Spy vs Spy
Berlin ist zwar nicht mehr das deutsche Spionagezentrum, aber es hat ein Spionagemuseum – und zwar in zentraler Lage am Leipziger Platz (gleich neben einem Dali-Kunstmuseum).
Dort erfährt man etwas über die deutsch-deutschen Spione, zu denen auch viele Amerikaner und Russen zählten. Z.B. steht dort über Hansjoachim Tiedke, einem Beamten beim Bundesverfassungsschutzes: „Nach dem Tod seiner Frau verfiel Tiedke zusehends dem Alkohol, spielte, ließ sich gehen,“ und weiter heißt es da über ihn. „Er stand vor einem Scherbenhaufen. 1985 trat Tiedke die Flucht nach vorne an“ – in die DDR: „Tiedke wurde von der DDR-Auslandsaufklärung HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) in ein geheimes und streng bewachtes Haus vor den Toren Berlins gebracht. Alkohol und Prostituierte wurden ihm zugeführt, letztere verweigerten nach Auskunft des Leiters der HVA, Markus Wolf, bei Tiedkes Anblick allerdings den Dienst.“ So etwas konnte es nur im Sozialismus geben: Prostituierte, die sich weigern können, einen allzu verwahrlosten Mann zu bedienen.“ Aber kann man das auch noch zu den „Errungenschaften der Arbeiterklasse“ zählen?
Wie der KGB-Agent beim BND Heinz Felfe schrieb Tiedke später, als er sich etwas erholt hatte, an der Humboldt-Universität eine Dissertation über „die Abwehrarbeit der Ämter für Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland“.
„Dann kam die Wende und mit ihr der nächste Ortswechsel. Nachdem ihn Journalisten ausfindig gemacht hatten, floh er vom KGB unterstützt nach Moskau, wo er bis zu seinem Tod 2011 lebte.“ In Deutschland veröffentlichte er zwei Bücher über sein Leben als „Überläufer“. Was er dem DDR-Geheimdienst verraten konnte, war nicht viel, Tiedkes Vorgesetzter im Bundesverfassungsschutz Klaus Kuron lieferte gegen Bares nämlich bereits seit 1981 Informationen an die DDR. Aber Tiedkes Verrat ermöglichte es dem MfS, „einige Agenten des Verfassungsschutzes in der DDR zu verhaften.“
Es gibt nicht nur ein Berliner Museum um solche und andere Spione, in der „edition ost“ und anderen „editionen“ des „Eulenspiegel-Verlags“ erscheinen regelmäßig auch Bücher von Spionen. Und die nunmehr gesamtdeutschen Geheimdienste, BND, VS und MAD wetteifern geradezu untereinander, wer die dicksten und meisten „Forschungsarbeiten“ über sie veröffentlicht. Ihre „Akten“ im Keller quasi aufarbeitet – freilich ohne die Leichen dort auszugraben.
Über Klaus Kuron berichtete „Der Spiegel“ 2003: „Der heute 67jährige war ein Ass in der Spionageabwehr des Verfassungsschutzes (West) – und acht Jahre lang gleichzeitig Agent der Staatssicherheit (Ost). Die Chefs beider Geheimämter lobten seine Arbeit über alles. Für die Ostdeutschen war er gar ein Star. Deshalb gab ihm Markus Wolf, der Leiter der Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), den Decknamen ‚Stern‘ und ein Gehalt, das jeden Stasi-General neidisch gemacht hätte. Erst 4000 harte West-Mark pro Monat, dann 4500, dazu Urlaubsgelder, Sondergelder, Spesen. Summa summarum 692 000 D-Mark.“
1990 stellte sich der Regierungsoberamtsrat Kuron der Polizei. Er wurde zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt und das Finanzamt klagte seine Steuerschulden ein, die mit Versäumniszuschlag 590.000 D-Mark ausmachten. Das Finanzamt argumentierte, Kuron habe seinem Arbeitgeber Ost, der HVA, nicht „seine Arbeitskraft, sondern seinen Arbeitserfolg geschuldet“ – mithin, unter steuerrechtlichen Aspekten, eine „selbständige Tätigkeit“ ausgeführt. Also sei Kuron einkommensteuerpflichtig gewesen. Kurons Anwalt fand das grotesk, „denn selbstverständlich habe die HVA die fällige Lohnsteuer abgeführt, nämlich an die Abteilung Finanzen der für Kuron zuständigen Kreisverwaltung. Was Kuron kassierte, sei mithin ein Nettolohn gewesen. Und wenn ein Finanzamt – „egal in welcher geschichtlichen Phase der Bundesrepublik“ – zweimal denselben Arbeitslohn versteuern wolle, handle es „grob systemwidrig“.
Systemwidrig war in der Wende vieles. Der „Spiegel“ schreibt: „Die Causa Kuron ist freilich eine Agenten-Posse ohnegleichen, weil die Bundesrepublik in diesem Fall selbst als Rechtsnachfolgerin der DDR für etwaige Steuerschulden aufkommen müsste.“ Ob Kurons Anwalt damit durchkam, weiß ich nicht, Kuron wurde auf jeden Fall 1998 auf Bewährung entlassen. 2004 drehte der Regisseur Thomas Knauf einen Dokumentarfilm über ihn: „Klaus Kuron – Spion in eigener Sache“.
Mit dem Finanzamt kam man den aufgeflogenen Spionen oft: Als man dem KGB-Spion im Bundesnachrichtendienst Heinz Felfe 1961 die „St.-Georgs-Medaille“ des BND verlieh und ihn dreißig Minuten später verhaftete und inhaftierte, verlangte man von ihm zuletzt auch noch die Rückzahlung seines Gehalts, dass ihm der BND zehn Jahre lang gezahlt hatte. Dagegen konnte er sich erfolgreich wehren mit der Begründung, dass er neben seiner „Kundschaftertätigkeit“ für die Sowjetunion ja auch „durchaus erfolgreiche Arbeit für den Bundesnachrichtendienst geleistet“ hätte. 1969 gelangte er über einen „Agententausch“ in die DDR.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren tat sich einiges in Bonn und Brüssel: Zunächst wurden Christel und Günter Guillaume enttarnt. Dann flüchteten plötzlich fünf wichtige Sekretärinnen, die als Spione für das MfS gearbeitet hatten, in die DDR (wo zu der Zeit auch schon einige „Terroristen“, u.a. Inge Viet, untergetaucht waren.) „Mühelos hatten all die spionierenden Sekretärinnen die Sicherheits-Tests bestanden,“ berichtete „Der Spiegel“. In der Bonner NATO-Botschaft hatte die „Abwehr“ allerdings die Fremdsprachensekretärin Ingrid Garbe verhaftet, bevor sie fliehen konnte. „Wenig später meldete sich im DDR-Fernsehen Ursel Lorenzen zu Wort, bis dahin deutsche Spitzensekretärin im Direktorium des Nato-Generalsekretariats, vertraut mit Dienstvorgängen der höchsten Geheimhaltungsstufe des Bündnisses (‚atomal‘). Sechs Jahre lang hatte Frau Lorenzen Nato-Geheimpapiere ‚kofferweise in die Schweiz‘ (ein Bonner Sicherheitsexperte) gebracht.“ Die anderen drei geflohenen Frauen waren Sekretärinnen bei hochrangigen Bonner Politikern gewesen. „Für die CDU/CSU ist der Schaden durch die vom ‚VEB Horch und Greif‘ (DDR-Jargon) eingeschleuste Aufpasserin in jedem Fall beträchtlich.“ Über die Chefsekretärin bei der FDP Johanna Olbrich schrieb der Oberst in der HVA Günter Ebert 2013 ein Buch mit dem Titel „Die Topagentin: Johanna Olbrich alias Sonja Lüneburg“.
Dem Duisburger CDU-Abgeordneten Ferdi Breidbach hatte es vor den Folgen dieser Enttarnungen gegraust: „Was die Terroristen nicht geschafft haben, nämlich alles zu verunsichern, das machen jetzt die Spione.“ Das war übertrieben. Zudem drehte sich Ende der Achtzigerjahre das Blatt: U.a. lief der Leiter der Abteilung „Gegenspionage“ beim MfS, Oberst Karl-Christoph Großmann, in den Westen über und verriet einige DDR-Topspione. Der MfS-Generalmajor Heinz Engelhardt, der 1990 den DDR-Geheimdienst „abwickelte“, erzählt in seinem Buch „Der letzte Mann“ (2019): Die in der Wende heranrückenden westdeutschen (und auch die amerikanischen) „Dienste waren besonders interessiert an Informationen über unsere Quellen. Dazu versuchten sie, Verräter aus den Reihen des MfS zu gewinnen oder zu kaufen. Leider ist es ihnen teilweise auch gelungen.“ Bei Großmann u.a.. „Vor allem Top-Quellen der HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) haben diesen Verrat teuer bezahlen müssen. Ich denke hier nur an Gabriele Gast oder Rainer Rupp.“
Die Politologin Gast arbeitete als Regierungsdirektorin beim Bundesnachrichtendienst (BND) im Referat „Sowjetunion“ und war gleichzeitig 17 Jahre lang DDR-Spionin. 1990 wurde sie durch Aussagen Großmanns verhaftet und zu knapp sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Während der Haft blieb sie in Kontakt zu einigen Mitarbeitern der HVA, u.a. zum früheren HVA-Leiter Markus Wolf. 1999 veröffentlichte sie das Buch „Kundschafterin des Friedens. 17 Jahre Topspionin der DDR beim BND“. 2015 veröffentlichte der ehemalige Oberst Klaus Eichner, der mit Heinz Engelhardt an der MfS-Auflösung beteiligt war, ein Buch über sie: „Agentin in der BND-Zentrale: Gabriele Gast im westdeutschen Spionagezentrum“. Sie arbeitete nach ihrer Haft in einem Ingenieurbüro und blieb laut Wikipedia eine „glühende Kommunistin“. 1995 hatte sie zunächst als Verein eine „Initiativgruppe Kundschafter des Friedens fordern Recht“ gegründet. Auf ihrer Internetseite „kundschafter-frieden.de“ findet man inzwischen viele Bücher über und von diesen Spionen, Klaus Eichner hat gleich mehrere geschrieben. Umgekehrt, bei den amerikanischen und westdeutschen Spionen in der DDR galt dieses „Friedens-Kundschafter“-Credo jedoch nicht unbedingt, sie kundschafteten eher für die „Freiheit“ im Westen, wo sie danach mit Hilfe der dortigen Geheimdienste hingelangen wollten. Es gibt dazu einen verwirrenden Bericht – über die „Raue-Gruppe“, die ab 1950 in Moskau und in der DDR für die CIA spionierte, zehn Jahre später verhaftet wurde, ins Gefängnis kam und erst in den Siebzigerjahren in den Westen gelangte. Der Bericht heißt „Die Spionin“, gemeint ist Olga Raue, und veröffentlicht hat ihn 2019 der „selbständige Wissenschaftler und Publizist“ Stefan Appelius, der als außerordentlicher Professor der Uni Oldenburg dem „Forschungsverbund SED-Staat“ der FU angehört.
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Mein Freund der Ausländer (19 x 3 photographierte Begegnungen in der Fremde)
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Das Momentum des „Kaputten“
Vom 23. bis zum 29. Oktober fand ein geballtes „Theater der Dinge“ an fünf Berliner Spielorten statt – mit 14 Inszenierungen, Installationen und Ausstellungen von Künstlern aus Argentinien, Frankreich, Großbritannien, Kanada, Katalonien, Kroatien, Litauen, den Niederlanden, Norwegen, der Schweiz, Tschechien und Deutschland. Ihr gemeinsames Thema war „Kaputt“. Und wer sich selber als Kaputtmacher*in an diesen Tagen betätigen wollte, konnte das in der „Werkstatt der Zerstörung“ des „Fundus Theaters Hamburg“ tun.
Wir fluchen, wenn irgendetwas allzu schnell kaputt geht; aber wenn man dem marxistischen Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel glaubt, dann gibt es mindestens für den Neapolitaner ein „Ideal des Kaputten“, d.h. wenn er sich z.B. einen neuen Motorroller kauft, dann ist ihm das reibungslose Funktionieren dieser Maschine unheimlich. Erst wenn sie einen Schaden hat, den er mit einem Gummiband oder Ähnlichem reparieren kann, hat er das Gefühl, dass er die Maschine wirklich beherrscht. Der Neapolitaner denkt konstruktiv.
Das deutsche „Ideal des Kaputten“ ist dagegen heute eher destruktiv, es findet seinen Ausdruck im „Wutraum“. Der erste entstand in Halle, der zweite in München, der dritte in Berlin (hier heißt er natürlich „Crashroom“). In diesen Aggressionsabfuhr-Start-Ups schlagen vorwiegend Frauen alles kurz und klein. Sie müssen dafür zwischen 100 und 200 Euro zahlen, je nachdem welche Dinge sie zertrümmern wollen. „Bei manchen Leuten kann die Aggression durch so etwas allerdings noch gesteigert werden“, warnt die US-Psychologin Jennifer Hartstein. Sie denkt dabei an die 2,49 Schnellfeuergewehre, die auf jeden amerikanischen Bürger kommen – und wie schnell man damit nicht nur Dinge, sondern auch Menschen zerstören will, z.B. ein Mann seine Frau oder umgekehrt, was hierzulande (noch) selten geschieht und wenn, dann eher differenziert beurteilt wird. „Frau erschlug Ehemann mit Bratpfanne: Freispruch!“ So lautete eine BILD-Schlagzeile, die für Freude sorgte.
Es gibt noch ein drittes „Ideal des Kaputten“, für das man mitunter auf andere Weise zahlen muß: das „Macht kaputt was euch kaputt macht“ aus dem Lied einer Kreuzberger Musikgruppe, deren Name „Ton Steine Scherben“ dazu bereits so etwas wie eine Handlungsanweisungbietet: erst gröhlen („Ho Ho Tschin Minh“ z.B.) auf Demos, dann Pflastersteine ausbuddeln, und dann damit u.a. die ChiChi-Läden des Kudamms „entglasen“.
Dahinter steht die Marxsche Analyse des Kapitalismus, der eine derart „ungeheure Warenansammlung“ hervorbringt, das die Beziehung zwischen den Menschen und den von ihnen hergestellten Dingen sich umkehrt. Mit Marx gesprochen: Auf der einen Seite „sachliche Verhältnisse der Personen“ und auf der anderen „gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen“ – beides miteinander verklammert. Nämlich dadurch, dass sich erst im Akt des Tausches Gesellschaft – abstrakt- herstellt. Zwar ist der „Tauschakt“ sozial, aber die daran Beteiligten handelnsolipsistisch(„the act is social the minds are private“).
Z.B. in der Supermarktfiliale von „Kaufland“ (!), wo wir unser als „Ware Arbeitskraft“ verdientes Geld gegen „Waren des täglichen Bedarfs“ eintauschen – bei der „Kassiererin“, deren Befindlichkeit uns in dem Moment und überhaupt scheißegal ist. Wir verkörpern dabei das sachliche Verhältnis der Personen, während unsere Gedanken in diesem Tauschakt bei den „gesellschaftlichen Verhältnissen der Sachen“ sind, die wir eingekauft haben. Die Veranstalter von der „Schaubude Berlin“ sprachen von einem „Figuren- und Objekttheater“. Die Objekte sindes – in ihrer Warenform, die gesellschaftsbildendwirken. Das funktioniert auch prächtig, ist aber scheiße, weil diese ungeheure Warenansammlung durch die industrielle Verwertung der Natur(reichtümer) zustandekommt und das Kapital getrieben durch die Konkurrenz gar nicht genug von diesen Schätzenvernutzen kann.
„In einer wahrhaft ökologischen Welt wird der Begriff der Natur sich in Rauch auflösen,“ meint der US-Philosoph Timothy Morton (in: „Ökologie ohne Natur“ 2016). Er denkt dabei an eine glückliche Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt, Kultur und Natur. In Wirklichkeit löst jedoch unsere anthropozentrische Kultur die Natur in Rauch auf.
Dieses globale Unglück reicht weit zurück: Alles um uns herum basiert heute auf Mathematik: die Wände, die Möbel, die Kleidung, die Bücher, das Geschirr, das ganze Haus, die Straße, die Farben, die Töne, die Regierung… „Alles ist Zahl“ (Pythagoras). Das „Zählen“ begann mit der Heiligung der Zahlen durch Pythagoras. Wenig später gelang es kaufmännisch gewieften Pythagoräern bereits, einige Städte auf Sizilien an sich zu bringen, indem sie deren Bürger „zahlen“ ließen. Sie wurden von ihnen bald davongejagt, vorher ersetzten sie aber deren lokale Zahlungsmittelnoch durch ein gemeinsames: den ersten Euro, wenn man so will.
Gegen all das wehrt sich nun der kleine Mann auf der Straße („the man on the street“) – gerne auf Facebook mit farbig hinterlegten Sinnsprüchen wie: „Anstatt Dinge zu lieben und Menschen zu benutze, Sollten wir lieber Dinge benutzen und Menschen lieben.“ Im Kommentar heißt es dazu: „Genau“
Aber auch das gehört noch zu den ganzen „Kaputtheiten“, die von den aus Nah und Fern eingeflogenen Künstlern im „Theater der Dinge“ mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Darstellung für die systemkritischen Berliner aufbereiteten. Die Veranstalter sprachen von einem „hohen Lustfaktor“ („gefördert von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa“). Da konnte eigentlich nichts mehr schief gehen, zumal die Eintrittspreise sich unterhalb der Schmerzgrenze bewegten.
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Einige Terroristen-Bücher und -Filme
“Früher standen sich die Menschen näher. Die Schußwaffen trugen nicht weit.” (St.J.Lec)
- Nikolai G. Tschernyschewski: „Was tun?“ (1863), Berlin/Weimar 1980
- Fjodor Dostojewski: „Die Dämonen“, (1873) Frankfurt 200
- Juri W. Trifonow: „Die Zeit der Ungeduld“ (1973), München 1983
- Max Hoelz: „Vom ‚Weissen Kreuz‘ zur Roten Fahne – Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse“ (1929), Halle 1989
- Willy Brandt: „Der Partisanenkrieg“, Schweden 1944, Raubdruck 1972
- Josef Skvorecky: „Feiglinge“ (1948/49), Wien 2000
- Franz Jung: „Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit“ (1961), Hamburg 2000
- Frantz Fanon: „Die Verdammten dieser Erde“ (1961) ,Frankfurt/M 1981
- „Die Schlacht um Algier“: italienischer Film von Gillo Pontecorvo (1965)
- „La Chinoise“: französischer Film von Jean-Luc Godard (1967)
- „Leuchte, mein Stern, leuchte“: sowjetischer Film von Alexander Mitta (1969)
- „Sacco und Vancetti“: italienischer Film von Giuliano Montaldos (1971)
- Rolf Schroers: „Der Partisan“ (1961), Münster 1995
- Albert Camus: „Der Mensch in der Revolte“ (1951), Hamburg 1997
- Ernesto Che Guevara: „Guerillakampf und Befreiungsbewegung“ (1963/64), Bonn 2007
- „Che“: amerikanischer Film in zwei Teilen von Steven Soderbergh (2008/2009)
- Erich Wollenberg: „Der bewaffnete Aufstand, Versuch einer theoretischen Darstellung“ (1928/29), Frankfurt/M 1971
- T.E. Lawrence: „Die sieben Säulen der Weisheit“ (1926), München 1979
- „Lawrence von Arabien“: englischer Film von David Lean (1962)
- Bommi Baumann: „Wie alles anfing“ (1975), Berlin 2001
- „Der Baader-Meinhof-Komplex“: deutscher Film von Uli Edel (2008)
- Stefan Aust: „Der Baader-Meinhof-Komplex – Das Buch zum Film“,Hamburg 2008
- Michael Sontheimer: „Natürlich kann geschossen werden – eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion“, München 2010
- „Viva Zapata“: amerikanischer Film von Elia Kazan (1952)
- Enrico Quaas: „Ejercito Zapatista de Liberacion Nacional. Eine Darstellung von der Entwicklung des bäuerlich-indigenen Widerstands hin zum postmodernen Guerillakampf des 21.Jahrhunderts“, München 2007
- „Zabriskie Point“: amerikanischer Film von Michelangelo Antonioni (1970)
- Traute Hensch, Katrin Hentschel: „Terroristinnen. Bagdad77 – Die Frauen der RAF“, Berlin 2009
- Inge Viett: „Nie war ich furchtloser“, Hamburg 2005
- Till Meyer: „Staatsfeind. Erinnerungen“ (1996), Berlin 2008
- Bill Ayers, Walter Hartmann und Pociao: „Flüchtige Tage: Erinnerungen aus dem Weather Underground“, Mainz 2010
- „The Weather Underground“: amerikanischer Film von Sam Green und Bill Siegel (2002)
- „Unser Sohn, der Guerillakämpfer“, Schweizer Film von Mano Khalil 2006
- Anja Flach: „Frauen in der kurdischen Guerilla. Motivation, Identität und Geschlechterverhältnis in der Frauenarmee der PKK“ (2003), Köln 2007
- Thomas Elsaesser: „Terror und Trauma: Zur Gewalt des Vergangenen in der BRD“, Berlin2007
- Angelika Holderberg: „Nach dem bewaffneten Kampf. Ehemalige Mitglieder der RAF und der Bewegung 2.Juni sprechen mit Therapeuten über ihre Vergangenheit“, Gießen 2007
- Mike Davis und Klaus Viehmann: „Die Geschichte der Autobombe“, Hamburg/Berlin 2007
- Ulrich Enzensberger: „Die Jahre der Kommune 1. Berlin 1967 bis 1969“, München 2006
- „Viva Maria“: französischer Film von Louis Malle (1965)
- Navid Kermani: „Dynamit des Geistes: Martyrium, Islam und Nihilismus“, Göttingen 2002
- „Ni vieux ni traîtres“ französischer Film von Pierre Carles (2005)
- Unsichtbares Komitee: „Der kommende Aufstand“, Hamburg 2010
- Dirk Freudenberg: „Theorie des Irregulären. Guerillas und Terroristen im modernen Kleinkrieg“, Berlin/New York 2007
- „United Red Army“: japanischer Film von Koji Wakamatsu (2007)
- Tiqqun: „Einführung in den Bürgerkrieg“, auf der Plattform „www.bloom0101.org“ und anderswo im Internet.
- Tiqqun: „Kybernetik und Revolte“, Berlin 2007
- Asef Bayat: „Life as Politics. How Ordinary People Change the Middle East“, Stanford 2010
- „Carlos“: amerikanischer Film von Olivier Assayas 2010
- Siehe auch: „Die besten Terroristen-Filme“ auf „www.amazon.de„
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Die Welt verbessern wollen
Es geht hier um einen tragischen Helden: um den Biologen Paul Kammerer, der den Lamarckismus gegen den Darwinismus stark machen wollte. Von 1902 bis 1926 experimentierte er in der Biologischen Versuchsanstalt „Vivarium“ im Wiener Prater mit Amphibien, um den Nachweis zu führen, dass sich Erfahrungen vererben können. Er scheiterte: Ein Prüfer des Zentralorgans der Darwinisten „Nature“ wies nach, dass sein Präparat von einer Geburtshelferkröte, die den Einfluß einer veränderten Umweltbedingung auf den Organismus beweisen sollte, verfälscht worden war.
Unbeeindruckt von diesem angelsächsischen Wissenschaftsskandal bot die Sowjetunion, namentlich die lamarckistischen Biologen um Boris Kusin und den Dichter Ossip Mandelstam, Kammerer ein eigenes Institut in Moskau an. Der international gefeierte, durch den Fälschungsvorwurf jedoch entehrte Amphibienforscher zog es vor, sich im Wiener Wald zu erschießen. Der sowjetische Volkskommissar für das Bildungswesen, Anatoli Lunatscharski, und seine Frau drehten daraufhin 1928 mit Geldern aus der deutschen Arbeiterbewegung einen Spielfilm über Kammerer: „Salamandra“ – in dem der Rote Biologe von Darwinisten und Jesuiten in den Selbstmord getrieben, jedoch im letzten Moment von Lunatscharski persönlich gerettet und in die Sowjetunion entführt wird, wo er frei forschen kann und dafür vom Staat alle Unterstützung bekommt. Der Film wurde in Deutschland verboten.
1971 versuchte der Schriftsteller Arthur Koestler Kammerer als Wissenschaftler mit einer Biographie „Der Krötenküsser“ zu rehabilitieren. 2010 wurde sie wieder neu aufgelegt. Im Nachwort schrieben die Herausgeber: „Kammerer ist eine Art Gegenheld zur etablierten Wissenschaft.“ 2016 veröffentlichte einer der Herausgeber, der Wiener Soziologe Klaus Taschwer, eine neue Biographie, „Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit“, in der er den Biologen als Pionier der „Epigenetik“ wissenschaftlich wieder eingemeindete. Sieben Jahre zuvor hatte der US-Biologe Alexander O. Vargas dies bereits im „Journal of Experimental Zoology“ versucht. 2017 veröffentlichte Taschwer auch noch eine Geschichte der Biologischen Versuchsanstalt „Vivarium“, die – von jüdischen Wissenschaftlern initiiert und finanziert – mit dem Einzug der Nazis in Österreich für immer abgewickelt worden war: „Experimentalbiologie im Wiener Prater“. Der Leiter, Hans Leo Przibram, starb in Theresienstadt, seine Frau beging Selbstmord. Einzig Kammerers kurzzeitige Assistentin, die Salondame Alma Mahler-Werfel starb eines natürlichen Todes (in New York). Sie war laut Wikipedia „eine Persönlichkeit der Kunst-, Musik- und Literaturszene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Ehefrau des Komponisten Gustav Mahler, des Architekten Walter Gropius und des Dichters Franz Werfel sowie Geliebte des Malers Oskar Kokoschka und weiterer prominenter Männer,“ darunter Paul Kammerer, über dessen Experimente sie später in ihrer Biographie kurz und etwas abschätzig urteilte. Sie gab damit dem Fälschungsvorwurf weitere Nahrung.
Nun hat aber der einst am Münchner Institut für Experimentelle Chirurgie forschende Arzt und Schriftsteller Michael Lichtwarck-Aschoff sich in seinem neuen Buch „Der Sohn des Sauschneiders Oder ob der Mensch verbesserlich ist“ erneut den „Fall Kammerer“ vorgenommen. Es wird den genialen Biologen vielleicht auch nicht rehabilitieren, aber dafür ist sein „Roman“ genial. Der Autor erzählt darin die Geschichte des Wiener „Vivariums“ aus der Sicht einiger dort beschäftigter Hilfstierpfleger, die vom Land kommen, in ihrer Dorfsprache – dem „Steinbüchlton“ und zugleich im „Vivariumton“. Sie bringen ihr eigenes lamarckistisches Anliegen mit in die Versuchsanstalt: Sie wollen Kühe ohne Hörner, die diese doch domestiziert nicht mehr brauchen. Wenn die Menschen gut zu ihnen sind, u.a. mit ihnen zusagender Musik, bilden sich ihre Hörner in einer freundlichen Umwelt vielleicht zurück – und sie vererben dann sogar ihre „Hornlosigkeit“. Tatsächlich wird auf diese Weise ein Kalb ohne Hörner geboren und schon bald ist Steinbüchl das „Dorf der Hornlosen“.
Aber auch beim Hornproblem setzt sich in der Welt zunächst die brutale, schmerzhafte Enthornung durch, indem man den ersten Hornansatz mit Säure wegätzt. Und dann mit dem Neodarwinismus, indem man die Rinder gentechnisch hornlos „produziert“. Man macht damit das Gegenteil wie die Bauern in Ruanda mit ihren „Watussirindern“, deren Wert mit der Größe der Hörner steigt. Neuerdings gibt es aber auch hierzulande ein Umdenken: Die Rinder fühlen sich mit Hörnern besser, hat man herausgefunden, an der Hornform läßt sich ihr Wohlbefinden erkennen.Und deswegen schaffen sich nun immer mehr Bauern Hornvieh mit Hörnern an. Ob Michael Lichtwarck-Aschoff das bedacht hat? Er wohnt immerhin auf dem Land bei Augsburg.
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Speckkäfer
Mit Inkarnation ist die Fleischwerdung gemeint, mit Reinkarnation also die Wiederfleischwerdung. Ein komplizierter metaphysisch-moralischer Vorgang, denkt man. In naturwissenschaftlicher Hinsicht ist die Reinkarnation jedoch ziemlich einfach. Nehmen wir an, ein Mensch ist erschlagen worden, oder noch besser: ein Maulwurf, von einem Schrebergärtner mit dem Spaten. Wie geht es nun weiter mit seiner Reinkarnation, die primär ein Umwandlungsprozeß ist? Der Insektenforscher Jean-Henri Fabre hat sich mit den Umwandlern beschäftigt, „welche die Überreste des Abgelebten wieder in die Schätze des Lebens überführen.“
Als erstes entdeckt eine Ameise das tote Tier, „und sie geht als Letzte“. Dann kommen Fliegen unterschiedlichster Arten, u.a. Gold- und Fleischfliegen. Sie kriechen unter den Kadaver und legen ihre Eier dort ab: Mehrere Gelege mit je 150 Eiern von jedem Weibchen. Dazu brauchen sie einige Tage. Etliche Eier werden von den Ameisen geraubt. Nach 24 Stunden schlüpfen die Jungen, sie sondern ein Sekret ab und verflüssigen Teile des Fleisches, das sie aufsaugen. Sie haben Atemlöcher, wenn sie zu viele sind und zu viel verflüssigen ersticken einige Goldfliegenmaden darin. Anders die Fleischfliegen, die ihre Maden lebend gebären: Diese haben ihre Atemlöcher am Hinterleib, der verdickt ist, und damit als „Schwimmer fungiert“. Vom verflüssigten Fleisch tropft viel in die Erde ab, „wenn die Maden dick genug sind, kriechen auch sie in die Erde, um sich zu verpuppen“.
Dann kommen die Schmeißfliegen – in „Kolonnen“, jedes Weibchen hat an die 20.000 Eier im Leib. Sie „riechen Tote über Hunderte von Metern,“ heißt es auf „wissenschaft.de“. Die Schmeißfliegeneltern leben zwar von Nektar und Pollen, aber ihre Maden brauchen tierisches Eiweiß. Sie fressen eng zusammengedrängt – mit einer „Atemrosette“ am Hinterleib, „die sich auf der Flüssigkeit entfaltet“. Drumherum warten immer mehr Stutzkäfer darauf, dass die Madenmassen sich fett gefressen haben, dann verzehren sie diese – nur wenige überleben. Wenn die Stutzkäfer fertig sind, fallen die Speckkäfer über das inzwischen „mumifizierte Aas“ her. Sie verzehren den Kadaver bis auf die Knochen.
Speckkäfer können daneben große Schäden an Wollstoffen, Fellen, und in Insekten- und Tiersammlungen anrichten. Weil sie in der Nähe des Menschen auch in der kalten Jahreszeit ununterbrochen Generationen hervorbringen, kommt es in den Naturkundemuseen immer wieder zum „Speckkäfer-Alarm“, wie es auf „kammerjäger.de“ heißt. Speckkäfer werden aber laut Wikipedia auch gezielt von Museen eingesetzt, um Tierskelette von Weichteilen zu reinigen. Die Speckkäferweibchen legen ihre Eier u.a. in Fellreste und in dunkle und warme Bereiche.
Am Verzehr der letzten Aasreste beteiligen sich auch noch Aas- und Raubkäfer, ebenso ihre Maden, wobei die der Raubkäfer sich auch gegenseitig töten und verzehren. Speck- und Aaskäfer feilen „mit ihrem geduldigen Zahn“ Knochenteilchen heraus.
Noch ist das Fell übrig, darauf stürzen sich die Motten mit ihren Raupen. Ebenso der Geperlte Erdkäfer. „Kein Atom darf verloren gehen“. Gilt auch: Kein Gen darf verloren gehen? Im Inneren des verwesenden Kadavers ist unterdes längst das Immunsystem des Maulwurfs zusammengebrochen, so dass auch die Bakterien beginnen konnten, ihn zu verdauen. Von außen kommen weitere dazu sowie auch Pilze.
Wir verabscheuen die Aasfliegen, es gab jedoch Kulturen, in denen diese Fliegen willkommen waren – wie die Moche, die bis zum achten Jahrhundert an der Küste Perus lebten. Sie boten den Aasfressern ihre Verstorbenen an. Deren Seelen werden von den Fliegen befreit und wieder in der Welt ausgesetzt, glaubten die Moche. Ihnen zufolge ist die Reinkarnation mithin eine Angelegenheit der Seele, die sich dazu der Fliegen bedient. Für die Naturwissenschaft funktioniert die Reinkarnation dagegen fast nur mit den Insekten – aber ohne die Seele, weswegen man unter Gläubigen auch gerne von seelenloser Wissenschaft spricht.
Die Insekten, im Verein mit Bakterien und Pilzen, vertilgen den erschlagenen Maulwurf jedenfalls restlos. Er hat sich irgendwann vollständig in Nahrung für sie aufgelöst. Gleichzeitig werden diese Aasvertilger jedoch auch zur Nahrung von anderen Tieren, und sogar von (fleischfressenden) Pflanzen. Die Insekten werden in Massen von Vögeln verzehrt, aber auch von Maulwürfen, die zur Ordnung der Insektenfresser zählen, und von Würmern und Insektenmaden leben. Sie verpaaren sich im Frühjahr, ihre Weibchen bekommen nach etwa 35 Tagen bis zu neun nackte Junge.
Mit gutem Gewissen kann man nun eins oder sogar mehrere von ihnen als Reinkarnation des erschlagenen Maulwurfs bezeichnen, und nicht nur bezeichnen, sondern auch nahezu lückenlos chemisch-physikalisch nachvollziehen. Dies würde ebenso der Fall sein, wenn der Maulwurf ein erschlagener Mensch gewesen wäre, nur hätte man dessen Reinkarnation, seine „Wiedergeburt“, nicht so leicht beobachten können, weil die Entwicklung dahin, da man ihn schnell begraben hätte, vollständig unter der Erde stattfände, wo etliche der erwähnten Aasvertilger nicht hinkommen, dafür jedoch andere.
Dies hätte auch bei dem erschlagenen Maulwurf der Fall sein können, wenn nämlich eine weitere Käferart, die Totengräber, rechtzeitig von seinem Ableben erfahren hätte – über den Aasgeruch, den die freigesetzten Stoffe Cadaverin und Putrescin verbreiten. Die Totengräber rücken in kleinen Gruppen an, „ein Weibchen und drei Männchen“ bei Fabre. Sie machen sich unter dem Kadaver zu schaffen und buddeln ihn ein: möglichst so schnell, dass sie den Fliegen zuvorkommen. Nach zwei Tagen unter der Erde ist aus dem Maulwurf eine „grünliche Abscheulichkeit“ geworden, „enthaart und geschrumpft zu einem molligen Balg“. Dieser ist für die Totengräber-Kinder gedacht. Sie verzehren ihn eilig in zwei Wochen, dann verpuppen sie sich, bevor die Mikroorganismen im Boden den Maulwurfrest in Humus verwandeln, wie Fabre meint. Während die farbenprächtigen Totengräber-Eltern von Käfermilben langsam zerfressen werden und sich überdies auch noch gegenseitig verzehren.
Ein Team von Wissenschaftlern aus vier deutschen Forschungsinstituten hat die Rolle des Schwarzhörnigen Totengräbers und seiner symbiontischen Mikroorganismen bei der Verdauung und chemischen Konservierung von Aas während der Brutzeit untersucht: Der von den Totengräbern unter der Erde geformte „Fleischball“, die Nahrung für ihren Nachwuchs, ist von dort lebenden Bakterien und Pilzen gefährdet, die auch an diesem Fleisch interessiert sind. Deswegen produzieren die Totengräbereltern „Verdauungsenzyme und antimikrobielle Proteine, die sie als Sekret auf das Fleisch übertragen“, das sie damit für ihre Maden „chemisch reinigen“. Die natürliche oder ökologische Reinkarnation ist nichts anderes als eine „ewige Wiederkehr“, weswegen so viele unserer Gene z.B. mit denen der Aasfliegen identisch geworden sind: bereits über 60%.
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Größenordnungen unter Basisdruck
„Bauern klagen über zu viel Insektenschutz,“ schrieb die FAZ über die europaweiten Bauernproteste. Aber hier und da gibt es ein Umdenken: So will z.B. der Landgrabscher und Großagrarier aus Winsen an der Aller, Jürgen Lindhorst, einen Teil seiner Flächen auf dem Barnim, wo er bisher Mais erntete, auf insektenfreundlichen Bio-Gemüse-Anbau umstellen – las ich irgendwo. Aber dann bekam ich eine Mail von Imma Harms mit einem Eintrag in ihrem taz-blog „Jottwehdeh“. Meistens geht es darin um strittige brandenburgische Themen wie z.B. das Wasserproblem im Oderbruch. Einige ihrer blogeinträge hat der in Oderaue ansässige „Aufland-Verlag“ unter dem Titel „Dünne Haut und dickes Fell“ veröffentlicht. Die Autorin wohnt in Reichenow-Möglin, wo ich einmal an einer Demonstration gegen den Bau einer riesigen Schweinemastanlage teilnahm. Neben ihrem Hof hielt ihr Freund drei Schweine, die auf der Weide standen. Imma Harms gründete einen Dorfverein namens „MöHRe“, gab ein Jahr lang, gefördert von der EU, eine Dorfzeitung mit dem Namen „Ortszeit“ heraus, die dann laut Märkische Oderzeitung als „Kleiner Zeiger“ weiter existierte.
Nicht weit von Reichenow gibt es das Dorf Haselberg. Und dort fand kürzlich eine nachdenkwürdige Versammlung statt. Imma Harms berichtete darüber nun in dem blogeintrag „Der Griff nach dem Grundwasser“: „Der Frontenverlauf ist unübersichtlich. Aufgebrachte DorfbewohnerInnen aus Haselberg und den Nachbargemeinden vom Barnim, zum größten Teil in der traditionellen Landwirtschaft erfahrungsklug geworden; Jürgen Lindhorst, Großunternehmer und Agrarindustrieller aus Niedersachsen, Kapitalist mit paternalistischer Maske, der heute, zur Überraschung der Anwesenden, als Öko auftritt; AfD-Parteikader, die hier eine Bürgerinitiative vor ihren Karren spannen; ein paar Grünen-Parteigänger, die versuchen, auf dieser AfD-Veranstaltung nicht aufzufallen; ein paar Linke, die den dörflichen Widerstand nicht den Rechten überlassen wollen.“
Zu den letzteren gehört die bloggerin. „Den Lindhorst-Unternehmen gehört eine Menge Land in der Region,“ schreibt sie. Der Unternehmer hat Pläne für ein Solarkraftwerk „in Größenordnungen, wie an diesem Abend immer wieder formuliert wird.“ Für das „Bio-Gemüse“, dass er an die Stelle von Mais – ebenfalls „in Größenordnungen“ – anbauen will, „um in das florierende Geschäft der kleineren Ökobetriebe im Berliner Umland hineinzugrätschen,“ braucht er Wasser, „und zwar viel Wasser“. Aber das trockene Land auf dem Barnim gibt das nicht her, deswegen soll es dem Grundwasser entnommen werden. Fünf Probebohrungen wurden bereits durchgeführt. „Aus diesen Bohrlöchern der Lindhorst-Gruppe können jeweils 100.000 Liter pro Stunde hochgepumpt werden.“
Im nahen Harnekop, wo es als Denkmal einen Atombunker für die Hauptführungsstelle des Ministeriums für Nationale Verteidigung gibt, hatte die „Lindhorst-Gruppe“ ein „gigantisches Solarfeld und einen „riesigen Wasserstoffspeicher“ geplant, aber „nach Protesten aus dem Dorf ist das erst mal vom Tisch.“
In Haselberg beginnt nun der Widerstand gegen Kapitalprojekte in Größenordnungen noch mal von vorn: „Ein Loch, das nach dem Probelauf nicht wieder zugeschüttet wird, ist dem Wesen nach ein Brunnen, und für den hat das Lindhorst-Unternehmen keine Genehmigung, beharren die DorfbewohnerInnen. Sie sind nach den letzten beiden Dürre-Sommern besonders wütend, weil sie selbst nicht mal mehr Eimerweise Wasser aus dem See holen durften.“
Der Saal in der Dorfkneipe von Haselberg ist voll besetzt. „In den Ecken stehen Partei-nahe Aufpasser im XXL-Format. Der AfD-Landtagsabgeordnete Lars Günther, der hier ein Heimspiel hat, lehnt lässig an der Wand.“ Jürgen Lindhorst ist auch da; „seine Nähe zur rechtsradikalen Partei ist bekannt. Lindhorst steht heute Abend Rede und Antwort. ‚Mal ehrlich, Leute, wer würde denn ein gebohrtes Loch, wo später ein Brunnen hin soll, erst mal wieder zuschütten? Würdet ihr doch auch nicht tun!,‘“ sagt er – und „gibt sich als entschiedener Gegner von Massentierhaltung, was uns aus der ehemaligen BI gegen Lindhorsts Schweinemastpläne in Reichenow zum Grinsen bringt. Von einem offenen Protest gegen diese Heuchelei sehen wir ab, denn dafür hätte hier niemand Verständnis; die große Mehrheit im Saal hat kein Problem mit Massentierhaltung. Im Gegenteil, die meisten finden, gute Landwirtschaft geht nur im Verbund mit intensiver Tierhaltung.“
Lindhorst aber will nun angeblich das Gegenteil: große Flächen „renaturieren und extensive Tierhaltung“ darauf betreiben, „Auerochsen oder sowas.“ Er meint vielleicht Wasserbüffel, Auerochsen sind ausgestorben, der Versuch ihrer Rückzüchtung durch Kreuzung, von den Nazis „gesponsort“, mißlang, weswegen man ihre Nachkommen „Heck-Rinder“ nennt. Unlängst ließ ein englischer Bauer vier Tiere in der Herde seiner Heck-Rinder töten. BILD titelte „Nazi-Rinder erschossen – zu aggressiv!“ Weltweit gibt es heute noch 2000 – und ein Tauros-Projekt, an dem sich mehrere Universitäten, die Organisation Rewildering Europe und diverse Stiftungen beteiligen. Sie versuchen, „der DNA des Auerochsen durch die Züchtung eng verwandter Rassen nahe zu kommen. Hoffentlich sind sie sich dabei auch der unschönen Eigenschaften ihres Vorläuferprojekts bewusst,“ heißt es auf dem kanadischen Forum „Vice Media“, das „unbequemem Journalismus“ verpflichtet ist.
Imma Harms schreibt: „Die Natur muss wieder viel natürlicher werden, schleimt Lindhorst weiter, das Artensterben, die Insekten, die immer weniger werden!‘ Daraufhin meldet sich ein Dorfbewohner: ‚Wenn Ihnen so viel an den Insekten liegt, warum ist dann Ihre Agrargesellschaft die einzige, die nicht bereit ist, an ihren Feldern Blühstreifen anzulegen?‘“
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Anti-Anthropozentrismus
Dreimal wurde mir eine neue Sichtweise auf die Welt eröffnet. Das war erstens der Marxismus – die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Proletariat und Bourgeoisie etc., was sich mir dann fokussierte auf die aus der Kapitalanalyse entwickelte marxistische Erkenntnistheorie von Alfred Sohn-Rethel – Hand- und Kopfarbeit, der Warentausch als „social act“, den die Beteiligten als „private minds“ negieren. Zweitens der Feminismus – der Gegensatz zwischen den Sichtweisen und Phantasien von Männern und von Frauen als Geschlechterkampf. Und drittens – über meine Beschäftigung mit Tieren und Pflanzen seit 2000, ein Anti-Anthropozentrismus – der sich über die selbstverständlichen Lebensäußerungen aufregt, mit der Menschen die von Tieren und Pflanzen übersehen und übergehen – monotheistisch munitioniert.
Bei den Indigenen Amerikas ist die Idee weit verbreitet, das jede Lebensform sich selbst als menschlich (an)sieht. Mit einem solchen totalen Anthropomorphismus entkommen sie witzigerweise dem Anthropozentrismus, wie der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro und die Philosophin Deborah Danowski schreiben (in: „In welcher Welt leben?“ 2019), weil das, was alle von sich selbst sehen, „ihre ‚Seele‘ ausmacht. Demzufolge sieht ein Jaguar, wenn er einen anderen Jaguar anschaut, einen Menschen; aber wenn er einen Menschen anschaut, sieht er ein Schwein oder einen Affen, da dies das von den amazonischen Indios das am meisten geschätzte Wild ist.“ Die beiden Autoren definieren deren „Animismus“ als „ein ‚anthropomorphes Prinzip‘, das fähig ist, sich jenem ‚anthropozentrischen Prinzip‘ entgegenzustellen, das uns als eine der tiefsten Wurzeln der westlichen Welt erscheint.“
Aktuelles Beispiel: Mehrere wissenschaftliche Studien und sogar die Regierungsrichtlinien des Berliner Senats legen nahe, dass die Natur in der Stadt zum menschlichen Wohlbefinden beiträgt und das es zu wenig ist, weswegen „die grüne und soziale Infrastruktur entwickelt“ werden soll. Nicht um ihretwegen, sondern für uns also soll mehr „Natur“ geschaffen werden, das ist Anthropozentrismus für Doofe. Abgesehen davon, dass in Wirklichkeit genau das Gegenteil geschieht.
Schwieriger ist ein Beispiel, das die feministische Biologiehistorikerin Donna Haraway erwähnt („When Species meet“ 2008), im Hinblick auf einen verborgenen Anthropozentrismus zu deuten: „Gesetzt den Fall eine Wildkatze hinterlässt Junge, die von einem Haushalt bestehend aus überqualifizierten, wissenschaftlich ausgebildeten Kriegsgegnern mittleren Alters aufgenommen werden, oder von einer Tierwohlfahrtsorganisation, die eine Ideologie zum Schutz des Wilden und Tierrechte propagiert: Wird das Tier garantiert glücklich werden?“ Wo doch die Wildheit laut Haraway unsere ganze Hoffnung bleibt.
Es wird gesagt, dass viele Tiere (und auch Pflanzen) vom Land in die Stadt gedrängt werden, es sind quasi Flüchtlinge aus der Wildnis, die bedrohlich zusammenschrumpft. Was aber, wenn sie in die Städte einwandern, weil sie hier vor allem weniger von den Menschen verfolgt werden? Der Tierparkgründer Heinrich Dathe erwähnte einmal, das im Tierpark Vertreter von 123 Vogelarten frei leben – als „Selbstversorger“, und das mit Beginn der Jagdsaison im Umland Berlins noch weit mehr Vögel den Tierpark als Schutzzone bevölkern. Englische Primatenforscherinnen haben herausbekommen, dass die Affen am Amazonas durchaus zu unterscheiden wissen, ob die Menschen, die sich ihren Bäumen nähern, zwei harmlose Biologinnen im Safarilook mit Fernglas oder zwei gefährliche Jäger mit Gewehr und Blasrohr sind.
An der Universität Augsburg gibt es ein Wissenschaftszentrum Umwelt, deren Leiter, der Philosoph Jens Soentgen, 2018 ein Buch über die „Ökologie der Angst“ veröffentlicht hat. Das „Anthropozän“, so sagt er, hat als Innenseite die Angst der Tiere. Alle haben Angst vor den Menschen. „Hunger, Durst und sexuelle Begierde, die ebenfalls zentrale Triebe sind, sind Bedürfnisse, die ein Lebewesen, wenn nötig, eine Zeitlang aufschieben kann. Nicht aber die Angst.“
Man weiß, dass die ersten Weißen, die von Menschen unbewohnte Inseln betraten, von den dortigen Tieren ohne Scheu quasi freundlich empfangen wurden, was die Weißen ihnen allerdings nicht gedankt haben: sie töteten so viele wie sie erwischen konnten. Umgekehrt haben z.B. einige Walarten, die von den Menschen streng verfolgt wurden, heute in Schutzzonen ihre Angst vor ihnen überwunden oder verloren – und kommen sogar an das Schlauchboot der „Whale-Watcher“, um sich anfassen zu lassen. Ähnliches gilt auch für die Gorillas in Ruanda, die fast eine Abmachung haben mit den Nationalpark-Schützern, die regelmäßig Touristengruppen anschleppen, die einen Gorilla berühren und fotografieren möchten. Für diese Führungen bekommen die „Ranger“ Geld, dafür schützen sie die Gorillas vor Wilderern und zerstören deren Fallen.
In der kanadischen Hafenstadt Churchill leben die Leute mit vielen Eisbären, für besonders aufdringliche gibt es dort sogar ein Gefängnis.
Wenn man in Berlin Krähen, Füchse oder Wildschweine füttert und diese dabei ihre Angst verlieren, werden sie erschossen. Das gilt auch, wenn sie „wild“ geblieben sind, aber die Menschen sie für „zu viele“ halten. Die freie Hansestadt Hamburg leistet sich dafür 71 Stadtjäger. Das würde ich auch noch Anthropozentrismus für Doofe nennen.
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„Ober, zahlen!“
Eckhard Henscheid hat in einer kleinen Geschichte erzählt, wie zwei exilierte Zaren, die traurig in einem Wiener Café saßen, plötzlich wieder gute Laune bekamen, als ein Gast „Zahlen!“ rief und sie „Zaren“ verstanden: Also waren sie doch nicht ganz vergessen.
Das „Zählen“ und „Zahlen“ begann mit der Heiligung der Zahlen durch Pythagoras: „Alles ist Zahl“ Wenig später gelang es kaufmännisch gewieften Pythagoräern schon, einige Städte auf Sizilien an sich zu bringen, indem sie deren Bürger „zahlen“ ließen. Sie wurden von ihnen bald davon gejagt, vorher ersetzten sie aber deren lokale Währungen durch eine gemeinsame: der erste Euro, wenn man so will.
Aber was war durch das Zählen von allem, was es wert war, in Zahlen ausgedrückt zu werden, gewonnen? Wie wir wissen, begnügen sich die indigenen kleinen Völker meist mit Zahlen von 1 bis 4, höchstens bis 5. Und selbst das Volk der Pirahas kam nicht viel weiter, obwohl sie sich einige alte weiße Männer herangeholt hatten, die ihnen das Rechnen beibringen sollten, weil die Flusshändler, mit denen sie gelegentlich Nüsse gegen andere Dinge tauschten, sie regelmäßig übervorteilten. Und so führen sie nun weiter „ein Leben ohne Zahl und Zeit,“ wie der „Spiegel“ schreibt. Bei einem benachbarten Amazonasvolk war der Matheunterricht zwar erfolgreich, aber erst als sie Portugiesisch gelernt hatten: In ihrer Sprache kamen sie weiterhin nicht über 5 hinaus.
Wie seltsam muß z.B. die Begegnung des kriegerischen Volkes der Yanomami ausgerechnet mit dem preußische Naturforscher Alexander von Humboldt gewesen sein, der alles vermaß, der zentnerweise Meßgeräte durch die Regenwälder und über die Anden schleppte, d.h. nicht er, sondern die von ihm dafür angeheuerten einheimischen Träger, die er mit Geld entlohnte. Noch jeder Fisch wurde von ihm vermessen: Länge, Gewicht, Art und Anzahl der inneren Organe usw..
Die „Wilden“ der beiden Amerikas waren und sind sich sicher, dass z.B. das Wissen um die Anzahl von Tieren in einer Herde derart von all ihren Lebensäußerungen abstrahiert, dass es die genaue Kenntnis jedes Einzelnen geradezu verhindert. Ein kanadischer Indianer meinte einmal zu einem Ethnologen, der ihn über die Büffeljagd ausfragte: „Unsere Vorfahren haben die Tiere geheiratet, sie haben ihre Lebensweise kennengelernt, und sie haben diese Kenntnisse von Generation zu Generation weitergegeben. Die Weißen schreiben alles in ein Buch, um es nicht zu vergessen.“
Wenn man dem brasilianischen Ethnologen Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro folgt, dann ist im Westen ein „Subjekt“ der herrschenden „naturalistischen Auffassung“ gemäß – „ein ungenügend analysiertes Objekt,“ während in der animistischen Kosmologie der amerikanischen Ureinwohner genau das Gegenteil der Fall ist: „Ein Objekt ist ein unvollständig interpretiertes Subjekt.“
Das indianische Tier ist ebenso Subjekt wie es in der kapitalistischen Massentierhaltung Objekt – eine Nummer – ist, die ihm auch noch schmerzhaft ans Ohr getackert wird. Inzwischen kann es auch ein implantierter Chip sein, dessen Zahlencode am Freßtrog einen Mechanismus auslöst, der für das Tier ein in Zusammensetzung und Menge genau berechnetes „Kraftfutter“ freigibt. Das Zählen ist der erste Schritt zur Verdinglichung der Welt.
Adorno und Horkheimer schreiben in ihrer „Dialektik der Aufklärung“: „Die Abstraktion ist das Werkzeug, mit dem die Logik von der Masse der Dinge geschieden wird. Das Mannigfaltige wird quantitativ unter eine abstrakte Größe gestellt und vereinheitlicht, um es handhabbar zu machen. Das symbolisch Benannte wird formalisiert; in der Formel wird es berechenbar und damit einem Nützlichkeitsaspekt unterzogen, verfügbar und manipulierbar gemacht. Das Schema der Berechenbarkeit wird zum System der Welterklärung. Alles, was sich dem instrumentellen Denken entzieht, wird des Primitivismus verdächtigt. Der moderne Positivismus verbannt es in die Sphäre des Unobjektiven, des Scheins. Aber diese Logik ist eine Logik des Subjekts, die unter dem Zeichen der Herrschaft, der Naturbeherrschung, auf die Dinge wirkt. Diese Herrschaft tritt dem Einzelnen nunmehr als Vernunft gegenüber, die die objektive Weltsicht organisiert.“
Wie wichtig den europäischen Eroberern die Vernichtung des „primitiven Denkens“ war, erhellt ein Bericht aus dem Jahr 1783 des Missionars Martin Dobritzhoffer über sein Wirken unter den Guarani in Paraguay, mit dem sich der Entwicklungshelfer Rainer Willert in seinem Aufsatz „Erzählen statt Zählen“ (in: „Lettre international“ Herbst 2019) beschäftigt. Der Missionar wird von ihm mit den Worten zitiert: „Zahlen sind sowohl im gemeinen Leben von vielfältigem Nutzen, im Beichtstuhle aber um eine vollständige Beichte abzulegen, schlechterdings unentbehrlich…Also wurden die Indianer bei dem öffentlichen katechetischen Unterricht in der Kirche täglich auf spanisch zählen gelehret. An Sonntägen pflegte das Volk mit lauter Stimme von 1 bis 1000 spanisch zu zählen.“
Beim Volk der Abiponer würde man laut Dobritzhoffer die Beute an eingefangenen Wildpferden zwar wissen wollen, aber man fragt nicht wie hier noch jeder Spaziergängen einen Schäfer: „Wieviel Schafe sind das denn?“ sondern eher: „Wie viel Raum nehmen die Pferde ein, die ihr nach Hause gebracht habt?“ Worauf die Antwort lauten könnte: „Sie reichen von diesem Walde an bis zum Ufer des Flusses“. Dieses Maß ist kein Maß, weil es im Anschaulichen bleibt.
„Natürlich ist der Missionar kein Unmensch,“ meint Rainer Willert. Dobritzhoffer ahnt, woraus der Widerstand der „Wilden“ gegen die Zahlen resultiert: „Das Gedächtnis dieser Menschen ist sehr stark, sofern es in Erinnerung sinnlicher Beschauungen besteht.“ Umgekehrt bewirken unsere „Weapons of Math Destruction“ hier Amnesie und Demenz. Trotzdem geht es allen Missionaren stets darum, den „Wilden“ die sinnliche Anschauung, die Sinnlichkeit – vor allem die Sinneslust auszutreiben, sie dergestalt zu zivilisieren.
Die Verfasser der brasilianischen Staatsdoktrin zur Eingeborenenpolitik drücken das ganz unmißverständlich aus: „Unsere Indianer sind Menschen wie wir alle. Aber das Leben in der Wildnis, das sie in den Wäldern führen, setzt sie Elend und Leid aus. Es ist unsere Pflicht, ihnen dabei zu helfen, sich aus ihrer Zwangslage zu befreien. Sie haben ein Recht darauf, sich in den Stand der Würde eines brasilianischen Staatsbürgers zu erheben, um ganz am Fortkommen der einheimischen Gesellschaft teilzunehmen, und um in deren Annehmlichkeiten zu kommen.“
Ein anderer Missionar, aus dem frühen 19. Jahrhundert, August Friedrich Pott, den Willert zitiert, schlägt, sich mit Alexander von Humboldt einig wissend, vor, den Indianern „die Entstehung der Zahlwörter trotz ihrer abstrakten Inhaltslosigkeit“ aus den „concreten Vorstellungen“ begreiflich zu machen. Obwohl wir – die „Nationen von tieferem Sprachsinn“ – natürlich wissen, „dass, um die Reinheit des Zahlenbegriffs zu erhalten, die Erinnerung an einen bestimmten Gegenstand besser entfernt wurde“.
Für den weitgereisten Willert steht dagegen fest: „Kulturen die zählen, vernachlässigen das Erzählen. Das Konzept von der Bedeutung des Singulären zwingt hingegen zum Hinschauen.“ Diese im Kern antiimperialistische Zahlenskepsis, die in den Zeiten einer anthropozänischen Geologisierung der Moral Konjunktur hat, tritt in der selben „Lettre“-Ausgabe noch einmal auf – in einem Text des Kulturtheoretikers Martin Burckhardt: „Bild und Zahl“. Es geht darin um die „abstrakte Logik der Zentralperspektive“. Über diese hatte zuvor der universalgebildete Priester Pawel Florenski nach Durchsetzung des „demokratischen Zentralismus“ und des großen Elektrifizierungsprogramms der Bolschewiki für die Sowjetunion geurteilt: „Die Zentralperspektive ist eine Maschine zur Vernichtung der Wirklichkeit.“ Florenski hielt die Ikonenmalerei für wirklichkeitsgerechter. Martin Burckhardt bemerkt, dass sich bereits in der Rede von Subjekt und Objekt der zentralperspektivische Projektionszusammenhang reproduziert. Und diesen sieht er schon in der Geldpolitik der italienischen Renaissanceherrscher am Werk. In der „Republik Florenz“ erfanden die Bürger nicht nur die Staatsanleihe sondern auch die Kopfsteuer, wodurch sich ihre Stadt in eine „zentralperspektivische Gesellschaftsmaschine“ verwandelte. Ironischerweise kommen wir dieser nun – nahezu bargeldlos wirtschaftend und mit Zugriff des Staates auf jedes Kopfkonto – noch näher. Burckhardt zufolge hat man es dabei nicht mit einer „Renaissance des autonomen Ichs“ zu tun, sondern mit den „letzten Zuckungen des Repräsentationsgedankens“.
Autonom ist der Amazonas-Indianer nur im Wald, weiß der vom brasilianischen „Zeit“-Korrespondenten Thomas Fischermann interviewte Indianerkrieger Madarejuwa aus dem Volk der Tenharim, deren „Tage gezählt sind,“ wie die Deutsche Welle berichtete. Aber andererseits kann Madarejuwa Elektrizität und Walkman etc. durchaus etwas abgewinnen. An dem Buch, das aus den Gesprächen und Wanderungen der beiden entstand, ist nur der Titel zu kritisieren: „Der letzte Herr des Waldes“ (2018), denn die Tenharim u.a. Amazonasvölker wollen ja gerade nicht den Wald beherrschen, besitzen, sondern nur ein Teil davon sein.
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taz: Célia Xakriabá, Sie sind mit 13 Jahren Aktivistin geworden. Was war der Auslöser?
Célia Xakriabá: Ich habe von früh an erlebt, wie mein Vater sich für unser Land engagiert hat. Das Jahr 1996, als ich in die Schule kam, war gleichzeitig der Zeitpunkt, zu dem in meiner Region zum ersten Mal indigene Lehrer an der Schule angestellt wurden. So habe ich zum Beispiel gelernt, dass es nicht Pedro Álvares Cabral war, der Brasilien entdeckt hat, sondern dass seine Ankunft in dieser Region der Beginn des portugiesischen Landraubs war. Schon früh habe ich mir die Frage gestellt, warum so etwas in Brasilien sonst nicht thematisiert wird, warum sich die brasilianische Gesellschaft keine Gedanken über die Lage der indigenen Völker macht. So war meine erste Schule der indigene Kampf, das Bewusstsein, dass Kolonialismus im Kopf beginnt, Heilung durch die Verbindung zur Erde.
Wissen Sie noch, worüber Sie mit 13 gesprochen haben?
Ich habe ein sehr gutes mündliches Gedächtnis. Die orale Tradition ist für die indigene Kultur sehr wichtig. Damals gab es eine gerichtliche Entscheidung über die Anerkennung indigener Gebiete der Xakriabá. Ein Argument dafür war, dass auf dem Gebiet eine Anbaukultur bestand. Was mir außerdem bewusst wurde, ist der Anlass, warum die Demarkierungen unserer Gebiete vorgenommen wurden. Das geschah jeweils nur als Zugeständnis, als Reaktion auf die Ermordung eines indigenen Oberhaupts. So ist der Grund der Anerkennung unseres Territoriums, dass 1987, kurz vor meiner Geburt, ein Xakriabá-Oberhaupt ermordet wurde.
Welche Rolle spielt es, dass Sie die erste indigene Akademikerin, die im Bundesstaat Minas Gerais promoviert hat, sind?
Viele fragen mich: Fühlst du dich wichtig? Genauso wie Sônia Guajajara gefragt wird, ob sie sich wichtig fühlt, weil sie die erste indigene Vizepräsidentschaftskandidatin war. Aber die Frage ist doch vielmehr: Warum müssen wir die Ersten sein? Oder auch: Werden wir vielleicht nicht nur die Ersten, sondern auch die Letzten sein?
Auf Wikipedia steht, dass die Sprache Ihres Volkes, eine Acua-Sprache, ausgestorben sei. Stimmt das?
Ich selbst lehre meine Sprache … Sehen Sie, auf der Straße fragen mich Menschen manchmal: Ah, woher kommst denn du? Bolivien, Kolumbien oder so was? So als seien die Indigenen Brasiliens bereits ausgestorben. So ähnlich ist es wohl auch mit Wikipedia. Dort wird gesagt, unsere Sprache sei tot, aber sie ist es nicht. Es ist nicht nur Bolsonaro, der uns umbringt. Es gibt zwei Strategien, um uns kulturell auszulöschen. Die eine lautet: Indigene behindern den wirtschaftlichen Fortschritt. Die andere: Du nutzt Uhr, Handy, Jeans, du bist keine Indigene mehr.
Wie gehen Sie mit der immer noch eurozentrisch ausgerichteten universitären Ausbildung um?
Man hört immer wieder, dass es wichtig ist, dass man zur Schule geht. Aber man vergisst, dass dieser Prozess der Anhäufung von Diplomen die Nahrungsautonomie der Indigenen unterbindet. Es reicht nicht, Diplome zu haben, man muss auch wissen, wie man das Land bebaut und sich autark ernährt. Menschen, die bei uns die Schule beenden, gehen später in die Städte, um zum Beispiel Agrarwirtschaft zu studieren. In den Kursen werden dann bestimmte mathematische Anwendungen verlangt. Aber das können meine Mitschüler_innen nicht immer. Sie haben eine andere Mathematik gelernt, eine, die abgeleitet ist von unseren geometrischen Bemalungen. Das aber akzeptieren die Weißen nicht. Sie halten unsere Schulen für schwach. Dabei lernen wir andere Dinge.
Haben Sie ein weiteres Beispiel?
Es geht bei uns um eine Heilungsepistemologie. Du lernst, was du lebst, und umgekehrt. In der weißen Schule lernst du nicht, mit dem Wasser zu sprechen. Woher zum Beispiel kommt der Kampf um den Schutz der indigenen Gebiete? Er kommt aus unserem Konzept von Land als eine Gebärmutter, aus der Leben ersteht. Das Land ist unsere Mutter. Wer ein Territorium hat, kämpft daher um seine Mutter. Wer keines hat, weiß nicht, wovon ich spreche. Jair Bolsonaro versucht nun, uns alles, was uns ausmacht, zu nehmen. Das Land, die indigenen Ausbildungen, das Kontingent der Plätze an den Universitäten. Darum ist es jetzt wichtig, sichtbar zu sein. Nicht nur, um Plätze zu besetzen, sondern, um eine bestimmte Art von Wissensproduktion in Frage zu stellen. Das Gute ist: Das Wissen, das wir in uns tragen, kann uns niemand wegnehmen.
Sie haben die Mathematik der geometrischen Formen genannt. Zum Interview tragen Sie Gesichtsbemalung und Kopfschmuck. Darf ich fragen, ob Sie diese Kleidung vor allem zu repräsentativen Zwecken anlegen oder auch im Alltag?
Sicher, es ist auch ein politisches Zeichen, so aufzutreten, ein Zeichen der Sichtbarkeit. Aber es ist nicht nur repräsentativ. Wenn ich mich so kleide, heißt das, dass ich mit Herz, Seele und Geist anwesend bin. Man bemalt sich nicht für die anderen, sondern für sich selbst. So trage ich meine Kultur mit mir, sie bietet mir eine Orientierung. Auch wenn ich meine Dissertation schreibe, trage ich zum Beispiel den Kopfschmuck. Er hilft mir, eine Verbindung herzustellen.
Dürfte jede_r Xakriabá so einen Kopfschmuck tragen oder ist dies besonderen Menschen vorbehalten?
Der Kopfschmuck und die Bemalung entsprechen einer bestimmten Person und spiegeln die Rolle, die sie in einer Gemeinschaft spielt. Ich habe meinen Kopfschmuck nicht selber gemacht und auch nicht gekauft, sondern von anderen Personen übertragen bekommen.
Mit Sônia Guajajara zusammen haben Sie im August einen Marsch der indigenen Frauen organisiert. Wie hängt Ihr brasilianischer Aktivismus mit der Mission Ihrer Europareise zusammen, auf der Sie vor den Gefahren der Politik Bolsonaros, aber auch der europäischen Wirtschaftspolitik, insbesondere dem Mercosur-Abkommen, warnen?
Da wir immer wieder nach Europa eingeladen werden, um über die Problematik der brasilianischen Politik zu sprechen, hat Sônia irgendwann gesagt: Wir können das nicht alleine tun. Wir brauchen mehr Vertreter_innen von indigenen Gemeinschaften aus allen Regionen Brasiliens, sodass wir unsere Anliegen vielstimmiger vortragen können. Daher haben wir diese Reise organisiert.
Es gibt noch unkontaktierte Völker im . Sprechen Sie auch für jene, und wenn ja, wie? Wer kann für wen sprechen?
Wie kann man für andere sprechen? Ja, wir sehen uns in der Pflicht, für Völker zu sprechen, die noch in freiwilliger Isolation leben. Aber wir möchten keinen Kontakt erzwingen, im Gegenteil: Wir möchten gewährleisten, dass der Regenwald erhalten bleibt und sie weiter in Isolation leben können.
Mit welchen konkreten Forderungen treten Sie an Ihre europäischen Gesprächspartner_innen heran?
Die Länder, die wir in Europa besuchen, müssen über ihre eigene Gesetzgebung nachdenken. Zum Beispiel möchten wir verständlich machen, wie wichtig es ist, in der Nahrungsmittelproduktion autark zu sein. Abgesehen von den ökologischen Folgen einer Importindustrie kann niemand einen globalen Nahrungsmittelmarkt und die Vor-Ort-Bedingungen wirklich kontrollieren. Auch durch Soja-Anbau werden zum Beispiel viele Menschenleben zerstört. Daher muss das eigene Konsumverhalten überprüft werden. Der Fleischkonsum muss reduziert werden. Das hat am Ende eine Konsequenz.
Haben Sie Hoffnungen, ein Umdenken zu erreichen?
Große Hoffnungen. Denn das neue europäische Bewusstsein für Klimapolitik kommt unserem Anliegen sehr entgegen. Klimaschutz ist nicht nur eine Alternative sondern die Lösung, damit wir Menschen friedlich miteinander leben können.
Der taz-Text ist von Astrid Kaminski, die Übersetzung aus dem Portugiesischen von Martha Hincapié Charry und Eliane Fernandes Ferreira
Célia Xakriabá trägt den Namen ihrer Volksgruppe, der zwischen den Metropolregionen im Südosten Brasiliens beheimateten Xakriabá. Die 29-Jährige promoviert in Anthropologie und setzt sich in Brasilien, wo die fünfthöchste Femizid-Rate der Welt verzeichnet wird, für die Sichtbarkeit indigener Frauen in Politik und Bildungswesen ein. Ihre Lieblingsfarbe ist, wie sie auf dem Weg zum verrät, Gelb. Daher freut sie sich über die Berliner Straßenbahnen. In Berlin ist Célia Xakriabá im Rahmen der Aufklärungskampagne „Indigenes Blut: Nicht einen Tropfen mehr“, auf der acht Indigene in Leitungspositionen (Oberhäupter) zwölf europäische Länder bereisen, um über die von dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro ausgehende Gefahr aufzuklären sowie Forderungen an die europäische Agrarindustrie zu stellen. Das fand in der Berliner WWF-Zentrale statt.
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Erste Gesamtdeutsche Schafdemo
Am 15. September demonstrierten in Berlin das erste Mal Schafe. Die Demoroute verlief von der Wiese neben dem Haus der Kulturen der Welt im Tiergarten zum Hansaplatz in Moabit. Dort stand auch ein Stall, aber die Wiese drumherum hatte irgendein Mistkerl kurz zuvor chemisch gedüngt, so dass die Demoteilnehmer, um sich nicht zu vergiften, auf einen breiten Fußweg vor dem U-Bahneingang auswichen. Es handelte sich um 200 „Schwarzköppe“, sie wurden flankiert von einem Dutzend Schäfer, ebensovielen Helfern, die die Schafköttel auf der Straße beseitigten, ferner etwa 100 Polizisten, die fleißig photographierten – jedoch privat, sowie von etwa 500 Schaulustigen, davon waren rund 50 beruflich dabei, als Journalisten mit und ohne Kamera, und vom Rest bestand die Hälfte aus Kunstbeflissenen mit und ohne Hunde, Fahrräder, Kinder. Und nicht zu vergessen, der Besitzer der Schafherde mit zwei Hütehunden: der Schäfermeister Knut Kucznik aus Atlandsberg, der voran ging.
In Kreuzberg-Neukölln hat es so eine große Demo schon seit Jahren nicht mehr gegeben. Es handelte sich dabei aber auch um eine Kunstaktion – zur Aufwertung des Hansaplatzes und damit auch des Hansaviertels – einem in den Fünfzigerjahren entstandenen Westberliner Konkurrenzprojekt zur Stalin-Allee. Dieses hochpreisige Viertel mit der Akademie der Künste im Zentrum war immer ein Wohngebiet für gutbetuchte Kulturschaffende und Wissenschaftler mit Beziehungen zu diversen Senatsstellen, so dass man sich wundern darf, wieso dieser Hotspot korrupter Wohnungs-Kungeleien plötzlich aufgewertet werden muß. Aber die Bewohner sind alt geworden und jeder Obdachlose am U-Bahneingang bringt sie außer Fassung, außerdem haben sie ihr Wohnumfeld gerne sauber und ordentlich – und sicher noch Beziehungen zu den staatlichen Verwaltern diverser Fördertöpfe, aus denen diese Kunstaktion mit rund einem Dutzend Künstlern dann finanziert wurde. Die für die Schafdemo verantwortliche Folke Köbberling wohnt auch im Hansaviertel und sie beschäftigt sich schon länger künstlerisch mit Schafwolle. Es wurden ein paar Transparente mitgeführt, auf denen mehr Schafe und mehr Schaftugenden gefordert wurden und es gab eine Abschlußkundgebung der angereisten Schäfer. Sie fordern mehr Weideflächen, auch im Stadtraum, nicht zuletzt, weil das weitaus ökologischer sei als die bisherige Rasenpflege – mit chemischem Dünger und mechanischen Mähern.
Als die Herde auf der Sichtschneise vorm Bundespräsidialschloß eine Freßpause einlegte, fragte ich eines der mir nächststehenden grasenden Schafe, die übrigens alle schon ein bißchen schwanger aussahen, was sie und ihre Mitschafe von dieser Veranstaltung halten. Kucznik sei ein Wanderschäfer, bekam ich zur Antwort, und sie seien es gewohnt, transportiert zu werden.
Ob sie Kuczniks zwei Hunde auch gewohnt seien, fragte ich weiter. Nein, daran gewöhne man sich nie, das seien schon scharfe Biester, die gerne in die Beine beißen. Sie hätten lieber Hunde, wie einige Herden in der Nachbarschaft, die sie beschützen würden statt solche, die ihnen das Leben schwer machen.
Tatsächlich sah ich im weiteren Verlauf der Demo, wie gerne die beiden autoritären Aasfresser zuschnappten, wenn ein Schaf ihnen nur nahe kam – statt besonnen zur Entspannung in der Herde beizutragen. Weiter fragte ich das Schaf, warum kein einziges geblökt habe während der Demo, das gehöre eigentlich zu jeder Demo dazu, sei geradezu Pflicht. Meine Gesprächspartnerin gab zu, dass sie schon ein bißchen eingeschüchtert seien von den vielen Menschen, die sie die ganze Zeit umzingeln. Normalerweise sei es an ihren Weideorten immer umgekehrt: Viel mehr Schafe als Menschen. Im übrigen werde man schon noch blöken, aber nicht alle zusammen, sondern nur einige – und zwar am Kundgebungsort, wo man auf Kraftfutter und Wasser hoffe, quasi als Belohnung, weil die gesamte Herde so diszipliniert mitspiele.
Dort gab es dann zwar nur Wasser, aber das Schaf behielt Recht: Nur zwei oder drei blökten – und als die ersten Reden über Lautsprecher gehalten wurden, schwiegen auch sie. Ich bedankte mich beim Schaf und ging nach Hause, zuvor streichelte ich ihm noch über den Kopf, wozu es jedoch etwas unwillig den Kopf schüttelte. Ich entschuldigte mich und sagte, dass ich das immer so machen würde – nach einem guten Interview.
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Die Ostdeutschen an sich und für sich
Der Soziologe und Rektor der Berliner Schauspielhochschule „Ernst Busch“, Wolfgang Engler, hat seit der Wende immer wieder Bücher über die Arbeit und die Ostdeutschen veröffentlicht. Ähnliches gilt für die in Berlin lebende Schriftstellerin Jana Hensel. Jetzt haben die beiden Dialoge über ihre „Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ geführt, die als Buch unter dem Titel „Wer wir sind“ erschienen.
Wenn man von den „Befindlichkeiten“ der Ostdeutschen redet, dann ist selten von dem die Rede, was ihnen in den 29 Jahren nach der Wende alles widerfuhr, im Gegenteil: „Die Probleme“, die laut Engler „nach einer gemeinsamen Bestandsaufnahme und Analyse riefen, mutierten unter westdeutscher Diskurshegemonie zu immer neuen Indizien für die Rückständigkeit des Ostens.“ Dabei findet „der überdurchschnittliche Erfolg der AfD in den ‚neuen Ländern‘ seine so gut wie vollständige Erklärung in den Erfahrungen, die die Ostdeutschen nach 1990 sammelten und eben nicht im Rekurs auf ihren vermeintlich obrigkeitsstaatlichen, führerorientierten DDR-Habitus.“
„Wir wurden als Täter und Opfer eingeteilt,“ so sagte es einer während einer Diskussion in Dresden, wo es nun eine „neue Offenheit“ gäbe – dank Pegida. Die FAZ spricht gar von einer „Debattenstadt“, wo zuvor noch das Gefühl herrschte, in der eigenen Stadt nichts zu sagen zu haben, was einen „kollektiven Kränkungszustand“ hervorgerufen habe. Für Wolfgang Engler stand dahinter ein millionenfach vollzogener „Rollenwechsel vom Staatsbürger zum Klienten des Transferstaats“. Hensel liefert dazu Zahlen aus dem Grundstücksmarktbericht 2016: „In Leipzig besitzen nur 10 Prozent der Einwohner eine Immobilie. 60 Prozent aller Neubauten und 94 Prozent der sanierten Altbauten wurden an Menschen verkauft, die nicht aus Leipzig kamen.“ Engler erwähnt Potsdam, wo sich „eine Handvoll westdeutscher Oligarchen der Stadt und ihrer Geschichte bemächtigt hat.“
Wenn man diese Befunde ernst nimmt, so Hensel weiter, „dann muß man leider konstatieren, dass wir es bei Pegida und der AfD auch mit einer Emanzipationsbewegung zu tun haben.“ Deren Parolen allerdings um Nationalismus und Rassismus kreisen.
Vorher gab es das Volkseigentum, Enteignung und Verstaatlichung: die Marktwirtschaft wurde durch die Planwirtschaft ersetzt und die Konkurrenz durch „sozialistischen Wettbewerb“. „Hinfort waren weder Betriebe, die Verluste einfuhren, mit Schließung bedroht, noch mussten Arbeiter und Angestellte um ihre Stellung bangen. In ihrer Gesamtheit waren sie die neuen Herren, kollektive Eigentümer,“ so Wolfgang Engler.
In der ostdeutschen Betriebsräteinitiative, die sich nach der Wende gegen die Abwicklung der Betriebe gründete, entstand die Einschätzung: Die DDR war nicht an zu viel Unfreiheit zugrunde gegangen, sondern an zu viel Freiheit – im Produktionsbereich nämlich. Ersteres bezog sich auf die Partei, letzteres auf die aus Westsicht zu geringe Akkordhetze (in unserem LPG-Bereich z.B. arbeiteten zehn Leute, wir hätten die Aufgaben auch mit der Hälfte erledigen können). Die Treuhandpräsidentin Birgit Breuel nannte diese Brigadegemütlichkeit in den Betrieben des Arbeiter- und Bauernstaates eine „versteckte Arbeitslosigkeit“. Für Engler förderte das „herrenloses Eigentum“ dagegen etwas Neues zu Tage: Geschlechter-, Standes- und Klassengrenzen wurden abgeschliffen, jeder und jedem wurde aufgrund der unantastbaren Stelle ein eigenes Leben ermöglicht und das „Gefühlsleben aus seiner Einbettung in Nützlichkeitserwägungen“ gelöst. Mit dem „Supergau Deutsche Einheit“, wie der Journalist Uwe Müller es nannte, galt all das aber plötzlich nicht mehr, stattdessen wurde ein „prekäres Leben Realität“, dem nun laut Jana Hensel eine „Rebellion von rechts“ folgt.
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Einsiedlerkrebse
Im Bericht der CIA-Agentin Amaryllis Fox, die in Pakistan die Übergabe von Atombomben in Kofferformat an Al-Quaida verhindern wollte, heißt es über ihre Familie, wenn die sich am Küchentisch versammelte: „Unsere Einsiedlerkrebse Freddie und Laura versteckten sich in ihrem Terrarium auf der Anrichte.“ Die Krebse schützen ihren ungepanzerten Hinterleib mit einem leeren Schneckenhaus, auf das sie gerne eine Seeanemone pflanzen. Sie verteidigt den Krebs mit ihren giftigen Tentakeln und er ernährt sie mit, indem er den Meeresboden nach Aas aufwirbelt. Ihre Beziehung bezeichnet „lernhelfer. de“ als „das wahrscheinlich beste Beispiel für Symbiose“. Wenn der Krebs sich eine neue Behausung gesucht hat, weil die alte zu eng geworden ist, berührt er vorsichtig die Seeanemone, sie löst sich daraufhin vom Schneckenhaus und er trägt sie auf seinen Scheren zum neuen. Eine seiner Scheren ist größer als die andere, mit ihr kann er bei Gefahr die Öffnung des Schneckenhauses verschließen.
Der norwegische Forschungsreisende Thor Heyerdahl berichtet in seinem Buch „Fatu Hiva“ (1974), es handelt vom „Lebensexperiment“ seiner Frau und ihm auf einer Südseeinsel, dass sie einmal am Strand aufwachten, weil tausende von Einsiedlerkrebse, z.T. so klein wie Reiskörner, die größten aber so groß wie eine Kinderfaust, über sie hinwegkrabbelten.
Heyerdahl fragte sich, wie das „kleinste Geschöpf“ bereits weiß, dass es sich schnell ein leeres Schneckenhaus „von geeigneter Größe“ suchen muß? Dazu bemühte er, als Sohn einer darwinistisch gesonnenen Mutter, „den leeren Begriff ‚Instinkt‘“ (wie seine Frau Liv diese „wissenschaftliche Tarnung von Unwissen“ nannte).
Die Suche nach einem neuen Schneckenhaus, bevor das alte bei der nächsten Häutung zu eng wird, macht einen Großteil des Einsiedlerkrebs-Lebens aus, und dass dabei einem ein passendes Haus gestohlen wird, ist nicht selten. Am meisten Glück haben die Krebse, wenn sie ein Schneckenhaus, überzogen mit Stachelpolypen, finden: „Deren Kolonien können den Gehäuseeingang des Schneckenhauses erweitern, so dass der Krebs nicht umziehen muss,“ erklärt dazu „beachexplorer.org“.
Heyerdahl fragt sich, ob die Einsiedlerkrebse sich etwas dabei denken? Dazu fällt dem Zoologen und Ethnologen die Dromia-Krabbe ein: „Sie weiß, dass sie sich auf die Suche nach einem bestimmten Schwamm begeben muß, den sie sammelt und auf ihrem Rückenpanzer anbringt.“ Dieser Schwamm wird gut versorgt und schnell größer als die Krabbe selbst, so dass sie darunter bald „vollkommen getarnt“ ist. Eine andere Krabbenart macht das selbe mit „jungen Tangpflanzen“.
Die Einsiedlerkrebse, die das Forscherehepaaram Strand von Fatu Hiva überfielen, hatten keine Seeanemonen oder ähnlich Korallenartiges auf ihren Schneckenhäusern. „Was sie veranlaßt haben mochte, uns die Nachtruhe zu rauben, war schwer zu sagen. Wie Menschen waren einige von ihnen vermutlich auf der Suche nach Nahrung, nach einem Partner für die Liebe oder nach einer Wohnung.“
Die Heyerdahls hattentagsüber ein altes Heiligtum durchstöbert, das Tabu war. Eine solche Übertretung wird mit Unglück bestraft, versicherten die Einheimischen ihnen. Dass dazu auch der Überfall der Einsiedlerkrebse gehörte, zog der rational denkende Forscherjedochnicht in Betracht.
Ihre Suche nach leeren Schneckenhäusern hält er für einen „genialen Gedanken des Körperschutzes“. Das könnte man auch über ihre Symbiose mit Seeanemonen sagen. Aber den Einsiedlerkrebsen dafür gleich „geniale Gedanken“ zu attestieren, und diese dann noch mit dem „leeren Wort ‚Instinkt‘“ ineins zu setzen, zeugt von einem Schwanken zwischen seiner langweiligen naturwissenschaftlichen Ausbildung in Oslo und dem neuen „Wilden Denken“ der Polynesier auf Fatu Hiva, wo sich das Forscherehepaar 1937 niederließ. Der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro sieht ihren Zwiespalt heute so: Im Westen ist ein „Subjekt“ der herrschenden „naturalistischen Auffassung“ gemäß – „ein ungenügend analysiertes Objekt,“ während in der animistischen Kosmologie der amerikanischen Ureinwohner genau das Gegenteil der Fall ist: „Ein Objekt ist ein unvollständig interpretiertes Subjekt.“
1947 ging Heyerdahl von der „experimentellen Ethnologie“ zur „experimentellen Archäologie“ über und unternahm eine Expedition mit einem Balsaholzfloß, benannt nach dem Inkagott „Kon-Tiki“: Von Peru aus 7000 Kilometer durch den Stillen Ozean bis zum Tuamotu-Archipel – um zu beweisen, dass die Polynesier einst nicht, wie die Sprachforscher annehmen, die Südseeinseln von Asien aus über Mikronesien und Melanesien besiedelt hatten, sondern von der anderen Seite – von Peru aus: dem Humboldt-Strom folgend unddem Passatwind voran.HeyerdahlsErklärung derSiedlungsgeschichte der Polynesierist nicht widerlegt, so dass wir sieeinstweilen noch getrost zu den „amerikanischen Ureinwohnern“ zählen können. Aber es geht hier um Einsiedlerkrebse, zuletzt um die, die Thor und Liv Heyerdahl auf Fatu Hiva überfielen:Am nächsten Morgen sahen sie, dass eigentlich etwas ganz anderes passiert war: Sie waren nicht die Opfer der Krebse, sondern eher Täter – indem sie sich im Dunkeln mitten in eine „übervölkerte Strandgemeinde“ zum Schlafen gelegt hatten.
Was bewegt die Einsiedlerkrebsforschung heute? Britische Wissenschaftler fanden heraus, wie sie in den „Proceedings“ der britischen Royal Society schreiben: „Einsiedlerkrebse haben Charakter“ – es gibt unterschiedliche Persönlichkeiten unter ihnen. „Die Forscher hatten laut dem „Spiegel“ an drei Stränden Einsiedlerkrebse einem Verhaltenstest unterzogen: „Sie hoben die Tiere kurz aus dem Wasser und imitierten so den Angriff eines Fressfeindes. Dann legten sie die Krebse zurück auf den Sand und maßen die Zeit, bis diese sich wieder aus ihrem schützenden Schneckenhaus wagten. Anschließend brachten die Forscher die Krebse ins Labor, wo sie sie nach einigen Tagen erneut dem Test unterzogen. Die Auswertung machte deutlich, dass bestimmte Krebse bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zeigten: Einige waren eher mutig. Sie brauchten weniger Zeit, um sich nach einer Schrecksituation wieder aus ihrem Versteck zu wagen als andere, eher schüchterne Vertreter ihrer Art.“
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Neuroethologiehaben unterdes herausgefunden: „Das Riechvermögen der Krebse befindet sich in einem frühen Übergangsstadium zwischen dem Leben im Wasser und auf dem Land.“ Bei feuchter Luft verbessert es sich.
In evolutionärer Hinsicht scheint es ein Hin und Her zu geben: Otter und Pinguine gehen ins Wasser (zurück) und Krabben gehen an Land. Es gibt sogar schon eine Krabbe, die auf Bäumen lebt und sich von Kokosnüssen ernährt – den „Palmendieb“. Die Seerechtsforscherin Elisabeth Mann Borgese mutmaßte umgekehrt, dass unser „landgestütztes Dasein“ vielleicht nur eine „Episode von kurzer Dauer“ sein wird. Was jetzt angesichts der Klimaerwärmung etwas zynisch klingt.
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Wollhandkrabben
Gemeint ist die „chinesische Wollhandkrabbe“ (Eriocheir sinensis), sie wird etwa handtellergroß, ihr runder Panzer ist oben braun, die Unterseite heller bis weiß, die Scheren haben einen dichten Haarpelz, daher der Name Wollhand. Ihre kleinen Augen können rot aufglühen, wenn es darauf ankommt, las ich in einem Kinderbuch. Hierzulande zählt sie zu den invasiven Arten, so wie auch das chinesische Kapital auf dem Berliner Immobilienmarkt. Beide werden scheel angesehen, aber die chinesische Wollhandkrabbe hat sich schon lange vor dem Post-Maoismus in Europa ausgebreitet.
In China war noch Bürgerkrieg, da wurden 1935 in der Elbe schon 500 Tonnen chinesische Krabben gefangen. Auf Befehl der Naziregierung, die den Kampf gegen invasive Arten aus rassistischen Gründen quasi „erfand“, sammelten 1936 die Menschen in Norddeutschland über 20 Millionen Krabben ein. Geholfen hat es wenig, erst die Gewässerverschmutzung nach dem Krieg führte fast zu ihrer Auslöschung. Mit der Deindustrialisierung und den diversen Umweltschutzmaßnahmen erholte sich die Population jedoch wieder. Im Gegensatz zum chinesischen Kapital werden sie hier nun auch wieder bekämpft. Aber nicht überall: In Havel, Spree, Elbe und in den märkischen Seen haben die Fischer zu DDR-Zeiten immer über die vielen Wollhandkrabben in ihren Netzen geklagt, die sie wegwarfen, aber seit der Wende verdienen sie damit nun gelegentlichmehr als mit ihren Fischen, weil die vietnamesischen Asiamärkte sie ihnen gerne abnehmen – für etwa 5 bis 8 Euro das Kilo. Im Berliner „Dong-Xuan-Center“, dem zweitgrößten Asiamarkt Europas, werden sie lebend verkauft.
In den Berliner Gewässern hat sich derweil noch eine andere „invasive Art“ ausgebreitet: der rote amerikanische Sumpfkrebs. In den vergangenen Monaten fing ein Fischer allein in den Teichen zweier städtischer Parkanlagen 38.000 Exemplare. Er darf die Krebse verkaufen. Sie sind begehrt. Die alteingesessenen chinesischen Wollhandkrabben ernähren sich zum Teil von den neuen amerikanischen Sumpfkrebsen.
Ob die chinesischen Wollhandkrabben sich in den asiatischen Plastikwannen der vietnamesischen Händler heimischer fühlen als in den brandenburgischen Gewässern, darf man bezweifeln, denn sie haben, anders als die Sumpfkrebse, eine komplizierte Vermehrungsstrategie: Zwar leben sie im Süßwasser, auf dem Grund von Flüssen, wo sie sich vorwiegend von Pflanzen, Muscheln und Aas ernähren und in die Ufer graben, aber im Frühsommer wandern sie mit der Strömung in Richtung Meer. Im Brackwasser der Flußmündungen warten bereits die zuvor angekommenen Männchen auf die Weibchen, um sich mit ihnen zu verpaaren. Diese suchen danach noch salzhaltigeres Wasser auf, wo sie ablaichen (so halten es im nebenbeibemerkt auch „unsere“ etwas kleineren Strandkrabben, die in der übrigen Welt als invasive Art gelten). Die etwa 500.000 Eier, die sich die weiblichen Wollhandkrabben zwischen ihre Hinterbeine kleben, brauchen vier Monate zur Entwicklung.
„Anschließend laufen die Weibchen zurück in die Brackwasserzone der Flussmündung und geben die schlupfreifen Eier ins Wasser ab. Danach sterben die Muttertiere; sie pflanzen sich also nur einmal fort. Auch die Männchen kehren nicht mehr zurück,“ heißt es auf Wikipedia. Wenn man sie zölibatär hält, leben beide etwas länger. Ihre Larvenmüssen sich fünf Mal häuten, bis sie wie kleine Wollhandkrabben aussehen, im Süßwasser können sie erst als ausgewachsene Tiere leben. Dazu versammeln sie sich im Brackwasser und wandern dann kollektiv die Flüsse hoch – und immer höher.
Wenn die z.B. vor der Elbemündung groß gewordenen Wollhandkrabben nach etwa 600 Kilometern flußaufwärts bei Barby in die dort einmündende Saale krabbeln, sind sie drei Jahre alt. Für 200 Kilometer brauchen sie mithin rund ein Jahr. Hindernisse, wie z.B. Stauwehre, umgehen sie auf dem Land. Sie wandern auch über Land zu Teichen, Gräben und Seen, wo sie sich für einige Zeit ansiedeln –und dabei die „Ufer und Deiche unterhöhlen,“ um Schutz zu suchen, solange sie ihren Panzer wechseln und der neue noch nicht wieder hart geworden ist. Dabei werden auch fehlende Gliedmaßen und Scheren ersetzt. Wegen ihrer Paarung und Aufzucht in Salzwasser (die Ostsee ist ihnen bereits zu salzarm) sind ihrem Vorwärtsdrang im Süßwasser flußaufwärtsGrenzen gesetzt, einige schaffen es immerhin bis in die Moldau nach Prag. Mit Beginn der Geschlechtsreife, nach zwei bis drei Jahren, drehen sie wieder um und beginnen ihre sogenannte „Reproduktionswanderung“ zum Meer zurück.
So geht es bei den Wollhandkrabben-Generationen hin und her, wobei ihnen die erheblich verbesserte Wasserqualität in den Flüssen von Nutzen ist, weil sie u.a. zur Vermehrung der Flußmuscheln beigetragen hat, von denen die Wollhandkrabben zum Teil leben. Den Anglern fressen sie auch gerne ihre Köder vom Haken ab oder sie plündern die Aalreusen der Fischer, die sie dabei zerstören. Andersherum fressen Aale aber auch gerne Wollhandkrabben und Angler nutzen das Krabbenfleisch als Köder. Ebenso mögen Möven und Tauchvögel Wollhandkrabben. Die kleinste aller Lummen nennt man sogar „Krabbentaucher“, im Norden heißt er Eisvogel: „Er ist der beweglichste, munterste und gewandteste unter den Flügeltauchern,“ schrieb Alfred Brehm. Ähnlich äußerte sich der isländische Autor Gudmundur Andri Thorsson in seinem Roman „In den Wind geflüstert“ (2018) über den Krabbentaucher.
Weniger elegant dezimiert man die Wollhandkrabben in Norddeutschland: Wenn sie dort aus den Gräben und Tümpeln kommen, um in die Flüsse zu gelangen, werden sie zu Tausenden auf den Straßen plattgefahren. Und an der Elbe-Staustufe bei Geesthacht werden sie mit automatischen Fanganlagen zu Millionen eingesammelt (bis zu 125 Tonnen pro Jahr) und zu Viehfutter, Dünger oder Substrat für Biogasanlagen verarbeitet.
Im Stedinger Land gibt es jedoch inzwischen einige Fischer, die sie fangen und nach Asien exportieren, wo ihre Bestände rückläufig sind, weil die Flüsse immer mehr industriell verdreckt werden. Die Wollhandkrabben sind dort jedoch derart beliebt – eine Delikatesse, dass man sie (die in China „Shanghai-Krabben“ genannt werden) in Aquakulturen züchtet: „Der Handelswert einer einzelnen Krabbe kann 40 Euro erreichen,“ berichtet der Weser-Kurier. „Auch in Deutschland finden sich Restaurants, die die Tiere insbesondere zu deren Wanderzeit anbieten. Einige Stedinger Angler hätten das in den vergangenen Jahren wahrgenommen, weiß ein Fischereivereinsmitglied. Sie hätten Wollhandkrabben gefangen und an einen regionalen Fischhändler verkauft. Sie werden möglichst lebend nach China versandt. Aber das Fangen sei eine hässliche Arbeit, meint einer der Fischer, „die Tiere haben lange scharfe Scheren.“
Auch das Essen von Wollhandkrabben ist für uns gewöhnungsbedürftig. Der taz-Autor Johann Tischewski erwarb ein Kilo – rund 30 handgroße Tiere – von einem Fischer auf dem Kutter „Cux 25 Elvstint“ am Fischmarktanleger, der die Tiere direkt von Bord verkauft. Als Tischewski zu Hause das Netz öffnete, entflohen sie ihm „in alle Richtungen“. Er fing sie ein und warf sie lebend in kochendes Wasser, nach einer Weile wurden sie rot, einige verloren ihre behaarten Beine und die Scherenhände. „Als Beilage mache ich mir Reis und Chinagemüse. Mit einem Messer breche ich die erste Krabbe auf. Mir kommt eine unangenehm riechende, schmierig gelbe Flüssigkeit entgegen. Ich pule das glitschige Fleisch aus dem Panzer und probiere es. Aber ich bekomme es nicht runter. Auch mit Reis und extra viel Sojasoße nicht.“ Am Ende landen alle Wollhandkrabben in seiner Biomülltonne.
Dass man sie lebend kocht, hat in den USA bereits die Tierschützer auf den Plan gerufen, wobei sie sich jedoch erst einmal auf den Großkrebs Hummer konzentriert haben, denn in Rockland im Bundesstaat Maine findet alljährlich die weltgrößte „Hummerparty“ statt, auf der die Tiere zu tausenden lebend in riesige Kochtöpfe geworfen werden. Das rohe Massenvergnügen in der „Hummerhauptstadt“ wurde vom Schriftsteller David Foster Wallace kritisiert – und das ausgerechnet in einer amerikanischen Gourmet-Zeitschrift. Auf Deutsch erschien sein Essay „Am Beispiel des Hummers“ 2009. Argumentationshilfe hatten ihm neben den Tierethikern einige Krebsforscher geliefert, indem sie feststellten, dass Hummer „Nozizeptoren“ besitzen und demzufolge Schmerzen empfinden. Auch die hiesigen Tierschützer fordern deswegen eine Gesetzesänderung: „Die derzeit gültige Verordnung über das Schlachten von Hummern stammt aus dem Jahr 1936, als über die Leidensfähigkeit der Krustentiere noch wenig bekannt war.“
Die Krabben zählen ebenfalls zu den Krustentieren (eine Küchenbezeichnung), man nennt sie auch Kurzschwanzkrebse. Beide, Hummer wie Krabben, gehören zur Ordnung der Zehnfußkrebse, deren erstes Beinpaar zu „Knackscheren“ umgebildet ist. Sie empfinden nicht nur Schmerzen, wenn sie in kochendes Wasser geworfen werden, sondern reagieren auch sensibel auf Stress, wie ich einmal unbeabsichtigt bei einem europäischen Flußkrebs (auch „Edelkrebs“ genannt) herausfand, den ich mir für 1 DM 50 in einem Fischgeschäft gekauft und in mein Kaltwasser-Aquarium gesetzt hatte.
Um ihn, den wir Fritz nannten, gruppierte sich fortan das Geschehen im Becken. Er hockte in einer nach vorne und hinten offenen Steinhöhle in der Mitte des Aquariums und wurde von uns mit Leberwurst gefüttert, die er in kleinen Portionen bekam – zusammen mit einem Kieselstein, damit das Fleisch zu Boden sank. Er brauchte nur wenige Sekunden, um den „Braten“, auch wenn der 40 Zentimeter weg von ihm auf den Beckenboden gesunken war, zu finden. Wenn man mit einem Kescher im Aquarium rumfuchtelte versteckten sich alle Fische hinter ihm, während er vorne tapfer versuchte, das Gerät mit seinen Scheren abzuwehren. Entgegen der Meinung vieler Aquarianer fraß er nicht einmal die kleinsten Fische, sondern beschützte sie eher. Ich fand, dass er, anders als die Fische, Muscheln und Schnecken im Becken, so etwas wie eine Persönlichkeit war. Als ich einmal (und nie wieder) einem Nachbarn zuliebe in unserem Dorfsee angelte, fing ich einen Hecht. Statt ihn zu schlachten setzte ich ihn ins Aquarium, wo er nach und nach alle Fische auffraß, und daß jedesmal so blitzschnell, dass ich nicht mit den Augen folgen konnte. Der Flußkrebs war unter seinem Stein zwar vor ihm sicher, aber die Bedrohung, die Angst, durch diesen großen Raubfisch „stresste“ ihn derart, dass er starb.
Charles Darwin hätte dieses ganze Fressen und Gefressenwerden unter Wasser glatt als eine prima Bestätigung seiner „Übertragung der schlechten Angewohnheiten der englischen Bourgeoisie auf die Natur“ (Marx) empfunden. Aber das Leben besteht nicht nur aus Fressen, Ficken und Fernsehen (Unterwasserfilme). Das gilt auch für die chinesische Wollhandkrabbe, die im Internet als ein „interessanter Pflegling im Aquarium“ bezeichnet wird. „Sie benötigt für eine artgerechte Pflege ein geräumiges Aquaterrarium mit einer Abdeckung, das ihr ausreichend Verstecke unter oder zwischen Steinaufbauten bietet. Bietet das Aquaterrarium nicht ausreichend Platz oder Versteckmöglichkeiten, sind die Tiere untereinander unverträglich. Zum Wohlbefinden der Tiere trägt es außerdem bei, wenn ein Teelöffel Meersalz auf 100 Liter Wasser beigegeben wird. Gefüttert werden Chinesische Wollhandkrabben mit Fischfleisch sowie Insektenlarven und kleinen Krebstieren. Sie sind auch an hochwertiges Flockenfutter gewöhnbar.“
In Delmenhorst lebt ein Aquaterrarianer, der eine Wollhandkrabbe in seinem Becken hält, die „Wolli“ heißt. Er hat an der Bremer Universität ein paar Semester Biologie studiert und dabei an einem „Crustacea Praktikum“ teilgenommen, bei dem es darum ging, die Krebstiere kennen zu lernen im Hinblick auf ihre Extremitäten, die sich im Verlauf der Evolution zu den unterschiedlichsten Werkzeugen entwickelt haben, wobei es konkret um das Präparieren der Extremitäten von Wollhandkrabben ging, die aus Beifängen des Bremer Amtsfischers stammten – zwar nicht gekocht, aber auch tot. Zum Praktikum gehörte eine „Meeresbiologische Exkursion“, auf dieser fing er eine lebende Wollhandkrabbe, die er mit nach Hause nahm und in sein Aquaterrarium tat.
Ihr Verhalten unterschied sich nicht wesentlich von meinem Flusskrebs, glaube ich, außer das „Wolli“ wie alle Krabben seitwärts läuft und dass er es geschafft hat, ihr das Futter mit der Hand zu reichen, anfänglich aus Vorsicht mit einer großen Pinzette. Er hält sie schon ein paar Jahre und meint, dass sie wohl langsam geschlechtsreif wird und sich ihr „Wandertrieb“ in Richtung Meer bemerkbar macht, indem sich ihre Ausbruchsversuche aus dem Becken häufen. „Sie wird immer nervöser.“ Das unterscheidet sie von meinem Flusskrebs, der ein paar Jahre lang relativ gelassen in seiner Steinhöhle hockte. Wollis Besitzer weiß, dass einige Krabbenfischer bereits festgestellt haben, dass ihre Fänge langsam immer geringer ausfallen. Die Ursache ist noch unklar: Werden zu viele gefangen oder werden die Tiere immer schlauer? Er würde gerne irgendwann ein Buch über die Wollhandkrabbe schreiben: „Anders als in China gibt es hierzulande so gut wie keine Verhaltensforschung über sie.“ Und das Gerede über „invasive Arten“ und ihre „Bekämpfung“ findet er typisch deutsch und doof.
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Käfersterben
Im Herbst 2017 sorgte eine Veröffentlichung des Krefelder Entomologischen Vereins weltweit für Aufsehen: Die Insektenforscher hatten 27 Jahre lang mit sogenannten Malaisefallen an 63 Standorten in drei Bundesländern Fluginsekten gefangen und gewogen. Das lieferte erstmalig meßbare Daten über das Insektensterben: Die Anzahl der Fluginsekten war danach um über 75 Prozent zurückgegangen, wobei Klima- und Biotopveränderungen als Hauptverursacher ausgeschlossen werden konnten, wie der Naturschutzbund (NABU) schreibt, der dazu gerne Daten über Ackergifte gehabt hätte. „Sie sind da, aber die Landwirte geben sie nicht raus, sie sind privat. Man hat auch auf den Ackerflächen einen Insektenrückgang festgestellt. Und schon lange einen Arten-Rückgang registriert – mit Meßgeräten, die Daten über die Artenhäufigkeit liefern. Es war also seit langem ein Abwärtstrend bekannt. Das Grundproblem ist das Sinken der Artenvielfalt,“ erklärten uns die Krefelder 2018.
Andere Insektenforscher kamen bald mit weiteren erschreckenden Studien: Zwei Wiener zählten die der zunehmenden „Lichtverschmutzung“ in unseren Städten zum Opfer fallenden Tiere: „In den Sommermonaten werden etwa 150 Insekten pro Straßenlampe und Nacht getötet. Eine zwei Meter hohe blau-weiße Leuchtschrift aus drei Buchstaben zog im Stadtgebiet von Graz innerhalb eines Jahres 350.000 Insekten an.“
Mainzer Forscher rechneten hoch, dass an den 7 Millionen Straßenlaternen, die es in Deutschland gibt, jede Nacht etwa eine Milliarde Insekten sterben.
Eine Modellrechnung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) ergab: „Windräder töten 5,3 Milliarden Insekten pro Tag“.
Jetzt, zwei Jahre nach der Krefelder Studie, veröffentlichte die Leuphana Universität Lüneburg eine Meldung über eine weitere Untersuchung des „Insektensterbens“: die Wissenschaftler hatten nicht nur die Biomasse der eingefangenen Tiere gewichtsmäßig erfasst, sondern auch die Arten bestimmt. Ein aufwändiges, aber notwendiges Verfahren, denn „nur wenn wir wissen, welche Arten verschwinden, können wir sinnvolle Naturschutzmaßnahmen planen,“ meinte der Ökologe Thorsten Aßmann. Seine Arbeitsgruppe hatte 25 Jahre lang mit Bodenfallen in einem Wald des Naturschutzgebietes Lüneburger Heide den Rückgang der Artenvielfalt bei Käfern ermittelt, wobei sie sich auf Laufkäfer konzentrierten, die nahezu weltweit verbreitet sind – mit etwa 40.000 Arten. Fast ein Dutzend Arten lebt auch in der Lüneburger Heide, man unterschied sie vor allem an ihren Penisformen, heute mit gentechnischen Verfahren.
Über diese Arten hatte bereits 1961 der in Uelzen lebende und auf Laufkäfer spezialisierte Coleopterologe Carl. L. Blumenthal in der Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft österreichischer Entomologen eine Forschungsarbeit veröffentlicht, die ebenfalls auf eine 25 Jahre lange Sammlertätigkeit basierte. Schon damals hatte er die Vermutung geäußert, dass sich der Lebensraum einiger Laufkäfer in der Lüneburger Heide wegen der Erwärmung in der Nacheiszeit verkleinert habe. Vor allem im warmen Sommer 1959 konnte er bei den Laufkäfer-Populationen beobachten, dass „die zunehmende Trockenheit das Vorkommen inselartig begrenzte. Das Gegenbeispiel war das sehr nasse Jahr 1960, als an bisher ungewohnten Lokalitäten Arten in Fallen gefangen wurden, die sonst dort nicht vorkamen.“
Die Forscher der Universität Lüneburg machten nun ebenfalls den „Klimawandel“, daneben aber auch den Einsatz von Pestiziden, dafür verantwortlich, dass die Artenvielfalt bei den von ihnen gesammelten Laufkäfern seit 1994 um fast ein Drittel zurückgegangen ist: „Gerade in einem Naturschutzgebiet hätten wir damit nicht gerechnet,“ sagte Thorsten Aßmann.
Wo kommen die Pestizide im Naturschutzgebiet her? 1973 hat der Tierfilmer Horst Stern in seinem Buch „Tiere und Landschaften“ dargestellt, wie die Lüneburger Heide entstand: Der Wald, der dort nach der Eiszeit wieder aufwuchs, wurde von den Bauern und ihrem Vieh langsam zerstört, woraufhin sich auf den größer werdenden Lichtungen Heidekraut, das keinen Schatten verträgt, ansiedelte. Die Besenheide, wie sie heißt, wurde von einer besonders genügsamen Schafrasse, den Heidschnucken, abgeweidet. Die Wacholderbüsche rühren sie nicht an, das machen die Schäfer, damit die Büsche nicht überhand nehmen. Wenn die Schafe die Heidepflanzen nicht kurz hielten, würde sie nach 25 Jahren verholzen und absterben: „Die Heide würgt nämlich ihre eigene Art ab, denn das Polster, das sie bildet, wird so dick, dass die Heidesamen keinen nährenden Boden finden können.“ Auch die Bauern helfen der Heide, indem sie die Wurzelpolster mit einer Hacke abschlagen. Diese „Plaggen“ werden im Stall als Einstreu verwendet, der nach einem Jahr als wertvoller Mist auf die Felder kommt. „Die geplaggten Stellen werden sofort wieder von der Heide erobert.“ Ein Quadratmeter blühende Heide bringt 3 Millionen Samen hervor. Dazu braucht es jedoch Blütenbestäuber, allen voran die Honigbiene, der wiederum die Heidschnucken helfen, indem sie beim Fressen der Heide alle Spinnennetze darin, in denen Bienenfeinde lauern könnten, zerstören. „Mit dem Kunstdünger wurde dieses kunstvolle Zusammenspiel aber beendet“, woraufhin die Lüneburger Heide immer mehr zusammenschmolz. Den letzten Rest – 200 Quadratkilometer – stellte man 1906 als Naturpark unter Schutz. Und um diesen herum wird seitdem auf den Äckern mit immer mehr Pestiziden gearbeitet, wobei Wind und Wetter die Gifte in das Naturschutzgebiet tragen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Briten und Kanadier ihre militärischen Übungen ungeachtet lautstarker Proteste der Niedersachsen mit Vorliebe stets außerhalb der dort verfügbaren Truppenübungsplätze in einem knapp 48 000 Hektar großen Gebiet zwischen Soltau und Lüneburg veranstaltet, das nicht nur von etwa 12 000 Menschen bewohnt und bewirtschaftet wird, sondern auch Teile des Naturschutzgebietes Lüneburger Heide umfaßte. Nach Protesten ließen sich Engländer und Kanadier zwei Einschränkungen gefallen, schrieb der Spiegel 1960: „Die Übungsfläche wurde um ein Viertel verkleinert. Die Panzereinheiten dürfen lediglich auf festgelegten ‚roten Flächen‘ ausgebildet werden, die über den gesamten Raum verteilt sind.“ Der Oberbürgermeister von Lüneburg Reinhold Kreitmeyer fragte sich: „Und wie kommen die Panzer von einer roten Fläche zur anderen?“ Rund 1.800 Hektar (18 Quadratkilometer) dieser „Roten Flächen“ befanden sich innerhalb des Naturschutzgebietes Lüneburger Heide. Panzer und schwere Fahrzeuge verwüsteten die ehemaligen Heideflächen völlig, heißt es im Artikel „Toepferblick Tütsberg“ auf der Internetseite „naturpark-lueneburger-heide.de“. Als 1994 das britische und kanadische Militär die durch ihre Panzer und andere Kettenfahrzeuge verwüsteten „Roten Flächen“ im Naturschutzgebiet Lüneburger Heide verließ, war der im Heidedorf Wilsede lebende Landschaftökologe Wolfram Pflug in seiner Eigenschaft als Mitglied des Vorstandes des Vereins Naturschutzpark e.V. und zuletzt Vorsitzender der Kommission „Rote Flächen“ an den Planungen zur Wiederherstellung der Heiden beteiligt. Heute sind diese „Roten Flächen“ renaturiert. Pflug hat sich ansonsten mit „Braunkohlentagebau und Rekultivierung“ beschäftigt und darüber auch veröffentlicht.
Der Ökologe Aßmann von der Universität Lüneburg warnt nun vor einer weiteren Abnahme der Diversität: „Artenvielfalt ist eine Versicherung für die Zukunft. Eine nachhaltige Land- und Forstwirtschaft etwa wird ohne Insekten wie Laufkäfer nicht möglich sein. Sie sind wesentlich für funktionierende Ökologiesysteme in unseren Breiten, denn sie ernähren sich unter anderem von Schädlingen wie Eichenprozessionsspinner und Kartoffelkäfer.“
Solange in Niedersachsen noch die kapitalistischen Ökonomiesysteme „funktionieren“, wird sich die Artenvielfalt bei den Insekten und in Abhängigkeit davon auch die bei den Vögeln weiter verringern. Die Lüneburger Ökologen überprüften alle zwei Wochen den Artenbestand in einem alten nachhaltig bewirtschafteten Waldgebiet der Lüneburger Heide, dem Hofgehölz Möhr. Dort befindet sich die Alfred Toepfer Akademie für Naturschutz. Der 1993 gestorbene Alfred Toepfer war der größte Getreidehändler Europas und sammelte schöne Höfe wie andere Leute Briefmarken, daneben gründete er eine gemeinnützige Stiftung nach der anderen. Die meisten dienten jedoch nur zur Subventionierung völkischer Aktivitäten, dafür stellte der ehemalige Freikorpskämpfer gegen die Kommunisten und alte SS- sowie SD-Kameraden ein, mit Vorliebe Kriegsverbrecher. Ähnlich wie der Gründer des Bundesnachrichtendienstes Reinhard Gehlen, dessen Geheimdienstkollege Alfred Toepfer im Krieg war.
Die FAZ fragte sich: „Gutes Geld, dunkle Absichten?“ und sprach von einem neuen „Historikerstreit“ – angesichts einer verharmlosenden Toepferbiographie des deutschen Staatshistorikers Hans Mommsen und einer scharfen Toepferkritik des jüdischen Politikwissenschaftlers Michael Pinto-Duschinsky: „The Prize Lies of a Nazi Tycoon“.
Sage niemand, das hat nichts mit dem Artensterben zu tun. Im Anthropozän geologisiert sich die Moral. Dann war ein guter Freund von Toepfer Käferjäger: Ernst Jünger. Und zum Einen befindet sich die Käferforschung auf Hof Möhr im Gravitationszentrum der Naziideologie, der Heide des Naturschützers Hermann Löns – dort, wo sein „Wehrwolf“ weste. Zum Anderen war die ökologisch-nachhaltige Schädlingsbekämpfung statt mit Pestiziden bei den Nazis quasi Chefsache: Der Biologe Ernst May widmete sich 1942 als Leiter des „Entomologischen Instituts der Waffen-SS“ am KZ Dachau Fragen einer solchen Insektenbekämpfung, an der „der Reichsführer-SS ein ganz besonderes Interesse hat,“ wie er dem SS-Obersturmführer Dr. Rudolf Schütrumpf schrieb, der dem Entomologischen Institut zugeteilt worden war. May wollte laut der Biologiehistorikerin Ute Deichmann (in: „Biologen Unter Hitler“ 1995) untersuchen, ob sich Fliegen durch Infektion mit dem Pilz Empusa „naturgemäß-biologisch“ bekämpfen ließen. „Himmler, der alternativen Methoden zur Schädlingsbekämpfung gegenüber sehr aufgeschlossen war, ließ anfragen, ob nicht auch Schlupfwespen gegen Fliegen gezüchtet werden könnten.“
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Dunkler Wiesenknopf-Ameisenbläuling
Das Bundesamt für Naturschutz informiert: „Der gefährdete dunkle Wiesenknopf-Ameisenbläuling pflegt eine enge Beziehung zum Großen Wiesenknopf. dessen Blüten ihm als Nahrungsquelle, Schlaf- und Ruheplatz sowie zur Balz, Paarung und Eiablage dienen. Als Raupe frisst er zunächst an den Blüten des Großen Wiesenknopfs, lässt sich aber nach der dritten Häutung von der Pflanze fallen und von der Roten Knotenameise in ihr Nest tragen. Dort verbringt er die Zeit bis zu seiner Verwandlung zum Schmetterling im nächsten Sommer und ernährt sich währenddessen von Ameisenbrut.“
Der Naturfilmer Jan Haft besitzt einen Hof bei München mit einer Feuchtwiese, über die er ein Buch schrieb („Die Wiese“ 2019). Auf ihr wächst „ein kleiner Bestand des großen Wiesenknopfs. Ein hochwüchsige, aber unscheinbare Pflanze mit kugeligem, weinroten Blütenköpfchen, in denen dich gedrängt viele kleine Einzelblüten sitzen.“ Dort beobachtete er mehrere Wiesenknopf-Ameisenbläulinge, ihre Flügel sind „oberseits braunblau, unterseits eher grau“.
Die Rote Knotenameise baut ihre Nester laut „Naturführer“ auf Feuchtwiesen. „Bei Überschwemmung bildet sie mit anderen Arbeiterinnen Kugeln, um zu schwimmen.“ Die vom großen Wiesenknopf auf den Boden gefallenen Schmetterlingsraupen werden aufgrund einer „chemischen Tarnkappe“ von den Ameisen für ihren Nachwuchs gehalten – und in ihre Larvenkammer getragen.
Wo entweder der Große Wiesenknopf oder die Rote Knotenameise verschwinden, gibt es auch keinen Wiesenknopf-Ameisenbläuling mehr. Nun haben aber die Pflanze und die Ameisen auch noch Beziehungen zu anderen Lebewesen: der Wiesenknopf zu Mikroorganismen und Pilzen im Boden und die Knotenameise, ein „Allesfresser“, vor allem zu Blattläusen, die sie „melkt“. All das und noch viel mehr müßte man berücksichtigen, wollte man die Ökologie dieses Schmetterlings erfassen.
Unsere Wissenschaftstradition hat uns jedoch auf Arten, ihren Platz in der „Ordnung der Natur“ und höchstens noch auf Individuen geprägt. Ganz anders die Waldindianer am Amazonas. Der US-Biologe David G. Haskell erwähnt (in: „Die verborgenen Netzwerke der Natur. Der Gesang der Bäume“ 2017) die Waorani: „Sie konnten, auch wenn man sie im Gespräch dazu drängte, keine einzige ‚Baumart‘ benennen, ohne zugleich den ökologischen Kontext zu beschreiben.“
Solch ein Denken findet man auch bei japanischen Gartenbauern, deren Buddhismus/Shintoismus nicht auf Trennung (von Pflanzen, Pilzen, Tieren und Menschen) aus ist und sowieso „die Grenzen zwischen Mensch, spiritueller Welt und ‚Natur‘ für eine Illusion hält.“ Haskell will es ihnen forschend nachtun, zwar ist er „dazu verdammt, ein Individuum zu sein“, folgt aber dennoch einer „Ethik der Verbundenheit“, er schreibt: „Die Zukunft eines Individuums ist in keinem Selbst enthalten, nicht im Baumsamen und nicht im menschlichen Gehirn, sondern entwickelt sich vor allem aus lebendigen Beziehungen.“
Goethe und die deutschen Romantiker haben ähnlich „ganzheitlich“ gedacht und vielleicht auch empfunden, mindestens geht der „Naturschutz-Gedanke“ auf sie zurück. Die Pariser Schriftsteller Balzac und Proust haben dagegen im 19. Jahrhundert mit ihren „Sittengemälden“ eine „Naturgeschichte des Sozialen“ verfaßt, indem sie „die Leitmotive der [alten] Naturgeschichte umkehrten,“ wie der Wissenssoziologe Wolf Lepenies in seinem Buch „Das Ende der Naturgeschichte“ (1972) schreibt.
Dabei sind sie gewissermaßen arbeitsteilig vorgegangen: „Während der Sittenarchäologe Balzac die Zoologie, den beweglichen Teil der Naturgeschichte, zum Vorbild wählt, betrachtet Proust die immobile ‚menschliche Flora‘ und versteht sich als einen ‚Botaniker der psychischen Welt‘. Erst am Ende seiner ‚Recherche‘ wird Proust zum „Zoologen der Gesellschaft.“ Auch hierbei gibt es eine Arbeitsteilung: „Balzacs ‚Comédie humaine‘ ist die Zoologie der höheren Säuger, die ‚Recherche‘ die Zoologie der niederen Tiere, insbesondere die der Fische und Insekten.“ Proust spricht z.B. von einer „Metamorphose“ des Fürsten von Agrigent im Alter, „als sei die dürftige Falterpuppe, die mir vorher bekannt war, inzwischen aufgeplatzt“. Balzac interessieren „Evolutionen im vor-darwinschen Sinn und Übergänge zwischen den Arten. Proust wendet dagegen seine Aufmerksamkeit Prozessen des Alterns und Metamorphosen zu, ohne dabei die Artgrenzen zu überschreiten.“ Wenn Balzac ein Zoologe ist, „dann bildet die ‚Comédie humaine‘ eine Menagerie; die ‚Recherche‘ hat demgegenüber eher Ähnlichkeit mit einem Aquarium oder Terrarium.“ Lepenies muß dabei an Jean-Baptiste Lamarcks „Theorie des Milieus“ (1809) denken (was mit „Medium“ übersetzt wurde, woraus der Biologe Uexküll 1909 eine „Umwelttheorie“ machte).
In der Menschenforschung sind Tiervergleiche inzwischen aus der Mode gekommen. Im Westberliner Zoo gibt esdafür beides auf einem Flanierraum, Großgehege und Terrarien, und im Ostberliner Tierpark das gleiche noch einmal, da beide im darwinschen Sinne auf Restlosigkeit erpicht sind. Die Aktiengesellschaft Zoo wirbt sogar damit, die meisten Tierarten auf engstem Raum zu besitzen und hält z.B. tropische Blattschneiderameisen hinter Glas. Allerdings keine Schmetterlinge, diese werden massenhaft u.a. im Gewächshaus der „Naturwacht“ in Marienfelde gezüchtet – und nach dem Schlupf freigelassen. Es handelt sich dabei um Ligusterschwärmer, Kleiner Fuchs, Schwalbenschwanz, Tagpfauenauge und C-Falter. Ein dunkler Wiesenknopfameisenbläuling mit seiner Pflanze und seinen Ameisen läßt sich wahrscheinlich nicht züchten. Dafür ist er „berühmt“. Aber deswegen enden die meisten Betrachtungen dieses Schmetterlings auch mit einer Klage, dass die hiesigen Wiesen immer weniger werden, dazu düngt man sie mit Gülle undChemie, drainiert sie und mäht sie vier bis fünf Mal im Jahr. All das vernichtet sowohl die Pflanze, die zu den Rosengewächsen zählt, als auch die Ameisen. Deswegen steht der dunkle Wiesenknopfameisenbläuling bereits auf der „Roten Liste“, wie der baden-württembergische NABU mitteilt. Sein Beziehungsnetz sei sehr „riskant“, d.h. zerbrechlich, „denn es besteht immer die Gefahr, dass eine Raupe von einer Ameisenart, auf die der Duftcocktail nicht wirkt, von Vögeln oder von anderen Feinden entdeckt wird – oder unentdeckt verhungert. Wird eine Raupe aber von der Rotgelben Knotenameise adoptiert, hat sie ausgesorgt.“
Jedenfalls die nächsten 25 Tage bis zum Schlupf. „Danach müssen die geschlüpften Falter so schnell wie möglich den Ameisenbau verlassen, da sie ihre Gastgeber nun – ohne Duftdrüsen – nicht mehr täuschen können. Als Schutz gegen die Attacken der Ameisen ist der ganze Körper der Falter mit wolligen Schuppen bedeckt, die in den Kiefern der Angreifer zurückbleiben, wenn sie zubeißen.“ Hört sich an wie die Flucht aus einer WG. Aber rät uns nicht sowieso der Erfurter Biologe Karsten Brensing, die Tiere zu vermenschlichen, um sie besser zu verstehen?! Er will deswegen wieder beim Gemütsathleten Alfred Brehm anknüpfen, von dem er 2018 eine Auswahl von Tiergeschichten neu herausgab.
Neuerdings macht Brensing bei einer WDR-Unterhaltungssendung mit: „Das Tier in Dir“, in der es allerdings umgekehrt um die Vertierlichung von Menschen geht. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz antwortete bereits in den Sechzigerjahren seinen Kritikern: „Wir vermenschlichen nicht das Tier sondern vertierlichen den Menschen.“ Der Delphinsachverständige des Deutschen Bundestags, Brensing, votiert eigentlich eher für eine Biosoziologie als für eine Lorenzsche Soziobiologie. Erstere will die Biologie in Sozial- und Kulturwissenschaft auflösen, letztere umgekehrt die Sozialwissenschaften in Biologie, wofür sich vor allem die Nationalsozialisten engagierten, indem sie die Deutschen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg biologisch neu erfinden wollten. Die amerikanische Naturwissenschafthistorikerin Donna Haraway kam unterdes zu der Überzeugung: „Es gibt weder Natur noch Kultur, aber viel Verkehr zwischen den beiden.“
Ist das schon ökologisch gedacht? Der französische Wissenssoziologe Bruno Latour gab in einer Rede vor der Berliner „Unseld-Stiftung“ zu bedenken: „Ökologie ist nicht die Wissenschaft von der Natur, sondern das Nachdenken darüber, wie man an erträglichen Orten zusammenleben kann. Ökologie wird nur dann gelingen, wenn sie nicht in einem Wiedereintritt in die Natur – diesem Sammelsurium eng definierter Begriffe – besteht, sondern wenn sie aus ihr herausgelangt.“ Wie das?
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„Licht Luft Scheiße“
Hunderte Exponate zur Geschichte und Gegenwart der Naturforschung und Umweltbewegung erwarteten die Journalisten auf einer Busreise durch Berlin. Das Ausstellungsprojekt „Licht Luft Scheiße, Perspektiven auf Ökologie und Moderne“ im Botanischen Museum/Botanischen Garten (BMBG), in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) und im Prinzessinnengarten widmet sich der schon zweihundert Jahre zurückreichenden Geschichte der Ökologie, aber auch den Reformbewegungen der Moderne und der jüngeren Geschichte des Berliner Artenschutzprogramms.
Vorweg: Auf dem letzten Weltkongress der Botaniker in Melbourne 2011 fasste der letzte Redner den Stand der Forschung zusammen und wagte eine Vorausschau über den Erhalt der Biodiversität von Pflanzen weltweit. Ein Journalist fragte ihn, ob er noch Hoffnung habe. Der Botaniker überlegte lange und sagte dann: „Das ist eine unfaire Frage.“
Ich fragte nun eine der Ausstellungsmacherinnen des Botanischen Museums nach dem Stand der Berliner Botanik und erfuhr: „Es gibt keine Botaniker mehr.“ Ihre Stellen wurden nach und nach eingespart oder umgewidmet. 2016 wollte die Freie Universität auch noch den Botanischen Garten (mit seinen 200 Ober- und Unter-Gärtnern) loswerden und das Geld statt für die organismische Biologie für die Genetik verwenden. Nach Protesten gab es ein Umdenken: Museum und Garten bekamen 40 Millionen Euro, um sich bis 2020 zu modernisieren. Damit sollen, so wurde uns erklärt, vor allem die Touristen von der überlaufenen Mitte Berlins zu Sehenswürdigkeiten in anderen Bezirken gelockt werden.
In den schon vom Umbau betroffenen Hallen gibt es unter anderem den Film einer schwedischen Künstlerin zu sehen, aufgenommen mit einer Kamera, „die mehr als das menschliche Auge sieht“, der sich einigen anscheinend lebensfrohen Insekten widmet, die eine schmale Hecke zwischen Äckern und Feldwegen bewohnen.
An einer Wand hängen 120 Fotos von Berliner Grünflächen und ihrer Nutzung durch die Bürger. Vom einst an der kalifornischen Universität lehrenden Ehepaar Harrison, das bereits in den achtziger Jahren den Beweis für die Notwendigkeit, sich künstlerisch mit der Ökologie zu beschäftigen, auch in Westberlin führte, zeigt man drei Landkarten, auf denen diese „Eco-Art“-Pioniere veranschaulichten, dass man zukünftig infolge des Klimawandels von einer eine Million Quadratkilometer umfassenden Dürreregion zwischen Portugal und Mitteleuropa ausgehen müsse.
Bevor wir noch das Kleingedruckte der Karten entziffern konnten, drängte die Museumsführung weiter – in den „Lichterfelder Club of Hope“ mit vielen insektoiden Formen und Fotos, Papieren und Notizen auf Tischen und gebunkerten Lebensmitteln in Regalen. Das ist ein von Künstlern gestalteter Arbeitsraum als „Rückzugs- und Versammlungsstätte“. Einer der Künstler bezeichnete die Installation als eine Sammlung „verblasener Erlösungsfantasien – mit vielen kleinen Ideen zur Vergeblichkeit“. Eine sympathische Erklärung zum Verständnis ihrer Arbeit.
Der nächste Raum ist mit Texten der ersten deutschen Naturschutzgesetze aus den Jahren 1933/34/35 tapeziert. Auf das Erschießen eines Adlers stand die Todesstrafe, Wilderer kamen ins KZ, und alle undeutschen Pflanzen sollten ausgerottet werden. Nebenan stehen zwei Vitrinen mit zarten Beispielen aus dem Herbarium des Museums, das einst Adalbert von Chamisso betreut hat, dazu mehrere Beispiele einer „postindustriellen Botanik“: Pflanzenbüschel aus der uranverseuchten Bergbaufolgelandschaft der Wismut im Erzgebirge.
Am Ausgang befindet sich die Installation „Pflanzenwerkstatt der Moderne“, die das Museum selbst aufgestellt hat: sechs senkrechte Vitrinen, die mit Objekten, Porträts und Texten zeigen wollen, „inwieweit die Modernisten die Wissenschaft, die Biologie, beeinflusst haben“. Unter anderen handelte es sich dabei um den Gründer des Botanischen Gartens, Adolf Engler, den Gründer der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, Rudolf Steiner, und den Begründer des deutschen und europäischen Naturschutzes, Hugo Conwentz.
Botanisches Museum und Garten wollen eine „Brücke herstellen zwischen Mensch und Pflanze“ – und das „ohne eigene App“. Man will kein Science-Center sein und setze als „Sehschulung der Botaniker“ weiter auf „Botanische Modelle“, wiewohl die letzte Modellbauerin des Museums vor einigen Jahren in Rente ging.
Die nächste Ausstellungsstation in den Kreuzberger Hallen der NGBK steht unter dem Motto „Archäologien der Nachhaltigkeit“ und erinnert mit Dokumenten und Exponaten unter anderem an alternative Wohn- und Wirtschaftsmodelle in den zwanziger Jahren mit Konzepten für die Abfallwirtschaft wie die des Biosophen Ernst Fuhrmann („Der Mensch und die Fäkalie“) und die Selbstversorgungs-Ideen des Landschaftsarchitekten Leberecht Migge („Freiheit unter dem Humusgesetz“), dessen „Zeltlaube“ auch als Nachbau im Botanischen Museum zu sehen ist. Diese praktischen Projekte wurden damals von etlichen Wissenschaftlern flankiert. Die Ausstellungsmacher konzentrieren sich auch auf die Forschung des Ehepaars Francé-Harrar über die humusbildenden Mikroorganismen im Boden. Annie Francé-Harrar engagiert sich schon ab den fünfziger Jahren gegen die Waldvernutzung. Publikationen über den „Boden“ haben derzeit Konjunktur.
Ausgehend von den e.e. Pionierarbeiten wird eine Kontinuität bis zu den vielfältigen Stadtumbauprojekten unter ökologischem Vorzeichen in den Achtzigerjahren sichtbar, zu dem bereits ein „Artenschutzprogramm“ für Westberlin gehörte. So erhält man viele Informationen, „Fragmente einer Geschichte der Nachhaltigkeit“, die mehr oder weniger der Forderung Peter Kropotkins zur „Eroberung des Brotes“, der Selbstversorgung vieler Haushalte und einer Umgestaltung des Wirtschaftslebens verpflichtet sind.
In der NGBK sind Arbeiten von Joseph Beuys zu den Bienen, DDR-Naturfilme und das Porträt eines „Ornithologen der Arbeiterbewegung“ zu sehen sowie ein filmisches Interview mit Gilles Clément. Hierzulande kannte man bisher vor allem die „Fröhliche Wissenschaft“ dieses Entomologen und Gärtners.
Weiter ging es in den Prinzessinnengarten, wo man uns an eine große Tafel bat und mit üppigem Essen aus eigenem Anbau bewirtete. Derweil erklärten der Gartengründer Marco Clausen und die dänische Kartoffelforscherin Asa Sonjasdotter uns das Konzept ihres ökologischen „Nachbarschafts-Gartens mit -Akademie“, wobei ihre Gedanken bis hin zu einer zukünftigen „Ernährung und Landwirtschaft in der Bioregion Berlin-Brandenburg“ schweiften.
Bis zum Gartensaisonende werden Workshops, Spaziergänge, Diskussionen und Filmabende stattfinden. Das Ganze unter der Überschrift „Aus den Ruinen der Moderne wachsen“, was auf den Prinzessinnengarten konkret zutrifft, denn er gedeiht auf den Fundamentresten des erst enteigneten und dann zerbombten Wertheim-Kaufhauses.
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Die schändliche Seehundrichtlinie
Überall an der Nordseeküste wirbt man mit Fotos von Seehunden, es gibt Ausflugsfahrten zu den Seehundbänken und Auffangstationen für verlassene Jungrobben (Heuler genannt), man kann sogar in Schwimmbecken mit ihnen tauchen, Youtube ist voll mit Fotos und Clips von Seehunden, die in Liegestühlen schlafen oder sich an und auf Badeurlauber robben, und es gibt eine Seehundrichtlinie. Sie betrifft 40 Seehundjäger und damit alle in ihren Revieren sich tummelnden Seehunde, obwohl die offensive Jagd auf sie seit 1974 ganzjährig verboten ist. Desungeachtet wurden im vergangenen Jahr wieder 658 Seehunde erschossen. Die Seehundjäger bekommen 45 Euro pro Leiche.
Seltsamerweise fand ich in den Archiven der FAZ, des Spiegels und der taz keinen einzigen Artikel über diese „Seehundrichtlinie“. Dabei haben inzwischen schon mehr als 85.000 Unterstützer sie mit einer Petition bekämpft. Und der Kampf geht weiter, Robert!
Gemeint ist damit der Grüne Umweltminister von Schleswig-Holstein Dr. Robert Habeck, in dessen Verantwortung die Richtlinie lag. Die Kritiker, Tierärzte, Naturschützer und Robbenliebhaber, verlangen eine „tierschutzgerechte Neufassung“ – inzwischen von Habecks Nachfolger Jan Philip Albrecht. Eine ihrer Sprecherinnen ist die Tierheilerin Bettina Jung, Mitgründerin der Initiative „Ethia – Leben in die Politik!“. Von ihr erfuhr ich: Das Töten der durch FFH-Richtlinie geschützten Robben geschieht ohne Einbeziehung eines Tierarztes, es reicht, wenn der Seehundjäger sagt, das Tier war unheilbar krank. Er entscheidet über Leben und Tod des Seehundes. Kein Gedanke, dass man auch ein krankes Tier mit Geduld und Kenntnis gesundpflegen kann. Einem Tierarzt oder den Mitarbeitern einer Wildtierstation ist es nur 24 Stunden lang erlaubt, eine Erstversorgung vorzunehmen. „Für kein anderes Wildtier gibt es eine derartige Regelung,“ heißt es in einem „Factsheet“ der Richtlinienkritiker: „Das Land Schleswig-Holstein hat die komplette Verantwortung der Jägerschaft übergeben und als ‚Kontrollinstanz‘ das „Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung“ (ITAW) der Tierärztlichen Hochschule Hannover eingesetzt.“
Von einer echten Kontrolle der Seehundjäger durch das ITAW in Büsum kann aber wohl keine Rede sein, denn beide sind eher an toten als an lebenden Seehunden interessiert. Auf „jawina.de“ (Jagd Wild Natur) heißt es in einem Bericht aus dem ITAW: „Außer dem Kegelrobbenbullen warten eine ganze Reihe noch auftauernder Robben und Seehunde darauf, seziert zu werden. Forschungsmaterial, das die Seehundjäger anliefern.“ Die sich im ITAW mit Schweinswalen und Seevögeln als Opfer der Fischerei beschäftigende Meeresbiologin Dr. Ilka Hasselmeier wurde noch deutlicher: „Wir sind froh, dass die Seehunde dem Jagdrecht unterliegen. Wenn wir die Seehundjäger nicht hätten, sähen wir dermaßen alt aus. Deshalb – und um die Seehundjäger bei ihrer Tätigkeit rechtlich abzusichern – plädieren wir dafür, dass auch die Kegelrobbe ins Jagdrecht aufgenommen wird.“ Haste Töne?!
Kegelrobben sind nach der FFH-Richtlinie streng geschützt, deswegen werden sie von den Seehundjägern bis jetzt anscheinend noch illegal abgeschossen. Sie können laut „Augenzeugenberichten“ oft sowieso keinen Seehund von einer Kegelrobbe unterscheiden. Für die Kritiker der Seehundrichtlinie ist das natürlich ein „Skandal“, auch das Ilka Hasselmeier selbst auf Seehundjagd geht, wie man dem Friesenanzeiger im August 2016 entnehmen konnte. Umgekehrt finanziert die Landesjägerschaft laut „tiho-Hannover“ auch schon mal eine „wissenschaftliche Forschung“ am ITAW.
Deutschland hat sich mit Dänemark und den Niederlanden zum „Trilateralen Wattenmeer-Abkommen“ zusammengeschlossen: Im Gegensatz zu den beiden Nachbarländern hat Deutschland seine Seehundjäger aber noch nicht abgeschafft, sondern im Gegenteil, sie mit Forschung verbunden und dadurch aufgewertet, wenn nicht gar personell verstärkt. Es liegt hierbei ein typischer Polit-Kompromiß vor: Man wollte mit diesem ganzen Seehund-Tötungsverfahren das alte Gewohnheitsrecht der friesischen Seehundjagd so schonend wie möglich brechen. In der Praxis, im Leben, ist dabei, wie so oft, etwas korruptiv Illegales herausgekommen. Exemplare einer geschützten Tierart dürfen nur aus medizinischen Gründen getötet werden, also nur von einem Tierarzt nach einer Untersuchung veranlaßt werden. Ein auf Sylt tätiger Seehundjäger spricht davon, dass er sie von ihrem Leiden erlöst. Man geht davon aus, dass jeder fünfte Seehund erschossen wird, der Seehundjäger kann das jeweils 5. aber selbst bestimmen. Zwar bietet das ITAW diesbezüglich Kurzschulungen für die Jäger an, die Teilnahme ist jedoch keine Pflicht. Dafür durfte einer aus den Reihen der Seehundrichtlinien-Kritiker nicht daran teilnehmen, obwohl er einen Jagdschein besitzt und eine Wildtierstation leitet, aber ihm fehlte ein „Fürsprecher“ aus den Reihen der etablierten Seehundjäger.
Und weil es für verwaiste Jungseehunde, Heuler, nur eine Auffangstation in ganz Schleswig-Holstein gibt, in Friedrichskoog, werden auch schon mal Heuler getötet, „weil kein Platz mehr für sie da war,“ wie die Schleswig-Holsteinische Zeitung berichtete. Auf der Station haben einige Seehunde und Kegelrobben ein Dauerquartier, Besucher können sie dort besichtigen. Ansonsten heißt es auf ihrer Internetseite: Wenn man auf einen Heuler trifft, soll man ihn auf keinen Fall anfassen, sondern umgehend den zuständigen Seehundjäger benachrichtigen. „Der Seehundjäger allein entscheidet, ob das Tier erschossen oder in die bisher einzig legitimierte Aufzuchtstation Friedrichskoog überstellt wird,“ empören sich die Kritiker der Seehundrichtlinie.
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Seehunde
Im Seebad Warnemünde gibt es ein Robben-Forschungszentrum mit Seehunden. Die Handarbeiter trainieren täglich mit ihnen, damit sie in Form bleiben, und die Kopfarbeiter denken sich Versuche für sie aus. Als Besucher kann man dort mit ihnen tauchen, wer keinen Tauchschein hat, kann mit ihnen schwimmen. Ein Rostocker Doktorant arbeitet täglich mit dem Seehund Henry, dem er die Augen verbindet und Kopfhörer aufsetzt, und dann muß der bestimmte Dinge tun, die der Doktorant mit einem Stück Fisch belohnt. Es geht bei diesem Experiment darum, wie leistungsfähig die Barthaare der Seehunde sind. Der Spiegel schreibt: „Die Ergebnisse könnten bei der Entwicklung neuer Sensortechniken helfen und so etwa den Bau von Unterwasserrobotern revolutionieren“.
Sensortechnik, U-Boot, Roboter…Dieses Zeug sollte man doch besser den pragmatischen Amis überlassen – die lieben Technik, erst recht, wenn sie sich irgendwie mit Elektronik verknüpfen läßt. Es geht also bei der Seehundforschung wieder mal nicht um ein besseres Verständnis dieser unserer nahen Verwandten, die es einst vom Land wieder zurück ins Meer zog, kein Kennenlernen und Freundschaft schließen, sondern um eine schnöde kapitalistische Systemmurkelei – für einen weiteren technischen „Fortschritt“ – ein Wort, das inzwischen politisch noch unkorrekter ist als sagen wir „Hängetitten“. Und dafür muß Henry nun als Gefangener täglich idiotischste Befehle ausführen, obwohl es sich eigentlich bis nach Warnemünde herumgesprochen haben dürfte, dass es keine ökonomische Utopie mehr gibt, nur noch eine ökologische! Der „Fortschritt“ führt nun stracks in die Katastrophe! Aber die Forscher haben natürlich recht: Auf ein paar Seehunde mehr oder weniger kommt es dabei jetzt auch nicht mehr drauf an. Und von irgendwas müssen sie ja leben.
Im Küstenurlaubsort Friedrichskoog haben die Kieler Seehundforscher die Jungtiere freundlicherweise frei gelassen, aber ihnen dafür einen schrecklichen Peilsender auf dem Rücken befestigt (hoffentlich nicht genagelt!). Ein Jahr lang müssen die sympathisch aussehenden und mit der Flasche aufgezogenen Ex-Heuler nun damit rumschwimmen: „Sie sollen den Biologen verraten, wo in der Nordsee die Lieblingsplätze der Seehunde sind,“ wie die Kölnische Rundschau schreibt. Es soll mithin geklärt werden, wie sie ihren natürlichen Lebensraum nutzen und ob sie sich ähnlich wie die frei geborenen Artgenossen verhalten. Die Kenntnisse darüber helfen bei ihrer zukünftigen Auswilderung. Die Seehundforscher sprechen dabei von „Wiedereingliederung“ und „Rehabilitation“, so als würde es sich bei diesen frischfischversessenen Rackern um jugendliche Kriminelle handeln, denen unser Sozialstaat noch eine Chance gibt. Und tatsächlich werden die Seehunde ja auch als Konkurrenten der Fischer gehasst und bejagt.
Allein in Schleswig-Holstein gibt es noch vierzig offizielle Seehundjäger, obwohl die offensive Jagd auf Seehunde dort seit 1974 verboten ist, aber jeder Süddeutsche weiß natürlich, dass die Friesen ein ganz besonders interpretatorisches Verhältnis zum Gesetz haben. Ein Seehundjäger, der auf Sylt tätig ist und 45 Euro brutto für jeden erschossenen Seehund bekommt, meint: „Einer muß es ja machen.“ Im übrigen findet er es wichtig, „dass kranke, schwache Tiere nicht leiden müssen.“ Auf der Reicheninsel Sylt ist also das altdeutsche „negative Euthanasiedenken“ anscheinend noch lebendig – im Gegensatz zu dem „positiven Euthanasiedenken“ der zukunftsoptimistischen Amis, das darin besteht, alle Frauen mit dem Samen von Genies zu befruchten. Der Plan dazu („Aus dem Dunkel der Nacht“ betitelt) stammt vom Nobelpreisträger und Präsidenten der „Genetic Society of America“ Hermann Joseph Muller der dafür die Antipoden „Darwin und Lenin“ als Beispiele für Topsamenspender erwähnte. Zuletzt hat der US-Milliardär Jeffrey Epstein diesen Plan verfolgt – mit seinem Samen.
Bei den Seehunden gibt es in Amerika aber auch noch den Trend, dass sich immer mehr „Seal Hunter“ und „Seal Scientists“ zu „Seal Watchern“ wandeln, die gegen Bezahlung naturschützerisch motivierte oder gelangweilte Touristen zu den Seehunden auf deren Sandbänke und Klippen fahren. Die Tiere haben sich stellenweise schon so an diese peace-loving people („Ökos“) gewöhnt, dass sie auch dann noch liegen bleiben, wenn sich so einer langsam an sie ranrobbt und dann einen auf toten Seehund macht. Dann kann es sogar vorkommen, dass ein paar Jungspunde oder auch ein neugieriges altes Männchen ihrerseits ranrobben und sich riechend davon überzeugen, dass dieser Seal-Watcher noch lebt. Wenn es sich dabei um eine Frau handelt, dann kann es auch passieren, dass so ein alter Seehund auf sie raufrobbt, während ihr Mann diese schwergewichtige aber ungefährliche Annäherung filmt – und den Clip anschließend auf Youtube stellt. Es gibt schon einige tausend Clips davon. An der deutschen Küste passiert es gelegentlich sogar, dass ein Seehund sich gemütlich an den Strand zwischen lauter Badegäste legt, in Eckernförde, Westerland, Helgoland, Norderney und anderen Badeorten z.B., auch das wird gerne und oft gefilmt. Einige Seehunde haben inzwischen Namen.
Diese absichtslosen Forschungen gelten den professionellen Forschern immer noch als unliebsame Anekdoten: „Dergleichen gilt heute als nahezu wertlos, weil sich solche Beobachtungen statistischen Berechnungsverfahren entziehen,“ wie eine Sprecherin des Bayrischen Rundfunks in einer Wissenschaftssendung ernsthaft verkündete. In Wirklichkeit ist es jedoch genau umgekehrt: Während die Citizen-Scientists, die Amateurforscher, auf Internetforen, Youtube und Facebook unermüdlich „Wildlife“-Beobachtungen, -Begegnungen und -Überlegungen zusammentragen – und das weltweit, sind die Wissenschaftler zunehmend gezwungen, dümmlichste Industrieforschung in unsinnigsten Versuchsanordnungen, verbunden mit den gemeinsten Vergewaltigungen ihrer Objekte, anzustellen.
Der Ökologe Josef Reichholf hat sich am Anfang seiner Karriere auch eine Weile an solchen wissenschaftlichen Aktivitäten beteiligt: „Oft werde dieser Forschung ein künstliches Korsett aus Zahlen und Meßgrößen übergestülpt. Denn alles, was sich in Formeln und Maßzahlen ausdrücken läßt, erweckt den Anschein von größerer Wissenschaftlichkeit…Aber wir jungen Ökologen störten uns nicht daran, denn die Modelle und die ihnen zugrunde liegende Mathematik werteten die Ökologie auf. Sie hatte damit Eingang gefunden in den gehobenen Kreis der quantitativen Naturwissenschaften.“
Das kommt aber jetzt zu einem Ende: Die organismische Biologie wird überall abgewickelt – zugunsten von Genetik und Enzymatik. „Fast kann man schon davon ausgehen, dass die Tier- und Pflanzenforschung von der Naturwissenschaft zur Kulturwissenschaft und zu den Künstlern wandert. Ohnehin war es ja die Romantik, die den Naturschutzgedanken einst angestoßen hat,“ meint der Feldbiologe der Humboldt-Universität Professor Rolf Schneider.
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Eidechsen
Auf youtube findet man einen Clip „Eidechse vs Kater“: Er zeigt, wie eine kleine Zauneidechse einen großen Kater angreift, der sie jedoch nicht ernst nimmt. Ich besaß einmal zwei amerikanische Rotkehlanolis. Wenn ich denen zu nahe kam, kuckten sie mich so wütend an, als wüßten sie noch, dass es einmal umgekehrt war: Einst waren sie so groß wie Dinosaurier und ich so klein wie eine Spitzmaus.
Die Reptilien entwickelten sich vor 300 Millionen Jahren – aus den Amphibien. „Sie gingen aus dem Wasser an Land,“ heißt es auf „wissen.de“. Und dann diversifizierten sie sich. Allein von den Eidechsen gibt es 400 Arten. Meine kleinen Rotkehlanolis fraßen Würmer und Fliegen. Im Gegensatz zu ihnen sind z.B. die viel größeren Leguane Pflanzenfresser. Und sie gucken nicht so tiefgründig hasserfüllt. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Dass ich überhaupt die Nahrung als Unterscheidungsmerkmal hier anführe, ist womöglich bloß dem Zeitgeist („Du bist, was Du ißt“) geschuldet.
Der Betreiber des taz-blogs „Reptilienfonds“ Heiko Werning läßt sich gerne mit einem Leguan auf der Schulter fotografieren. Kürzlich sogar mit mehreren – unter der Überschrift „Wer braucht denn Katzen?“. Das war in der taz u.a. gegen mich, als Katzenliebhaber, gerichtet. Werning züchtet die Leguane nicht nur, er gibt auch die Magazine „Terraria“, „Draco“ und „Reptilia“ heraus. Letztere thematisierte zuletzt „baumbewohnende Leguane“. „Das sind keine Tiere, die man sich aus einer Laune heraus anschaffen sollte,“ schreibt Werning im Editorial. Dennoch sind Berichte über solch einen „Spontankauf“ Leguan interessant, z.B. der von der Schriftstellerin Annemarie Beyer: „Mein Leben mit Igor. Eines Tages verlor ich den Verstand und kaufte einen grünen Leguan“ (2007). Das Jungtier befand sich mit seinen Geschwistern in einer Tierhandlung. Wenn man ihrem Terrarium zu nahe kam, flüchtete es als einziges nicht, wehrte sich aber auch nicht. Die alleinlebende Autorin erwarb den kleinen Leguan quasi in einem Anflug mütterlichen Mitleids – und bereute es nicht, denn nach einigen Widerständen in der „Eingewöhnungsphase“ kamen beide „gut miteinander aus“. Natürlich mußte sie ihre Wohnung leguankommod umgestalten. Und überhaupt scheint Igor ihr Leben verändert zu haben. Das geschieht oft, wenn man sich auf ein oder mehrere Tiere einstellt – und nicht umgekehrt. Igor hat inzwischen einen Garten in Italien und darf mit ihr im Bett schlafen.
Ich glaube, der Evolutionist Heiko Werning würde das mißbilligen, seine Leguane leben in Terrarien. Das „tierforum.de“ empfiehlt das Igor-Buch als Leguan-Ratgeber. Werning setzt sich für eine „artgerechte Haltung“ ein. Natürlich kann man sich fragen: Ist Igor mit seiner italienischen „Sommerresidenz“ glücklich? Aber Leguane hinter Gittern und Glas sind es sicher nicht. Während es dabei um die Aufzucht von Leguanen geht, um Biologie sozusagen, also um etwas abstrakt Konkretes, ist es im Falle von Jgor das Gegenteil: Er ist konkret, weswegen das abstrakte Glück eines Leguans die Erforschung seiner Bedürfnisse im ständigen Kompromiß mit den eigenen ist. Im Grunde ein Tierexperiment, ein Projekt, aber eben im Zusammenleben, was die Trennung von Subjekt und Objekt auf sich beruhen läßt. Werning hat mit anderen Reptilienfreunden ein Buch über „Grüne Leguane“ veröffentlicht sowie eins über „Wasseragamen und Segelechsen“. (2002)
Die asiatischen Wasseragamen leben bevorzugt, wie ihr Name schon sagt, am Wasser, in das sie bei Gefahr tauchen. Zu den Leguanen im weitesten Sinne zählt man die großen Meerechsen auf den Galapagos-Inseln, die nach Algen und Tange tauchen und Salz ausschwitzen. Wegen ihrer extravaganten Lebensweise sollte die Biologin Carmen Rohrbach im Auftrag des „Max-Planck-Instituts für Verhaltensphysiologie“ diese endemische Art nach Strich und Faden erforschen. Dazu gehörte, die Tiere durchzunumerieren (auf dem Rücken), sie humboldtmäßig zu vermessen und zu wiegen. Als das Forschungsjahr um war und ihre Notizbücher voller Daten, gab sie ihren Beruf auf und wurde Reiseschriftstellerin. Sie lebte zwar gerne auf der einsamen tropischen Insel, erklärte sie, „aber auf Kosten der Meerechsen, gerade dieser Tiere, die die Friedfertigkeit und das zeitlos paradiesische Leben am vollkommensten verkörpern. Ausgerechnet diese Tiere mußte ich mit meinen Fang- und Meßmethoden verstören und belästigen.“
Auch die Wasseragamen leben am Wasser, am Süßwasser allerdings, sie tauchen nur bei Gefahr und sind sowohl Pflanzen- als auch Fleischfresser. In China nennt man diese knapp einen Meter lang werdende Agamenart „Wasserdrachen“. Wie Drachen bzw. Saurier sehen jedoch eher die viel kleineren afrikanischen Gürtelechsen aus mit ihren dornigen Schuppen und ihrem scharfen Blick.
Während der „Wasserdrache“ sich zur Not ins Wasser (zurück-)flüchtet, entkommt der „Flugdrache“ durch die Luft. Er lebt auf hohen Bäumen und segelt bei Gefahr davon. Er hat dazu verlängerte Rippen, die mit einer Haut bespannt sind, die er ausbreiten kann. Damit können die nur 20 Zentimeter groß werdenden Flugdrachen bis zu 60 Meter gleiten.
Werning schrieb über „Segelechsen“, auch eine Agamenart, die auf den Philipinen lebt, meist in Wassernähe. Sie haben ein Hautsegel auf dem Rücken, das bei den Männchen bis zum Schwanzende reicht. Die bis zu einem Meter lang werdenden Tiere können damit aber nicht segeln – nur gefährlich aussehen.
Noch größer ist der Komodowaran, er ist nicht nur die größte und schwerste Echse, sein Biß ist auch noch giftig. Auf youtube gibt es einen Clip, der zeigt, wie ein Komodowaran einen Büffel damit tötet.
Noch drachenähnlicher sieht allerdings der in Mittelamerika lebende Federbuschbasilisk aus. Er hat Häute hinter dem Kopf und auf dem Rücken, die er aufrichten kann, wird aber höchstens 80 Zentimeter lang und kann bei Gefahr auf seinen Hinterbeinen, die verbreiterte Zehen haben, über das Wasser laufen. Bei geringerer Gefahr reicht sein „durchdringender“ Basiliskenblick, wie Joachim Sartorius in seinem „Portrait Eidechsen“ (2019) schreibt. Der Dichter und Kulturdiplomat ist in Tunesien aufgewachsen: Überall gab es dort Eidechsen, sie waren beliebt, weil sie Fliegen und Mücken fraßen. Satorius ist darüber zu einem Echsenfreund und -kenner geworden, es gibt davon 2700 Arten. U.a. erwähnt er die schon von Alfred Brehm beschriebene neuseeländische Brückenechse. Es sind „lebende Fossilien“, die laut Wikipedia „ihre Blütezeit“ schon lange hinter sich haben – nämlich „150 Millionen Jahre“. Der männlichen Brückenechse fehlt ein Kopulationsorgan, schreibt Sartorius, „das unterscheidet die Art von anderen Echsen“, sie verpaaren sich „durch Kloakenkuss“.
Bei den Armenischen Felseneidechsen fehlen die kompletten Männchen. Sie vermehren sich über Jungfernzeugung, allerdings müssen die Weibchen dazu von einem anderen Weibchen bestiegen und stimuliert (wenn nicht gar simuliert) werden. Ähnliches gilt für amerikanische Rennechsen.
Ich will hier aber noch von Eidechsen sprechen, bei denen es keine Artbestimmung gibt: Die Geschichte von Tété-Michel Kpomassie beginnt mit ihnen. Er wuchs in einem Dorf in Togo auf, wo die Jungs sich einen Spaß daraus machten, Eidechsen mit einem Peitschenhieb zu erwischen. Das tote Tier legten sie in die Sonne, woraufhin die Leiche Fett ausschwitzte. Mit dem bestrichen sie ihren Penis. Angeblich sollte man dann neun Mal hintereinander vögeln können. Kpomassie verfehlte einmal eine Eidechse mit seiner Peitsche, sie flüchtete auf einen Baum und er kletterte ihr hinterher. Oben zischte ihn plötzlich ein Schlange an (ebenfalls ein wechselwarmes Reptil). Kpomassie fiel vor Schreck vom Baum. Seine Eltern steckten ihn ins Bett. Er wußte nicht, ob die Schlange ihn gebissen hatte oder nicht – und mußte weiter im Bett bleiben, seine Eltern brachten ihm Bücher aus der Missionsbibliothek, u.a. eins über Grönland. Dort gab es zwar keine Eidechsen, aber auch keine Schlangen, wie er erfreut feststellte.
Die nördlichsten Echsen, die Waldeidechsen, von dernen die Reptilienforscher des Berliner Museums für Naturkunde annehmen, dass ihnen die steigenden Temperaturen gefährlich werden könnten („Coole Echsen mögen keine Klimaerwärmung“, heißt es in ihrer Presseerklärung), haben sich nur bis an den Rand des Polarkreises verbreitet.
Kpomassie wurde lange nicht gesund – und das schlangenlose Grönland wurde sein Traumland. Sein besorgter Vater brachte ihn schließlich zu einer Schlangenbißheilerin. Sie lebte im Wald und war umgeben von Schlangen. Kpomassie fürchtete sich in ihrer Hütte so sehr, dass er nach kurzer Zeit gesund wurde. Sein Vater schickte ihn daraufhin erneut zu der Heilerin, um sie für ihre erfolgreiche Behandlung zu bezahlen. Kpomassie haute jedoch mit dem Geld ab – nach Grönland. Aber er brauchte lange, bis er dort ankam. Auf halber Strecke in Paris und dann noch einmal in Kopenhagen benötigte er die Hilfe von zwei ehemaligen französischen Kolonialbeamten. Dafür kündigte Radio Grönland schon sein Kommen an, als er noch auf einem Schiff unterwegs war und im Hafen erwartete ihn dann eine Menschenmenge. Alle wollten, dass er reihum bei jedem wohnte. Manchmal schickten die Eskimofrauen ihre Männer auf die Jagd, damit sie mit ihm allein waren. Kpomassie lernte grönländisch und Kajak fahren, jagte mit den Männern Robben und machte sich Notizen. Er war begeistert von der grönländischen Lebensart und verglich sie ständig mit den viel unfreundlicheren groben Sitten in seinem Dorf. Er blieb ein Jahr auf der Insel, dann mußte er zurückfahren. In Paris ging er in das Institut zur Erforschung der Arktis. Dem Direktor erzählte er seine Grönlandeindrücke, daraufhin stellte dieser ihm einen Schreibtisch zur Verfügung, er sollte aus seinen Notizen einen Bericht machen. Der wurde dann auch veröffentlicht, auf Deutsch hieß er: „Ein Afrikaner in Grönland“. Kpomassie bekam danach eine Anstellung im Arktischen Institut.
Seine Reise fand Anfang der Sechzigerjahre statt, sein Buch wird immer wieder neu aufgelegt – und anscheinend verändert. Auf Wikipedia heißt es heute, er sei in Togo „zum Schlangenkultpriester vorbestimmt worden und floh nach Europa. Fasziniert von den Inuit unternahm er mit seinen Ersparnissen eine 16monatige Reise nach Grönland“. Die potenzsteigernden Eidechsen, mit denen seine Geschichte begann, kommen darin nicht (mehr?) vor. Sollte meine Lektüreerinnerung mich so getäuscht haben? Unsinn, ich weiß z.B. aus dem ebenfalls wunderbaren Bericht von T.E.Lawrence „Die sieben Säulen der Weisheit“ (1926), dass daraus auch vor jeder neuen Auflage seine sexuellen Erlebnisse mit Arabern und Türken reduziert wurden.
Die kleinen Anolis, von denen hier am Anfang die Rede war, haben jetzt noch einmal von sich reden gemacht – und zwar die „Bahamaanolis“. Sie sind normalerweise bräunlich-schwarz gefärbt, aber mit einer neuen Gentechnik (Crispr) gibt es nun Bahamaanolis ohne Farbpigmente. Die Neodarwinisten jubeln: Dieses molekularbiologische Verfahren, mit dem einzelne Gene gezielt aus der Erbsubstanz rausgeschnitten werden können und das laut Süddeutsche Zeitung „aus der Gentechnik nicht mehr wegzudenken ist,“ wird sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren angewendet, aber bisher funktionierte es nicht bei Reptilien, angeblich, „weil deren Eier äußerst zerbrechlich sind.“ An der Universität von Georgia gelang es den Gerätewissenschaftlern nun aber, „die Genschere in unreife Eizellen weiblicher Eidechsen einzuschleusen.“ Heraus kamen dabei Anoli-Albinos, die überhaupt nicht mehr böse gucken, sondern traurig. Und selbst wenn man an das Leben von Albinos aus anderen Arten denkt, deren Mutter nicht vergewaltigt wurde, haben sie auch allen Grund dazu. Die erbsubstanzreduzierten Bahamaanolis sind zwar ein Gewinn für die Aminaturwissenschaft, aber ein Verlust für das Verständnis von Eidechsen und die Verständigung mit ihnen – mithin ist dieser Eingriff in ihre Erbsubstanz aufs Schärfste zu verurteilen: als grober anthropozentrischer Unfug.
Zumal ein Phänomen aufgetaucht ist, das in der anthropozänischen Klimaerwärmung bedenklich stimmt: Plötzlich tauchen Albino-Renntiere auf, Albino-Elefanten, Albino-Wale, Albino-Raben, Albino-Pferde, Albino-Löwen, Albino-Tiger, Albino-Wasserschildkröten…Wie kommt das? Was ist da los? Wo kommen die her? Gibt es eine allen gemeinsame Ursache für diese Pigment-Anomalie?
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Flughunde
Der Harvard-Philosoph Thomas Nagel fragte sich 1979 in einem Essay: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ Er meint, das werden wir nie wissen, da sie uns zu fremd sind. Schon allein deswegen, weil sie sich mittels Ultraschall orientieren. „Come on.“ entgegneten ihm daraufhin die Verhaltensforscher, es sind Säugetiere, sie haben Hunger, Durst, Angst, sie unterhalten sich, verpaaren sich, säugen ihre Jungen, richten Kinderstuben ein usw. „Also gib dir ein bißchen Mühe, Nagel!“ Sagten die einen, und die anderen: „Er ist eben ein Philosoph, und hat keine Ahnung von Tieren.“
Im Angloamerikanischen sind mit dem Wort „Bats“ nicht nur Fledermäuse, sondern oft auch Flughunde, Fruit Bats, gemeint. Zusammen kommen die sog. Fledertiere in 900 Arten auf allen Kontinenten vor. Es sind die einzigen Säugetiere, die fliegen können. Sie haben einen gemeinsamen Vorfahren, aber vor 50 Millionen Jahren trennten sich ihre Wege.
Die Fledermäuse haben kleine Augen und große Ohren, sie jagen Nachts – vorwiegend Fluginsekten, die sie mit einem radarähnlichen Echolotsystem orten, wobei sie die zurückgeworfenen Töne in Bilder umwandeln. Sie sehen also per Schall. Einige Nachtschmetterlinge haben nebenbeibemerkt ihren Code aus Klicklauten geknackt, d.h. sie hören mit und versuchen rechtzeitig zu entkommen.
Die Flughunde ernähren sich von Früchten, Knospen, Nektar und Pollen – und sind damit die einzigen Säugetiere, die nicht parasitär leben. Ihre Nahrung wird ihnen von den Bäumen und Pflanzen geradezu angeboten, damit sie deren Samen verbreiten. Den kleinsten Flughundearten, die als Bestäuber Blüten aufsuchen, sind einige Pflanzen inzwischen entgegengekommen, um sie „blütentreu“ zu machen. Das gilt auch für einige Fledermausarten. Die von den Fledertieren aufgesuchten Pflanzen blühen Nachts und haben Blütenblätter ausgebildet, die den Schall der Fledermäuse besser als andere reflektieren, außerdem sind ihre Blütenstände robuster gebaut. Man kann hierbei von einer Symbiose sprechen.
Zwar gibt es ein paar Flughundearten, die auch das Echolotsystem beherrschen, vor allem solche, die sich in Höhlen aufhalten – in manchen bis zu einer Million Tiere. Aber an sich orientieren die Flughunde sich vor allem mit ihren großen Augen und ihrer feinen Nase. Die meisten Arten bilden in Bäumen und Höhlen Kolonien, es gibt aber auch solitär lebende.
Wenn ein großer Flughund über einen fliegt, hört man seinen Flügelschlag, Flap, Flap, Flap, bei den Palmenflughunden, die zu Millionen aus dem Kongo in den Wald des Nationalparks Kasanka in Sambia fliegen, verstärkt sich ihr Fluggeräusch in ein so lautes Rauschen, dass Safari-Touristen den Kopf einziehen. Es ist die größte Säugetierversammlung der Welt.
In Australien zieht es die Flughunde inzwischen vermehrt in die Städte, wo sie in den Park- und Straßenbäumen schlafen. Wobei sie sehr laut sind. Es sind individuelle „Streitgespräche“, wie israelische Forscher herausfanden, z.B. weil einer einem anderen zu nahe gekommen ist. Nachts auf ihren Futterbäumen streiten sie sich ebenfalls. „Sie kommunizieren spezifische Probleme“ mit unterschiedlichen Lauten, schreiben die Biologen. In den Städten wird ihr Lärm zum Problem, außerdem machen sie viel Dreck und übertragen Krankheiten.
Auf dem Land wurden sie lange Zeit verfolgt, weil sie über Obstplantagen herfielen – und das gleich zu hunderten und tausenden. Inzwischen sind sie in Australien jedoch geschützt. Und es gibt immer mehr Hospitäler für Flughunde, die abgestürzt oder an Stacheldraht hängen geblieben sind, oft sind es auch verwaiste oder verletzte Jungtiere. Ihnen kommt zugute, dass sie sehr schön aussehen – nicht wie Hunde, sondern eher wie kleine Füchse und dass sie sehr schnell ihre Angst verlieren und dann nicht mehr beißen. Man sollte sich auf Youtube ein solches Hospital ansehen. Sie fliegen buchstäblich auf ihre Pflegerin. Ihre „Auswilderung“ ist schwieriger als die von Fledermäusen, weil sie so „anhänglich“ werden, wie der Fledermausforscher Martin Straube aus eigener Erfahrung weiß.
So wie es in Deutschland etliche Frauen gibt, die eine Voliere im Garten haben und in Not geratene Rabenvögel pflegen, sind es auch in Australien vorwiegend Frauen, die sich in ähnlicher Weise um „Flying Foxes“ kümmern. Als ich in den Sechzigerjahren im Bremer Zoo arbeitete, hatte ich mich u.a. um zwölf indische Riesenflughunde zu kümmern. Obwohl ich eimerweise Obstsalat täglich für sie zubereiten mußte, waren diese zänkischen Tiere mir die Liebsten. Sie stürzten sich geradezu in ihr Futter und mußten sich anschließend stundenlang putzen. Besonders pflegten sie ihre großen Flughäute, die eine Spannweite von 1 Meter 60 erreichen. Es waren noch junge Tiere, aber ich traute mich trotzdem nicht, sie zu berühren.
Vor einiger Zeit bekam ich eine Patenschaft für einen Flughund im Berliner Tierpark geschenkt. Davon habe ich aber kaum was: Die dortigen Tiere hängen tagsüber wie kleine Säcke in einem kahlen Baum der Tropenhalle und werden erst munter, wenn der Tierpark schließt. In der riesigen Tropenhalle des Leipziger Zoos flog allerdings einmal ein Flughund am helllichten Tag dicht an mir vorbei. Man sah kurz seine langen Zehen, die anders als unsere funktionieren: Er braucht keinen Willen, um sich an einem Ast damit festzukrallen, sondern um sich davon wieder zu lösen. Seine Flughaut war gegen das Licht fast durchsichtig, so dass ich auch seine Finger sah – die Knochen seiner Flügel, die Finger waren fast so lang wie sein Körper, die Daumen ragten über die Flughaut hinaus und hatten ein Kralle.
Die australischen „Flying Foxes“ leben nomadisch, sie werden in vielfacher Hinsicht erforscht. Wenn auf Neuseeland von „Flying Foxes“ die Rede ist, dann sind damit „Seilrutschen“ gemeint, mit denen man über Baumkronen rasend Geschwindigkeiten bis zu 160 Stundenkilometern erreicht. Dort gibt es keine Flughunde, ebensowenig wie in Amerika. In Kanada gab es aber einen Piloten Charley Fox, der „Flying Fox“ genannt wurde und im Zweiten Weltkrieg mit seiner Propellermaschine den „Wüstenfuchs“ General Rommel angriff und verletzte.
Auf der Bionik-Schau der Hannover Messe stellte der Automatisierungs-Konzern Festo einen „BionicFlyingFox“ vor, der nicht wie die Drohnen nach Art eines Hubschraubers fliegt, sondern mithilfe seiner Flügel und dabei sehr wendig ist. An der Universität von Illinois stellte man zur gleichen Zeit eine Roboter-Fledermaus vor, die ähnlich funktioniert. Das US-Militär will sie als Drohne einsetzen.
Leonardo da Vinci riet, man solle die Anatomie der Vögel studieren. Und das gleiche müsse man bei den Menschen machen, um herauszufinden, „welche Möglichkeit im Menschen steckt, wenn er sich durch Flügelschlagen in der Luft halten will.“ In diese Richtung dachte noch Otto Lilienthal bei seinen Flugexperimenten, weil er ebenfalls eine „homomorphe Konstruktion“ anstrebte, wie Hans Blumenberg das 1957 in seinem Aufsatz über die „Nachahmung der Natur“ nannte. Es kam dann jedoch zu einem „Paradigmenwechsel“: Spätestens mit den amerikanischen Luftfahrtpionieren, den Gebrüdern Wright, reifte eine „Erfindung“ heran, die sich „von der alten Traumvorstellung der Nachahmung des Vogelflugs freimachte und das Problem mit einem neuen Prinzip löste.“ Voraussetzung dafür war laut Blumenberg der Explosionsmotor und, noch wesentlicher, „die Verwendung der Luftschraube“: Solche „rotierenden Elemente“ seien „von reiner Technizität,…der Natur müssen rotierende Organe fremd sein.“
Das sind sie aber nicht: In ihrem „Leitfaden: Die fünf Reiche der Organismen“ schreiben die Mikrobiologinnen Lynn Margulis und Karlene Schwartz: „Während bestimmter Stadien ihres Lebenszyklus besitzen die Zellen vieler Pflanzen und der meisten Tiere flexible, peitschenartige, im Zellinneren verankerte Fortsätze – sogenannte Undulipodien, Flagellen bei den Bakterien genannt. Die Schlagbewegung eines Undulipodiums wird durch Umwandlung von chemischer in kinetische Energie erzeugt – einem „Drehmotor“ gleich.
Über die „Flagellen“ heißt es auf Wikipedia: „Es sind gewendelte Proteinfäden außerhalb der Zellmembran, die sich nicht aktiv verformen, an ihrem in der Zelle verankerten Ende durch einen Motor in Drehung versetzt werden und auf diese Weise – ähnlich wie ein Propeller – einen Schub oder Zug ausüben.“ Die „rotierenden Elemente“ gehören mithin zur Grundausstattung der Natur. Es waren die Bakterien, die das Rad in Form des Protonen-Drehmotors erfanden.
Auch beim Flügelschlag der Flughunde wird chemische in kinetische Energie umgewandelt. Und das gilt auch für die Flugzeuge mit Explosionsmotoren. Die gründliche Erforschung des Luftraums kam hierzulande nach dem Ersten Weltkrieg in Gang – mit dem Verbot der motorisierten Fliegerei durch die Siegermächte. Die deutsche Luftfahrt suchte und fand einen Ausweg: Fliegen ohne Motor, den Segelflug, es gründeten sich allerorten Segelflugvereine. Das waren die goldenen Zwanzigerjahre der deutschen Aerodynamik. „Denn wo nur Luft ist und kein Motor, da wird aus Fliegen reine Aerodynamik. Das erste Flugzeug der Welt mit freitragenden, nicht verstrebten Tragflächen startete 1922 auf der Wasserkuppe in der Rhön. Es ist direkt aus Aerodynamik konstruiert,“wie der Kulturwissenschaftler Peter Berz schreibt.
In Göttingen entstand derweil die dazugehörige Luftforschung, wo bereits 1905 der erste deutsche Windkanal gebaut worden war, es wurden Lehrstühle für Aero- und Thermodynamik eingerichtet. Einen der vielen Segelflughersteller an der Wasserkuppe gibt es noch heute. Seine Flugzeuge stellen noch immer Weltrekorde auf.
Es sind genaugenommen Gleiter, wie es sie in der Tierwelt häufig gibt: Gleithörnchen, fliegende Lemuren, Flugechsen und Fliegende Schlangen z.B….Sie haben die Fähigkeit entwickelt, sich breit und schmal zu machen, so dass sie z.B. von einem Baum runterspringen und zum nächsten rübergleiten können, um ihren Feinden zu entkommen. Die Flughörnchen schaffen dabei bis zu 60 Meter. Die Fliegenden Fische schnellen sich umgekehrt torpedoartig hoch aus dem Wasser und breiten dann in der Luft flügelähnliche Flossen aus.
Der Segelflugzeug-Flug ähnelt allerdings eher jenen Vögeln, die ihre Gleitflüge an der Thermik ausrichten: Adler, Geier und Mauersegler z.B.. Beim Mauersegler geht die Ähnlichkeit so weit, dass er auf dem Boden nicht mehr ohne Fremdhilfe hochkommt. Von Hand aufgezogene Mauersegler muß man deswegen, wenn sie flügge sind, auf einem Hochhaus frei lassen, damit sie eine Thermik finden können, die sie erfaßt. Die Mauersegler schlafen sogar im Flug.
Man hat lange geforscht und tut es noch immer, wie die Zugvögel sich auf ihren riesigen Strecken orientieren. Wie die Kuckucke z.B. an den Waldrändern des Kongoflusses überwintern können – obwohl ihre Pflegeeltern, die sie aufzogen, keine Zugvögel sind, ihnen also auch nicht den Weg weisen konnten. Vielleicht folgen sie aber auch nur bestimmten Luftströmungen und Winden, in denen sich Insekten treiben lassen – und zwar so viele, dass man von „Luftplankton“ spricht. Die ersten Spezialflugzeuge, mit denen man dies untersuchte, starteten bereits 1926 in Louisiana. Es ging den Forschern darum, „die Geheimnisse der Migration von Baumwollkapselmotten zu ergründen.“ Es war „der erste Versuch, Insekten vom Flugzeug aus zu fangen“ – zwischen die Tragflächen hatte man eine „klebrige Falle“ gespannt. In den darauffolgenden fünf Jahren flogen die Forscher 1300 Einsätze, wobei sie in Höhen zwischen 60 und 4500 Metern Zehntausende von Insekten fingen. Am Höchsten flog eine Spinne – an ihrem Seidenfaden. Angeblich kann sie mit ihrem Körper und dem Faden auch eine Landung ansteuern.
Bevor in Louisiana Insekten in der Luft verfolgt wurden, hatte man bereits herausbekommen, dass Nachtfalter der Art „Gamma Eulen“, Nutzpflanzenschädlinge, zusammen mit anderen Insekten „in einer stetigen Ost-West-Linie parallel zu den Zugvögeln flogen“. Ein Beobachter berichtete von „schnellfliegenden Libellen in 2000 Metern Höhe, die ohne Schwierigkeiten die Richtung änderten, um einem Flugzeug auszuweichen,“ wie der Anthropologe Hugh Raffles in seinem Buch „Insektopädie“ schreibt.
2016 fanden Mitarbeiter des englischen Agrarforschungsinstituts in Harpenden mit Radargeräten und Saugnetzen an einem Luftschiff heraus, dass im Jahresdurchschnitt 3370 Milliarden Insekten und Spinnen in Höhen zwischen 150 und 1200 Metern den Süden Englands überfliegen. Insgesamt haben sie ein Gewicht von über 3000 Tonnen. Die Luftströmungen tragen diese Massen vom Norden Europas bis in den Mittelmeerraum.
Vermutlich bestimmen sie die Routen vieler Zugvögel, die sich unterwegs von diesen Insekten ernähren. Deren Entdeckung in großen Höhen wurde von den Wissenschaftlern zunächst bezweifelt, „weil die dünne Höhenluft auch den Auftrieb der Insekten schwinden lässt. Zudem benötigen fliegende Insekten im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht sehr viel Sauerstoff – der aber in größerer Höhe knapp wird. All dies ficht sie jedoch nicht an. Für die meisten Insekten gilt die Schwerkraft nicht.
Inzwischen gehen Hochluftforschung und Luftplanktonforschung zusammen, aber noch immer haben sich ihnen die Zugvogelforscher nicht angeschlossen. Vielleicht ist den Liebhabern von Vögeln der Gedanke zuwider, dass deren Langflugziele von vergleichsweise hirnlosen Insekten gesteuert werden, indem sie bloß diesen kleinen Beutetieren folgen, die wiederum von völlig geistlosen Winden fortgetragen werden.
Diese Abschweifung ist vielleicht in einem Luftmuseum nicht fehl am Platz, zumal in einer Ausstellung „Fliegen, was fliegen kann“. Fliegen ist ein weiter Begriff. Aber um doch noch einmal auf die Flughunde zurück zu kommen, die sich über Afrika, Asien, Australien und über viele Südseeinseln verbreitet haben, in Europa auf Zypern: Es sind gute Flieger. Der Palmenflughund wird von Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie als Langstreckenflieger bezeichnet. Sie wollen seine Zugroute quer über den afrikanischen Kontinent mit eigenem Telemetriesatelliten verfolgen. Der Bestand dieser freundlichen, als Samenausbreiter und Bestäuber nützlichen und sich gelegentlich an vergorenen Früchten betrinkenden Tiere geht „dramatisch zurück,“ sagen sie, weil ihre Schlaf- und Futterbäume abgeholzt werden zugunsten von Plantagen, wo man sie als Schädlinge bekämpft. In Afrika werden sie zudem gerne gegessen. In Indien dagegen, wie man sich denken kann, fast verehrt.
Vortrag gehalten im Luftmuseum Amberg anläßlich der Ausstellung von Res Ingold („Ingold Airlines“).
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