vonHelmut Höge 27.11.2017

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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In einer so schönen Umwelt, wie in Kalifornien, scheinen die Menschen besonders um sie besorgt zu sein. Die kalifornischen Künstler machen fast mehrheitlich „Ecoart“ (Ökokunst), die letzte „documenta“ zeugte davon. Bereits in den Achtzigerjahren waren kalifornische Künstler nach Westberlin gekommen, denen es um nichts Geringeres ging, als die Spree zu renaturieren. Jetzt, 30 Jahre später, kann das Brandenburger Landesumweltamt verkünden, dass in der Spree zwischen Wannsee und Spreewald wieder Flußkrebse leben; vor allem rund 30 Millionen Flußmuscheln, deren Filtriertätigkeit wir „die gute Wasserqualität der Spree zu verdanken“ hätten.

Die kalifornischen Schriftsteller, Geisteswissenschaftler und Ökologen arbeiten sich am „Nature Writing“ ab, am Schreiben über die Natur: Ein mit der Romantik entstandenes Genre, das derart forciert wurde, dass der Ökophilosoph Timothy Morton schließlich eine „Ökologie ohne Natur“ entwarf. Sie wurde 2016 auf Deutsch veröffentlicht – vom Verlag Matthes & Seitz, der in den letzten Jahren vor allem mit seiner großen Reihe „Naturkunden“ Aufmerksamkeit bekam, die von der Greifswalder Buchmacherin Judith Schalansky betreut wird. Dort erschien im selben Jahr auch das berühmte Buch des „Nature Writers“ Edward Abbey: „Die Einsamkeit der Wüste“ sowie einige Bücher des Klassikers Henry David Thoreau – mit dessen „Leben in den Wäldern“ (Walden) das „Nature Writing“ ab Mitte des 19. Jahrhunderts Amerikanisch wurde. Hier und heute stiftet der Verlag Matthes & Seitz einen „Nature Writing“-Preis und dort berufen sich vom „UNA-Bomber“ bis zu den US-Ökoaktivisten und -terroristen (der „Earth First“ u.a.), auf diese bioanarchistischen „Pioniere“. Timothy Morton hält diese Form der „Ökomimese“ jedoch für nicht ausreichend – in literarischer Hinsicht. Er beruft sich dabei auf Hegel, Heidegger, Lacan, Adorno, Derrida, Donna Haraway, Roland Barthes, Michel Foucault, Brian Eno, Bruno Latour, Wiktor Schklowsky und Slavoj Zizek – um nur die Wenigsten zu nennen. Alles Ökokritiker von Rang, so to speak, mit denen Morton „Eine neue Sicht der Umwelt“ entwirft, nach der wir den Natur-Begriff getrost fallen lassen können, denn er enthält tatsächlich zu viel und zu wenig (ebenso wie das Zentralorgan der Darwinisten: „Nature“). Mit den Worten von Donna Haraway: „Es gibt weder Natur noch Kultur, aber viel Verkehr zwischen den beiden.“ Die kalifornische Biopoetin betrachtet sich als „Follower“ (Mitforscherin) des Wissenssoziologen Bruno Latour und seiner „Akteur-Netzwerk-Theorie“. Für Latour gibt es keine ökonomische Utopie mehr, nur noch eine ökologische. Nicht trotz, sondern wegen Bienensterben und Artensterben, radioaktiver Verseuchung und Überfischung der Meere, Humusverlust und Verwüstung der Erde.

Mit postsowjetischem Schwung und kalifornischer Sachlichkeit setzte im „Critical Theory Institute“ (!) der Westküste das „close reading“ des „Nature Writing“ ein; 1991 veröffentlichte der marxistische Professor für vergleichende Literaturwissenschaft, Frederic Jameson, das bisher noch nicht übersetzte Buch „Seeds of Time“, das den theoretischen Rahmen der Kritik absteckte. Seine Gewährsleute sind Althusser, Adorno, Marcuse und Georg Lukacs. Jameson fand etliche „Schüler“. Der Verlag Matthes & Seitz veröffentlichte in diesem Jahr aber erst einmal einen frischen Ökoklopper: „Molekulares Rot“ von McKenzie Wark. Der australische Kulturwissenschaftler war Parteiarbeiter in der KP gewesen. Bereits in den Siebzigerjahren besaß die KP-nahe Bauarbeitergewerkschaft (BLF) ein „Umweltzentrum“, von dort gelang es ihnen, all jene Baustellen mit einem „grünen Bann“ zu belegen, „die als für die Umwelt schädlich eingestuft wurden.“ Wark beschäftigte sich lange mit der „Situationistischen Internationale“, er lehrt heute an der New Yorker „New School for Social Research“. In „Molekulares Rot“ führt er mindestens die selbe Ökotheoretiker-Bandbreite wie Morton ins Feld, dazu noch Marx und vor allem die Sowjetschriftsteller Alexander Bogdanow und Andrej Platonow. Das „close reading“ ihrer Werke macht die Hälfte seines Buches aus. Die andere geht für die Feministin Donna Haraway und den Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson (der bei Frederic Jameson studierte) drauf. Wark kann sich laut seiner Zitate auf gleich Dutzende von akademischen Arbeiten im englischsprachigen Großraum berufen, die sich nach 1991 mit einzelnen Aspekten, Literaturen und Zeitabschnitten der Sowjetunion befassten. Sein durchgehender Begriff – „Tektologie“ – stammt von Bogdanow, der damit ein System meinte, das Soziales, Biologisches und Physikalisches zusammenführt. Morton sagt es so: „In einer wahrhaft ökologischen Welt wird der Begriff der Natur sich in Rauch auflösen.“ Während Wark über den Istzustand urteilt: „Es handelt sich um eine denaturierte Natur ohne Ökologie.“

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Adbuster

Arsch bewegen – Plakate kleben!“ (Die Außenwerber)

Der Konsumgüterkonzern Procter & Gamble gibt im Jahr mehrere Milliarden für Marketing aus. Und hat nun Zweifel an der Wirksamkeit der Methode von Facebook, Werbung auf ein spezifisch definiertes Publikum abzustimmen, wie die FAZ berichtet.

Der Marxist Alfred Sohn-Rethel meinte einmal über die Werbung: In der kapitalistischen Produktion gibt es von Anfang an eine Überproduktion, die ständigen Absatzdruck hervorruft, dabei wird die Werbung immer wichtiger, das was Marx laut Ludwig Pfeiffer „achtlos“ als „faux frais“ (falsche Kosten) bezeichnete. 1974 bekam der Künstler Indulis Bilzens eine Anstellung als antikapitalistischer Kritiker bei der renommierten Düsseldorfer Werbeagentur GGK (die später einmal kostenlos eine taz-Werbekampagne entwarf), Bilzens wollte und sollte die Werber mit ständigem „faux frais“-Gerede verunsichern – was ihm jedoch nicht gelang. 1991 bat „Die Zeit“ die Redakteure des „Sonntag“, eine Ausgabe des „Zeit-Magazins“ herauszugeben. Unter einer Reihe von Photos, die Plakatwände an einer Landstrasse der neuen Bundesländer zeigten, schrieben sie: „Die Werbung überzieht das Land flächendeckend wie früher die Stasi.“ „Die Zeit“ bekam daraufhin eine harsche Beschwerde vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft.

Unterdes hatten zwei arbeitslos gewordene Kollegen aus der LPG „Florian Geyer“ Saarmund eine neue Anstellung als Plakataufsteller gefunden. Nach einigen Wochen verloren sie diesen Job aber wieder, weil ihr Chef behauptete, sie hätten ihn betrogen, indem sie nicht-aufgestellte Plakatwände abgerechnet hätten. In Wahrheit hatten sie aber alle Wände, die auf ihrer Liste standen, brav aufgestellt. Diese waren nur wenig später von Unbekannten wieder beseitigt worden. Ähnlich wurde in den letzten Jahren auch die „Wall“-Werbung an den BVG-Wartehäuschen immer mal wieder zerstört. Die zwei LPG-Kollegen heuerten dann bei einem anderen Aufsteller von Plakatwänden an, der sie mit Polaroid-Kameras ausstattete, mit denen sie ihre Arbeit dokumentieren sollten. Damit gab es keinen Abrechnungsstreit mehr.

1975 hatte der Schriftsteller und Naturforscher Edward Abbey einen Roman mit dem Titel „The Monkey Wrench Gang“ (die Universalschraubenschlüssel-Bande) veröffentlicht, in dem es vier „Terroristen“ darum geht, das Vordringen der Industriegesellschaft in die Fast-Noch-Wildnis des Südwestens der USA durch SabotageAktionen mindestens zu erschweren. Der Roman beginnt mit zwei Protagonisten, die es zunächst auf die Werbeplakate an den Highways abgesehen hatten: mit Motorsäge, Flex und Benzinkanister. Irgendwann sind sie zu viert so weit, dass sie sich an größere „Projekte“ heranwagen und sich sagen: „Der Krieg hat begonnen“. 2000 erschien auf Deutsch noch ein Roman „Die Kunst des Verschwindens“, von Jim Dodge, der sich mit einer kleinen elitären aber militanten Untergrundgruppe befaßt. Bei ihr gehört die Plakatzerstörung quasi zur Ausbildung. Der anarchistische Autor Thomas Pynchon schreibt im Vorwort: „Man wird darin nicht nur eine Gabe für Prophetisches bemerken, sondern auch eine ständige Verherrlichung jener Lebensbereiche, wo noch bar bezahlt wird – und die sich daher dem digitalen Zugriff widersetzen.“ Eine solche „Verherrlichung“ des Analogen findet man auch schon bei Edward Abbey. In Deutschland kennt man bisher nur Angriffe auf sexistische Werbeplakate sowie auf die Wahlwerbung der Parteien.

Sein Roman führte in den Siebzigerjahren zur Gründung der Umweltschutz-Organisation „Earth First“, deren Aktivisten immer mal wieder des „Öko-Terrorismus“ verdächtigt werden. Der Biologe Bernd Heinrich erwähnt in seinem Buch „Ein Jahr in den Wäldern von Maine“ (1994) eine Sabotage-Aktion in den Wäldern von Maine, wo Mitglieder von „Earth First“ Maschinen unbrauchbar machten und Nägel in Bäume schlugen, um sie vor dem Gefälltwerden zu sachützen (der Konzern „Timberland“ wollte dort 42.000 Festmeter Holz fällen). Ein Ableger von „Earth First“, die „Earth Liberation Front“ (ELF), wurde vom FBI als „einheimische Terroristengruppe Nummer 1“ bezeichnet.

Ein DDR-Graphiker hielt 1994 einen Vortrag in Braunschweig, in dem es um Produktwerbung ging. Er führte darin aus: Wer solche Werbung macht oder betreibt, der stehe „auf der Seite des Verbrechens“. Ich nehme an, das er das als ökologisch Denkender im Hinblick auf Ressourcenschonung meinte. In der DDR wurde die Film- und Fernsehwerbung im übrigen 1976 eingestellt. In Warschau beauftragte man eine Graphikbrigade, die gesamte Lichtwerbung in der Stadt zu gestalten. Das Ergebnis war beeindruckend und den Warschauern gefiel es auch. In Moskau sagte ich 2001 zu der Reiseleiterin, einer Germanistin, angesichts der vielen schrillen Werbung in der Stadt: „Alles so schön bunt hier!“ „Schrecklich!“ erwiderte sie.

In Berlin hat die Werbung inzwischen ebenfalls schreckliche Ausmaße angenommen: An den Straßen und Plätzen werden immer mehr Werbeplakate aufgestellt und in den U-Bahnhöfen sogar schon die Fußböden mit Werbeplakaten beklebt. Auf immer mehr Hochhäusern drehen sich riesige Mercedessterne. Und auch die Ladenwerbung wird immer umfangreicher und greller. Hinzu kommt die Werbung an Bussen und Bahnen, die riesige Blow-Up-Werbung an Brandmauern und Baugerüsten und die vielen täglich wahllos und wild auf alle möglichen Freiflächen und Pfähle geklebten Veranstaltungsplakate. Nicht zu vergessen, die sich über schier alles ausbreitenden Tags und Graffitis, wobei letztere durchaus auch als eine subversive Reaktion auf den Overkill der Werbung des Kapitals gelesen werden kann, und die tags sowieso illegale Werbemaßnahmen des kleinen Mannes auf der Straße sind.

Die des großen im Loft, in diesem Fall des Bauunternehmers Reinhard „Wertkonzept“ Müller, das ist u.a. der riesige Schöneberger „Gasometer“, aus dem man inzwischen eine einzige Werbefläche gemacht hat, die Nachts weithin leuchtet. Laut ihres „Betreibers“ – Ströer Megaposter GmbH – hat sie „pro Nacht einen Werbewert von 165.000 Bruttokontakten“. Eine Bürgerinitiative in unmittelbarer Nähe bekämpft diese aufdringliche Nutzung des Industriedenkmals. Sie beruft sich u.a. auf den Urbanisten Giuseppe Pitronaci: „Die Bürger haben ein Recht auf werbefreie öffentliche Räume. Und wirklich öffentlich ist ein Raum nur in dem Maß, in dem er nicht von privatwirtschaftlichen Interessen vereinnahmt wird – in einer auf Gemeinschaft orientierten Bürgergesellschaft ist ein solches Gegengewicht zu kommerziellen Einzelinteressen unverzichtbar“. Pitronaci warnt, das „der Druck, Flächen für Werbung zur Verfügung zu stellen, immer größer wird, je weiter sich der Staat aus der Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen zurückzieht.“

Für den Philosophen Michel Serres bedeutet die Werbung bereits „das eigentliche Übel“. Im Juni 2017 gründete sich gegen diesen um sich greifenden Werbewahnsinn in Berlin eine erste Bürgerinitiative. Der Sender RBB berichtete: „Von visueller Verschmutzung ist die Rede und von der Kommerzialisierung öffentlicher Räume – gemeint sind die Werbeflächen in Berlin. Eine Bürger-Initiative will die Berliner vor zu viel Werbung schützen und strebt dafür ein neues Volksbegehren an.“

Sie kritisiert gerade das an der Reklame, was der Fachverband Außenwerbung hervorhebt: Die Außenwerbung stehe „im permanenten Kontakt mit der Bevölkerung. Immer, überall, 24 Stunden an jedem Tag des Jahres, unausweichlich, unübersehbar.“ Auf der Internetseite der BI heißt es dagegen: „Werbung nervt. Jeden“. Die Stadt werde von Plakat-, Licht- und Display-Werbung geradezu „überflutet“, sagen die Initiatoren von „berlin-werbefrei“, die mit einem neuen Volksbegehren, das möglicherweise in einen Volksentscheid mündet, die Werbung im Berliner Stadtbild auf ein allgemein verträgliches Maß zurechtstutzen und einer „unkontrollierten Ausbreitung“ zuvorkommen wollen. Der Titel des neuen Gesetzes lautet: „Gesetz zur Regulierung von Werbung in öffentlichen Einrichtungen und im öffentlichen Raum“ oder kurz „Antikommodifizierungsgesetz“ (AntiKommG). In verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und im kritischen politischen Diskurs steht der Begriff „Kommodifizierung“ für die Kommerzialisierung öffentlicher Ressouren. Kritiker des Neo-Liberalismus sehen darin die Gefahr, dass auch der Bereich des Sozialen zunehmend wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen wird. Weiterer Bestandteil des geplanten Volksentscheids wird das Werbefreiheitsgesetz (WerbeFG) sein. Damit soll Werbung und Sponsoring an Schulen, Universitäten und anderen öffentlichen Einrichtungen reguliert und transparent gestaltet werden.

Die Initiatoren von „Berlin Werbefrei“ kritisieren in diesem Zusammenhang, dass der Senat die inflationäre Ausbreitung von Werbung unterstützt und selbst noch Geld damit verdienen will. Die taz fragte den Rechtsanwalt Fadi El-Ghazi, der den Gesetzesentwurf der BI mit ausgearbeitet hat, ob die Werbung wirklich mehr werde. „Ja,“ sagte er, „gerade an stark frequentierten Straßen und Plätzen nimmt die Außenwerbung massiv zu. Der Senat hat gerade 8.100 Werbeflächen neu ausgeschrieben. Wollen wir wirklich an jeder dritten Laterne einen leuchtenden Hinweis auf Aldi, Lidl oder McDonald’s?“

Es geht auch anders: In Zürich haben sich die Bürger z.B. Werbung an ihren blauen Straßenbahnen entschieden verbeten. Als Beispiel für werbefreie Städte erwähnt „Berlin Werbefrei“ die brasilianische Metropole São Paulo. Diese sei im Jahr 2007 durch das „Clean City Law“ zur weltweit ersten Metropole ohne Banner, Poster und Plakate erklärt worden. Ein weiteres Beispiel sei Grenoble in der Schweiz. Dort habe man 2014 den Slogan „Bäume statt Werbetafeln“ ausgegeben und betreibe seitdem die „Erfindung einer neuen schöneren, städtischen Lebensweise“.

Im Grunde würden sich dabei zwei Welten gegenüber stehen: die Klasse derer, die mit einem politischen Mandat ausgestattet seien, und eine Klasse neuer Bürger-Politiker, die ihre Interessen auf dem Weg der direkten Demokratie durchsetzen wollten, fügte der Sprecher des Trägervereins „Changing Cities“, der frühere Bahnmanager Heinrich Strößenreuther, hinzu.

Eine Umfrage unter 347 Berlinern ergab laut Berliner Zeitung, dass die Hälfte der Antiwerbungs-Initiative positiv gegenüber steht. Bei einer Umfrage zum selben Problem im Internet meinte der Facebook-Nutzer David Helmus: „Müll nervt jeden. Lasst uns Müll verbieten!“ Auch das ist eine gute Idee: Wegen der vielen „To Go“-Imbißläden und vor allem „Starbuck’s“Filialen ist z.B. der Bürgersteig vor der taz und der taz-Café-Garten jeden Tag voller Verpackungsmüll. Einmal in der Woche wird er von zwei Mitarbeitern beseitigt, aber das reicht längst nicht mehr.

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Privatisieren

Nachdem man die nordamerikanischen Indianer in Reservate zurückgedrängt hatte, waren von den einst rund 10 Millionen Indigenen noch 1, 5 Millionen übrig. Der größte Teil starb an Pocken, die von den weißen Siedlern eingeschleppt worden waren. In mindestens einem Fall geschah dies bewußt, indem man ihnen mit Pockenviren infizierte Decken lieferte, wie der Historiker Aram Mattioli in seiner Geschichte der Indianer Nordamerikas. Verlorene Welten“ (2017) erwähnt. Danach ging es darum, ihre laut dem US-Innenminister Carl Schurz „großen und wertvollen territorialen Besitzungen, die ungenutzt daliegen“ zu parzellieren und zu privatisieren, damit sie auf den freien Bodenmarkt gelangen konnten. Dazu wurde 1887 ein nach dem republikanischen Senator Henry Dawes benanntes Gesetz, der „Dawes Act“, verabschiedet, mit dem die indianischen Gemeinschaften zerschlagen werden sollten – „pulverisiert“, wie Präsident Theodore Roosevelt es ausdrückt, um die Indianer als ethnische Minderheit zum Verschwinden zu bringen. Die Indianer sollten laut Mattioli „Ich“ statt „Wir“ sagen: „Ihnen sollte ein gesunder Egoismus eingeimpft werden,“ denn „Selbstsucht ist die Grundlage der Zivilisation,“ verkündete Senator Dawes.

Etwas moderner drückten sich später in bezug auf die südamerikanischen Indianer die Verfasser der brasilianischen Staatsdoktrin zur Eingeborenenpolitik aus, die der Ethnologe Pierre Clastres in seiner „Archäologie der Gewalt“ (2008) zitiert: „Unsere Indianer sind Menschen wie wir alle. Aber das Leben in der Wildnis, das sie in den Wäldern führen, setzt sie Elend und Leid aus. Es ist unsere Pflicht, ihnen dabei zu helfen, sich aus ihrer Zwangslage zu befreien. Sie haben ein Recht darauf, sich in den Stand der Würde eines brasilianischen Staatsbürgers zu erheben, um ganz am Fortkommen der einheimischen Gesellschaft teilzunehmen, und um in deren Annehmlichkeiten zu kommen.“

Die Moral blamierte sich noch immer, wenn sie vom Interesse geschieden wart: In Wirklichkeit wurden und werden sie von Bergwerken, Staudämmen und Landwirtschaftskonzernen in die Slums der Städte vertrieben.

In Australien war es noch vor nicht langer Zeit straffrei, einen Aborigines zu töten. Inzwischen herrschen jedoch „politisch korrekte“ Zeiten, auch Multikulti ist noch angesagt, und da sollte man tolerant gegenüber anderen Denksystemen sein – und möglichst kooperieren, sich vernetzen usw.. Ausgehend vom australischen Garten „Kultiviert durch Feuer“ auf der IGA des australischen Büros „T.C.L.“ las ich einen Artikel der Wissenschaftshistorikerin Helen Verran über zwei verschiedene Arten, ein kontrolliertes Buschfeuer zu entfachen. Einmal die Umweltwissenschaftler, die 1 qm große Versuchsfelder anlegen, die Pflanzen darin bestimmen und zählen, dann die Quadrate verbrennen und anschließend wieder die Pflanzen, die dort neu hochkommen, bestimmen, zählen usw….Sie stehen dabei in der ‚Tradition u.a. von Linné und Darwin und berufen sich genealogisch auch auf sie – beim Legen ihrer Buschbrände.

Während die Aborigines sich auf die Clan- und Familiengeschichte und ihre eigene in ihrer Region, in der sie die Buschfeuer entzünden, berufen und in der Tradition der „Traumzeit“ argumentieren – sowie auch handeln. Dazu gehört, dass rings um den Brand alles gesammelt (Yamswurzeln), geerntet (Muscheln) und gejagt (Känguruhs) wird. Anschließend wird dies alles gerecht unter allen Clanmitgliedern geteilt – abgemessen nach der Nähe bzw. Entfernung im Verwandtschaftsgrad.

Da stoßen zwei Vorgehensweisen, „zwei Wissenschaften“ würde Lévy-Strauss sagen, aufeinander. Und dann sollen die Umweltwissenschaftler und Aborigines auch noch zusammenarbeiten…Letztere organisierten dazu einen gemeinsamen Workshop auf ihrem Territorium. Der Text darüber findet sich in der Aufsatzsammlung „Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven“ (2017).

Helen Verran, die feministische Wissenschaftshistorikerin an der Charles-Darwin-Universität in der Küstenstadt Darwin im Norden der Northern Territories von Australien, hat sie alle drauf: die „Akteur-Netzwerk-Theorie“, die Latours und Haraways und schließlich das „postkoloniale Moment“, das bei dem Bemühen, die beiden Denksysteme zu gemeinsamer Aktion zu führen, aufscheint. Während hierzulande das Fortdauern imperialistischer Machtverhältnisse in anderer Gestalt als „postkolonial“ kritisiert wird, deutet in Australien das „Postkoloniale“ auf etwas Überwundenes, auf einen Bruch – glückhaft empfunden – hin.

Aber geht das Privatisieren des Nichtkapitalistischen nicht ständig weiter? „Heute bereiten diejenigen, die sich als die Herren Brasiliens fühlen, ihre Schlußoffensive gegen die Indios vor. Gegen die Indiovölker Brasiliens ist ein Krieg im Gang,“ zürnt der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro in seinem „Lettre“-Aufsatz „Die Erde und der Körper“ (2017). Dabei macht der Staat, der sich doch verpflichtet hat, die Indios zu schützen, gemeinsame Sache mit der „Bourgeoisie des Agrobusiness“ und dem internationalen Kapital.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Recherche „Auf den Spuren der malaysischen Holzmafia. Raubzug auf den Regenwald“ (2017) von Lukas Straumann, dem Geschäftsführer des Bruno-Manser-Fonds. Dabei geht es konkret um die Penan auf Borneo, für die der Bruno Manser Fonds Landrechtsklagen einreicht und ihnen Zugang zu „Bildung, Arbeit und medizinische Versorgung“ verschafft.

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Einwildern – Auswildern

Wer spricht für die Katze? Das fragen sich feministisch inspirierte Tierschützer in den akademischen „Animal Studies“; z.B. die Wiener Kulturwissenschaftlerin Susanne Magdalene Karr mit ihrem Buch: „Verbundenheit. Zum wechselseitigen Bezogensein von Menschen und Tieren“ (2015), und die Philosophin Birgit Bauer mit einem an Donna Haraway orientierten Onlinetext: „Wer spricht für den Jaguar?“ (2014). Darin argumentiert sie gegen eine Repräsentation des „nicht-menschlichen Tieres“ – durch Wissenschaftler z.B., und gegen die naturwissenschaftliche Objektivität überhaupt, wobei sie deren Allgemeingültigkeitsanspruch einen lokalen entgegenstellt. Für Karr stellt sich „Verbundenheit“ u.a. im gegenseitigen „Mitteilen“ her, wobei die mit diesem Wort bezeichnete „Aktion des Teilens durch Sprechen oder andere Vermittlung voraussetzt, dass die am Mitteilungsprozeß Beteiligten fähig zur Teilhabe sind und aufnehmen können, was mitgeteilt wird.“

Was hier und heute abstrakt verhandelt wird, hat das Ehepaar Joy und George Adamson in Ostafrika mit Löwen, Geparden und Leoparden praktisch erprobt, indem es diese Katzen als gezähmte auswilderte. Über ihre heroische Wahrheitsproduktion haben sie sechs Bücher veröffentlicht, außerdem wurden mehrere Filme über ihr Experiment gedreht, das in den Fünfzigerjahren begann. Just als die zentralafrikanischen Kolonien Englands nach langen Kämpfen selbständig wurden, hörte man auf, diese großen Katzen massenhaft in die Zoos und Zirkusse Europas und Amerikas zu schaffen – und brachte sie stattdessen einzeln als Waisenkinder wieder zurück, um ihnen ein selbständiges Leben in ihrem ursprünglichen Habitat bzw. in dem, was davon noch übrig geblieben war, zu ermöglichen. „Versucht man einen Löwen von London nach Nairobi zu bringen, erntet man seltsame Blicke,“ bemerkte der Engländer George Adamson. Aus dem einstigen Entwildern wurde ein Auswildern.

Es ist schwierig und langwierig, Raubkatzen-Nachwuchs aus Zoos, Zirkussen, Tierheimen oder privater Haltung in die Freiheit zu entlassen, da den Tieren weitgehend die Scheu vor Menschen fehlt und sie das Jagen nicht von ihrer Mutter lernen konnten, der Mensch ihnen dabei aber nicht helfen kann. Das Ehepaar Adamson mußte ihnen noch jahrelang gekaufte oder geschossene Tiere, sowie Lebertran und Milch in die „Wildnis“ nachtragen und sie bei Verletzungen in ihrem Camp pflegen. Umgekehrt mußten die Adamsons sehr oft auch ihre eigenen Verletzungen ärztlich behandeln lassen. Sie ermunterten die Raubkatzen, sich an Antilopen z.B heranzupirschen, was sie auch taten, aber es kam denen „lange nicht in den Sinn, sie zu jagen, geschweige denn zu töten“. „Ihre“ junge Leopardin versuchte Joy Adamson vergeblich mit „knuffen und schubsen“ zur Jagd anzutreiben. Die dafür notwendigen Fertigkeiten erwarb Penny erst an Fröschen (wie die russischen Kinder im Biologieunterricht). Bei ihrem ersten richtigen „Riß“ tanzte sie noch um den Kadaver herum, was Joy Adamson „als Bitte deutete, ihr beim weiteren Öffnen der Bauchhöhle behilflich zu sein“, was sie dann auch war. Als aber Pennys „Interesse am Jagen wuchs, zeigte sie uns sehr deutlich, wie sehr ihr unsere Gespräche während der gemeinsamen Spaziergänge mißfielen, da sie das Wild verscheuchten.“ Auch ihre Löwen machten den Adamsons bald unmißverständlich klar, dass sie sich, wenn Beutetiere in Sicht kamen, wenigstens zu ducken hatten, wenn sie schon nicht mitjagten.

Über die erste erfolgreiche Auswilderung gibt es einen Spielfilm: „Frei geboren – Königin der Wildnis“ (1966). Dabei handelt es sich um die von Joy Adamson aufgezogene Löwin Elsa, über die sie drei Bücher veröffentlichte. Elsa blieb bei den Adamsons. Sie konnte sich im Camp frei bewegen, aber auch durch die Savanne (u.a. der Serengeti) streifen. Als sie das erste Mal rollig wurde, verschwand sie im Busch. Ein Jahr später erschien sie aber wieder im Camp. Sie hatte drei ihrer Jungen dabei und blieb nur kurz. 1961 starb Elsa an einer Infektion. Ihre Jungen betreute Joy Adamson weiter, danach widmete sie sich erst einer Gepardin namens Pippa und ihren Jungen, über die sie zwei Bücher verfaßte, und dann einer Leopardin namens Penny, über die sie ein Buch veröffentlichte. Bevor sie 1980 ein zweites über Pennys Jungen schreiben konnte, wurde sie ermordet. Ihr Mann George versuchte unterdes Löwen im Rudel auszuwildern, damit sie sich leichter gegen andere Löwen im Schutzgebiet durchsetzen konnten. Er starb 1989 bei einem Einsatz gegen Wilderer.

Der Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek unterstützte nicht nur immer wieder großzügig das Ehepaar Adamson über 30 Jahre hinweg, sondern auch den Zoologen George Schaller mit seiner zweijährigen Löwenforschung in der selben Region. Er veröffentlichte darüber ebenfalls ein Buch: „Unter Löwen in der Serengeti“ (1978). Leider entblödete er sich darin nicht , die Arbeit von Joy und George Adamson als eine bloße Sammlung „interessanter Anekdoten“ abzutun, während es ihm – viel anspruchsvoller – um ein „zusammenhängendes Bild der Biologie des Löwen“ ging, also genau um das, wogegen die feministischen Antiobjektivisten sich heute die Finger wund schreiben. Und dann behauptet er auch noch, dass er wie keiner vor ihm „die Gelegenheit hatte, in die Welt des Löwen einzudringen.“ Des ideellen Gesamtlöwen? Der Zoologe Josef Reichholf meinte dem gegenüber: „Tiere, auch solche in freier Wildbahn, müssen zu Individuen mit besonderen Eigenheiten werden. Zu lange wurden sie lediglich als Vertreter ihrer Art betrachtet, sogar von Verhaltensforschern. Das machte sie austauschbar und normierte sie zum ‚arttypischen Verhalten‘, aus dem die ‚artgerechte Haltung‘ abgeleitet wurde. Das ist falsch.“

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Nur Auswildern

Auch Menschen wurden und werden ausgewildert, im 17., 18. und 19. Jahrhundert sogar massenhaft, wenn man den Forschungen des Ethnologen Marin Trenk glauben darf. Es handelte sich dabei um „kulturelle Überläufer“: Weiße, die ihre amerikanische Gesellschaft zum Kotzen fanden und zu den Indianern – den „Wilden“ – überliefen, bei denen sie fortan lebten. Sie wilderten sich selbst aus, andere wurden ausgewildert, indem sie von Indianern gefangen genommen und dann adoptiert wurden. Dazu gehört u.a. die Tochter eines Geistlichen, Mary Jemison: Nachdem Shawnee-Indianer 1755 ihre Familie getötet hatte, wurde die Zwölfjährige von den Seneca aufgenommen, mit denen sie dann 60 Jahre lang zusammen lebte. Zuletzt versuchte sie sich als Vermittlerin zwischen den Weißen und den Indianern. Ähnlich Helena Valero, die wahrscheinlich noch lebt: Der Journalist Patrick Tierney interviewte sie für sein Buch: „Verrat am Paradies: Journalisten und Wissenschaftler zerstören das Leben am Amazonas“ (2002). Helena Valero wurde als Zwölfjährige von den Yanomami entführt und lebt seit über 50 Jahren mit ihnen. „Sie erforschte als erste Weiße unzählige Gegenden, Fsse und Bergketten, und sprach besser Yanomami als jeder andere Nichtyanomami“, schreibt Tierney. Ihre auf Portugiesisch veröffentlichte Biographie hat den Titel: „Ich bin die Weiße Frau“. Ein Missionar verglich sie mit Homers Helena. Umgekehrt ging eine Yanomami-Indianerin, Yarima, zu den Weißen, indem sie den Ethnologen Kenneth Good heiratete und mit ihm nach New Jersey zog, wo sie als Hausfrau mit drei Kindern in einem Reihenhaus lebte. Sie entwilderte sich quasi. Ihr Ehemann verschaffte sich laut Tierney „durch die Heirat mit ihr einen einzigartigen Zugang zur Gesellschaft der Yanomami“. Seine Frau verließ ihn und ihre Kinder jedoch nach einigen Jahren – und ging zurück an den Orinoko. Sie hielt es in den USA nicht aus: „Das einzige, was sie lieben, sind Fernsehen und Einkaufszentren. Das ist doch kein Leben“, erklärte sie Patrick Tierney, dem sie gestand, dass sie inzwischen sogar wieder das Zählen verlernt habe, und dass sie ihren Mann in New Jersey als zu wenig kriegerisch, zu kriecherisch, empfand.

Aus Russland stammt der Bericht des zaristischen Offiziers Wladimir Arsenjew über den „Taigajäger Dersu Usala“. Arsenjew unternahm ab 1902 zwölf ausgedehnte Expeditionen in das damals noch weitgehend unerforschte Gebiet zwischen dem Ussuri und dem Stillen Ozean. Bereits bei seiner ersten Unternehmung lernte er dort den Jäger Dersu Usala aus dem kleinen Volk der Golde kennen, der ihm als Führer diente und mit dem ihn bald eine enge Freundschaft verband. „Je näher ich diesen Mann kennen lernte,“ schreibt Arsenjew, „desto mehr gefiel er mir. Jeden Tag entdeckte ich neue Werte. Früher hatte ich geglaubt, der Egoismus sei eine Grundeigenschaft der unzivilisierten Völker, während das Gefühl der Nächstenliebe und Rücksicht auf fremde Interessen nur den Europäern eigen sei. Hatte ich mich da nicht geirrt?“ Dersu Usala und Arsenjew unternahmen alle Expeditionen zusammen, wobei der Taigajäger dem Hauptmann mehrmals das Leben rettete, so dass dieser den Golde, als dessen Sehkraft nachließ, bei sich zu Hause in Chabarowsk aufnahm. In der Stadt und in den rechtwinkligen Zimmern des Hauses von Arsenjew hielt der „Wilde“ es jedoch nicht aus – und ging wieder in den Wald. Arsenjews Buch, das 1975 von Akira Kurosawa verfilmt wurde, kann man Piotr Kropotkins Buch „Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ zur Seite stellen. Kropotkin durchstreifte ab 1862 ebenfalls als Geograph Sibirien und betätigte sich wie Arsenjew unterwegs als Geologe Zoologe, Botaniker, Ethnologe und Sprachforscher. Beide sind zudem von einem ähnlichen Geist beseelt – die Menschen, Tiere und Pflanzen betreffend. Kropotkin erwähnt an einer Stelle seines Buches den Bischof von Ochotsk und Kamtschatka, Venjaminoff: Dieser habe ihm 1864 persönlich versichert, daß er es ablehne, die Aleuten zu taufen, „da die Bekehrten dann mit ihrer eingeborenen Moral brechen, die unter ihnen sehr hoch entwickelt ist“. Dies war auch der Grund, warum sich viele Weiße in Nordamerika „auswilderten“ – „White Indians“ wurden. Marin Trenk zitiert den Bauer Hector St. John de Crèvecoeur, der in seinen „Letters from an American Farmer“ (1782) schrieb: „In ihrer [der Indianer] sozialen Bindung muß etwas ungewöhnlich Fesselndes liegen, das allem, dessen wir uns rühmen können, weit überlegen ist: denn Tausende von Europäern sind Indianer geworden, aber wir kennen kein Beispiel, dass auch nur ein einziger Eingeborener freiwillig Europäer geworden wäre.“

In Zittau fand 2016 ein „Pribersommer“ statt, dabei ging es um den Juristen Christian Gottlieb Priber, der 1734 Frau und Kinder in Zittau verließ und sich in Amerika den Cherokee anschloß. Er heiratete eine Squaw und beriet die Indianer bei Landverhandlungen mit den Franzosen und Engländern. Und das so erfolgreich, dass sie ihn einfingen und ins Gefängnis steckten,wo sie ihn sterben ließen, auch sein Hauptwerk „Kingdom Paradise“ vernichteten sie. Die Görlitzer Germanistin Ursula Naumann hat ihm 2001 ein aufwändig recherchiertes Buch gewidmet: „Pribers Paradies. Ein deutscher Utopist in der amerikanischen Wildnis“.

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Gesellschaftstheorie

„Eine Theorie der Gesellschaft, die davon absehen würde, dass tatsächlich heute das Los der Arbeiter sich gegenüber ihrem Los in den klassischen Analysen von Marx und Engels geändert hat, dass also, ganz schlicht gesagt, die Proletarier heute wirklich mehr zu verlieren haben als ihre Ketten, nämlich im allgemeinen also doch ihr Kleinauto oder ihr Motorrad – wobei ich dahingestellt lasse, ob diese Autos und Motorräder nicht eine sublimiertere Form von Ketten sind – , darüber ist jedenfalls kein Zweifel,“ meinte Theodor W. Adorno 1964, als das Motorrad in der „Evolution“ der kleinbürgerlichen BRD-Mobilität vom Fahrrad bis zum VW noch vor dem Auto angeschafft wurde.

Ich fragte mich bei diesem Adorno-Satz: Waren die wirklichen Ketten etwa auch schon „sublimiertes“ Zeug? Wenn man das mit einem historischen Blick auf die Arbeit beantworten will: Ja, denn die Glieder, aus der eine Kette besteht, sind meist aus Eisen und das will erst einmal aus Bergwerken hochgeholt, geschmolzen und geschmiedet sein, ebenso die dazu notwendige Kohle. Sublimieren bedeutet hochentwickeln, hochholen, das paßt zum Bergwerk. Seltsam aber, dass gerade die Menschen, die diese Arbeit machen, am Wenigsten an den „sublimierteren Formen von Ketten“ hingen. Ich denke dabei an die vielen Bergarbeiterstreiks in der Geschichte – bis heute. Wie viele „Ruhrkumpel“ sich allein aufmachten, um sich mit den streikenden Kalibergarbeitern in Bischofferode zu solidarisieren (die Arbeiter aus anderen Branchen schickten Soli-Faxe). Dann der Streik der englischen Bergarbeiter,, die sich fast allein gegen die Thatchersche Durchsetzung eines real existierenden Neoliberalismus wehrten. Die Rote Ruhrarmee. Die Streiks in den Zwanzigerjahren im Mansfeldischen Bergbaurevier. Die rote Fahne von Kriwoi Rog. Davor die Arbeitskämpfe in Oberschlesien usw..

Mit der heutigen Arbeit beschäftigt sich seit 1989 der Soziologe Wolfgang Engler. Seine Bücher dazu werden bereits im Titel inhaltlich: „Die Ostdeutschen/Die Ostdeutschen als Avantgarde/Bürger ohne Arbeit/Unerhörte Freiheit – Arbeit und Bildung in Zukunft/Die ungewollte Moderne/ Die zivilisatorische Lücke“.

Noch bevor sich – wenigstens in Berlin – alle in der Tourismusbranche wiederfanden, war schon vom neoliberalen „Dienstleistungsgeschäft“ die Rede, wobei es nicht zum geringsten Teil um Computer-Bedienung ging. Aber generell handelt es sich dabei um einen Service – servieren: kellnern, was sich vom lateinischen Wort für „Sklavendienst“ herleitet. In Tirol ist man schon – so lange wie die Engländer für die Alpen glühen – im Tourismusgeschäft. Die Infrastrukturbesitzer dafür waren Bauern, das Bedienungspersonal kam meist aus Serbien. Aber mit dem Zerfall Jugoslawiens war damit Schluß. Stattdessen kamen Ostdeutsche, von denen inzwischen viele dort auch wohnen. Gleichzeitig warb der Tiroler Tourismusverband in Indien für die „Destination Tirol“. Es kamen lauter Neureiche – und die verlangten für ihr Geld, dass man sie quasi kriechend bediente. Das ging überhaupt nicht. Schnell wurde die Indienwerbung gestoppt. Heute urlauben dort Westdeutsche, bedient werden sie von Ostdeutschen, die Chefs sind Tiroler Ex-Bauern. Erzählt hat diese Geschichte der Tiroler Tourismusforscher Michael Zinganel im Kreuzberger Kunstverein NGBK. Wohingegen der Künstler Andreas Seltzer in der Prenzlauer Berg Messe „Geldbeschaffungsmaßnahmen“ den Touristen als wandelnde Geldbörse darstellte, den man mit List und Tücke und notfalls Gewalt wie eine Weihnachtsgans auszunehmen versucht, wobei es gleichzeitig darauf ankommt, dass er trotzdem halbwegs „anständig bedient“ wird. Das ist sozusagen die Kunst des Fremdenverkehrswesens.

Man erinnert sich vielleicht noch daran, dass versucht wurde, dieses Geschäft ganz anders abzuwickeln und in diesem Zusammenhang an den Einwand des DDR-Dramatikers Heiner Müller gegen Kritiker aus dem Westen, mit dem er ihnen zu bedenken gab, „dass auch die schlechte Laune der Kellnerin eine echte sozialistische Errungenschaft ist“. Das Gegenteil sind die ewig lächelnden und zuvorkommenden Kellnerinnen in den USA, über die man in Berlin urteilt: Das kann nicht „echt“, das muß erzwungen sein. „Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“. Dazu paßt, was mir kürzlich ein Mitarbeiter des größten Berliner Antiquariats sagte: „Marx bis Lenin wird gekauft wie nie zuvor; Kropotkin ist restlos ausverkauft“.

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Bildet Banden

Der Bandenforscher Patrick Deville beschäftigte sich u.a. mit der Pariser „Pasteur-Bande“, die überall auf der Welt die Erreger von Seuchen „entdeckte“ und Gegenmittel erprobte. Ihr Gegenspieler war die „Kochbande“. Während erstere den Pest-Bazillus in Hongkong isolierte, fand letztere den Ansteckungsmechanismus des Cholera-Erregers in Kalkutta heraus. Mit ihnen entstand die Mikrobiologie. Devilles Buch „Pest und Cholera“ (2013) konzentriert sich auf die Männer um Louis Pasteur und dort auf Émile Yersin, der sich nach Entdeckung des Pest-Erregers in dem vietnamesischen Fischerdorf Nha Trang niederließ, wo er sich mit Viehzucht und Ackerbau, den Gezeiten und der Astronomie befaßte, Straßen baute und Krankenhäuser errichtete. Die Armen behandelte er umsonst, denn sich von ihnen bezahlen zu lassen, hieße den Patienten zu erpressen: „Geld oder Leben?“ Yersin starb 1943, noch heute wird dort sein Andenken hoch gehalten.

In seinem Buch „Viva“ (2017) geht es Deville um die „Mexiko-Bande“: die kleine Gruppe um den Maler Diego Rivera, die Künstlerin Frida Kahlo und den Revolutionär Leo Trotzki mit seiner Frau Natalia Iwanowna, einer Botanikerin. Drumherum gibt es nicht nur weitere „Muralisten“ wie Rivera, die sich bald in „Stalinisten“ und „Trotzkisten“ spalten und bekämpfen, sondern auch etliche berühmte Flüchtlinge aus Europa: der anarchistische Schriftsteller Ret Marut (B.Traven) und der anarchistische Boxer und Schriftsteller Artur Cravan, der Trotzki auf einer Schiffsreise kennengelernt hatte. Später kam noch der Surrealist André Breton dazu, mit dem Trotzki ein Manifest der revolutionären Künstler verfaßte. Deville hat noch Malcolm Lowry mit in seine zehnjährige Mexiko-Recherche aufgenommen, der in seinem Buch „Unter dem Vulkan“ dieser „Mexiko-Bande“ atmosphärisch mit viel Alkohol nachspürte.

In seinem Buch „Äquatoria“ (2013) setzt Deville die „Brazza-Bande“ gegen die „Stanley-Bande“ – beide Erforscher des Kongos und seiner Nebenflüsse. Patrick Deville ist ebenfalls „ein akribischer Quellenforscher und grosser Reisender,“ schreibt die Neue Zürcher Zeitung. Pietro Savorgnan de Brazza (1852–1905) gab sein Familienvermögen aus, um Sklaven zu befreien. Während der Journalist Henry Morton Stanley den Kongo für den belgischen König erschloß. Um die beiden tummelten sich noch etliche andere Eroberer und Idealisten: David Livingstone, Albert Schweitzer und Ferdinand Céline, der Sklaven- und Elfenbeinhändler Tippu Tip und der Revolutionär Che Guevara. „Reale und fiktive Reisen von Joseph Conrad, Pierre Loti und Jules Verne ergänzen den Reigen,“ schreibt die NZZ.

Erwähnt sei noch Devilles viertes auf Deutsch vorliegendes Buch „Kampuchea“ (2015). „Alexandre Henri Mouhot (1826-1861), französischer Forschungsreisender und Naturalist, die Botanisiertrommel umgehängt, das Schmetterlingsnetz in der Hand, hascht nach einem Sommervogel, stößt sich dabei den Kopf, hebt verblüfft die Augen und steht unverhofft vor den Tempeln von Angkor.“ Im Klappentext heißt es weiter: „Wir schreiben das Jahr 1860, das Jahr null dieser Erzählung,“ die bis zu André Malraux, König Sihanouk und Pol Pot reicht. Der NZZ-Rezensentin gefiel Devilles „packender Zickzack-Kurs“ auf dem Weg durch Indochina, „frei von Dogmen und Illusionen, voller Empathie und Melancholie“. Deville war dabei, als einige Kader der einstigen „Kambodscha-Bande“, der Roten Khmer, sich vor Gericht verantworten mußten.

Sein Insistieren auf Bandenforschung soll dem Hang entgegenwirken, die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte überzubewerten. Dazu ist Patrick Deville (geb. 1957) ein französischer Autor, der die Pariser Philosophen kennt. So z.B. die Werke von Gilles Deleuze und Felix Guattari und ihre Theorie des Werdens: Dabei handelt es sich immer um ein Plural – um Schwärme, Meuten, Banden… Und diese bilden sich durch “Ansteckung”. Ist das auch noch der „Pasteur-Bande“ geschuldet? Über das “Werden” generell führen D&G aus: Es gehöre „immer einer anderen Ordnung als der der Abstammung an. Es kommt durch Bündnisse zustande…Werden besteht gewiß nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrepondierende Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz hat; es läßt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, ‘zu scheinen’ noch ‘zu sein’. Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht.“ So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt.

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Agronauten

Die Ich-AG ist eigentlich nichts anderes als das Zerbrechen der eisernen Reisschüssel – das heißt eine Verschlankung des Sozialstaats, bei der dem Fußvolk nahe gelegt wird, gemäß der Parole von den Vier Modernisierungen „ins Meer einzutauchen“. Und das heißt, selbst Geschäfte zu machen.

Nun war in China jedoch die Bauernrevolution – im Bündnis mit dem Proletariat – siegreich, im Gegensatz zu Europa, wo sie seit 1525 zusammen mit den Bürgern immer niedergeschlagen wurde. Allein in Peking gibt es heute noch 450.000 Bauern – so viel wie in ganz Deutschland. Doch scheint der berühmte „Ruck“ auch bei ihnen zu greifen: Immer mehr Bauern überlegen sich eigene Verarbeitungs- und Vermarktungsmöglichkeiten für ihre Produkte und experimentieren mit neuen Feldfrüchten beziehungsweise Nutztieren.

Unlängst nahmen wir an einer Besichtigung des Hofes von Bauer Winkler teil, der bei Oranienburg Strauße züchtet. Er hat dazu extra einen Lehrgang am Rhein besucht – beim Verband der Straußenzüchter Deutschlands. So viel haben wir nach seinem einstündigen Vortrag verstanden: Strauße zu züchten ist nicht einfach. Das fängt schon in der Brutmaschine an, wo den Eiern – umgekehrt wie bei Hühnern, Enten etc. – Feuchtigkeit entzogen wird, woraufhin sich eine Luftblase im Ei bilden muss, die das Embryo 24 Stunden mit Sauerstoff versorgt. In dieser knappen Zeit muss es den Restdottersack aufnehmen, sich abnabeln und so viel Kraft entwickeln, dass es die dicke Eischale zertreten kann. Ähnlich prekär gestalten sich auch die ersten 90 Tage der Kükenaufzucht. Auf die Frage, wie er die ausgewachsenen Tiere denn schlachte, antwortete Winkler: „Morgens gehe ich zu dem betreffenden Strauß auf die Weide und rede mit ihm darüber. Wenn er es dann eingesehen hat, fahr ich ihn zum Schlachthof.“

Auf dem Rückweg machten wir in Velten noch einen Abstecher zu Manuela: eine aufs Land gezogene Fremdsprachensekretärin. Sie besitzt sieben Hunde und durchstöbert laufend polnische Tierasyle nach weiteren. Sie wohnt mit den Tieren allein in einem Reihenhäuschen – innen wie außen ist es spießig sauber. Manuela arbeitet mit den Hunden und kann bereits davon leben: Sie bildet sie für Bühne und Film bzw. Fernsehen aus.

So musste ihr Mischlingsrüde Stepan zum Beispiel gerade für das ZDF mit einem Stück Holz, auf dem eine Krähe saß, über einen Fluss schwimmen. Diese erledigte das ebenso professionell wie der Hund, der gleich anschließend für Pro 7 in einer Verfolgungsszene einen sterbenden Jagdhund mimte – ebenfalls mit Bravour.

Man ahnt: Auf dem Land, wo alles so ruhig und rechts zu sein scheint, wird hinter jeder Tüllgardine heftig um neue Erkenntnisse und Erwerbsmöglichkeiten gerungen. Von Gertrude Steins China-Diktum, „Alles wichtige passiert auf dem Land“, scheinen wir hier zwar noch entfernt zu sein, aber in Geert Mats Studie „über den Untergang des Dorfes in Europa“ deutete es sich in seinem Ort „Jorwerd“ bereits an: Alle machen Pläne und Projekte – haltlose, realistische, verrückte, harmlose und gefährliche. Vom Yachthafen über Agrofarmen zum Anfassen und Haustierrasseparks auf ABM-Basis bis zu Reiterferien ohne Reue, wo man gleichzeitig eine Partnertherapie machen kann.

Wenn man tief in der Prignitz in die Rosenwinkler Dorfkneipe „Meikel’s Taverne“ kommt, dann ist man völlig überwältigt von der geballten Ladung an Projektemachern, die hier allabendlich ihre Ideen an runden Tischen ventilieren. Zwei arbeitslose LPG-Mitarbeiter zum Beispiel haben es darüber zu eigenen Windkraftanlagen (WKA) geschafft. Und einer der beiden darüber hinaus auch noch zu einem Lehrgang bei einem japanischen Bioreisbauern. Wenn er abends bei Meikel sitzt, ruft ihn gelegentlich seine WKA über Handy an, um ihm mitzuteilen, welche Stärke der Wind draußen gerade hat, wie viel Strom sie demzufolge ins Netz einspeist – und was ihm das netto einbringt: in Euro.

Die Windmüller haben sich derart vermehrt, dass sich bereits der Widerstand dagegen organisiert. Das Ohm’sche Gesetz gilt eben auch für Landeier. „Eins teilt sich in zwei!“, so nannte Mao diese Dialektik.

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Ariane Siebert vor ihrer neuen Existenzgründung, einer Perlenzuchtanstalt. Siehe: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2015/08/16/gabeware-perlen-vor-die-saeue/

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Invasive Arten und Weisen

Nicht nur soll das Putinsche Hacken sich hierzulande zwar unbemerkt aber desto „invasiver“ auswirken, es verstören uns auch immer mehr „invasive“ Tiere und vor allem Pflanzen. Regelmäßig warnen die Zeitungen vor besonders giftigen und sich rasendschnell ausbreitenden. Zu den invasivsten, wenn auch ungiftigen gehört der chinesische Götterbaum, der millionenfach z.B. an den Rändern der Schienentrassen wächst. In der Schweiz wird diese und andere „invasive Arten“ besonders rigoros verfolgt. Dort darf ein schwarzer Schwan als invasiver Australier sich noch nicht einmal mit einem weißen Schweizer Schwan verpaaren. Für den Münchner Biologen Josef Reichholf ist dies Ausdruck von „konservativ-anthroponationalistischem Denken“.

Im Frühling pflanzte ein Gärtner an einem Berliner Café in deren Blumenkübel ein Doldengewächs namens Bärenklau. Davon gibt es etwa 70 Arten weltweit, als dieses Exemplar für den Garten langsam seine großen Blütenstände entfaltete, kamen ständig mit floralem Halbwissen auftrumpfende Leute ins Café und schimpften: „Wie könnt ihr bloß diesen Riesenbärenklau hier einpflanzen? Der kommt aus Sibirien und ist hochgiftig!“ Es handelte sich dabei jedoch um eine nichtgiftige hiesige Bärenklauart, was die Cafébetreiber auch stets geduldig erklärten – aber nach zwei Monaten wurde es ihnen doch zu viel: Sie rissen die lebensfroh wuchernde Gartenstaude aus und warfen sie auf den Müll.

Heute haben wir es aber eigentlich mit ganz anderen invasiven Pflanzen zu tun, die uns wirklich gefährlich werden können: Die Züchter meinen, ihre Kunden wollen immer neue Blumen mit immer üppigeren und knalligeren Blüten, und bei den Beerensträuchern und Obstbäumen immer verrücktere Kreuzungen mit immer größeren Früchten. So wird die Flora langsam denaturiert. Mittels Gentechnik kreierte man u.a. violett blühende Rosen und Nelken und kürzlich auch noch blau blühende Chrysanthemen: „endlich!“ freute sich die FAZ, da Generationen von klassischen Blumenzüchtern dies vergeblich versucht hätten. Ich besuchte 2001 mit einer Gemüsegärtnerin einige Kleingärten in westpolnischen Kleinstädten: Dort züchteten die Kleingärtner ihre Pflanzen noch vielfach selbst, mit der Folge, dass sie noch etwa so aussahen wie unsere in den Fünfzigerjahren. Meine Begleiterin wurde ganz wehmütig.

Bei den Gemüsepflanzen besteht die unheilvolle Invasion darin, dass z.B.. bei den Tomaten zwar alle regionalisiert und ökologisiert angeboten werden: Sie kommen aus „Italien, Spanien und Holland“ oder werden – in Österreich – als garantiert „gentech-frei“ verkauft. Aber es gibt nirgendwo gentechnisch veränderte Tomaten im Handel. Es ist alles Etikettenschwindel. So gut wie alle Tomatensamen stammen aus Holland – von den dortigen Tomatenzüchtern, deren Firmen jedoch großenteils den multinationalen Chemiekonzernen Monsanto, Bayer und Syngenta gehören. Letzterer wurde gerade von einem chinesischen Konzern, der „China National Chemical Corporation“ übernommen und erstere schlossen sich zusammen. „Heute sind noch zehn Samenhäuser verantwortlich für 85 Prozent des Weltmarktes in Gemüsesamen,“ schreibt die holländische Autorin Annemieke Hendriks in ihrer hervorragenden Reportage „Tomaten“ (2017). U.a. interviewte sie darin einen Manager der niederländischen Saatgutzucht-Firma „Rijk Zwaan“, die „an vorderster Front“ gegen die Patentierung von klassischen Samenveredlungsprozessen kämpft. Gleichzeitig arbeitet „Rijk Zwaan“ jedoch mit dem Biotech-Unternehmen „KeyGene“ zusammen und erwarb 2016 ein Tomatenpatent, drei Jahre zuvor hatte die Firma bereits ein Salatpatent erworben. Annemieke Hendriks nennt „Rijk Zwaans“ Firmenpolitik „zwiespältig“, während der Manager meint: „Wir haben eine kuriose Situation“. Damit will er sagen, dass seine Firma auch weiterhin und mit guten Argumenten gegen EU-Patente auf Lebensmittel kämpft, dass sie aber dennoch dabei mitmachen muß, um konkurrenzfähig zu bleiben.

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Reichsein – Sauberwerden

Mindestens drei Mal in der Woche bekomme ich per Email von mir unbekannten Absendern (Unternehmen?) die Chance, schnell ganz viel Geld zu verdienen. Meistens lösche ich sie sofort (wie z.B. die regelmäßigen riesigen Gewinne aus einer spanischen Lotterie, der Aufforderung vom Münchner „Lotto24“ mein Jahresabo zu verlängern, wenn ich weiter gewinnen will, und die vielen Beteiligungsangebote von betrügerischen Investmentfirmen auf dubiosen Südseeinseln), aber manchmal leite ich sie auch weiter an einen spamkundigen Computernerd, der mir dann sagt: nicht öffnen, löschen.

Aber jetzt bekam ich Post von Bernie Madoff, den 79jährigen New Yorker „Anlagebetrüger“ und ehemaligen Vorsitzenden der Technologiebörse NASDAQ“ (Wikipedia), der 2009 wegenVeruntreuung von 65 Milliarden Dollar zu 150 Jahren Haft verurteilt wurde. Theoretisch müßte er also noch im Knast sitzen, dennoch scheint er einen unkontrollierten Zugang zum Internet zu haben, denn er verschickt ebenso verführerische wie geheime Angebote zur Zusammenarbeit, wo viel Geld bei rumkommen würde. Der Grund ist: Er bedauert sein Vergehen und will allen durch seinen Anlagebetrug Geschädigten (u.a. ging die italienische Medici-Bank daran pleite) eine Wiedergutmachung zukommen lassen. Bernie Madoff weiß auch schon wie – in seiner Mail schreibt er: „Ich habe Millionen Euros in Offshore-Finanzhäusern, von denen nur meine Bankmanager wissen, es befindet sich auf einem Nummernkonto. 50% davon soll für Wohlfahrtszwecke ausgegeben werden und 20%, um damit den Bau von Kirchen und Moscheen in der ganzen Welt zu forcieren. 25% sind für Dich (also für mich – H.H.), während 4% für die Bankmanager sind, die Dir (also mir – H.H.) beim Geldtransfer helfen und 1% ist für mich im Knast. Ich weiß, ich werde bald sterben. Meine Frau Ruth hat sich von mir abgewendet, meine beiden Söhne leben nicht mehr: Mark hat 2010 Selbstmord begangen und Andrew starb 2014 an Krebs. Ich möchte mit dem Bewußtsein sterben, auch einmal etwas Gutes getan zu haben. Bitte, ich will dieses Geschäft so schnell wie möglich abschließen. Mit höflichem Respekt Bernie Madoff (berniegap@outlook.com).“

Dass ein kleiner Betrüger oder eine ganze Bande mit dem guten Namen eines Großbetrügers für ihren Betrug wirbt, hat schon was. „Er reproducirt eine neue Finanzaristokratie, neues Parasitenpack in der Gestalt der Unternehmungsprojectors und Directors (blos nomineller managers); ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf den Aktienhandel, ihre Ausgabe etc.“, schrieb Marx im „Kapital“ über den Übergang von der produktiven Investition zur betrügerischen Spekulation.

Die Theatermacher von „Rimini Protokoll“ haben das „Kapital“ auf die Bühne gebracht. U.A. spielte der letzte Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der DDR und Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe, Thomas Kuczinski, mit. Er sagte: Würde er dem Publikum das 751-seitige Drehbuch komplett vorlesen und pro Seite eine Stunde „intensiven Nachdenkens“ veranschlagen, was notwendig sei, um das Buch wirklich zu verstehen, dann dauerte das ein ganzes Arbeitsjahr.

Das Handelsblatt interessierte sich in seiner Rezension des Stücks mehr für die im „Kapital“ von Marx nur kurz erwähnten Finanzbetrüger: „Da tritt Ulf Mailänder auf und erzählt in Ich-Form die Geschichte des Millionenbetrügers Jürgen Harksen, der mit seiner Faktor 13-Masche einst Reiche um Hunderte von Millionen prellte, weil ihre Gier – Marx sah das schon 1867 voraus – keine Grenzen kannte. Der echte Harksen kann leider nicht mittun beim Rimini-Theater: Er sitzt wegen Betrug im Gefängnis. Aber Mailänder schrieb seine Biografie – wie auch die des Ex-Baulöwen und Deutsche-Bank-Abzockers Dr. Jürgen Schneider.“ Dieser wurde jedoch aus dem Gefängnis entlassen, und, weil inzwischen „verhandlungsunfähig“, hat auch keine weitere Verurteilung mehr zu befürchten. Bei den beiden hier erwähnten Finanzbetrügern handelt es sich sozusagen um kleine deutsche Bernie Madoffs, wobei der 83jährige Jürgen Schneider mit dem Kapital seiner Geldgeber immerhin eine ganze Reihe historischer Gebäude saniert hat – in Frankfurt/Main, Berlin und Leipzig, wo man ihn inzwischen ob seines Wagemutes lobt: „An ihm scheiden sich die Geister in Leipzig,“ nennt die Leipziger Volkszeitung das. Sie zitiert Schneider: „Leipzig war mein Waterloo“. Und schreibt: Er entwickelte dort „eine ungewöhnliche Kaufwut: Neben Edelimmobilien wie Barthels Hof und dem Fürstenhof erwarb er unter anderem 60 Prozent der Mädlerpassage, das Romanushaus und den Zentralmessepalast. Seine große Leidenschaft gehörte den Durchgangsverbindungen und Höfen der City. Er besaß am Ende ein Zehntel der Innenstadt. Das Geld dafür besorgte sich Schneider bei mindestens 22 Banken…Als die Immobilienbranche in die Krise geriet, brach sein Kartenhaus aus Lügen in Leipzig zusammen.“ Nun seufzt er: „Hier habe ich nicht nur mein Herz verloren an die vielen schönen alten Häuser, sondern auch sehr viel Geld.“ Aber er hätte „guten Grund zur Hoffnung, dass die Anerkennung der bleibenden Werte,“ die er vor allem in Frankfurt und Leipzig hinterlassen habe, „auf langer Sicht schwerer wiegt als der Makel der Verfehlungen.“ Seltsam, dass auch dieser Finanzbetrüger partout mit einer reinen Seele sterben möchte.

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Weltretter

Ein ägyptischer Reiseführer erzählte mir, die deutschen Touristen sind besonders: „Schon nach 10 Minuten im Bus wissen sie, wie man den ganzen chaotischen Verkehr in Kairo vernünftig regeln kann“. Das kennen wir gut: „Am deutschen Wesen wird dereinst die Welt genesen!“ spottete einst die „Weltbühne“. Heute sind jedoch die Amis die wahren „Weltretter“. Überall sind sie engagiert: mit ihren „Interventionen“ in Honduras und Panama (1903) über Nicaragua, Mexiko und Haiti (1914) bis Russland und China (1918-25) und ihren militärischen „Missionen“ in Chile, Kuba, Grenada, Indonesien, Griechenland, Ägypten, Vietnam, Laos, Kambodscha, Jordanien, Afghanistan, Libanon, Libyen, Iran, Kolumbien, Kuwait, Jugoslawien, Somalia, Sudan, Irak, Uganda, Liberia, Syrien. Zuletzt flogen sie 500 ihrer wichtigsten ISIS-Kämpfer aus dem umkämpften Mossul aus. Aber darum geht es hier gar nicht: Die US-Soldaten kämpfen immer für eine bessere und gerechtere Welt! Es geht hier um amerikanische Zivilisten: Jede dritte US-Idee ist eine weltrettende Maßnahme. Ob es „Superman“, der „Terminator“, „Superwoman“, der „Whole Earth Catalogue“ oder die „Chicago-Boys“ sind… Und jede zweite US-Erfindung geschieht zur Weltverbesserung: der Reißverschluß, die Glühbirne, das Radio, der Scheibenwischer, der Trockenrasierer, der Waschsalon, die Geschirrspülmaschine, das Mobiltelefon, der Gummireifen, das Kaugummi, „Sprit aus Licht“, Gentechnik, Internet, Künstliches Fleisch oder ein afroamerikanischer US-Präsident mit einer sympathisch aussehenden Ehefrau – obwohl dabei das Magazin „The European“ (!) von „Obamas geheuchelter Weltrettung“ spricht. Aber das kennen wir ja auch: In Deutschland ist man gerade bei solch anspruchsvollem, weltbeglückenden Bemühen leicht skeptisch geworden. Wahr ist jedoch, dass eigentlich so gut wie jede amerikanische Lebensäußerung stets auf die ganze Welt bezogen ist: Egal, ob in Las Vegas ein Fräulein zur „Miß World“ gekürt wird, ob einige Kalifornier „die längste Pizza der Welt backen“ oder ein Kalifornier „die meisten Kreditkarten der Welt“ besitzt, eine Texanerin „die älteste Frau der Welt“ ist, eine New Yorkerin sich „die meisttätowierteste Frau der Welt“ nennt, eine Frau in Nevada „die längste Katze der Welt“ besitzt, eine Detroiterin sich als „glücklichste Frau der Welt“ bezeichnet, ein Pornostar aus Los Angeles behauptet, mit so vielen Männern wie sie hätte „noch keine Frau der Welt Sex“ gehabt oder ein Mann aus Miami verkündet, seine Frau sei „die schönste der Welt“. Deswegen ist es auch nur konsequent, wenn die Redaktion des „Guinnessbuchs der Rekorde“ meldet, dass sie nun eine „full time presence“ in Los Angeles und Miami etabliert, denn von dort kommt das Weltheil und von sonst nirgendwo. Als nächstes werden uns die Amis das in vielen US-Staaten legalisierte Haschisch zur Weltrettung verkaufen – wetten! Aber bis es so weit ist, müssen es die amerikanischen Pilze tun: „they can save the world,“ verkündete jüngst der Pilzforscher Paul Stamets, Inhaber von elf Fungi-Patenten, auf der weltberühmten alljährlichen „TED Konferenz“, was eine internationale Innovations-Konferenz in Kalifornien ist, um die Welt immer wieder aufs Neue zu retten. Er begann seine „Keynote“ mit dem Satz: „Wir alle wissen, dass die Erde Probleme hat, wir sind jetzt in der 6. bedeutenden Phase der Vernichtung auf diesem Planeten eingetreten.“ Noch jeder Ami hat eine Analogie zwischen Computer und Gehirn hergestellt, Paul Stamets, der am „Bioshield-Programm des US-Verteidigungsministeriums“ beteiligt war, steht dem nicht nach: „Ich habe als erster die These aufgestellt, dass das Myzel [Pilzgeflecht] ein natürliches Internet der Erde ist.“ Der US-Berater von Biotech-Unternehmen, William Bains, deutete bereits an, worum es bei diesem ganzen imperialistischen Größenwahn, der allein auf Weltignoranz basiert, in Wahrheit geht – in der US-Zeitschrift „Nature Biotechnology“ schrieb er: „Die meisten Anstrengungen in der Forschung und in der biotechnologischen industriellen Entwicklung basieren auf der Idee, dass Gene die Grundlage des Lebens sind, dass die Doppelhelix die Ikone unseres Wissens ist und ein Gewinn für unser Zeitalter. Ein Gen, ein Enzym, ist zum Slogan der Industrie geworden…Kann das alles so falsch sein? Ich glaube schon, aber ich bin sicher, das macht nichts. Denn die Hauptsache ist, dass es funktioniert: Manchmal funktioniert es, aber aus den falschen Gründen, manchmal wird es mehr Schaden anrichten als Gutes tun…Aber die beobachtbare Wirkung ist unbestreitbar…Wir müssen nicht das Wesen der Erkenntnis verstehen, um die Werkzeuge zu erkennen…Inzwischen führen die Genom-Datenbanken, die geklonten Proteine und anderes Zubehör der funktionalen Genetik zu Werkzeugen, Produkten, Einsichten, Karrieren und Optionen an der Börse für uns alle.“ Ja, vor allem für alle Arbeitslosen, Obdachlosen, Siechen und Verwirrten.

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Verdrängungswettbewerb

Bevor nach der Wiedervereinigung auch in den Westberliner „Problembezirken“ die Verdrängung der „Sozialschwachen“ einsetzte (2011 gab es allein im kleinen Neuköllner „Schillerkiez“ über 500 Entmietungen), kam es schon einmal zu einer „Gentrifizierung“. Und das kam so: Nach dem Mauerbau 1961 verließen die reichen Besitzer der Immobilien rund um den Kudamm die Stadt, weil man dachte, nun sei sie an die Kommunisten verloren. So fragte der Personalchef einer Zehlendorfer Textilfabrik vier Italiener, die bei Mercedes in Untertürkheim arbeiteten und 1962 um Arbeit nachfragten: „Haben Sie auch keine Angst vor den Russen?“ Nein – im Gegenteil: Sie waren selbst Kommunisten. Als sie zurück nach Untertürkheim fuhren, um zu kündigen, meinte der dortige Personalchef: „Ihr seid verrückt, Westberlin fällt doch bald den Kommunisten zu.“ Der Kabarettist Wolfgang Neuss war einer der wenigen Westberliner, die den Mauerbau differenzierter sahen: „Der hat auch was Gutes gehabt; die schlimmsten Leute haben die Stadt verlassen.“

Ihre leerstehenden riesigen Wohnungen wurden billige Studenten-WGs. Fast alle Demonstrationen nach 1966 fanden zwischen Kudamm und Bahnhof Zoo statt. Aber als die Kommunisten Westberlin bis Mitte der Siebzigerjahre noch immer nicht geschluckt hatten, faßten die reichen Säcke Mut und kümmerten sich wieder um ihre Frontstadt-Immobilien – mit der Folge, dass die Studenten nach Schöneberg und Kreuzberg abgedrängt wurden. Dort war aber kein Leerstand – in den heruntergekommenen Häusern in Stadtbesitz. Es lebten hier massenhaft „Fußkranke“: das waren all jene exproletarischen Existenzen, die nicht ihren Betrieben nach Westdeutschland gefolgt waren. Hinzu kamen jede Menge Alkoholiker und Kleinkriminelle. Ihre geringe Miete und darüberhinaus verdienten sie u.a. bei „Sklavenhändlern“, allein in der Muskauer Strasse gab es zwei: „Arbeitseinsatz 13“ und „23“. Ich arbeitete erst bei „23“, als der wegen „Unregelmäßigkeiten“ geschlossen wurde, bei „13“. Man bekam frühmorgens eine Nummer und wurde aufgerufen: „Baustelle Wedding!“ Dann fuhr man zu viert oder sechst dorthin, meine Kollegen tranken schon während der Fahrt jeder eine Familienflasche Cola leer, so einen Brand hatten sie. Ich wechselte dann als „Erzieher“ in ein Kinderheim. Dort war es noch schlimmer: Anders als drüben im Osten waren sich hier die Heimerzieher sicher: „Aus diesen ganzen Waisenkindern werden sowieso nur Kriminelle und Nutten.“ Ich sollte mich da nicht groß ins Zeug legen. Das war meine Einweisung. Ich konnte mir einen Gebrauchtwagen leisten, er war dann das einzige Auto, das in der ganzen Forsterstrasse parkte. Aber das änderte sich – mit den Studenten, die nach und nach alle „Fußkranken“ in den Wedding oder sonstwohin verdrängten. Als die Studenten dann auch noch die eine oder andere Freßkneipe besuchten, die „Stiege“ und das „Samira“ – viel mehr gab es in diesem Teil Kreuzbergs nicht, schwangen die Nazirocker, die ihr Vereinsheim im ungenutzten U-Bahnhof unterm heutigen Alfred-Döblinplatz hatten, sich zu Rächern der von Gentrifizierung bedrohten Subproletarier auf – stürmten die Lokale und verprügelten die Studenten. Das war natürlich nicht im Interesse der Wirte: drei Palästinenser, die erst aus Israel und dann aus Beirut vertrieben worden waren, sie organisierten mit den anderen Wirten im Kiez eine Schutztruppe , die sich gewaschen hatte. Nach einem Jahr durften die Rocker sogar wieder in ihre Lokale – jedoch nur ohne ihre hakenkreuzgeschmückten Jacken. So war das: die erste Mieterverdrängung nach dem Krieg im Kiez.

Es gab da auch schon die Künstler, die Bohème, „Kreuzberger Nächte sind lang“. Bereits 1964 registrierte Ingeborg Bachmann, dass Kreuzberg „im Kommen“ sei. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises führte sie dazu aus: „die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muß man sich die Haare lang wachsen lassen, muß herumziehen, muß herumschreien, muß predigen, muß betrunken sein und die alten Leute verschrecken zwischen dem Halleschen Tor und dem Böhmischen Dorf. Man muß immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, dazu dunkles Brot, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst…An einem Haustor, irgendeinem, wird gerüttelt, ein Laternenpfahl umgestürzt, einigen Vorübergehenden über die Köpfe gehauen…Nach Mitternacht sind alle Bars überfüllt.“ Das war zwar völlig übertrieben (dichterisch überhöht), aber 20 Jahre später galten die Kreuzberger Künstler den linken Studenten und Hausbesetzern als „Speerspitze der Gentrifizierung“ und wurden bekämpft. Als sie ihrerseits dann von den „Grünen“ bekämpft wurden, schimpfte der Renegat Karl Schlögel sie im Tagesspiegel als „Landsknechte“. Sie leben inzwischen fast alle auf dem Land und betätigen sich dort tatsächlich als „Knechte“.

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Forschung in den Postkolonien

Der französische Ethnologe Maurice Godelier studierte zunächst Planwirtschaft (für „Entwicklungsländer“), er wollte aber lieber „die Funktionsweise von realen Wirtschaftssystemen vor Ort untersuchen, und zwar nicht die der kapitalistischen Länder.“ D.h. er wollte keine Planung betreiben sondern höchstens Planungskritik – also auf Abstand gehen. Da bot sich das Studium der Sitten und Gebräuche fremder Völker geradezu an: „ökonomische Anthropologie“. Der Ethnologe von „Überbau“-Phänomenen Claude Lévy-Strauss suchte einen „Oberassistenten“ für die „Basis“, das wurde er. Später riet Lévy-Strauss ihm, nach Neuguinea zu gehen: „Das Paradies der Anthropologen ist jetzt Neuguinea“. Weil Godelier Frau und Kinder mitnehmen wollte, landete er buchstäblich in einem Dorf der Baruyas, bei denen der Gartenbau eine größere Rolle als die Jagd spielt und die deswegen weniger provisorisch siedeln. Dort ließ er von Einheimischen und einem bei der lutherischen Mission angestellten Zimmermann ein „großes Haus“ bauen. Er machte aber auch viel selber: Er stellte z.B. „Betten und Fenster aus Kunststoff“ her. Wie? das sagt er nicht in seinem Interview, das die Zeitschrift „Lettre“ in ihrer letzten Ausgabe veröffentlichte.

Die etwa 20 Baruyas, die ihm das Haus bauten, hatte er mit „Macheten, Decken und Tabak entschädigt,“ wie er sagt. So hat noch jedes Initial kapitalistischer Planwirtschaft bei indigenen Völkern der sogenannten Dritten Welt angefangen. Für viele christliche Missionaren, vor allem den amerikanischen Pfingstlern, ist das sogar ein wesentlicher Programmteil: In die Marktwirtschaft einführen. Konkret ist davon in dem darauffolgenden Lettre-Aufsatz des interessanten Ethnologen Eduardo Viveiros de Castro die Rede. Nämlich: Wie Brasiliens Indios und Indigene zu Unfreiwilligen des Vaterlands werden – um am Ende der Regierungsanstrengungen als „landlose Indios“ dazustehen. Die kapitalistische Expansion wird auch noch die letzten vernichten. In Godeliers Baruya-Dorf ist es noch nicht so weit. Überhaupt hatte er andere Probleme: Er hatte zwar Marx, Husserl und viele andere gelesen, „aber jetzt sollte er den Beruf eines anthropologischen Feldforschers ausüben, den er bisher nur aus Büchern kannte.“ Learning by Doing! Dabei merkte er, „Distanz“ reicht nicht aus, er mußte sich „dezentrieren, um besser zu beobachten, um besser zu verstehen.“ Aber „was und wie beobachten? Wenn Beobachten in gewisser Hinsicht auch Teilnehmen bedeutet, dann stellt sich eine andere Frage: Woran, wie und wieweit teilnehmen? Beobachten heißt, anwesend zu sein, wenn etwas geschieht, das die Grundsätze, Vorstellungen und Erwartungen erhellt, von denen sich die Menschen in ihren verschiedenen Lebenskontexten leiten lassen.“ Wie weit man sich auch als Ethnologe von diesen (mit-)leiten läßt, regeln berufständische Ethiklisten und die Gesetze der Länder, in deren „Schutzgebieten“ sie forschend tätig werden.

Das letztere dazu oft nicht in der Lage sind – und die Ethnologen, im Verein mit den christlichen Missionaren schon ganze indigene Völker gegeneinander gehetzt haben, enthüllte Patrick Tierney 2002 in seinem Buch „Journalisten und Wissenschaftler zerstören das Leben am Amazonas“. Die Rechercheure aus dem Westen hatten es vor allem auf die Yanumami am Orinoco angetan, die als die „gewalttätigsten Indianer“ galten und deswegen so etwas wie ein Ausgangspunkt der bürgerlichen Aggressionsforschung waren, die alle Kriege dieser Welt biologisch fundieren will. Die Yanumami, die bereits Alexander von Humboldt erwähnt, wurden in den filmischen Aufzeichnungen der Rechercheure zu Statisten, die man mit Macheten „entschädigte“. Auch Godelier filmte bei den Baruyas – mit einer Rolleiflex, ausdrücklich lobt er die heutigen „Digitalkameras“. Dennoch meint er: Die einstige Parole der Anthropologen – von Ministerpräsident Jules Ferry „Kolonisieren heißt Zivilisieren“ gilt nicht mehr. Man findet sie jedoch etwas verklausuliert noch heute in der brasilianischen Verfassung. Zu Godeliers Filmteam gehörte neben einem Missionar sein einheimischer „Informant“ Koumaineu. Dieser drehte wenig später selber Filme „über seine eigene Gesellschaft“. Also fast ohne „Dezentrierung“. Auch Godelier machte sich auf, die eigene (französische) Gesellschaft zu erforschen. Er ließ es dabei nicht an (politischem) Engagement fehlen, u.a. setzte er sich sowohl als Bürger wie auch als Politik-Experte für „homosexuelle Familien“ ein. Die zuständige Ministerin lobte seine Argumentation, gab aber zu bedenken: „Wenn wir ihren Vorschlägen folgten, würden wir die Wahl verlieren.“ Das Humboldt-Forum zeigte kürzlich an verschiedenen Berliner Orten Filme von indigenen Regisseuren, die Reihe wird fortgesetzt.

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Beruhigungsgesetze

Als der Wissenssoziologe Bruno Latour verkündete: Es gibt keine ökonomische Utopie mehr, nur noch eine ökologische, erntete er wenig Widerspruch. Und es stimmt ja auch, dass die Ökologiebewegung – inklusive Parteien, Gesetze, Verordnungen, Forschungsinstitute, Lehrstühle, NGOs, Naturschutzbeauftragte Umweltbundesamt- und -ministerien – eine enorme „Karriere“ gemacht hat. Der Soziologe Harald Welzer gibt jedoch zu bedenken: Gleichzeitig werde jedes Jahr „ein neues Weltrekordjahr im Material- und Energieverbrauch“ angezeigt.

Kann es sein, dass dieser ganze Öko-Hype bloß ein unfrommer Selbstbetrug ist? Ein Beispiel: Singvögel und Fledermäuse sind ganzjährig geschützt. Im Artenschutz-Gesetz, § 44 heißt es: „Es ist verboten, Fortpflanzungs- oder Ruhestätten der wild lebenden Tiere der besonders geschützten Arten aus der Natur zu entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören.“ Und im neuen Tierschutzgesetz heißt es unmißverständlich – in § 17: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet oder 2. einem Wirbeltier aus Roheit erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt.“ Darüberhinaus wurde in der Koalitionsvereinbarung festgehalten, die „Berliner Strategie der biologischen Vielfalt“ umzusetzen. Aber all das ist faktisch ohne Bedeutung, denn alljährlich werden allein in Berlin ab dem Frühjahr zigtausende von jungen Spatzen, Stare, Meisen, Mauersegler und Fledermäuse bei Renovierung/Modernisierung und (energetischer) Sanierung von Fassaden lebendig eingemauert. Dies geschah jüngst massenhaft in Marzahn/Hellersdorf durch die Wohnungsbaugenossenschaft „Grüne Mitte“ und in der Otto-Suhr-Siedlung Kreuzberg durch die Immobilienspekulanten von „Deutsches Wohnen“. In der entsprechenden Verordnung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt heißt es zwar: „Fortpflanzungs- oder Ruhestätten dürfen nur unter der Voraussetzung unbrauchbar gemacht oder entfernt werden, dass diese unbesetzt sind und weder Alt- noch Jungtiere oder Gelege zu Schaden kommen,“ aber kein Schwein hält sich daran. Am wenigsten die Arbeiter der Baufirmen, die einfach ihren Bauschaum in die Nester sprühen. Und dann kommt so ein armes Starenweibchen mit Insekten für die Jungen, landet auf dem Bauschaumklumpen und kann nicht mehr zu ihnen, so dass sie dahinter fiepend verhungern. Ich habe Photos davon. Es gibt zwar einige mäßig engagierte und sowieso überforderte Gutachter, beim NABU und bei der Unteren Naturschutzbehörde, den die Baufirmen vorab einschalten sollen, damit sie die Nester markieren, aber sie übersehen die meisten, und die sie nicht übersehen, werden von den Bauarbeitern ignoriert. Außerdem wird in Berlin schier überall gebaut, und die paar Gutachter können nicht überall sein. Die Hauptstadtpresse titelte „Dramatischer Rückgang der Vogelarten“ – in ganz Deutschland. Überall wird renoviert, Fassaden energetisch abgedämmt – und so heißt es auch in einer Pressemitteilung des NABU aus Leipzig: „Drama hinter Bauschaum. Bei Gebäudesanierungen werden täglich Vogelnester zerstört. Das macht sich mehr und mehr bemerkbar, immer mehr Bürger vermissen das Stadtgrün, summende Insekten und singende Vögel – sie sind einfach nicht mehr da. Wenn die Fassade saniert und gedämmt wird, werden Einschlupfmöglichkeiten für die Tiere beseitigt. Eigentlich ist ein Ausgleich für den Verlust von Mauernischen, Ritzen und Höhlen leicht: In die Fassade können künstliche Nisthilfen problemlos integriert werden. Beim Vorhandensein geschützter Tierarten sind die Bauleute dazu sogar gesetzlich verpflichtet. Doch das wird vielfach ignoriert – oft sicherlich in Unkenntnis der Rechtslage, oft aber wohl auch mit Vorsatz und vor allem: Es wird viel zu wenig von der Naturschutzbehörde kontrolliert!“

In Berlin werden die Singvögel nicht nur in ihren Nestern an den Gebäuden vernichtet, sondern auch auf der Erde: Bevor ihre Brutsaison begann, ließen die Grünämter großzügig Hecken und Sträucher (z.B. in der Leipziger Strasse und am Gendarmenmarkt) runterschneiden und Rattengift auslegen. Ratten versteckten sich jedoch gar nicht darin, wohl aber Spatzen und Amseln – und diese fraßen dann auch das Rattengift. Ein ehemaliger Mitarbeiter des Grünflächenamts Kreuzberg meinte zu der Heckenvernichtung: „Unser Amt wurde bis auf vier Mitarbeiter verkleinert. Die Arbeiten werden seitdem von Fremdfirmen erledigt – und die beschäftigen Billiglohnarbeitskräfte, die ihren Mißmut mit schwerem Gerät bekämpfen, also am Liebsten Motorsägen, Laubbläser und andere laute Gartengeräte bei ihren Aufträgen einsetzen.“ Ähnliches gilt für die Firma, deren Billiglohnsklaven das Rattengift in der Stadt verteilen.

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Oller Marx

Wenn westliche Wissenschaftler sich Marx widmen – spätestens seit der sogenannten „Wende“, als der BRD-Arbeitsminister Norbert Blühm sofort tönte: „Marx ist tot, aber Jesus lebt!“ – geschieht das fast immer ironisch, distanziert, mit der Handkante und eigentlich mißmutig. Oft geht es ihnen dabei um einen schnellen Beweis, dass „Marx“ überholt sei, veraltet – nicht mehr der Rede wert. Es verhält sich dabei ähnlich wie mit den „68ern“: Noch fast zwanzig Jahre danach bezeichneten sich damals eigentlich reaktionär gewesene Dozenten und Politiker gerne als „68er“ – sogar der ehemalige CDU-Bürgermeister von Berlin Diepgen. Aber dann distanzierten sich alle möglichen Trottel von „68“ – und gefielen sich sogar darin, herauszuarbeiten, dass die „68er“ eigentlich am Zerfall der Familie, an der Drogen- und Partysucht der Jugendlichen, an der allgemeinen Politikverdrossenheit und sogar am weltweiten Terrorismus schuld seien. Die „68er“ wurden „totgesagt oder für alle Übel der Gegenwart verantwortlich gemacht,“ wie der Spiegel über eine dumme 68-Debatte bei Maybrit Illner‚“ schreibt. Gerne bedient man sich bei solchen Gelegenheiten der Renegaten, der abgefallenen „68er“, die es ja genau wissen müssen und die der Spiegel deswegen in der Talkshow vermißte.

Im „Freitag“-blog schrieb Daniela Waldmann: „Marx blieb Hegel verhaftet – Hegels Weltgeistfanatismus und seinem Ablaufmodell der Geschichte. Er hat (wie Hegel) ein geschlossenes Weltbild. Und Marx konnte sich zeitlebens nicht durchringen, sich zur Freiheit und Liebe als Weg zu bekennen, obwohl er sah, dass jede Revolution eine Konterrevolution hervorruft.“

Ihr antwortete eine „Magda“: „So ein Quatsch. Er konnte sich nicht durchringen. Ich glaube, er war ganz sicherlich sehr liebevoll zu seinen Frauen.

Einst, als die Willy-Brandt-Regierung „nach 68“ analog zu den „Arbeiter- und Bauern-Fakultäten“ der DDR (die 1963 geschlossen wurden) ein Dutzend „Reformuniversitäten“ gründete und zugleich das „Begabtenabitur“ einführte, das nahezu jeder Jungarbeiter und Jungbauer bestand, waren die Westberliner U-Bahnwaggons voll mit hier vor allem Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern, die auf dem Weg zur Uni oder PH alle (wirklich alle!) in den „blauen Bänden“ lasen. Ihre Abiturprüfungen liefen dann ähnlich freundlich ab wie Hermann Kant sie 1965 in seinem Roman „Die Aula“ an der ABF der Uni Greifswald schilderte.

Die Zeit“ fand jetzt „im Keller“ der Uni Münster einen von Studenten selbstorganisierten Marx-Arbeitskreis. Das schien ihr so bemerkenswert, dass sie die Initiatorin, Isa Steiner, über dieses Phänomen (das letzte gar?) interviewte.“Marx ist Ihnen an der Uni nie begegnet?“ fragte die Zeit. Frau Steiner antwortete:Nur kurz in einem Kurs, der sich Geschichte der ökonomischen Theorie nennt. Ich habe gehofft, dass wir dort mehr über Marx lernen. Aber der Dozent hat uns hauptsächlich erklärt, dass Marx geistiger Vater der Input-Output-Tabelle sei, also eines Teils der heutigen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, der zeigt, wie aus Rohstoffen Produktionsmittel und Konsumgüter werden. Er wollte uns davon überzeugen, dass alles Brauchbare von Marx in der Neoklassik aufgegriffen werde. Deshalb seien Forderungen mancher VWL-Studenten, sich im Studium mehr mit Marx auseinanderzusetzen, nicht gerechtfertigt.“

Lang ists her: Zehn Jahre nach dem Mai 68“ hatte der Pariser Philosoph Roland Barthes noch gemeint, Marx brauche man nicht mehr zu studieren, dessen einschneidende Gedanken bekomme jeder mit der Muttermilch mit. In der „Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken ‚Merkur’“ wurden gerade gleich zwei Marx-Texte veröffentlicht – von einem in den USA lehrenden Germanisten, Matthias Rothe, und einem Mitarbeiter des Berliner Zentralinstituts für Literaturforschung, Patrick Eiden-Offe. Dazu heißt es gleich im Vorwort der Redaktion: „Wenn einer nicht totzukriegen ist, dann Karl Marx, all den in seinem Namen begangenen Verbrechen zum Trotz.“ Und so sind die beiden Aufsätze auch quasi im „Trotz dessen“ geschrieben: der erste über Marx‘ und die Indianer und der zweite über den „alten Marx“ (in Gegensatz gestellt zu dem „jungen“ der „Frühschriften“). Die Befunde und Fundstücke des ersteren kennt man bereits aus dem Buch „Karl Marx, die ethnologischen Exzerpthefte“ des Anthropologen Lawrence Krader, der an der FU lehrte – von 1972 bis 1982 „in sehr schwierigen Zeiten“, wie Wikipedia meint. Der letztere befaßt sich mit dem Buch „Karl Marx. Größe und Illusion“ des Historikers Gareth Stedman Jones, der sich darin dem „’Elefanten Kapital‘ (Alain Badiou)“ stellt – und sogar „dem berüchtigten ersten Kapitel.“ Der Autor folgt hierbei jedoch nicht Stedman Jones, sondern einer von ihm „’Neue Marx Lektüre‘ (NML)‘ genannten Gruppierung, vor allem der „wertkritischen Lesart“ von Robert Kurz. Im übrigen begreift er den „Marxismus“ als eine fortschrittsgläubige „Gegenwissenschaft“. Während Marx im ersten Aufsatz über die Indianer eher als nicht ausreichend rückschrittsgläubig dargestellt wird.

Im Frühjahr 2018 legt die Sozialanthropologin Luise Meier eine neue Marxlektüre vor: „Mrx Maschine“ genannt; das Buch erscheint im Verlag Matthes & Seitz.

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Klirrrende Zweifel

Als der „Palast der Republik“ abgerissen und an seine Stelle ein Hohenzollern-Schloß aus Beton errichtet werden sollte, wurde dort ein Transparent mit dem Wort „Zweifel“ aufgehängt. Dieses, wenn auch vielleicht nicht das selbe, hängte man später an die Volksbühne, als ihr Leiter, der Ostregisseur Frank Castorf ersetzt werden sollte durch einen englischen Werbefuzzi. Hier wie dort „bezweifelte“ man also, dass die Herrschenden aus dem Westen mit ihren restaurativen Eingriffen in die beliebtesten Kultureinrichtungen der DDR-Hauptstadt (man könnte auch noch die Staatsoper und den Tierpark dazuzählen, wo nun Ähnliches passiert) wirklich als sog. „Partner“ (wie man im Kapitalismus alle diejenigen nennt, die man schädigen will) sinnvolle, nach vorne weisende Entscheidungen im „Anschlußgebiet“ treffen, d.h. ob sie noch alle Tassen im Schrank haben. Bleiben wir beim Zweifel, der auf allen Ebenen und überall aufkommen kann.

So z.B. bei Joachim Illies, dem Gründer und ehemaligen Leiter der limnologischen Forschungsstation der Max-Planck-Gesellschaft in Schlitz bei Fulda: Er zweifelte im Laufe seiner Erforschung von Süßwasserinsekten immer mehr an Darwins Evolutionstheorie bzw. an deren tragenden Begriffen – und wurde immer gläubiger: In seinem letzten Buch „Der Jahrhundert-Irrtum“ (1982) schrieb er: Zwar gebe es eine schrittweise Generationenkette von der Amöbe bis zum Menschen, aber der Darwinismus mit seiner Reduktion auf Mutation und Selektion sei eine unzulässige Vereinfachung allen Evolutionsgeschehens. Hinter der Evolution stehe mehr; das sei etwas bisher Unverstandenes; dieses Unverstandene bilde die Brücke zum Religiösen.

Eine Brücke vom Religiösen zum Revolutionären schlug der sowjetische Schriftsteller Andrej Platonow 1929 in seinem dystopischen Roman „Tschewengur“: Einer der Hauptpersonen des Dorfes, Dwanow, „hörte in der Melodie der Kirchenglocke Beunruhigung, Glauben und Zweifel. In der Revolution wirken auch diese Leidenschaften – nicht allein durch den gußeisernen Glauben bewegen sich die Menschen, sondern auch durch klirrende Zweifel.“

Leider haben auch die Kommunisten, wie schon der Kirchenvater Augustinus, solch einen „Skeptizismus“ bekämpft: So kritisierte z.B. der SED-Vorsitzende Erich Honecker auf der 11. Tagung des Zentralkomitees 1966 die „Ideologie“ und das „Gift des Skeptizismus“ bei all jenen Schriftstellern und Künstlern, „die den Zweifel als Schaffensmethode benutzen“. Es würde keinem Arbeiter einfallen, dem Skeptizismus „zu huldigen“.

Der DDR-Philosoph Herbert Lindner, der zunächst Aushilfsweichenwärter war und dann auf einer Arbeiter- und Bauern-Fakultät studierte, bestand in seinem Buch „Der Zweifel und seine Grenzen“ (1966) darauf, Zweifel und Skeptizismus, „obwohl sie das selbe bezeichnen, unbedingt zu trennen“, denn kurz vor dem 11.Plenum hatte Walter Ulbricht einen Brief an den Regisseur Kurt Maetzig veröffentlicht, in dem er ausdrücklich eine „gewisse produktive Potenz des Zweifels“ anerkannte – und so die „positive Seite eines fruchtbaren Zweifels“ hervorhob, wohingegen ihm der Skeptizismus „uferlos“ und damit als unproduktiv galt.

Ulbrichts und Honeckers Äußerungen hatten damals Wirkung, wie mir u.a. der einstige Absolvent der Agraringenieurschule Oranienburg, Hanns-Peter Hartmann, erzählte: „Das 11. Plenum des ZK der SED hatten wir, mein Freund Siegfried Mattner und ich, an der Wandzeitung kritisiert. Es ging damals um die Zügelung der Kulturschaffenden und der Begriff ‚Skeptizismus‘ war darin zentral. In unserem Text hatten wir davor gewarnt, gerechtfertigte Kritik von unten nun als ‚Skeptizismus‘ abzutun. Und dadurch standen wir in der Schule auf der Abschußliste.“

Wann und wie der Zweifel in einen spätantiken Skeptizismus abgleitet, ließ Herbert Lindner leider ungeklärt. Zwölf Jahre später diskutierte das linke westdeutsche „Kursbuch“ einige „Zweifel an der Zukunft“: Hans-Magnus Enzensberger schrieb über den Weltuntergang, Bodo Kirchhoff über den Mangel, Klaus Binder über Fremdbestimmtheit, Rudolf Kohoutek über den Massenwohnungsbau und einige andere Autoren über mehr oder weniger traurige Utopien und Utopisten. Inzwischen sind Zweifel und Skeptik jedoch wiedervereint (synonym).

Aber das macht es nicht einfacher – jetzt, da es anscheinend keine ökonomische Utopie mehr gibt, sondern nur noch eine ökologische. So klagt z.B. der Literaturwissenschaftler Timothy Morton in seinem Buch „Ökologie ohne Natur“ (2016): „Genau dann, wenn es Sicherheit bräuchte, wartet die Ökomimese mit einer Überdosis Zweifel auf.“ Mit „Ökomimese“ ist die gedankliche Auseinandersetzung mit der Natur gemeint: „Nature Writing“.

(Dieser Text erschien erweitert in der Zeitschrift „Zweifel“ Heft 3/August 2017)

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Polonaise der nordrhein-westfälischen Spürhundeführer

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Riechen

Nietzsche war sich noch sicher: Ich erst habe die Wahrheit erkannt – indem ich sie roch. Mein Genie liegt in meinen Nüstern.“ Inzwischen ist es jedoch mit unserem Geruchssinn nicht mehr weit her, deswegen nimmt man dafür gerne Hunde. Mit ihrer feinen Nase müssen sie immer mehr erschnüffeln: Trüffel, Drogen, Bomben, Vermißte, Leichen…Eigentlich kann man ihre Nase auf alles trainieren. Der englische Soldat Hugh Lofting verfaßte 1917 – umgeben von toten Tieren und Menschen auf dem Schlachtfeld – ein Kinderbuch, das berühmt wurde: „Dr.Dolittle und seine Tiere“. Kurt Tucholsky schrieb: Es kommt darin Jip, der Hund von Dr.Dolittle, vor, der sehr gut riechen kann. Einmal lag er auf dem Deck eines Schiffes und witterte, wo der verlorene Onkel wohl sein könnte (es war da ein Onkel verloren gegangen). Er stellte sich hin, zog die Luft ein und analysierte. Dabei murmelte er: „Teer, spanische Zwiebeln, Petroleum, nasse Regenmäntel, zerquetschte Lorbeerblätter, brennender Gummi, Spitzengardinen, die gewaschen werden – nein, ich irre mich, Spitzengardinen, die zum Trocknen aufgehängt worden sind, und Füchse – zu Hunderten – junge Füchse – und – Ziegelsteine“, flüsterte er ganz leise, „alte gelbe Ziegel, die vor Alter in einer Gartenmauer zerbröckeln; der süße Geruch von jungen Kühen, die in einem Gebirgsbach stehen; das Bleidach eines Taubenschlags – oder vielleicht eines Kornbodens – mit daraufliegender Mittagssonne, schwarze Glacéhandschuhe in einer Schreibtischschublade aus Walnußholz; eine staubige Straße mit Trögen unter Platanen zum Pferdetränken; kleine Pilze, die durch verfaultes Laub hindurchbrechen,“ und – und – und. „Das ist nicht gemacht – das ist gefühlt,“ freute sich Tucholsky.

Um 1900 begann in den USA die systematische Ausbildung von Leichensuchhunden. Damals – zu Zeiten der Prohibition und der Mafia – gab es immer mehr Verschwundene und Ermordete. Gleichzeitig wurden die ersten Detektive und Sensationsjournalisten bekannt – Schnüffler genannt, denn nicht selten ging es auch ihnen um den „Odor mortis“. Eine Gruppe in Deutschland phänomenologisch ausgebildeter Chefreporter um Robert Ezra Park gründete 1920 die „Chicago School of Sociology“, in ihr gehört bis heute das „Nosing Around“ zum Unterrichtsprinzip. „Die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Reportage,“ nennt der Soziologe Rolf Lindner das in seiner Dissertation. Zu den letzten auf Deutsch erschienenen Chicagoer Studien gehört Sudhir Venkateshs „Underground Economy“ und Loic Wacquants „Leben für den Ring: Boxen im amerikanischen Ghetto“. Von Wacquant erschien 2017 noch „Die Verdammten der Stadt: Eine vergleichende Soziologie fortgeschrittener Marginalität“.

Das „Nosing Around“ gilt auch für die heutigen Leichensuchhunde, denn sie „arbeiten sich im Einsatzgebiet ihre Fährten selbständig aus“ – ohne Leine und Befehle, aber mit einem möglichst „schönen Suchmuster“, wie die amerikanische Medientheoretikerin und Leichensuchhundebesitzerin Cat Warren in ihrem Buch „Der Geruch des Todes“ schreibt, es erschien 2017 im Hundebuchverlag „Kynos“. „Das Leben und die Karriere solcher Hundemenschen [wie die Autorin] sind so eng mit ihren Tieren verwoben, dass es schwierig sein kann, zu erkennen, wo der Mensch endet und wo der Hund beginnt,“ heißt es einleitend. Beide lieben ihre Selbständigkeit, ihr Schäferhund Solo darf auch mal beißen, im Einsatz sollte er einen „intelligenten Ungehorsam“ zeigen und das „Suchgebiet wie ein „Vermessungstechniker auf Methamphetamin ablaufen“. Cat Warren riecht im Wald bloß die Erde, „Solo riecht die Verstorbenen“. Dann „glitzern seine braunen Augen glücklich und ungeduldig.“ Er war ein „Einzelwelpe, seine junge Mutter Vita eine triebstarke Importhündin aus Westdeutschland.“

2012 wurden in den USA 48.000 Personen „vermißt“. Wenn es sich um die Suche nach einer Wasserleiche handelt, muß der Hund im Schlauchboot den paddelnden Menschen dirigieren. Und er sollte auf klare Weise, „anzeigen“, wenn er meint, die Geruchsquelle gefunden zu haben. Für das Buch über ihre Arbeit mit Solo setzte sich Cat Warren „intensiv mit der Hundenase auseinander“. Die Forschungslage dazu ist nicht besonders üppig. Den Menschen sind die Augen wichtiger, der Kassler Philosoph Ulrich Sonnemann spricht gar von einer „Okulartyrannis“, die unsere anderen Sinne verkümmern ließ und damit auch das Interesse daran. Cat Warren erwähnt eine tschechische Studie aus dem Jahr 2011, bei der gut trainierte Spürhunde „problemlos und korrekt zwischen den Geruchsprofilen eineiiger Zwillinge unterscheiden“ konnten.

Zum Trainieren der Leichensuche ihres Hundes sammelte sie faules Fleisch und Knochen in Weckgläser. Ähnlich wie die Stasi Geruchsproben von Zielpersonen anlegte. Ein anderer Gebrauchshundetrainer begann mit den „stinkenden Chemikalien Cadaverin und Purtrescin, die entstehen, wenn tierisches Gewebe zersetzt wird. Aber auch manche Käsesorten und Mundgeruch enthalten dieses Gemisch.“ Wieder ein anderer kombinierte „eine Reihe von Chemikalien mit verschwitzten Soldatenuniformen und Affenfleisch“. Man sollte meinen, tote Menschen würden so ähnlich wie tote Schweine riechen, der Geruch ähnelt jedoch eher toten Hühnern: „Bio-Hühnchen“, präzisiert die Autorin, die es wissen muß.

In der Vergangenheit hat man versucht, auch andere Tiere mit guten Nasen zu trainieren – Katzen z.B.. Das wurde jedoch schnell wieder aufgegeben, „weil sie sich demonstrativ weigerten, verlässlich mit den Männern zu kooperieren.“ Katzen können dafür viel schneller sehen als Hunde – beim „Hütchenspiel“ etwa sind sie unschlagbar, während Cat Warrens deutscher Schäferhund Solo dabei „abwechselnd aus Frustration und Entzückung heulte.“

 

Bienen haben ebenfalls einen ausgezeichneten Geruchssinn, lassen sich aber eigentlich nur auf „angenehme Gerüche“ trainieren. Der Zoologe Karl von Frisch entschlüsselte 1920 die „Tanzsprache“ von Suchbienen, mit denen sie auf einer vertikalen Wabenfläche den anderen Bienen im dunklen Stock Richtung und Entfernung eines ergiebigen Blumenfeldes anzeigen, wobei sie mit den Flügeln einen begeisternden Schwirrton erzeugen, der zugleich den Duft der Blüten übermittelt. Neben dieser Entdeckung, für die Karl von Frisch 1973 den Nobelpreis bekam, experimentierte er mit der „Duftorientierung“ der Bienen, indem er sie „dressierte, auf einen bestimmten Geruch anzusprechen“, bevor er sie freiließ, damit sie die entsprechenden Blumen aufsuchten. Seine „Methode der Bienendressur verbreitete sich ab 1927 schnell in der Sowjetunion,“ schreibt der Biologe Jossif Chalifman in seinem „Kleinen Bienenbuch“ (1955), in dem es heißt: „Auf der Krim beobachteten Imker, wie die dressierten Bienen in Massen mit Höschen aus Blütenstaub vom Wein zu den Stöcken zurückkehrten. Niemals hatten Bienen den Wein besucht, und hier besuchten die mit Sirup aus den Blüten der [georgischen] Rebe ‚Tschausch‘ gefütterten Bienen nur diese Sorte. Unfehlbar fanden sie diese unter Dutzenden anderer Sorten heraus. Die Bienen erwiesen sich als fähig, die Weinsorten zu unterscheiden.“

Auch Hummeln können sehr gut riechen, sie sind jedoch im Gegensatz zu den Bienen nicht „blütentreu“, d.h. sie suchen auf den nächstbesten Blumen nach Nektar. In Gewächshäusern, wo nur eine Nutzpflanzenart angebaut wird, sind sie jedoch den Bienen beim Bestäuben überlegen.

Die Männchen der mit den Hummeln verwandten Prachtbienen Südamerikas, haben sich selbst auf eine bestimmte Orchideenart „dressiert“. Diese hat zwar wie alle Orchideen keinen Nektar für sie, aber ein attraktives „Duftöl-Angebot“, wie der Leiter der Bayerischen Landesanstalt für Bienenzucht Karl Weiß das nennt, denn sie tragen es in „ansehnlichen Flakons an den Hinterbeinen“ fort – zu ihren Balzplätzen, wo sie „Präsentationsflüge“ unternehmen, „dabei soll der betörende Pflanzenduft die Weibchen anlocken“.

 

Schimpansen können zwar nicht so gut riechen wie Hunde und Insekten, dafür können sie sich jedoch in unserer Sprache darüber verständigen – und zwar in der Gebärdensprache (die für Taubstumme entwickelt wurde). Ein berühmtes Beispiel ist die Schimpansin Washoe (1965 – 2007), die bereits als Fünfjährige 132 Zeichen „verläßlich benutzte und in der Lage war, hunderte weiterer zu verstehen,“ zudem setzte sie ihre Wörter „zu neuen Kombinationen zusammen“. Z.B. wollte sie einen Zug aus der Zigarette, die ihr Sprachtrainer gerade rauchte: „Gib mir Rauch, Rauch Washoe, Schnell gib Rauch,“ sagte sie. „Frag höflich,“ erwiderte er. „Bitte gib mir diesen heißen Rauch,“ antwortete sie. Ihr Trainer war der US-Psychologe Roger Fouts, der über sie und einige andere Schimpansen ein Buch schrieb: „Unsere nächsten Verwandten. Von Schimpansen lernen, was es heißt, ein Mensch zu sein“ (1997). Washoe hatte u.a. das Wort „Blume“ gelernt, benutzte es aber auch für Pfeifentabak und Küchendunst: „Sie mag also mehr an Gerüche gedacht haben, wenn sie es gebrauchte, als an die optischen Eigenheiten bunter Blumen“. Man kann daraus schließen, dass sie ihrer Nase mehr Wahrheit zugestand als ihren Augen.

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Fake News

Ausgedachte Nachrichten also. Wenn früher ein sogenanntes Interview gewollt war, die Gewollten sich jedoch versteckt hielten (anarchistische Strommastenabsäger, der Schriftsteller Klaus Theweleit, die Terroristin Inge Viet, der Regisseur Woody Allen, der Grenzer im toten U-Bhf Brunnenstrasse Jürgen S. u.a.), dann setzten wir uns zusammen, rauchten einen Joint und „fakten“ das Interview mit ihnen, wobei wir uns in die betreffende Person und in ihre Gedanken einzufühlen versuchten. „Die Wahrheit halluzinieren,“ nannte der damals im Vogelsberg lebende Verleger Jörg Schröder dieses nächtliche Verfahren. Er ging dabei davon aus, dass wir doch schon alles wissen (jede Blödheit und Sauerei), man muß sich nur trauen, sie auch zu veröffentlichen.

Mit dem Internet hat sich alles geändert, denn jetzt schreibt jeder Smartphonebesitzer, schon morgens in der U-Bahn, eine „News“ (seine persönliche Neuigkeit). Das reicht von „Frühstücke gleich ausgiebig“ über „Angela Merkel ist ein blödes Arschloch“ bis zu ganzen Geschichten über Greueltaten von Ausländern an Deutsche. Oder – worüber ich oft und gerne „poste“: über Haltungsschäden von Wildtieren und -pflanzen im Zoo bzw. auf der Internationalen Gartenausstellung. Auch über die drei Westheinis, die man, von Westberlin aus gedacht, den drei Ostberliner „Flaggschiffen“ Staatsoper, Tierpark und Volksbühne vorgesetzt hat, würde ich gerne so manche „Fake News“ verbreiten, meinetwegen auch „echte“ – d.h. abgesicherte – Informationen, aber meine Informanten in den drei Institutionen schweigen.

Mit den früheren Fake News war es dann so weiter gegangen, dass „wir“ irgendwann merkten, bei einer gründlichen Lektüre und Überprüfung des deliranten Romans „Die Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon, dass alles darin wahr ist, in Summa: dass die sogenannte Wirklichkeit genug Seltsames und Lehrreiches entbirgt, man muß sie sich nicht „neu erfinden“ – auch wenn das jetzt gerade große Mode ist: Jeder soll/muß/kann/darf sich nun neu erfinden. Dazu wird erst einmal alles Drumherum Amerikanisch aufpoliert: Z.B. Fake News statt gut oder schlecht Ausgedachtes. Amerikanisch ist daran, dass dort die Literatur – dort „Fiction“ genannt, immer schon populistisch (als Massenware) daherkam: Pop-Kultur, die den Kulturimperialismus über den Weltmarkt „exportiert“.

In den USA war es dann auch, schlimmer noch: in Kalifornieren – und noch schlimmer: in Hollywood, das der Fake, der bei uns in Oberhessen aus Armut geboren war (keine Reisespesen, minimalstes Honorar), dort nun einem teuren Lebensstil diente: dem des Schweizer Tennislehrers Tom Kummer, der Hollywood-Prominente für die Süddeutsche Zeitung scheinbar interviewte. Seine „Fake News“ aus diesem sagenhaften Ort voller reicher Berühmtheiten waren hoch angesehen und honoriert. Aber irgendwann flog der Laden auf.

So wie auch der des Pferdesportberichterstatters beim WDR, der „live“ aus England berichtete, dies in Wirklichkeit jedoch von seiner Datscha in Neuss aus tat. Tom Kummers Entlarvung sorgte für einen Skandal – bei all jenen, die „Nachrichtensicherheit“ wollen. Seitdem reagiert die bürgerliche Presse hysterisch auf „Fake News“. Aus Amerika kommt nun aber auch das Gegenmittel: Ein Computerprogramm, ein Algorithmus, der alle „Fake News“, schon Sekunden nachdem sie gepostet wurden, aufspürt – und vernichtet. Der deutsche Staat, der sogenannte Volkswille (über den die BILD-Zeitung bis zur Internetverbreitung wachte) verlangt den Einbau von so etwas Kompliziertem (und eigentlich Unmöglichen) auch bei Facebook und den anderen asozialen Medien. Neulich hörte ich, dass die dort schon mal vorläufig eingesetzte „Wetware“ dafür, d.h. die Zensoren, unter Heulkrämpfen leiden. Waren die im Sozialismus eigentlich auch so zart besaitet? Apropos: Der Dissident Boris Jampolski urteilte 1975 über Fiction und Non-Fiction: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie.“ Zuvor hatte der geschätzte Dichter Ossip Mandelstam bereits verkündet „Ich habe mein Schach von der Literatur auf die Biologie gesetzt, damit das Spiel ehrlicher werde.“

Das Wort Fake News“ ist heute ein „Sammelbegriff für jede Form von problematischen Inhalten,“ meint eine New Yorker „Analystin“, also für „Propaganda jeglicher Art“ – das heißt wahrscheinlich: für antikapitalistische Äußerungen aller Couleur.

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Denkmal zu Ehren der ersten ‚Gen-Spaltung.

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Altes aus der Hauptstadt der genuinen Gensucher (2010)

Berlin war schon immer führend in der Genforschung. Ja, sogar einmal Weltspitze in diesem Zweig der Biologie und Landwirtschaftsforschung, wenn auch draußen in Buch, wo die Genetiker, darunter der bolschewistische Wissenschaftler Nikolai Timofejew-Ressowski, zuletzt mit den Atomforschern Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg zusammenarbeiteten („1 Atom – 1 Gen“). Sie waren dort alle auf „KW“-Stellen – was heute „Kann weg“ heißt, bedeutete damals jedoch noch: „kriegswichtig“.

Anders als in Wien, wo die Kronen-Zeitung eine Kampagne namens „Gegen-Gen“ startete und die Gentechnik für grundsätzlich böse erklärte, sind es hier vor allem Bild, FAZ, Spiegel und Focus, die lautstark mit immer wieder neuen genetischen Entdeckungen überraschen. Die dazugehörige leise Grundlagenforschung geschieht jedoch nach wie vor zum Beispiel in Dahlem, dem zweiten Standort der Berliner Molekularbiologie. Ihnen verdankt die Welt nicht nur für kurze Zeit eine dreiäugige Drosophila, sondern auch das „Eifersuchts-“, das „Bulimie-“ und das „Mobbing-Gen“. Außerdem das „Fern-Gen-Screening“, um dezidiert Ratschläge zur gesunden Lebensführung und Morgengymnastik inklusive Schminktips zu erteilen. Das berühmt-berüchtigte „Hitler-Gen“ (Augstein/Fest/Baring) wurde zwar nicht direkt in Berlin erfunden, aber hier genau gelangte es zur höchsten Blüte. Während die Genetiker der Sowjetunion lange Zeit von der proletarischen Wissenschaft derart drangsaliert wurden, dass man dort seitdem geradezu von einem „GULAG-Gen“ spricht, natürlich nur im Scherz.

In Italien bemühen die Genetiker gerade allen Ernstes ihr „Galilei-Gen“ – und das nur, weil sie sich von Greenpeace Schweiz, feministischen Genkritikerinnen und gewissenlosen Grünen geradezu umzingelt fühlen. Aus der Berliner taz-Zentrale stammt für diese und ähnliche Vererbungs-Irrlehren das alternative Machwort „Gähntechnik“ und außerdem „GenHackmann“ – das letzte ist ein beliebter Druckfehler.

Ich habe einst noch im Genetikinstitut der FU ganz handfest – mit Pinzette und Mikroskop – die unfruchtbaren -Männchen aus der Petrischale geklaubt und anschließend mit Äther umgebracht. Das war Beihilfe zur Biologie-Diplomarbeit meines Freundes Didi Lotze, der damals ganze Fruchtfliegen-Populationen mit Röngenstrahlen bombardierte, um eine Mutation zu erzeugen, die seinen eigenen Namen tragen sollte. So geschah es dann auch, das heißt: nachdem die Röntgenstrahlendosis tschernobylartig gesteigert worden war. Jeder von uns hätte da mutiert – sogar freiwillig!

Dummerweise taten das auch die milbenähnlichen Parasiten der Lotze’schen Drosophilakultur – derart, dass immer mehr bis zur Vermehrungsunfähigkeit verkleisterte Männchen aussortiert werden mussten, und irgendwann waren es einfach zu viel, die Kultur starb aus. Vielleicht hatte der Versuchsassistent aber auch während der Semesterferien nur vergessen, Nährlösung beizugeben. Zum Glück geschah dieser Gen-GAU erst nach Abschluss des Diploms.

Inzwischen wurde hier sogar ein „Null-Gen“, das man anfänglich noch „Müll-Gen“ nannte, gefunden. Aber wem heute das „Up-Gen“ als Forscherglück winkt, der kann schon morgen wieder ganz Down sein. So ist die seltsamerweise von der Bierbrauerei Schultheiss gesponsorte genetische Früherkennung der Alkoholsucht, die auf den Nazi-Mediziner Ploetz zurückgeht, geradezu eine Spezialität der Berliner Quantengenetik, die jedoch beim Kokaingenuss völlig versagt hat. Ausgerechnet von den Amerikanern musste sie sich sagen lassen, dass der DNS ganze Kokain-Ketten aufsitzen können.

Dem Zentralforschungsinstitut der Uni-Kliniken gelang angeblich die Isolierung des „Schizo-Gens“. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Entdeckung des Weddinger Zellularforschers Hans Warmer, der sie dann auch patentieren ließ – nachdem er in die USA überwechselte und dort seinen Namen änderte. Er heißt jetzt Jack Wilson.

Nach weiteren Misserfolgen müssen wir nicht lange suchen – vor allem im präuniversitären Bereich sieht es mittlerweile finster aus: Wo am Moabiter Landgericht in der jüngsten Vergangenheit noch hemmungslos die frühkindliche Erziehung oder das schädliche Milieu, mithin die Umwelt von nur allzu beredten Gutachtern, Experten und Tiefenpsychologen für alle möglichen Missetaten verantwortlich gemacht wurde, da spricht man heute wie selbstvergessen von fehlenden „Rechts-Genen“. Neulich redete sich bereits ein wiederholt wegen Ladendiebstahl Angeklagter gutachterlich gestützt auf sein fehlendes „Eigentums-Gen“ heraus. Mit Erfolg. Dafür schmiss ihn jedoch seine Rechtsschutzversicherung raus: „aus beiderseitigem Interesse“, wie sie schrieb.

Man könnte es zugespitzt – für eine Stadt zumal, in der Die Linke jedes Mal sattere Stimmzuwächse einfährt – auch so sagen: Alle Räder stehen still / Wenn dein starkes Gen es will!

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Der „Bird-Watcher“ Rudi Willmann studiert nebenbei noch die Kurse der Berliner Börse.

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Die Grammatik der Frösche

Dicke sozialanalytische Romane kennt man bisher von dem US-Schriftsteller Tom Wolfe. Jetzt hat der einstige Mitbegründer des „New Journalism“ ein dünnes Büchlein über zwei Feldforscher veröffentlicht: Alfred Russel Wallace und Daniel L. Everett. Die kennt man nicht, wohl aber Charles Darwin und Noam Chomsky, zwei Celebrities aus der „Upperclass“, die die anderen beiden – „Underdogs“ – verdrängt haben, obwohl deren „wissenschaftliche Leistung“ ihnen mindestens ebenbürtig war. Das muss sich ändern – so Tom Wolfe in seinem Pamphlet.

Über Darwin und Wallace hatte bereits der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht in seinem Buch „Am Ende des Archipels“ (2012) detektivisch herausgearbeitet, dass Letzterem wohl die Urheberschaft an der Evolutionstheorie zustehe. Bereits 1855 hatte Wallace auf dem Malaiischen Archipel, wo er für englische Museen Tiere sammelte (1 Käfer = 1 Shilling) einen Aufsatz geschrieben: „On the Law Which Has Regulated the Introduction of New Species“. Von einem Kollegen ermutigt hatte er daraufhin auf der Molukkeninsel Tenate eine Theorie der Entwicklung der Arten verfasst. Diese hatte er an Darwin geschickt, der dann 1859 sein Hauptwerk „On the Origin of Species“ („Über die Entstehung der Arten“) veröffentlichte. Als Entschädigung verhalf Darwin Wallace später zu einer Regierungspension, als der zu verarmen drohte.

Bei dem Paar Chomsky/Everett geht es um eine global geltende Sprachtheorie. Chomsky ging von einer angeborenen „Universalgrammatik“ aus, Everetts Forschungen widersprachen dem. Er untersuchte die Sprache der Pirahãs am Amazonas, der wesentliche Grammatikfunktionen fehlten. Mit dieser Erkenntnis hat der ehemalige Missionar und Ethnologe Everett den obersten Sprachtheoretiker der USA gewissermaßen entthront.

Chomsky sieht das aber nicht so. Deswegen meinte Tom Wolfe, er müsse die Position des verkannten Everett stärken. Sein halbes Buch kreist um die Sprache: Wie sie entstand, und ob sie ein gravierendes Unterscheidungsmerkmal zu den nichtmenschlichen Lebewesen ist? Unglücklicherweise hat sich Wolfe dazu hinreißen lassen, eine eigene Sprachtheorie zu entwickeln. Der zufolge ist „Sprache ein mnemonisches System, das es dem Homo sapiens ermöglichte, die Herrschaft über die ganze Welt zu übernehmen. Sprache und nur die Sprache samt ihrer Mnemotechnik schafft ihm Erinnerung im Moment des Erlebens. Selbst die klügsten Affen denken nicht, sie sind darauf konditioniert, bestimmten Primärzwängen zu folgen.“ Für Wolfe ist die Sprache das „Ur-Artefakt“, insofern der Mensch ohne sie kein einziges anderes Artefakt erschaffen hätte.

Umgekehrt argumentierte Friedrich Engels 1896: „Arbeit zuerst, nach und dann mit ihr die Sprache – das sind die beiden wesentlichsten Antriebe, unter deren Einfluß das Gehirn eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größere und vollkommnere eines Menschen allmählich übergegangen ist.“ Wolfe dagegen: „Zu sagen, dass die Tiere sich in Menschen entwickelt haben, ist das Selbe, als würde man die Meinung vertreten, dass ein Stück Carrara-Marmor zu Michelangelos ‚David‘ evolutionierte.“

In seiner Schrift über die „Abstammung des Menschen“ hatte Darwin postuliert: Die Sprache entwickelte sich aus dem Vogelgesang, so dass die Anfänge der menschlichen Sprache dann auch zunächst Gesänge waren, vielleicht sogar nachgeahmte. Mir ist die Theorie des französischen Eisenbahnkommissars Jean-Pierre Brisset die Annehmbarste: Der zufolge hat unsere Sprache sich aus dem Quaken der Frösche entwickelt. „Die Frösche, sie sprechen eine Sprache“, schreibt Brisset, „die Zahl der Grammatiken ist unendlich.“ 

Tom Wolfe: „Das Königreich der Sprache“. Karl Blessing Verlag, München 2017, 224 Seiten, 19,99 Euro

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