“ behandelte. Für ihn war es noch „eine berühmte Streitfrage in der Botanik, ob wirklich bei der Pflanze erstens Sexualunterschied, zweitens Befruchtung wie bei den Tieren vorhanden“ sei. Er entschied sich, von der Geschlechtslosigkeit der Pflanzen auszugehen, selbst bei den Zweigeschlechtlichen, „weil die Geschlechtsteile, außer ihrer Individualität, einen abgeschlossenen, besonderen Kreis bilden.“ Zudem sah er für die „Begattung“, d.h. Bestäubung der Blüten, keine Notwendigkeit, es ist etwas „Überflüssiges: Luxus“, denn die Pflanzen können sich z.B. auch durch Ableger, Sprossen etc. vermehren. „Die Verstäubung ist für sich selbst Zweck der Vegetation, – ein Moment des ganzen vegetativen Lebens, welches durch alle Teile geht.“ Mit anderen Worten: Da die Blüte selbst ein Moment des „Fürsichseins“ ist, kann die Pflanze als Ganzes „nie eigentlich zum Selbst kommen“. Nicht erst die Befruchtung ihrer Blüten, sondern ihr bloßer Wachstumsprozeß ist bereits „Produktion neuer Individuen“.
Erst Charles Darwin verschaffte der von Sprengel entdeckten Symbiose zwischen Blumen und Insekten Geltung: In einem seiner letzten Werke „Über die Einrichtung zur Befruchtung britischer und ausländischer Orchideen durch Insekten“ (1862) urteilte er über Sprengel: „Dieses Schriftstellers eigenthümliches Werk mit seinem eigenthümlichen Titel wird oft geringschätzig beurtheilt. Er war ohne Zweifel ein Enthusiast und hat wohl auch einige seiner Ideen zu einer ausserordentlichen Länge ausgesponnen. Doch habe ich mich mittelst meiner eigenen Beobachtungen überzeugt, dass es einen gewissen Schatz von Wahrheit enthält. Und schon vor Vielen sprach Robert Brown, vor dessen Urtheil sich alle Botaniker neigen, nur mit hoher Achtung davon und bemerkt, dass nur Diejenigen darüber lachen können, welche nicht viel von der Sache verstehen.“
Hegel begriff alle geschlechtliche Vermehrung der Blumen als „Luxus“. Für den Basler Biologen Adolf Portmann war ihre Nektar- bzw. Saftproduktion zum Anlocken der Insekten 1962 nur noch beim Löwenzahn ein „Luxus“, den er vor allem gegen die Darwinsche Evolutionstheorie ins Feld führte, insofern darin stets auf die Nützlichkeit abgehoben wird. Dem gegenüber gibt es jedoch laut Portmann immer wieder zwecklose, „unadressierte“ Entwicklungsphänomene. „Auch die Schönheit einer Blüte ist nicht hinreichend durch den Zweck der Anlockung von bestäubenden Insekten geklärt, wie innig und sinnvoll solche symbiontischen Beziehungen auch in manchen Fällen sein mögen,“ schreibt der Biologe Joachim Illies in seiner Biographie über Adolf Portmann, der als Beispiel den Löwenzahn erwähnt: „Die ganze goldgelbe Pracht der Blüte, so nützlich sie für die zahllosen Insekten ist, die von ihr angelockt den Pollen und Nektar entnehmen, ist für die Pflanze selbst nutzlos, denn ihre Samenanlagen entwickeln sich grundsätzlich jungfräulich, d.h. ohne Befruchtung allein aus dem Erbgut der Mutterpflanze.“ Wenn die Orchidee ihre Insekten „täuscht“ (siehe taz.v. 19.12. 2016) , dann „täuscht“ der Löwenzahn sich quasi selbst.
Portmann schreibt 1955 (in: „Ein Naturforscher erzählt“): „Das ist eine seltsame Geschichte; bereits um 1903 herum haben die Botaniker das alles aufgedeckt. Es entspricht dem ausgerichteten Zweckdenken unserer Zeit, daß der Löwenzahn wohl als ein sinnreiches Beispiel der Bestäubung von Blüten durch Insekten auftritt, daß aber die großartige Unnötigkeit dieses Verfahrens in allen diesen Darstellungen kaum gewürdigt wird.“
„Worin also liegt der Sinn dieses für die Pflanze selbst unnötigen Verfahrens?“ fragt sich sein Biograph Illies. „Allein in der ‚fremddienlichen Zweckmäßigkeit‘ für die Insekten? Solcher Altruismus wäre darwinistisch erst recht unbegreiflich, denn wo sollte sein Selektionsvorteil für die Pflanze liegen?“ Portmann war es dagegen immer wichtig, zu betonen, „daß sich in den Gestalten die Lebensformen selber darstellen, daß Selbstdarstellung wohl gar die oberste Leistung ist, der die anderen dienen müssen.“ In diesem Sinne deutete er auch die Blütengestalten: „Spricht sich bereits in den Blattformen das besondere der Art aus, so ist die Blüte als reichste Gestaltung erst recht ein Ausdruck dieser Selbstdarstellung.“
Die darwinistischen Biologen, die epidemieartig (über Seminararbeiten und Praktikumsaufgaben) neben unzähligen anderen auch den Wikipedia-Eintrag „Gewöhnlicher Löwenzahn“ verantworten, kennen natürlich keine wie auch immer geartete „Selbstdarstellung“ bei Tieren und Pflanzen: keine Kultur in der Natur. Immerhin nehmen sie zur Kenntnis, dass die jungfräuliche Entwicklung des Samens bei den Löwenzahnpflanzen „ungewöhnlich“ ist, insofern sie, „obwohl sie keine Bestäuber benötigen, dennoch Nektar produzieren.“ Aber die Wikipedia-Darwinisten fanden einen Dreh, auch dieses seltsame Phänomen evolutionistisch sich zu erklären, indem sie das scheinbar altruistische, insektenfreundliche Verhalten des Löwenzahns dahingehend deuteten, dass diese Pflanzen „erst vor so kurzer Zeit entstanden sind, so dass ihre Energie verschwendende Nektarproduktion im Laufe der Evolution noch nicht eingestellt werden konnte.“ Aber wenn man gleichzeitig davon ausgeht, dass die Blumen-Insekten-Symbiose die „höchstentwickelte“ Form der Pflanzenvermehrung ist, dann sollte man doch eher davon ausgehen, dass sie dabei sind, ihre Selbstbefruchtung langsam aufzugeben. Vielleicht lockt der Löwenzahn die Insekten auch aus anderen Gründen mit seinem Nektar an.
Der Löwenzahn ist ein „Unkraut“, weil er dazu tendiert, ganze Wiesen mit seinen gelben Blüten und den „Pusteblumen“ zu überziehen. Sein Nektar ist jedoch für die Nutzinsekten (Honigbienen und Hummeln) ein Segen. Und aus den jungen Blättern kann man Gänsefutter und „Löwenzahn-Salat“ zubereiten, für den Menschen noch „nützlicher“ ist indes sein Wurzelsaft. Aus der milchigen Flüssigkeit des russischen Löwenzahns „kok-saghyz“ gewannen die sowjetischen Botaniker einen Kautschuk-Ersatz, um das devisenschwache Land von Importen unabhängig zu machen. Bereits 1941 bestand ein Drittel der sowjetischen Gummiproduktion aus Löwenzahnsaft. In Deutschland stellte man, ebenfalls aus „Autarkiebestrebungen“ heraus, den Kautschuk synthetisch her – in den BUNA-Werken: zuerst bei Schkopau und zuletzt auch noch in Auschwitz. Es ging dabei um Reifen für Wehrmachts-Fahrzeuge („Räder müssen rollen für den Sieg!“), aber die produzierten Mengen waren zu klein. Die Endfertigung geschah u.a. im Werks-KZ Stöcken der Reifenfirma „Continental“. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion bemächtigten sich deutsche „Sammelkommandos“ unter der Führung von uniformierten Botanikern der sowjetischen „kok-saghyz“-Forschungsinstitute und -felder und Himmler ernannte sich zum „Sonderbeauftragten für Pflanzenkautschuk“. Im Pflanzenzüchtungsinstitut der SS in Auschwitz wurde damit unter der Leitung des Müncheberger Züchtungsforschers Wilhelm Rudorf weiter experimentiert, um den Kautschukanteil im Milchsaft des Löwenzahns, der einen Milliliter pro Pflanze betrug, zu erhöhen. Aber erst 2014 stellte die Hannoveraner Firma „Continental“ auf der Automesse IAA erstmals einen Reifen aus „Löwenzahn-Kautschuk“ vor, damit wolle der Gummikonzern sich vom schwankenden Weltmarkt für Naturkautschuk unabhängig machen, meldete „finanzen 100“. Wird man den Löwenzahn bald feldmarschmäßig angebauen?
In dem kleinen Buch über „Botanische Wunder“ (2012) des Potsdamer Biologen Ewald Weber fand ich noch den Hinweis, dass die Früchte mit den Löwenzahn-Samen sich an einer Art Fallschirm so weit wie möglich vom Wind wegtragen lassen (und wir tatsächlich daraus das Bauprinzip für Fallschirme entnommen haben). Das Schönste aber ist, dass die Pflanze während des Reifens der Früchte noch einmal ihren Stängel verlängert, so dass die Pusteblume zuletzt die meisten der um sie herum wachsenden Pflanzen, wie ich im Tierpark sah, überragte – und der Wind da gut herankam.
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Gibbon
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14. Extreme Zoobesucher
Im Jahr 1969 schrieb der Ästhetikprofessor Bazon Brock dem Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek einen Brief: Da die Zoos die Vielfalt und Entwicklung der Arten zeigen wollten, dürfe der Mensch darin nicht fehlen. Deswegen bitte er, Bazon Brock, nun um einen Käfig, mit einem Wärter, der ihn verpflegen und gegebenenfalls vor dem Ansturm der Besucher schützen solle. Bernhard Grzimek hat Brock nie geantwortet.
Im Jahr 2008 veröffentlichte der Schriftsteller Robert Menasse eine Geschichte über das „Ende des Hungerwinters“. Es geht darin um das Überleben von 200 Amsterdamer Juden im Zoo. Erzählt wurde sie von einer Familie, die von den Tierpflegern 1944 in einem der Menschenaffen-Käfige versteckt wurde. Einmal gelesen, schrieb eine Rezensentin, „kann man diese Geschichte nicht mehr vergessen. Und sich nur wundern, warum ein solch singulärer Stoff nicht schon längst bekannt ist und quasi auf den österreichischen Schriftsteller mit Zweitwohnsitz Amsterdam gewartet hat.“
Im Jahr 2017 erscheint auf Deutsch ein Roman von David Garnett, „Der Mann im Zoo“ betitelt, in dem ein Mann sich im Zoo mit seiner Freundin streitet. Sie wirft ihm seine überholten Ansichten vor und meint, er gehöre selbst in
den Zoo. Der Mann bittet am nächsten Tag brieflich den Zoodirektor um einen Käfig im Affenhaus. Der Zoo-Aufsichtsrat kommt seiner Bitte, anders als Grzimek, nach, weil er sich erhebliche Mehreinnahmen von einem Menschenmann im Zoo verspricht. Der Besucherandrang ist wie erwartet enorm.
Man könnte vermuten, Garnett habe vielleicht die oben erwähnten Zoo-Geschichten gekannt, aber er veröffentlichte sie bereits 1924. Und es geht ihm dabei um das, was der Mann im Käfig und seine Freundin draußen daraus machen. Anfangs will sie nie wieder etwas mit ihm zu tun haben, findet sich dann aber zu egoistisch – und traut sich dann doch in den Zoo und in die Nähe seines Käfigs, wo sie sich in die letzte Reihe stellt und ihn heimlich beobachtete. Er aber liest und scheint die Besucher nicht zu beachten. Sein Käfig hat einen abgeteilten Raum, in den er sich zurückziehen kann, was er aber nur Abends tut. Wenn der letzte Besucher gegangen ist, kann der Mann im Zoo spazieren gehen. Die Tiere ignoriert er zunächst, auch die Menschenaffen im Käfig nebenan, aber dann rät ihm die Zooleitung, sich mit dem einen oder anderen Tier anzufreunden. Er entscheidet sich für einen Karakal (ein kleiner asiatischer Luchs). Die beiden sind bald so vertraut, dass der Karakal im Käfig des Mannes einzieht. Auch das Verhältnis zu seiner Freundin wird wieder enger. Sie überlegt schließlich, sich mit ihm zu verloben, wenn er den Käfig verlässt. Zuletzt ist sie sogar bereit, ihn zu heiraten und zu ihm in den Käfig zu ziehen. Der liebevoll ausgearbeitete Plot wirkt glaubhaft, wenn man die damaligen viktorianischen Skrupel des jungen Mädchens in Rechnung stellt, sie werden von Garnett auch nicht dostojewskimäßig ausgewalzt, sondern zügig erzählt, gleichsam als Anleitung zum Handeln – vor und hinter den Käfiggittern.
In allen drei Geschichten über Menschen, die zu den Affen im Zoo ziehen, ziehen wollen oder ziehen müssen, kommen die Menschenaffen jedoch buchstäblich nur am Rand vor. (David Garnett: „Mann im Zoo“, Dörlemann, Zürich 2017)
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Graupapagei
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15. Naturschutzkonflikte in Ostdeutschland
Im Januar 2000 gelang es einem osteuropäischen Wolf, illegal über die Oder nach Deutschland einzuwandern. Er wurde eingefangen und in den Eberswalder Zoo verbracht. Der Tagesspiegel titelte: „Die Angst vor dem Osten oder Sibirien ist unheimlich nah“. Der Wolf, von den Ostbrandenburgern „Iwan“ genannt, hatte nur drei Beine, vermutlich war er zuvor in Polen in eine Wolfsfalle geraten. Das hinderte ihn jedoch nicht, bei Ossendorf ein Rind zu töten und eine deutsche Schäferhündin namens Xena zu schwängern. Zehn Wochen später machte Bild bereits mit einer großen Story über die Geburt der „Mischlinge“ auf, die nach Meinung von „Wolfs-Experten“ sofort getötet werden müssten, weil sie für immer „unberechenbar“ blieben. Dann vollführte die Springerpresse jedoch plötzlich eine 180-Grad-Wendung – und seitdem werden wir über den dreibeinigen Wolf, der nun offizell Naum heißt und inzwischen ein eigenes Freigehege in der Schorfheide besitzt, regelmäßig unterrichtet. Ebenso von der Berliner Zeitung. Sie lieferte aber zunächst zwei Seiten Hintergrundmaterial über den „Todfeind Wolf“ – von Jack Londons „Wolfsblut“ bis zu Hermann Hesses „Steppenwolf“. Dann vermeldete sie: Der eingefangene dreibeinige Wolf sei immer noch sehr scheu, habe mehrmals versucht auszubrechen und könne nicht mit seinen deutsch-geborenen Artgenossen zusammengelegt werden, weil einer der Männchen des Rudels sich weigere, „Unterordnung zu signalisieren“. Fast eine RAF-Story! Inzwischen haben sich in der Lausitz etwa 20 Wölfe wild wieder angeseidelt. Sie werden ganzjährig geschützt. Es wurde darüberhinaus einen „Wolf-Wiederansiedlungs-Management-Plan“ in Brandenburg und Sachsen verabschiedet. Damit werden u.a. die von den Wölfen gerissenen Schafe, die man den Schäfern finanziell ersetzt, mit denMehreinnahmen durch den Wolfs-Tourismus gegengerechnet.
So weit so gut, inzwischen haben sich die Wölfe auch in anderen ostdeutschen Regionen vermehrt, ebenso die Versuche der Landwirte, ihre Tiere vor ihnen zu schützen: Elektrozäune, große scharfe Hunde, Bewegungsmelder, die Beleuchtung und Sirenen angehen lassen, neuerdings versucht man die Wölfe mit Esel – z.B. in der Schafherde – abzuwehren. Und sowieso wird regelmäßig gefordert, die Wölfe wieder wie einst abschießen zu dürfen.
Noch einem Tier haben die Naturschützer in Ostdeutschland erneut Bewegungsspielraum verschafft: dem Biber. In den Städten freuten man sich darüber: Noch mehr authentische Natur in Ostelbien. Aber unter den Landwirten und Gartenbesitzern im Biberland formierte sich eine biberfeindliche Bürgerinitiative. Unter ihnen zu meinem Erstaunen die für indigene Völker sich engagierende Biologin Hannelore Gilsenbach im Ökodorf Brodowin. Ein Photo in der Kreiszeitung zeigt sie ärgerlich neben einem von Bibern zernagten Obstbaum. Ich war deswegen erstaunt, sie als Antibiber-Aktivistin zu sehen, weil sie mir einmal fast stolz einen Brombeerbusch im Garten zeigte, auf dem etliche Laubfrösche saßen, und dann im Gras eine Grille fing und mir erklärte, die seien auch schon wegen der Klimaerwärmung bis hier in den Norden vorgedrungen, die Grille käme aus Italien. Zum Anderen hatte ich gedacht, sie sei für die Selbstregulierung von Naturschutzgebieten, wobei im übrigen das Brodowiner das älteste deutsche Naturschutzgebiet ist und HanneloreGilsenbachs Mann Reimar 1981 die „Brodowiner Gespräche“ begründete, in denen es auch und gerade um ökologische Probleme in der DDR und im Rest der Welt ging.
In Brandenburg engagierten sich bisher Intellektuelle wie sie eher in Bürgerinitiativen, die gegen den Bau z.B. riesiger Schweinemastanlagen protestieren. Da gibt es die BI „Uns stinkts schon lange“ in Reichenow (Amt Barnim-Oderbruch), wo einer der größten Agrarunternehmer eine solche Mastanlage plant. Da veranstaltet die BI in Hassleben (Uckermark) gegen den Bau einer industriellen Schweinemastanlage eine Protestdemonstration. Es gibt in dem Ort zwei BIs – sie werben in der Mitte des Dorfes mit großen Schildern. Auf dem einen steht „36.000 Schweine machen den Touristen Beine“, auf dem anderen: „Gemeinsam in die Zukunft/ Aktion pro Schwein“. Es geht um die Wiederbelebung einer großen Mastanstalt für 140.000 Schweine, die nach der Wende aus Umwelt- und Tierschutzgründen geschlossen wurde. U.a. hatte die Schweinegülle zwei Seen in tote Gewässer verwandelt. Jetzt ist es jedoch kein sozialistischer Fleischversorgungsplan mehr, sondern ein holländischer Unternehmer, Harry van Gennip, der dort ganz groß „investieren“ will. Er besitzt bereits seit 1994 eine für 65.000 Schweine ausgelegte Anlage im altmärkischen Sandbeiendorf. In Haßleben plante er 1994 eine für 85.000Schweine. Die Nachdenklichen dort und in Umgebung gründeten daraufhin eine Bürgerinitiative gegen diesen „Wahnsinn“. Unterstützung bekamen sie von allen Ökos und Grünen und von überall. Sie setzten sukzessive eine Verkleinerung der Anlage durch. Auf der anderen Seite war man aber auch nicht untätig: Der holländische Investor holte sich u.a. Helmut Rehhahn als Berater, einst SPD-Landwirtschaftsminister in Sachsen-Anhalt und davor Leiter einer Bullenprüfstation in der DDR. „10 000 Mastschweine. Alles andere ist Spielerei,“ erklärte er dem Spiegel. „‚Haßleben wird noch moderner. Haßleben,‘ sagte er, ‚das kommt. Das kriegen wir hin‘.“
Ein anderer Schweinemäster verriet dem „Freitag“, warum es ihn und andere „Holländer“ nach Osten zieht: „In Holland wirst du als Schweinezüchter ständig wie ein Krimineller behandelt. Das ist in Ostdeutschland anders. Hier kannst du noch Unternehmer sein. Umweltkosten spielen keine Rolle.“ Dazu muß man wissen, dass der holländische Staat dies strategisch plant: Unter Beteiligung von Banken werden an Landwirtschaftsprojekten interessierte Holländer in Arbeitsgruppen geschult und dabei ausgesiebt – getrennt nach Ost und West, je nach dem, wo sie sich in der EU niederlassen wollen. Vor Ort helfen ihnen dann holländische Berater und spezielleBotschaftsangehörige. Van Gennip fand vor Ort – in Haßleben – Unterstützung im langzeitarbeitslosen Teil der Bevölkerung, der sich von seinem gigantischen Schweineprojekt ganz ganz viele „Arbeitsplätze“ versprach und deswegen eine Bürgerinitiative für ihn gründete.
Anderswo geht es ähnlich zu – im Osten, der daneben noch mit Windkraftanlagen zugepflastert wird, die man im reichen Bayern und Baden-Württemberg nicht haben will; von dort kommen bloß die Investoren. An BIs gegen Schweinemastanlagen seien genannt: die BI der Gastronomen gegen eine Schweinemast in Klausdorf (Brandenburg), die „BI Mahlwinkel“ (Altmark) gegen eine weitere Schweinemastanlage von Harrie van Gennipp, die „BI gegen Schweinemast in Oldisleben“ (Thüringen) und die „BI gegen Schweinemastanlage in Gerbisbach“ (Sachsen-Anhalt). Es gibt noch etwa zwei Dutzend weitere. An BIs gegen Windkraftanlagen seien genannt: die „Freier Wald e. V.“ in Zossen, die BI gegen ein Windfeld Wolfsmoor (Brüssow/Uckermark), die BI Rettet Brandenburg (vor der Zerstörung durch Windparks), die BI Windkraftgegner Ladenthin in Uecker-Randow, die BI Stahnsdorf Süd gegen die Errichtung von raumbedeutsamen Windkraftanlagen usw..Sie alle veranstalten Protestdemonstrationen und Aktionstage. Die Agrarsoziologen haben unterdes herausgefunden, dass auch Frau sucht Bauer auf solchen Aktionstagen gut und gerne zum Zuge kommt.
Aber was im Westen ein „Kampf“ des „kleinen Mannes“ gegen naturzerstörende Großprojekte ist, stellt sich östlich der Elbe als ein Ost-West-Konflikt dar, insofern sowohl die Investoren als auch die Naturschützer aus dem Westen kommen. In dem Roman „Unterleuten“ von Juli Zeh wird in der Prignitz ein Vogelschutzgebiet und seine West-Betreuer vom „Öko-Kapital“ aus dem Westen ausgebremst, die dort im Kampfläufer-Schutzgebiet zehn Windkraftanlagen aufstellen wollen. Sie können das auch gegen alle naturschützerischen Abwehrmaßnahmen durchsetzen, woran schließlich die Gemeinschaft des davon unmittelbar betroffenen, z.T. davon aber auch profitierenden Dorfes „Unterleuten“ zerbricht. Auch die dortige Kampfläufer-Population wird sich wegen der riesigen WKA-Rotoren wahrscheinlich woanders ansiedeln.
Den Unterschied zwischen den Auseinandersetzungen der BIs in Ost und West sollen zwei Beispiele deutlich machen: In Schleswig-Holstein wurde ebenfalls heftig um Gänse gestritten – und das jahrzehntelang. Es war ein Kampf zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Natur- und Kulturland. Die Bauern und das von ihnen einst durch Eindeichung geschaffene Ackerland auf der einen Seite, auf der anderen sibirische Ringelgänse und ihre deutschen Sprecher: Biologen und Umweltschützer. Es ging dabei um die Einrichtung des „Nationalparks Wattenmeer“, wie er von linken Ökologen bis hin zur Kieler Landesregierung geplant war.
„Die Grünen sind schlimmer als die Gutsherren einst“, so sagte es 2001 ein friesischer Bauer. Während das „Bundesamt für Naturschutz“ stolz bekannt gab, dass sich die Ringelgänse in den „Schutzgebieten“ bereits auf eine andere Nahrung umgestellt hätten: „Sie nutzen die landwirtschaftlichen Kulturen im Küstenbereich sowie die Salzwiesen und haben dadurch im Winterquartier und auf dem energiezehrenden Heimzug in die Brutreviere eine bessere Ernährungsgrundlage.“ Der Beobachter der Auseinandersetzungen, der Ethnologe Werner Krauss, schrieb anschließend: „Der jahrzehntelange Kampf hat Wunden hinterlassen, aber er hat sich auch gelohnt“. Dazu zitierte er einen der beteiligten Biologen: „Als die Bauern die Ringelgänse noch bejagten und zu vertreiben versuchten, hatten sie eine wesentlich höhere Fluchtdistanz“.
Auch der Kampf einer Ost-BI hat sich gelohnt: „Ein Riesenerfolg“, titelte die Märkische Oder-Zeitung und meinte damit das vorläufige Ende eines „öffentlichen Kampfes“ zwischen den Vorwerk-Bewohnern von Alt-Rosenthal (am Oderbruch), der „rabiatesten Bürgerinitiative Deutschlands“ (laut Tagesspiegel) und dem Grafen von Hardenberg, einem Düsseldorfer Porschevertreter, der einen Teil seiner ihm zusammen mit dem Schloß Neuhardenberg rückübereigneten Ländereien im Kreis Seelow an die englische Betonfirma Readymix verpachten wollte, um den Kies im Boden abzubauen und damit „neue Arbeitsplätze zu schaffen“ (Alle Kraft für unsere neue Hauptstadt!).
Dann machte der inzwischen mexikanisch gewordene Betonkonzern aber doch einen Rückzieher. Man werde das Projekt Aufsuchung von Kiesvorkommen im Raum Alt-Rosenthal nicht weiter bearbeiten: der Protest der Betroffenen war zu groß und zu laut. Das Vorwerk Alt-Rosenthal ist zwar nur eine kleine Häuseransammlung, diese hat es aber in sich. Dort lebten die Schriftsteller Ulrich Plenzdorf und Klaus Schlesinger, als noch alles offen war, schrieb letzterer: „Tagelang wie benommen. Wutanfälle, ja Haß. So lange hat es eine politische Macht nicht geschafft, uns zu vertreiben, und nun soll es dem Geld gelingen? – Seit 1973 sind wir hier. Neun Häuser zwischen den welligen Feldern zweier Dörfer gelegen. Fast die Hälfte stand damals leer.“ Dann zogen immer mehr Künstler ein. Die Stasi versuchte sie zu zerstreuen, aber das gelang nicht. So dass West-Adel und -Kapital dort im Oderbruch dann nicht nur diese wütenden Intellektuellen gegen sich hatten, einschließlich des sie damals bespitzelnden Stasi-Zuträgers (der heute ein Asylantenheim bewacht), sowie eines nach der Wende aus Westberlin zugezogenen Psychoanalytikers und eines Kleinverlegers – alle drei haben sich sogar aktivitätsmäßig an die Spitze des Protests gesetzt – „um sich quasi zu rehabilitieren“, wie Klaus Schlesinger meinte, der auch das neue Kräfteverhältnis schon dementsprechend einschätzte: „Das Kapital hat seine Widersacher gleich mitgebracht.“
Weniger Glück hatte jüngst eine Art BI-Petition von brandenburgischen Bauern und Schäfern im Umkreis des Spandauer Forsts, wo sich sich in den letzten Jahren die zuvor dort ausgestorbenen Kolkraben angesiedelt hatten. Inzwischen umfaßte ihre Kolonie gut 20 Brutpaare. Die Bauern drumherum beantragten eine Sondergenehmigung für ihren Abschuß, dieser wurde jedoch von der Oberen Naturschutzbehörde abgelehnt. Sie wollten mindestens eine staatliche Entschädigung für die von den Kolkraben getöteten Kälber, Ferkel und Lämmer – so wie das bei den Wölfen, Bibern und Ringelgänsen gehandhabt wird. Die Behörde konnte das Begehren in diesem Fall jedoch leicht abwehren: Der Ökoethologe am biologischen Institut der Universität Potsdam, Professor Wallschläger, hatte zuvor bei anderen (brandenburgischen) Fällen bdereits die bäuerliche Mär empirisch widerlegen können, dass Kolkraben diese Tiere töten und fressen: Weil sie nicht die Kraft im Schnabel haben, brauchen sie Wallschläger zufolge Wölfe, Füchse, Hunde oder Greifvögel, um einen Kadaver „aufzubrechen“, sie sind deren „Nachnutzer“ – und kommen im übrigen nicht aus dem Westen, sondern aus Mecklenburg.
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Kolkraben-Paar
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16. Nachgesellschaftliche Projektwelten
Wenn man mit der U-5 am Cottbusser Platz in Hellersdorf aussteigt und zur Einkaufstrasse Kastanienboulevard geht, hat man das Gefühl, da stimmt was nicht: Die Kaufhalle und die Läden drumherum sind seit Jahren geschlossen, dafür haben sich dort etliche soziokulturelle Projekte angesiedelt. Eins – die „Station urbaner Kulturen“ – lud Anfang April zu einer Diskussion über die Internationale Gartenausstellung (IGA).
Die Teilnehmer an der Veranstaltung „Soziales Grün“ ließen kein gutes Haar an dem über 100 Millionen Euro teuren Event. Die verantwortlichen GmbHs- IGA und GrünBerlin – entziehen dem Bezirk damit einen bereits vorhandenen Park und Grünflächen, sie trennen Wohngebiete, vergrämen seltene Tierarten, zerstören Röhrichtgebiete, Wege werden versiegelt, der Rodelberg eingezäunt (mit Elektrodraht auch noch oben drauf), zehn Hektar Wald wurden gefällt, durch Runterschneiden von Büschen das Brutgebiet des Wachtelkönigs zerstört, Bagger machten die Krötenzäune platt (man gab anonymen Rowdys die Schuld und errichtete höhere Zäune), die Seilbahn vertreibt alle Vögel auf ihrer Strecke, der Teich wurde ausgebaggert und erweitert, was zur Folge hatte, dass die Frösche im aufgewühlten Schlammwasser verstummten… Das alles listete eine Sprecherin der BI „Kienberg-Wuhletal“ in der Diskussion auf. Sie war darüberhinaus auch noch erbost, weil die Naturschutzverbände sich in ihrer Kritik zurückhielten: „Sie wollen sich anscheinend lieber auf der IGA präsentieren“, und weil die Linkspartei im Bezirk, „namentlich ihre Abgeordneten Pau und Pohle dort“, die IGA ebenfalls kritiklos begrüßen. Die anderen Diskussionsteilnehmer, u.a. vom Kreuzberger Prinzessinnengarten und vom Tempelhofer Gemeinschaftsgarten Allmende-Kontor, stimmten der BI-Vertreterin zu: „Die IGA ist eine vertane Chance. Wir sehen dabei nichts Positives. Es findet eine Entgrünung statt.“
Und als wäre das nicht schon schlimm genug, befürchteten einige Hellersdorfer im Publikum auch noch, dass der Liegenschaftsfonds, der alle Brachflächen in der Stadt verkaufen will, die Billigwohngegend um den U-Bahnhof Kienberg, nachdem sie durch die bedenkenlosen IGA-Maßnahmen asozial aufgewertet wurde, wohlmöglich an den Konzern „Deutsches Wohnen“ verscherbelt, der dann dort Häuser baut, deren Mietwohnungen sich niemand im Bezirk leisten kann. Ein Hotel ist bereits geplant. Und BerlinGrün GmbH will demnächst auch noch eine Stiftung gründen, mit der sie noch rigoroser projektieren können. Sie sagen zwar, dass die ganzen Zäune und Zaunwächter später wieder wegkommen, aber daran glaubt niemand.
Also was tun? Ein ebenfalls an der Diskussion über „Soziales Grün“ beteiligter Gartenarchitekt aus Hamburg, der eine Broschüre mit einer harschen Kritik an der Internationalen Gartenschau (igs) 2013 in Wilhelmsburg mitbrachte, riet: „Druck aufbauen, öffentlich machen, Gruppen und Initiativen mit einbeziehen, die sich solidarisieren“. Die Leiterin der kommunalen Galerie „M“ ( Marzahn) plädierte für subtile Eingriffe in den öffentlichen Raum, in denen Soziales, Künstlerisches und Ökologisches zum Tragen kommt.
„Es gibt keine ökonomische Utopie mehr, nur noch eine ökologische,“ meint der Wissenssoziologe Bruno Latour. Für Marzahn-Hellersdorf hieße das konkret: mehr Brachflächen zur vielfältigen Nutzung durch die Bürger (wie es einen vor dem U-Bahnhof „Cottbusser Platz“ noch gibt, genannt: „Place Internationale“ im Rahmen des NGBK-Kunstprojektes „Mitte in der Pampa“), ferner mehr „interkulturelle Gärten“ (wie sie z.B. von den Russen in Pankow und Marzahn geschaffen wurden), Mietergärten (wie es sie zu DDR-Zeiten gab, damals wurden sie sogar bezuschußt).
Der Sprecher des Prinzessinnengartens ergänzte: „Mit Nutzpflanzen statt repräsentativem Grün übernehmen die Gärten soziale Aufgaben.“ Und das nicht nur in der Stadt: „Sie könnten damit Brücken sein nach Brandenburg, also in den ländlichen Raum zurückwirken, um dort die Alternativen zur industriellen Landwirtschaft zu stärken“. Wir haben es hier mit nachgesellschaftlichen Projektwelten zu tun, die scharf gegeneinander stehen: zum Einen von oben und zum Anderen von unten. Letztere können immer nur kleine Räume temporär besetzen oder erhalten, während erstere dauerhaft am längeren Kapitalhebel sitzen: politisch ist das eine Katastrophe. Es gilt also, die ganzen GmbH-Projektemacher zu entmachten. Aber wie?
Erst einmal wurde aber die BI „Kienberg-Wuhletal“ von IGA-Aktivisten als „AFD-nahe“ abgetan und seinen Vertretern „ungebührliches Auftreten“ auf einer Bürgerbeteiligungsversammlung attestiert, so dass man sie nicht wieder einlud, die gefällten zehn Hektar Waldbäume wurden als „invasive Arten“ bezeichnet.
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Halsbandmaki
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17. Orang-Utan-Partnervermittlung
Auf die Werbung einer Internet-Partnerbörse „Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single über Parship“ reagierte der „scienceblog“ mit einer Wahrscheinlichkeitsrechnung: „Wenn sich bei geschätzten rund 5 Millionen Mitgliedern in Deutschland sogar alle 10 Minuten zwei davon ineinander verlieben, damit aus dem Sucherpool ausscheiden und durch zwei neue Singles ersetzt werden, beträgt für ein zufällig ausgewähltes Mitglied die Wahrscheinlichkeit einer neuen Liebe pro Jahr kaum mehr als 2 Prozent.“
Dessen ungeachtet gibt es nun auch so etwas Ähnliches wie eine Partnerbörse für Orang-Utans: Die Zoologin im Stuttgarter Tiergarten „Wilhelma“, Marianne Holtkötter, hat damit bereits „erfolgreich zwei Orang-Utans verkuppelt,“ wie Die Zeit berichtete. Auf der Internetseite des Tiergartens heißt es: „Bei der Partnervermittlung halfen erstmals Videos, mit denen im Vorfeld getestet wurde, ob sich das vorgesehene Zuchtpaar auch sympathisch ist. Die Zeichen stehen gut: Sinta und Conny zeigten sich interessiert an ihren ‚Zukünftigen‘, als die Tierpfleger ihnen beim ‚Video-Dating‘ Filmschnipsel der jeweils in Frage kommenden Orang-Utan-Männer zeigten.“
Bei den anvisierten „Zukünftigen“ handelt es sich um den in einem belgischen Zoo lebenden Orang-Utan-Mann Gempa – für Sinta, und um den im Hamburger Tierpark Hagenbeck lebenden Tuan – für Conny. Ihnen hatte man umgekehrt Videoschnipsel der „Orang-Utan-Damen“ gezeigt. „Ob es vor Ort dann Liebe auf den zweiten Blick wird, müssen wir abwarten“, meinte die Kuratorin für Menschenaffen Marianne Holtkötter gegenüber den „Stuttgarter Nachrichten“. „Für Orang-Utans spielt das Aussehen bei der Partnerwahl offenbar wie bei uns Menschen eine wichtige Rolle. Das Europäische Erhaltungszuchtprogramm (EEP) forscht dazu noch. Für uns ist es zumindest ein zusätzlicher Anhaltspunkt, ob es etwas werden kann mit den jeweiligen Zuchtpartnern.“
Der Frankfurter Neuen Presse sagte sie: „Worauf wir jetzt als nächstes warten, ist ein positiver Schwangerschaftstest“. Die Zoologin hält speziell die Orang-Utans für „sensibel und anders [als die anderen Menschenaffen] beobachtend“. Auch für ihre Pfleger würden sie Sympathien oder Antipathien entwickeln.
Dies hatte bereits der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler sozusagen am eigenen Leib erfahren. Er leitete von 1914 bis 1920 die Anthropoidenstation der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa, wo er Intelligenztests mit Schimpansen unternahm und sich außerdem mit einem Orang-Utan-Weibchen namens „Catalina“ befasste, wobei er zu dem Schluss kam: „Dies Wesen steht uns der ganzen Art nach viel näher als Schimpansen, es ist weniger Tier‘ als sie.“ Dieser Eindruck resultiere nicht so sehr „aus ihren intelligenten Leistungen‘ als durch das, was man Charakter, Sinnesart o.dergl. nennt.“ Catalina hatte sich während der Experimente in Köhler verliebt.
Für die Stuttgarter Zoologin folgt aus den bisherigen Ergebnissen der Orang-Utan-Verhaltensforschung, dass es für die Zucht sinnvoll sein könne, „sie ihre Partner selbst wählen zu lassen“ – über Video-Dating, was für Sinta laut Stuttgarter Nachrichten heißt, „indem man sich vergewissert, dass ihr ein Partner zugeteilt wird, der ihr optisch zusagt.“ Man erhofft sich davon „noch höhere Nachwuchsraten, wenn Weibchen einen Partner haben, den sie auch wirklich mögen.“ Und die vermehrten Anstrengungen zur Züchtung in Zoos seien notwendig, weil die Orang-Utans auf Borneo und Sumatra stark gefährdet sind, es gibt nur noch etwa 63.500.
Bei den frei lebenden Menschenaffen leben die Weibchen in kleinen Gruppen mit ihren Töchtern, während die dominierenden Männchen weitgehend alleine nomadisieren, „sie sind Einzelgänger, die sich lediglich zur Paarung zusammenfinden, gelegentlich kommt es dabei zu einer Vergewaltigung,“ wie die seit 1972 auf Borneo Orang-Utans erforschende Anthropologin Beirute Galdikas beobachtete.
Vielleicht verhalten sich die Orang-Utans im Zoo anders. Dem Südwestrundfunk erklärte Marianne Holtkötter: “‚Über Wohl und Wehe entscheidet beim Anbandeln der Körperkontakt. Sie bilden ein Knäuel und halten sich fest‘. Wie sich das anfühle, entscheide auch darüber, ob sich beide am Ende gar nicht mehr loslassen wollen.“
Dass das Verpaaren per Video-Dating, „Tinder für Affen“ nennt es Die Welt, bei Sinta-Gempa erfolgreich zu sein scheint und bei Conny-Tuan noch alles offen ist, hält Marianne Holtkötter zwar bereits für ein Beispiel, dass es „funktioniert, aber das ist nicht der Beweis.“ Sie versteht trotzdem nicht, warum solch ein Dating-Verfahren mit Videos bzw. Fotos nicht längst systematisch angewendet wird. Beim nächsten Treffen des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms (EEP) werde sie das zur Sprache bringen.
Kürzlich kamen die Stuttgarter Nachrichten mit einem Gegenbeweis: Im niederländischen Zoo Apenheul hatte man dem Orang-Utan-Weibchen „Samboja“ auf einem Apple-Tablet Bilder von Orang-Utan-Männchen gezeigt. Erste Ergebnisse nannte der Zoo „vielversprechend“. Zumindest ließen die Bilder Samboja nicht kalt: „Womöglich frustriert davon, dass sie die Männchen – stattliche Affenmänner – nur aus der Ferne anhimmeln konnte, zerstörte Samboja das Tablet – und das, obwohl der Zoo das Gerät extra mit Stahl verstärkt hatte.“
Es gibt einen Film von Nicolas Philibert über eine kleine Orang-Utan-Gruppe im Pariser Jardin des Plantes: „Nenette“ – so heißt dort auch das älteste Tier, ein 40jähriges Weibchen. Vor ihrem Käfig die Kamera und Besucher, einige kommen jeden Tag, erzählen ihr Wissen über Nenette, ebenso die Affenpfleger, einer betreute sie 35 Jahre lang. Weil Nenette mit ihrem Sohn Tubo zusammen lebt, bekommt sie die Antibabypille. Geboren wurde sie 1969 auf Borneo, 1972 kam sie in den Jardin des Plantes. Eine Zuschauerin fragt: „Willst du mit mir reden?“ Eine Pflegerin meint: „So lange in Gefangenschaft zu sein, ist natürlich schrecklich, wir fühlen uns hier alle schuldig.“ Weil einige Besucher sich küssten, taten es ihnen irgendwann die Orang-Utans nach. Bei rothaarigen Besucherinnen machen sie, die ebenfalls rothaarig sind, Kussgesten zu ihnen hin.
Der Gründer und Direktor des „Wildlife Parks“ auf der Insel Jersey, Gerald Durrell, schreibt in einem seiner Bücher, dass sein rothaariger Mitarbeiter Simon eines Tages Ärger mit dem ausgewachsenen Orang-Utan namens Gambar bekam, weil dieser sehr eifersüchtig auf seine Frau Gina war und Simon für einen Nebenbuhler hielt. Wenn der den Gitterstäben nahe kam, schlug der Orang-Utan derart wütend gegen einen alten Autoreifen in seinem Käfig, dass es laut dröhnte. Anschließend packte er Gina und vergewaltigte sie. Simon meinte, dass Gina ihn dabei mit einem anklagenden Blick ansah. Er war sich sicher, dass sie ihm die Schuld dafür gab.
Die Nachrichtenagenturen meldeten unterdessen aus Borneo: Die Arbeiter auf den Palmölplantagen „töten und essen Orang-Utan“. Und aus Sumatra: „Ein blindes Orang-Utan-Weibchen konnte nach einer Augenoperation erstmals ihre zwei Babies sehen.“ Die auf einer „Quarantänestation“ bei Batu Mbelin lebende „Gober“ war 2008 wegen beidseitigem Grauen Star dort eingeliefert worden. Der Vater ihrer Zwillinge, Leuser, ist ebenfalls blind: seine Augen wurden durch Luftgewehrschüsse zerstört.
Im Kölner Zoo musste die „Orang-Utan-Dame ‚Tilda‘“ (50), das „älteste Tier im Zoo“, wegen einer massiven Nierenerkrankung eingeschläfert werden. Und im Wuppertaler Zoo wurde das 43jährige Orang-Utan-Männchen „Vedjar“ wegen großer gesundheitlicher Probleme ebenfalls eingeschläfert. Im Kaliningrader Zoo muss sich der aus Dänemark eingetroffene Orang-Utan Benjamin noch an die neuen Lebensbedingungen gewöhnen – auch an die neue Sprache: „Noch versteht er seine Tierpfleger nicht, die sich in Russisch an ihn wenden. Doch erste Ergebnisse des praktischen sprachlichen Verstehens machen Hoffnung,“ sagte die Zoodirektorin Swetlana Sokolowa.
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Hellbraunes Wieselmeerschweinchen
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18. Orchideen
Manche Blume, so schrieb Theodor Lessing, könnte man „als ein festgebanntes Insekt“ bezeichnen – und andersherum „viele Insekten, zumal die Bienen und Schmetterlinge, als frei bewegliche Blumen“. Die meisten Orchideen, von denen weltweit etwa 25.000 Arten bekannt sind, sehen wirklich wie „festgebannte Insekten“ aus – und wer weiß, vielleicht wird man sie irgendwann auch als solche neu bestimmen. Ganz sicher weiß man jetzt schon, dass diese „Königin der Blumen“ die komplizierteste Existenzform unter den „bedecktsamigen Blütenpflanzen“ entwickelt hat, obwohl oder weil sie angeblich in evolutionärer Hinsicht die jüngste „Familie“ bildet. Fangen wir unten an – im Boden oder (epiphytisch siedelnd) auf Bäumen: Dort braucht sie einen Pilz, damit der Keim überhaupt aufgeht. Man kann die Nährstoffe, die ihm der Symbiosepilz zuführt, künstlich herstellen, das machen die Orchideenzüchter auch, weswegen es bereits über 100.000 Neuzüchtungen (Hybride) gibt, sie werden bei der „Royal Horticultural Society“ registriert und dort gelegentlich auch in ihrem botanischen Namen als besonders ausgezeichnet – „geadelt“. Es gibt aber auch heute noch tropische Orchideen, wild lebend, für die reiche Liebhaber mehr zahlen, „als heute ein Luxusauto kostet“ wie es im Ratgeber „Orchideen“ des Züchters Jörn Pinske heißt. Dabei geht es „nur“ um ihre seltsame Schönheit und manchmal auch um ihren Duft. Einige Arten enthalten daneben noch „psychoaktive Inhaltsstoffe“, aber ansonsten ist sie keine „Nutzpflanze“.
Die Mehrzahl der Orchideen-Liebhaber sind Männer. Der Pflanzenname leitet sich vom griechischen Wort „orchis“ her, was „Hoden“ heißt. Damit waren anfänglich die Knollen verschiedener Erdorchideen gemeint. Wegen dieser Speicherknollen, die bei Wildschweinen begehrt sind, gehört das „Männliche Knabenkraut“ zu einer besonders gefährdeten Art. Orchideen sind zweigeschlechtlich. In der Blüte hat sie (männliche) Staubblätter und eine (weibliche) Narbe, die zu einem „Säulchen“ (Gynosterium) verwachsen sind. Die Pflanze bestäubt sich nicht selbst damit, sondern braucht ein Insekt, dass ihren Pollen zu einer anderen bringt und ihr gleichzeitig fremden Pollen an die Narbe trägt.
„Daß Hummeln, Bienen, Tagfalter, also Insekten, irgendetwas mit den Blumen haben, wußte man schon seit der Antike. Auch daß sie sich irgendwie von ihnen ernähren. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wußte man auch, daß Blumen ein Geschlecht haben. Linné baute sein ganzes System der Pflanzen darauf auf,“ schreibt der Kulturwissenschaftler Peter Berz. Aber im Sommer 1787 entdeckt der Direktor der Spandauer Realschule Christian Konrad Sprengel auf einer Blumenwiese zwischen dem Wunder ihres Aussehens und den um sie herumschwirrenden Insekten eine völlig neue Beziehung.“
Sprengel findet, daß jedes kleinste Detail jeder Blume es nur auf Das Eine abgesehen hat: Insekten anzulocken, sie hinzuführen, hinzuweisen auf die in ihr verborgenen Schätze – Saft oder Nektar – also den „in der Luft herumschwärmenden Insekten als Saftbehältnisse schon von weitem ins Auge zu fallen“. Und „indem die (so angelockten) Insekten in den Blumen ihrer Nahrung nachgehen“ tun sie etwas ganz anderes: „Zugleich,“ schreibt Sprengel, „ohne es wollen und zu wissen“ befruchten sie die Blumen. Es wird dabei getäuscht und getrickst: viele der spektakulärsten Orchideen haben gar keinen Nektar. Sprengel: „Ich muß gestehen, daß diese Entdeckung mir keineswegs angenehm war.“ Denn: stimmt dann noch die Grundthese?
Die Blüten der Sexualtäusch-Orchidee „Ophrys insectifera“ (Fliegen-Ragwurz) haben nicht nur die Form und Farben einer potentiellen Partnerin für Grabwespen-Männchen angenommen, sondern auch noch den weiblichen Sexuallockstoff. Bei seinen Kopulationsversuchen bekommt das Männchen zwei Pollenpakete auf die Stirn geklebt. „Dolchwespen fallen gerne auf Blüten der mediterranen Orchidee Ophrys speculum (Spiegel-Ragwurz) herein. Teilweise geht die Täuschung so weit, dass Bienenmännchen der Gattung Andrena die entsprechenden Ophrys-Blüten sogar einem Weibchen vorziehen. Verhaltensforscher nennen das eine überoptimale Atrappe,“ schreibt die Biologin des Berliner Botanischen Gartens Birgit Nordt.
Peter Berz fragte sich darob: „Duft als Belohnung. Wie geht das? Nur als Droge, Rausch. Fast zu schön, um wahr zu sein. Die unmittelbare Reaktion der männlichen Bienen auf die Flüssigkeit kann man nur als Rausch bezeichnen. Sie verlieren in erheblichem Maße die Kontrolle über ihre Bewegungen und werden unbeholfen und träge und unaufmerksam. Offenbar genießen sie ihre Empfindungen, denn sie kommen über lange Zeit immer wieder zurück.“
Einige südamerikanische Orchideen, die mit „Prachtbienen“ kooperieren, bieten den Prachtbienenmännchen sogar einen Duft an, der nicht ihnen direkt gilt. Sie nehmen ihn laut dem Biologen Karl Weiß „in ansehnlichen Flakons an den Hinterbeinen“ auf und fliegen damit zu ihren „Balzplätzen“, wo sie „Präsentationsflüge“ unternehmen. „Dabei soll ihr farbenprächtiger Panzer zusammen mit dem betörenden Pflanzenduft die Weibchen anlocken.“
Besonders raffiniert ist die Duftproduktion bei der Germerblättrigen Stenderwurz, die im Jenaer Max-Planck-Institut für chemische Ökologie erforscht wurde: Um Schwebfliegen zur Bestäubung anzulocken, verströmt diese Orchidee einen Botenstoff, mit dem sich Blattläuse alarmieren, er lockt aber auch Schwebfliegenweibchen an, die ihre Eier bei Blattläusen ablegen, weil sich ihre Larven dann von ihnen ernähren. In der Orchideenblüte täuschen darüberhinaus „warzenartige Gebilde“ die Anwesenheit von Blattläusen vor. Es gibt dort aber gar keine, so dass die Larven der Schwebfliegen keine Nahrung finden und sterben. Der Biologe Johannes Stökl erwähnt zwei weitere Orchideenarten, die „stechende Insekten“ durch Vortäuschen von Schmetterlingsraupen in ihren Blüten zu deren Befruchtung verlocken.
Botaniker der Universität Wien erforschten auf Madagaskar Orchideenarten, die einen Geruch von faulem Fleisch verbreiten – um damit Aasfliegen anzulocken. Ihre Samen sind winzig klein und breiten sich wie eine Staubwolke aus, in jedem steckt ein Embryo. Es gibt daneben Orchideenarten, die bis zu zwölf Embryos in ein Samenkorn packen.
Über eine weitere auf Madagaskar vorkommende Art, die einen 30 Zentimeter langen Dorn in ihrer Blüte ausgebildet hat, an dessen Ende sich Nektar befindet, hat Darwin gemeint, man werde dort bestimmt auch einen Schmetterling finden, der einen genauso langen Saugrüssel hat. 1903 entdeckte man ihn tatsächlich.
Die Biogeochemiker der Universität Bayreuth haben bei einer Reihe südafrikanischer Orchideen herausgefunden: Wenn unterschiedliche Arten in enger Nachbarschaft leben und von den selben Insekten (Wespen z.B.) bestäubt werden, „platzieren sie ihre Pollen an unterschiedliche Stellen – z.B. auf verschiedenen Abschnitten ihrer Vorderbeine.“
Die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari gehen von einer wechselseitigen Beeinflussung aus, die eine Angleichung von Pflanze und Tier hervorgebracht hat. Ein solcher Vorgang – „Werden“ von ihnen genannt – gehört „immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Werden kommt durch Bündnisse zustande. Es besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrespondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren…Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht.“ Affizieren und Affiziert-werden. „Werdet wie die Orchidee und die Wespe!“ raten sie.
Nach Meinung einiger Orchideenforscher ist bei diesem Angleichungsprozeß die Pflanze die treibende Kraft. Sie wollen festgestellt haben, dass eine Orchidee, die außerhalb des Vorkommens „ihrer“ Insekten „Fuß gefaßt“ hat, sich in Form und Farbe an eine neue Art angleicht.
Im übrigen kennen die Orchideen auch eine vegetative Fortpflanzung (durch Ableger z.B.), weswegen G. W. F. Hegel in seiner Vorlesung „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (1830) die geschlechtliche Fortpflanzung für einen reinen „Luxus“ hielt. Sie wird dafür mit umso mehr Liebe betrieben. Wenn z.B. die mikroskopischen Samen einer asiatischen Orchideenart durch den Wind an eine Baumrinde geweht wurden, entrollen sie „spiralige Ankerfäden“, um sich festzuklammern und in Kontakt mit einem Symbiosepilz zu kommen. Ist keiner da, muß der Keim sterben, schreiben die Mitarbeiter des Berliner Botanischen Museums in ihrem Band über „die skurrile Welt der Orchideensamen“.
Als ich unlängst im Orchideengewächshaus des Kassler „Bergparks Wilhelmhöhe“ war, konnte ich es nicht fassen: Es werden dort fast nur Orchideen gehalten, die der menschlichen Vagina in Form und oft auch in Farbe glichen. Ich erfuhr dort: Die Schamlippe heißt bei den Orchideen ebenfalls „Lippe“ (Labellum), es ist ein zur Lippe geformtes Blütenblatt, das den Insekten eine Landefläche bietet, und die Klitoris ist bei den Orchideen das vorstehende „Säulchen“. Hinzu kommt bei manchen Orchideenarten ein Sexualtäuschduft, der auch auf Menschen, mindestens Männer, wirkt, die Orchidee „Vanille“ kommt dem bereits nahe. Einige Orchideenblüten ähneln der Vagina auch deswegen, weil sie „Haare“ drumherum haben. Kurzum: „Die Sexualorgane der Orchideen sind einzigartig,“ wie die überwiegend männlichen Autoren der „Kosmos-Enzyklopädie Orchideen“ schwärmen. „Wir könnten eine Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte schreiben, indem wir eine Orchideenblüte schildern,“ meinte schon der Basler Biologe Adolf Portmann in seinem Radiovortrag „Insekten und Blumen“ (1942). Gleiches ließe sich auch wohl über die menschliche Vagina (vulgo: Vulva) sagen. Soll man noch erwähnen, dass ein katholisches Forschungsteam der Botanikerin Marta Kolanowska von der Universität Danzig im Kolumbianischen Urwald eine winzige Orchideenart entdeckte, die statt einer Klitoris ein weinrotes Teufelsgesicht in ihrer Blüte ausgebildet hat? Sie wurde „Telipogon diabolicus“ genannt. Und dann gibt es auch noch die „Orchis italica“, deren Lippe zu einem weißen Männchen mit großem Penis geformt ist. Wer damit wohl angelockt werden soll?
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Himalaja-Zwergstreifenhörnchen
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19. Papierfischchen
Die Wochenzeitung „Die Zeit“ braucht sehr viel Papier, das merkt man spätestens wenn man versucht, sie im öffentlichen Personennahverkehr aufzuschlagen. Deswegen warnte die Redaktion auch als erstes vor dem Anrücken der allseits gefürchteten „Papierfischchen“ – nahe Verwandte der Silberfischchen, die sich schon lange in unseren hiesigen Naßzellen tummeln, aber sehr klein und diskret sind, überdies völlig harmlos. Die von der „Zeit“ „Papierfresser“ genannten Schädlinge haben es dagegen auf die Trockenpresse, d.h. auf Zeitungen, Bücher und vor allem Akten abgesehen. Das ist quasi der Lebensraum der ursprünglich aus den Subtropen stammenden „Ctenolepisma longicaudata“, was die „Zeit“ mit „geschuppte langschwänzige Fischchen“ übersetzte. Sie haben Holland bereits erobert, die Vernichtung dieser „papiervisjes“ kostet Millionen.
Bis dato kannte man die „Papierfresser“ in Deutschland eigentlich nur als Metapher – z.B. sprach man wegen der Manie alles auszudrucken vom „Papierfresser Büro“, daneben wurden auch defekte Drucker als „Papierfresser“ bezeichnet, wenn sie die Seiten beschädigten und laufend „Papierstaus“ anzeigten. Der berühmte Modemacher Karl Lagerfeld, dessen Privatbibliothek 230.000 Bände umfaßt, gestand der „Welt“ von sich aus: „Ich bin ein Papierfresser“.
Aber als das Stadtarchiv von Krefeld (nahe der holländischen Grenze) der Westdeutschen Zeitung 2017 verriet: Es stünde nun in dem Archiv voller Akten und Dokumente der „Frühjahrsputz gegen Papierfresser“ an, da läuteten sofort alle Glocken – mindestens der auf Ewigkeit erpichten Antiquare, Archivare und Bibliothekare. Auch unter den „Sammlungsbetreuern breitete sich Unruhe aus,“ wie die „Zeit“ registrierte. Die Krefelder fügten beruhigenderweise hinzu: Dafür habe man sich jetzt ein neues „Hygiene-Set“ – für 1400 Euro – angeschafft (es funktioniert wohl so ähnlich wie ein großer Feinstaubsauger). Die Leiterin der Archivberatungsstelle im Landesverband Rheinland, Dr. Claudia Kauertz, begründete die Anschaffung damit, dass „der Landschaftsverband auf Prävention“ setze. Daraus konnte man schließen, dass die realen aus Holland rüber nach Westdeutschland machenden „Papierfresser“ mindestens das linksrheinische Krefeld noch nicht erreicht haben, aber doch gewissermaßen schon vor der Tür stehen. „Die Lage ist vielleicht nicht dramatisch, aber die Invasion ist offensichtlich,“ so sagte es die „Zeit“ im vergangenen Monat in ihrem zweiten halbseitigen Warnbericht „Die Papierfresser kommen“. Im „gutefrage.net“ aber auch auf „parents.at“ klagen dagegen unter dem Stichwort „Papierfresser“ vor allem Betroffene, deren Kleinkinder und Teenager plötzlich angefangen haben, „nur noch Papier“ zu essen. Über ein ähnliches Übel beklagen sich im übrigen auch die Katzenhalter auf den diversen Katzenforen. Von chinesischen Bauern werden die Kopfarbeiter wahlweise als Tintenschlucker oder Papierfresser bezeichnet, was aber beides nicht unbedingt negativ gemeint ist.
„Fischchen sind ubiquitär,“ behauptet die bildungsnahe „Zeit“, also sie können quasi überall leben. Die dazugehörige Quelle, eine Untersuchung in „properen und hygienisch einwandfreien Einfamilienhäuser in Raleigh/North Carolina“, bewies jedoch eher das Gegenteil: „in 68% der Häuser sammelten die Forscher Fischchen“ – das heißt doch wohl, dass die Tiere fast durchweg „hygienisch einwandfreie Einfamilienhäuser“ brauchen. Man erfährt allerdings nicht, um was für „Exemplare der Gattung Lepisma“ es sich dabei handelte, anscheinend haben die US-Forscher wahllos alles was da kreuchte und fleuchte eingefangen, ohne bei jedem Insekt den genauen Fundort zu vermerken und sich die Tiere genauer anzusehen. Waren es die glitschige Kacheln bevorzugenden Silberfischchen? Oder waren „es sich gerne hinter Backöfen gemütlich machende“ Ofenfischchen, die in den USA auch Wohnzimmerkamine besiedeln? Beides sind sogenannte „Lästlinge“. Oder waren es eben die gefürchteten Schädlinge: die Papierfischchen. Vielleicht waren es gar Exemplare von allen drei Arten. Die Zeit entschuldigt die US-Forscher ob ihrer Nachlässigkeit: Sie, die Fischchen, seien „optisch nur recht schwer zu unterscheiden…Nicht einmal deutsche Kammerjäger können Papierfischchen sicher identifizieren.“ Einer machte aus der Not eine Tugend, indem er einfach als ausgewiesener Schadinsektenexperte, wenn nicht gar als angehender Entomologe im Praktikum, behauptete, „dass Silber- und Papierfischchen regional unterschiedliche Namen für ein und dieselbe Art seien“. Für den Zeit-Autor ließ diese Ignoranz nur den Schluß zu: „Noch ist ‚Ctenolepisma longicaudata‘ in der deutschen Öffentlichkeit kein Thema.“ Dabei wurden die ersten Exemplare bereits 2007 in Hamburg, dem Tor zur Welt, entdeckt und breiteten sich seitdem im Umland aus: „Angeblich waren sie aus Holland in einer Großpackung Toilettenpapier eingeschleppt worden.“
Apropos: Als taz-Aushilfshausmeister bezeichne ich auch die Abo-Abteilung als „Papierfresser“, allerdings nurmehr für mich, weil ich unverhältnismäßig oft „Großpackungen Toilettenpapier“ zu ihnen in den sechsten Stock schleppen muß. Ferner wird in der taz der kleine Aktenschredder der stellvertretenden Chefredakteurin als „Papierfresser“ bezeichnet. Bei den echten Papierfressern (aus Holland), auch „Kammfischchen“ genannt, sieht man laut Wikipedia unter der Lupe oder dem Mikroskop drei Borstenkämme, während die Ofenfischchen nur zwei haben und die Silberfischchen gar keine. Die Papierfischchen wurden 1905 vom Insektenforscher Karl Escherich erstmalig beschrieben – in Südafrika. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte Escherich, der 1933 Rektor der Münchner Universität wurde, zu den deutschen Entomologen, die von den staatenbildenden Insekten aus eine neue Volksordnung anvisierten. In seiner Rektoratsrede führte er dazu aus: Sowohl der Menschen- als auch der Insektenstaat muß sich darauf einstellen, „dass seine Bürger ganz im Sinne eines ’survival of the fittest‘ der Einzelnen eher ihren eigenen Nutzen zu mehren suchen, als dem Gemeinwohl zu dienen. Das oberste Gesetz des nationalsozialistischen Staates ‚Gemeinnutz geht vor Eigennutz‘ ist hier [u.a. im Termitenstaat] bis in die letzte Konsequenz verwirklicht.“ Dieser „Totalstaat reinster Prägung“ ist bei den Menschen „bisher noch nicht erreicht.“ Nämlich wegen des leidigen „Individualismus“, den dann auch der Nazistaatsrechtler Carl Schmitt für „unsozial“ und „gefährlich“ hielt und der deswegen „verschwinden“ müsse. Dazu diente Schmitt Escherichs „speziesübergreifende Soziologie“, in der die „Gesellschaft“, als „schwirrende, unorganisierte Masse“, dem „Staat“ als eine ebenso umfassende wie feste Einheit entgegengesetzt wird. Dieser Staat nun muß den Einzelnen zum „politischen Menschen“ machen, damit er sich wie das „politische Insekt“ dienend und lustvoll der „Gemeinschaft“ unterordnet. So stellten sich Escherich und Schmitt das vor. Und all das begann noch vor ihrer Beschäftigung mit Termiten: mit den kleinen lichtscheuen Papierfischchen, deren Erforschung Escherich schließlich in eine Monografie über Lepismatiden gipfeln ließ, wofür ihm der Führer die „Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft“ verlieh. Allerdings kannte er noch nicht das „Geisterfischchen“, das jüngst von Biologen des Museums für Naturkunde in Chemnitz „als kleine Sensation“ entdeckt wurde. Die Biologen fanden die Insekten in einer Wohnung sowie im Museum selbst.
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Kaffernbüffel
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20. Rauschgiftkonsum bei Tieren
Madame Blavatsky, die Begründerin der Theosophie, berichtete 1885 aus Indien: „Das erste, was einem in Bombay auffällt, sind die Millionen Krähen und Geier. Sie sind die Abfallbeseitiger; eines der Tiere zu töten, ist nicht nur polizeilich verboten, sondern erregt auch die Aggression der Hindus, die stets bereit sind, ihr Leben für das einer Krähe hinzugeben. Der schreckliche Krach, den die Krähen sogar Nachts machen, ist einem erst unheimlich, aber dann kommt man dahinter, dass alle Zuckerpalmen und Kokospalmen in und um Bombay herum von der Regierung verpachtet werden. Man zapft sie an und hängt ausgehöhlte Kürbisse an die Stämme. Der Saft, der dort reinfließt, fermentiert und wird zu einem berauschenden Getränk: Toddy – Palmwein, den man zu Rum weiterverarbeiten kann. Die Kürbisse werden zwar von ‚toddy-Walas‘ regelmäßig gelehrt, aber da die Krähen in den Palmen ihre Nester haben, trinken sie natürlich immer wieder davon. Mit dem Ergebnis, dass diese lärmenden Vögel ständig berauscht sind. Wenn sie in unserem Garten auf einem Bein um uns herum tanzten, hatten diese betrunkenen Vögel definitiv etwas Menschliches und einen schelmischen Ausdruck in ihren listigen Augen.“
Auf der nördlichen Halbkugel ermöglichen andere Drogen eine Bewußtseinserweiterung (vulgo: Realitätsflucht): Rentiere z.B. „fressen schon seit ewigen Zeiten Magic Mushrooms. Im Winter graben sie gezielt unter der Schneedecke nach Fliegenpilzen, die ähnliche Halluzinationen wie LSD hervorrufen. In Folge kommen die Tiere ins Schwanken und geben seltsame Geräusche von sich,“ schreibt die Bild-Zeitung in ihrem Artikel „So suchen Tiere den Drogen-Kick.“ Seitdem 2002 eine Fallsammlung des italienischen Ethnobotanikers Giorgio Samorini auf Deutsch erschien, wird in der Presse immer mal wieder darüber berichtet, wobei die Frage, was die Tiere von den Psychodrogen haben, stillschweigend als durch den menschlichen Drogenkonsum hinlänglich bekannt vorausgesetzt wird, vor allem, wenn es um Alkohol geht. So berichtete z.B. die Direktorin des Zoos von Kiew, dass ihren Elefanten das Trinkwasser jetzt im Winter mit Wodka „zum innerlichen Aufwärmen“ versetzt wird, und das schon seit langem, es würde ihnen gut tun. Aus dem südafrikanischen Dokumentarfilm „Die lustige Welt der Tiere“ kennt man die Passage, in der nach dem Verzehr vergorener Früchte nahezu alle größeren Tiere betrunken durch den Urwald torkelten. Neuerdings macht der Biologe Mario Ludwig mit dem Thema „Tiere und Alkohol“ von sich reden (als ich zur Uni ging, war übrigens noch von „Frauen und Alkohol“ die Rede – und das nicht in Bio sondern in Gewi. Wie die Zeit vergeht!). Der Biologe erzählt uns nun – auf n-tv – von Känguruhs, Wallabies und australischen Schafherden, die in Mohnpflanzungen einbrechen, um sich an den „Morphinen und Opiaten“ der Mohnkapseln zu berauschen. Ähnliches berichtete kürzlich die Süddeutsche Zeitung aus Indien: Dort fallen immer wieder „opiumsüchtige Papageien und Antilopen in die Schlafmohnfelder“ ein, die Bauern sind machtlos. Ihre Ernte verkaufen sie legal an Pharmakonzerne.
Gut kommen auch immer Drogengeschichten mit Delphinen: Eine erzählt der Spiegel schon seit Jahrzehnten: In der Forschungsstation „Dolphin House“ der Bewußtseinsforscher Gregory Bateson und John C. Lilly arbeitete die Tierpflegerin Margaret Lovatt, deren Zimmer im Pfahlhaus mit Geldern der US-Marine so tief ins Wasser gelegt wurde, dass der Delphin „Peter“ sie dort besuchen konnte. Dazu kam noch LSD ins Spiel, der Spiegel schreibt: „Sex, Drogen und Meeressäuger: Tag und Nacht lebte sie 1964 mit ihm zusammen, um ihm Englisch beizubringen. Doch der hatte nur das Eine im Sinn – und sie ließ ihn gewähren.“ Professor Lilly verabreichte dann auch einem Delphin LSD – aber bei dem wirkte die Droge nicht: „Damit stand das Projekt vor dem Aus,“ schlußfolgert der Spiegel messerscharf – aber falsch.
Von sich aus nehmen frei lebende Delphine andere Drogen: Sie quälen z.B. einen Kugelfisch so lange bis er sein Gift – Tetrodotoxin – absondert, von diesem „Nervengift bedröhnt, schweben die Delphine träge unter der Wasseroberfläche,“ wie die „Daily Mail“ schreibt, die dazu den Zoologen Rob Pilley interviewte: „Es ist ein ganz ähnliches Verhalten wie das von Drogenkonsumenten, die das Gift von bestimmten Krötenarten lecken, um sich zu berauschen,“ meinte er.
Zu einer Kunstveranstaltung auf der Festung Küstrin, die 2004 von der polnischen Künstlergruppe „Urbanart“ organisiert wurde, gehörte eine Arbeit, die dieses Gift thematisierte, denn in einem kleinen Nachkriegs-Sumpf dort lebt diese Krötenart, deren „Schleim halluzinogene Substanzen enthält“, wie der Künstler mitteilte, der die Substanzen mit Wasser verdünnt anbot. Allzu sehr verdünnt, wie ich im Namen der Probierer hinzufügen möchte.
Mario Ludwig ist zuzustimmen: „Die Drogenforschung bei Tieren steckt noch in den Kinderschuhen.“ Bei seiner Delphin-Geschichte beruft er sich auf eine Dokumentation von Rob Pilley: „Einmal seien mehrere Delphine dabei gefilmt worden, wie sie einen Kugelfisch malträtierten, ihn „wie einen Joint“ herumgehen ließen. „Erstaunlicherweise machen das aber nur junge, männliche Delphine.“ Wird da nun das Tier von ihm hemmungslos vermenschlicht oder der Mensch vertierlicht? Egal. Wie jeder weiß, verwischen sich die Grenzen beim Drogenkonsum. Die Mykologen der John-Hopkins-Universität sprechen von einer gewissen „Offenheit“ – hervorgerufen durch die Einnahme von „Magic Mushrooms“. Dieser Zustand überraschte meinen Freund Anselm als er im Mai 2002 gedankenverloren über eine Langgraswiese im Tiergarten ging. Plötzlich kam ihm zum Bewußtsein, dass er mit jedem Schritt Dutzende Lebewesen zertrat. Entsetzt blieb er stehen – und rührte sich nicht mehr: bis die LSD-Wirkung nachließ und er wieder einigermaßen normal „verschlossen“ war.
Eine solche „Öffnung“ gilt nicht für alle Drogen – manche haben sogar die entgegengesetzte Wirkung: Alkohol z.B.. Der Konsum von Alkohol in Form von vergorenen Beeren sei im Tierreich gang und gäbe, meint „Deutschlands Experte für alles Tierische“, wie Dr. Mario Ludwig sich auf seiner Internetseite nennt. Szenen wie in Astrid Lindgrens Kinderbuch „Michel aus Lönneberga“, wo Haustiere nach dem Verzehr von verdorbenen Kirschen betrunken über den Hof torkeln, seien keineswegs Fiktion. „Ein massives Alkoholproblem“ haben nach seinen Worten besonders die Igel. Der Grund seien die vielen sogenannten Bierfallen, mit denen Hobbygärtner ihre Blumen- und Gemüsebeete schützten. Eigentlich sollten die mit Bier gefüllten Becher Nacktschnecken anlocken. Weil Schnecken aber die Leibspeise von Igeln seien, machten sich diese regelmäßig auch über das Bier her. Kein ungefährliches Unterfangen, sagt Ludwig, „denn hinterher sind die Igel sturzbetrunken und schlafen ihren Rausch recht ungeschützt in der Gartenecke aus“. Der Ostberliner Tierparkgründer Heinrich Dathe hat einmal eine ganze Liste mit Anekdoten über betrunkene Tiere veröffentlicht.
Noch eine letzte Geschichte – aus der Bild-Zeitung (von der wir übrigens annehmen, dass sie mit Unmengen Kokain zusammengestellt wird): „Auch die Strumpfbandnatter besorgt sich Tetrodotoxin – durch das Verschlingen eines Giftmolchs der Gattung Taricha. Die Schlange gerät in Trance, bewegt sich nur noch langsam und verliert die Angst vor ihren Feinden…“ Und jetzt kommts: „Verführt von der Leichtigkeit des Seins legt sie sich schutzlos in die Sonne – und wird zur leichten Beute für Falken.“ Habe ich das richtig verstanden? Mit halluzinogenen Drogen läßt sich die „Leichtigkeit des Seins“ erfahren, auch von Strumpfbandnattern? Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera hat diese Leichtigkeit ganz ohne Drogen erfahren – im Exil nach 1968. Dafür wurde sie ihm dort im Westen aber auch ganz „unerträglich“.
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Kaiserschnurrbart-Tamarin
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21. Sirenen
Die Hamburger Firma „J.F.G. Umlauf“ verkaufte Naturalien und Kuriositäten aus Übersee. „Für mehr als 100 Jahre bestimmte das Unternehmen den deutschen Markt für Zoologica, Ethnografica, Anthropologica und plastische Bilder vom Menschen,“ schreibt Britta Lange vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in ihrem Buch „Echt. Unecht. Lebensecht“ über die Firma Umlauff.
Für die Wissenschaftler brauchte es gesicherte Informationen über die Herkunft der Objekte, wenn sie die Objekte für ihre Museen und Institute erwerben wollten. Deswegen waren „Erzählungen ein Hauptgegenstand des Umlauffschen Geschäfts.“ In den Völkerschauen, mit denen Zoos und . Weltausstellungen beschickt wurden, ging es um eine Darstellung der „evolutionistischen Wissenschaftsauffassung“, die analog zur Naturgeschichte eine evolutive Kulturgeschichte postulierte: wenn dort die Entwicklung vom Urfisch zum Menschenaffen fortschritt – dann hier von den Hottentotten zu den Engländern.
Einer der Umlauff-Söhne kam über das glänzende Geschäft mit „afrikanischen Mumien“ darauf, es auch mit Meerjungfrauen zu versuchen: „Der Körper wurde gebunden, auf den Rumpf ein schlechter Frauenschädel gesteckt und dieser ausmodelliert. Die Hände wurden aus Affenhänden gemacht, hieran ganz lange Nägel und die andere Hälfte – das Hinterteil – war mit einer grossen Fischhaut überzogen. Auf dem Kopf eine blonde Perücke.“ An diesem Objekt waren vor allem russische Schausteller interessiert. Umlauff schreibt: „Ich verkaufte in einem Jahr 15 Stück, und alle, die sie kauften, sind reiche Leute geworden, natürlich in Russland.“
Noch im 18. Jahrhundert hatte der dänische Bischof Erik Potoppidan die Existenz von „Meermaiden“ bestätigt und der dänische Anatom Caspar Bartholin diese Wassernixen zusammen mit den Menschen und Affen als „homo marinus“ klassifiziert. Als Goethe Neapel besuchte, wollte er den homerischen Nixen nachspüren: „Und nun locken mich die Sirenen, und wenn der Wind gut ist, gehe ich mit diesem Brief zugleich ab – südwärts,“ schrieb er „leichtlebig“, kam dann jedoch nie wieder auf seine Sirenensuche zu sprechen.
Zu sehen gab es eine sogenannte „Sirenide“ in der 1870 vom Biologen Anton Dohrn gegründeten Meeresforschungsstation in Neapel – in einem seiner dortigen Aquarien. Der auf der Sireneninsel Capri lebende faschistische Theoretiker Curzio Malaparte berichtet in seinem Buch „Haut“ (1950), dass dieser „Fisch“, wie fast alle anderen in Dohrns Aquarien auch, 1944 vom Oberkommando der amerikanischen Streitkräfte getötet wurde – um anschließend von ihnen gegessen zu werden. Malaparte will selbst bei diesem Sieger-„Gastmahl des Meeres“ mit dabei gewesen sein. Weil aber das „zur Gattung der Sirenoiden“ gehörende Meerestier („dessen Flanken in einem Fischschwanz endeten – genau wie von Ovid beschrieben“) einem kleinen toten Mädchen zum Verwechseln ähnlich sah, habe eine der anwesenden weiblichen US-Offiziere darauf bestanden, den „Fisch“ stattdessen ordnungsgemäß im Garten der Forschungsstätte zu bestatten.
Die Koreaner und Japaner nennen ihre sportlichen Muscheltaucherinnen anerkennend Meerjungfrauen bzw. Sirenen. Für die pragmatischen Amerikaner sind Sirenen jedoch das, was wir „Seekühe“ nennen – gemütlich-dicke Meeressäugetiere in tropischen Gewässern. Früher gab es auch welche in sibirischen Gewässern. Diese „Stellerschen Seekühe“ wurden jedoch 27 Jahre nach ihrer Entdeckung ihres Trans und Fleisches wegen ausgerottet. Die mit Elefanten verwandten Seekühe ernähren sich von Seegras und stillen ihr Junges mit Milch aus Brüsten, die sich wie bei den Menschen vorne auf der Brust befinden, zudem können sie es mit ihren zwei Flossen Armen gleich umfassen. Sie sind quasi natur-zahm und beschäftigen in den USA zu ihrem Schutz hunderte von „Siren-Guards“, -Juristen und -Behördenmitarbeiter.
Sie sehen allerdings weder wie die auf antiken Vasen dargestellten Sirenen aus, noch singen sie wie die von Homer geschilderten. Das gilt auch für die bis zu ein Meter langen Arten der Gattung „Siren“, die man auf Deutsch „große Armmolche“ nennt, weil sie nur Vorderbeine haben, dazu Lungen und Kiemen. Sie gehören zur Familie der „Sirenidae“, leben an der Küste Floridas, ernähren sich von Pflanzen und halten Sommerschlaf.
Der Ostberliner Tierpark hält einige Seekühe im Dickhäuterhaus. Sie ernähren sich von oben schwimmendem Kopfsalat – also genau andersherum als in Freiheit. Der Tierpfleger kommt dafür regelmäßig im Taucheranzug in ihr Wasserbecken und streichelt sie: „Die brauchen das zu ihrem Wohlbefinden.“
Im Medizinhistorischen Museum der Charité sind in Alkohol konservierte „Sirenen“ ausgestellt. Es handelt sich dabei um zwei tote Säuglinge – „menschliche Fehlbildungen“: Bei der einen – „Sirenoiden“ – fehlten „die Beinanlagen, der Harntrackt und die Geschlechtsorgane“ – der Körper ging stattdessen ab der Hüfte in eine Art Schwanz über. Der anderen – „Sirenomelie“ – fehlten „Beine, Geschlechtsorgane, Niere, Blase und Enddarm“, man ließ sie wohl gleich nach der Geburt sterben. Für ihre „sirenoiden Fehlbildungen“ machen die jetzigen Kuratoren „übermässigen Alkoholgenuß der Mütter“ verantwortlich.
Nicht erst seit der romantischen Geschichte „Undine“ von Friedrich de la Motte Fouqué über eine Nixe, die sich unglücklich in einen Lands-Mann verliebte, weiß man, dass der Mensch den Sirenen ins Wasser folgen sollte – und nicht umgekehrt, weil das immer schlecht ausgeht. Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“ von 1961 endet da noch harmlos. Auch hier kehrt die Meerjungfrau enttäuscht zurück: „unter Wasser“, wendet sich aber noch einmal, ein letztes Mal, an den Mann, an die Männer – „Ungeheuer“ und „Verräter“ allesamt! Gedacht ist dabei vielleicht an die unendlich vielen jungen Frauen, die von einem treulosen Schuft geschwängert wurden und keinen anderen Ausweg wußten, als sich im Mühlteich zu ertränken – von wo aus sie die Männer in ihren Schuldgedanken und Alpträumen als Seejungfrauen heimsuchten.
Die feministische Anthropologin Elaine Morgan wies 1982 (in: „The Aquatic Ape“) nach, dass die Frauen einst, nach Verlassen der Bäume, erstmalig Schutz vor ihren Feinden im Wasser gesucht hätten. Dort lernten sie den aufrechten Gang, die Schmackhaftigkeit der Meerestiere, bekamen eine glatte, unbehaarte Haut, veränderten sogar ihre weibliche Anatomie und wurden intelligent und verspielt (so wie im übrigen alle Säugetiere und Vögel, die zurück ins Wasser gingen). Während die Menschenmänner dagegen quasi auf dem Trockenen hocken blieben. Elaine Morgans Studie endet jedoch versöhnlich: „Wir brauchen weiter nichts zu tun, als liebevoll die Arme auszubreiten und ihnen zu sagen (zu singen): ‚Kommt nur herein! Das Wasser ist herrlich!’“
Für Odysseus war das ein „verderblicher Gesang“ (er wollte unbedingt nach Haus zu seiner Familie). Der Homerforscher Friedrich Kittler wollte genau hinhören – und organisierte dazu 2003 eine Schiffexpedition in die Gewässer um Capri als „empirische Philosophie“. Kittler brachte von seiner Fahrt, an der sich mehrere Sängerinnen und der Leiter des Tierstimmenarchivs der Humboldt-Universität beteiligten, „Audio-Material“ mit. Es ist auf seiner CD „Musen, Nymphen, Sirenen“ zu hören, vor allem seine Stimme. „Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, das ist ihr Schweigen,“ schwante bereits Franz Kafka.
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