Vier Yahoo-Girls
Die Frauen drängen nach vorne, die Männer schlaffen ab, werden aber immer unangenehmer. Das zeigt sich auch in der Gegenwartsliteratur – u.a. in zwei Romanen des politisch Korrekten, die den ganzen Digitalisierungswahn affirmieren, indem die Handlung ständig über Smartphone, Twitter, Instagram, Facebook etc. weitergetragen wird…
1. Kate Davis „Love Addict“: Eine Angestellte im öffentlichen Dienst, die von den Ficks mit Männern enttäuscht ist und sich in eine lesbische Künstlerin verliebt, jeden Tag sich von ihrer Faust ficken läßt, mit Dildos, in lesbische Swingerclubs geht, auch einmal fesseln und schlagen läßt, aber sich schließlich zu sehr dominiert fühlt und sich in eine liebe lesbische Schwester eines Arbeitskollegen verliebt – quasi ein Happy-End. Dieser ganze „komplizierte Sex der Millenials“ (Die Welt) wurde sehr sprachreich und ironisch verfaßt – von einer Literaturwissenschaftlerin.
2. Mithu Sanyal „Identitti“: Eine von allen jungen Studentinnen, vor allem den People of Colour, geliebte Düsseldorfer Dozentin mit indischem Namen entpuppt sich als Weiße, woraufhin sich ihre Fans spalten: Verräterin sagen die einen und schimpfen, die anderen bleiben ihr nahe und wollen wissen, warum sie das getan hat.
Inzwischen gibt es mehrere Fälle in den USA, da weiße Frauen sich als Schwarze ausgaben – und aufflogen, sowie einen Roman von Philip Roth „Der menschliche Makel“, in dem sich ein Schwarzer als Weißer camouflierte, um Karriere zu machen. Mithu Sanyal handelt ihren „Fall“ digital mit den einschlägigen Medien, Smartphone, Twitter, Facebook etc. ab. Mir war er etwas zu unironisch (und die Studentinnen zu politisch korrekt), obwohl die Autorin, eine Kulturwissenschaftlerin, älter ist als ihre jungen Protagonistinnen ist – und gewissermaßen sympathisierend zurückblickte.
Zwei Sachbücher, die diese ganze Digitalisierungsscheiße kritisieren, die jetzt wegen Corona wirklich unerträglich wird:
3. Cathy O‘Neill „Weapons of Math Destruction. How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy“: „Wir leben im Zeitalter des Algorithmus. Immer mehr Entscheidungen, die unser Leben beeinflussen – wo wir zur Schule gehen, ob wir einen Autokredit bekommen, wie viel wir für unsere Krankenversicherung zahlen – werden von mathematischen Modellen getroffen. Theoretisch sollte dies zu mehr Fairness führen: Jeder wird nach den gleichen Regeln beurteilt, und Voreingenommenheit ist ausgeschlossen.“
In Wirklichkeit geschieht jedoch das Gegenteil – sie objektivieren die Diskriminierung: „Wenn ein armer Student keinen Kredit bekommt, weil ein Kreditvergabemodell ihn als zu riskant einstuft (aufgrund seiner Postleitzahl), dann wird er von der Art von Bildung abgeschnitten, die ihn aus der Armut herausführen könnte.“ Die Algorithmen stützen die Glücklichen und bestrafen die Unterdrückten. Die Autorin, eine Mathematikerin, führt dazu den Beweis.
4. Marieluise Wolff „Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung“: „Die modernen Monopolisten Apple, Amazon, Facebook oder Google verdienen Milliarden mit dem Verkauf unserer persönlichsten Daten. Ohne entsprechende Aufklärung oder gar Gegenleistung verkaufen sie private Informationen, die auch zur Überwachung und Manipulation missbraucht werden.“ Die Autorin ist eine „erfolgreiche Managerin“, sie „kritisiert die Entwicklung zu einer sinnlos durch-digitalisierten Wirtschaft und ent-analogisierten Gesellschaft“. Sie fordert ein Umdenken und „ein Ende der Anbetung digitaler Trugbilder, die weder Fortschritt noch Werte schaffen.“ Fordern kann man viel.
All das hat zudem der US-Schriftsteller Kurt Vonnegut bereits 1953 sehr viel radikaler in seinem Buch „Das höllische System“ gesagt und der US-Schriftsteller Thomas Pynchon noch aktueller 1984 in der „New York Times Book Review”, wo er sich in einem Artikel fragte: “Ist es o.k., ein Luddit zu sein?” (Ludditen waren die englischen Maschinenstürmer, d.h. Webmaschinen-Zerstörer, die die Heimarbeiter arbeitslos machten) Sein Text endete mit dem Satz: „Wir leben jetzt, so wird uns gesagt, im Computer-Zeitalter. Wie steht es um das Gespür der Ludditen? Werden Zentraleinheiten dieselbe feindliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie einst die Webmaschinen? Ich bezweifle es sehr. Aber wenn die Kurven der Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Molekularbiologie konvergieren… Jungejunge! Es wird unglaublich und nicht vorherzusagen sein, und selbst die höchsten Tiere wird es, so wollen wir demütig hoffen, die Beine wegschlagen. Es ist bestimmt etwas, worauf sich alle guten Ludditen freuen dürfen, wenn Gott will, dass wir so lange leben sollten.”
Vonnegut und Pynchon sind alte Linke, letzterer hat 2014 noch einen ganzen anarchistischen Roman über diese Digitalisierungsscheiße geschrieben: „Bleeding Edge“ (inklusive einer 9.11.-Tätertheorie), wohingegen die vier Frauen zu den neuen Feministinnen zählen.
P.S.: Kurt Vonnegut hat den hellsichtigen Roman „Das höllische System“ sozusagen aus den Macy-Konferenzen heraus dystopiert, die Ergebnisse der Waffenlenksystemforschung ins zivile Leben überführen wollten. Dabei hat er auch zwei Namen (Klarnamen) genannt, indem er die Militärforschung des „Fathers of Cyborg“ Norbert Wiener und des Mathematikers John von Neumann weiter dachte. Der eine bleibt auf der Siegerseite, der andere wechselt zu den Aufständischen.
Norbert Wiener beschwerte sich laut der Biologiehistorikerin Lillly Kay brieflich beim Autor über seine reaktionäre Rolle darin. Vonnegut antwortete ihm: „Das Buch stellt eine Anklage gegen die Wissenschaft dar, so wie sie heute betrieben wird.“ Es endet damit, dass die Rädelsführer hingerichtet werden, darunter der Überläufer John von Neumann, er verspricht: „Dies ist nicht das Ende, wissen Sie.“
Warten, kein Wir müssen: Pynchons Ludditen-Idee setzt auf eine Objekt-Strategie, ähnlich wie auch der französische Philosoph Jean Baudrillard, während Bruno Latour heute auf halbem Weg dahin ist, mit seiner Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), in der auch die Dinge Akteure/Aktanten sind.
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Man sollte jedoch nicht vergessen: Der Urlaub verhält sich zur Freiheit wie das Manöver zum Krieg.
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Gehhilfen
Ich gehe! Das Gehen hat Konjunktur, nicht das wirkliche Gehen, sondern Bücher darüber. Denn wenn einem wegen „Lockdown“ und „Home-Office“ das Raus-Gehen erschwert wird, dann will man wenigstens Bücher über das Gehen lesen. Anders beim Fliegen: Wenn die Grenzen dicht sind, wo will man da hinfliegen? Die Le Monde weiß es: Seit einigen Wochen nehmen insbesondere in Asien die ‚Flüge nach nirgendwo‘ zu. Im Juli bot China Airlines, ein Unternehmen mit Sitz in Taiwan, dem an Mangelerscheinungen leidenden Bevölkerungsteil ‚falsche‘ Flüge an. Bordkarten, Passkontrollen, Sicherheitsanweisungen an Bord, alles wie gehabt… Nur blieb die Maschine am Boden. Im selben Monat charterte ein anderes taiwanesisches Unternehmen, Eva Air, einen ihrer Jets in Hello Kitty-Farben, der vom Flughafen Taoyuan abflog, um nach 2 Stunden und 45 Minuten wieder dort zu landen. Ende August bot All Nippon Airways einen 90-minütigen Rundflug am Bord einer der A380 an, die normalerweise zwischen Tokio und Honolulu fliegen. Sowohl am Flughafen als auch im Flugzeug durften die Passagiere ein ‚hawaiianisches Urlaubserlebnis‘ genießen. Auch bei Royal Brunei Airlines kann man eine 85-minütige ‚Dine & Fly‘-Sightseeing-Tour buchen. Alle Plätze für den ersten Flug waren innerhalb von 48 Stunden ausverkauft. Und der Erfolg hält an. “
Zurück zum Zu-Fuß-Gehen von zwei intellektuellen Gehern – die Autoren, einer stammt aus dem Osten, der andere aus dem Westen, haben sich die Mühe gemacht, wochen- oder sogar monatelang die Rhön zu Fuß zu durchstreifen. Der eine querdurch, der andere immer an der ehemaligen DDR-Grenze entlang. Der aus dem Ruhrgebiet stammende Ulrich Grobe wollte damit vor allem die „alte Kunst des Wanderns“ – von der klassischen Peripathetik über das gläubige Pilgern bis zur Kasseler Spaziergangsforschung – (wieder) populär machen, während der thüringische Schriftsteller Landolf Scherzer die „Befindlichkeiten“ der Bewohner zu beiden Seite des sogenannten „Kolonnenwegs“, auf dem bis 1989 die Grenztruppen der DDR patroullierten, erkundete. Auf dem letzten Streckenabschnitt seiner Wanderung wurde er vom Einschleichreporter Günter Wallraff begleitet. Als sie einmal einkehrten, meinte der Wirt zu ihnen: „In der DDR hatten wir Gäste ohne Ende und keine Waren. Heute haben wir Waren ohne Ende, aber keine Gäste.“ Für den eher meditativ als investigativ gestimmten Zeitjournalisten Ulrich Grobe war dagegen diese Grenze bloß ein Orientierungspunkt – auf dem Weg zu einer ökologisch sauberen Selbsterfahrung, die aber reine Werbepoesie ist: „Auf jeder Wanderung versuche ich, mich aus der Landschaft, durch die ich gehe, zu ernähren. Nirgendwo ist es so einfach wie hier im Biosphärenreservat, wo man mit der Vermarktung regionaler ökologischer Produkte und einer Ökonomie der kurzen Wege Ernst macht.“
Der Schweizer Nationalökonom Lucius Burckhardt hat aus diesem literarisierten Freizeitspaß eine ernsthafte „Spaziergangsforschung“ gemacht, die „Promenadologie“. Daneben gibt es aber auch ein richtiges „Weggehen“. Ich selber habe mir 1978 gesagt: „Ich gehe jetzt!“ – in Richtung Südsüdwest, bin aber damals nur bis Italien gekommen. Immerhin! Mein Pferd trug das Gepäck (einen Zentner).
Anders der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz im argentinischen Exil: Dort besuchte er eine Intellektuellenparty, wo sich alles um Jorge Luis Borges scharrte, der lauter Süßlichkeiten von sich gab, so dass es Gombrowicz irgendwann nicht mehr aushielt – und wegging. Und wie er ging. Aber als er beinahe zur Tür gelangt war, machte er wieder kehrt – „denn bereits begann sich mir das Gehen in einen Spaziergang zu verwandeln, und wieder gehe ich durch den Saal…“ Alles erstarrt und guckt. Er nimmt einen neuen Anlauf: „Zum Teufel, Teufel, ich GEHE, GEHE, GEHE.“ Nur die ergangenen Gedanken haben Wert, um es mit Nietzsche zu sagen.
In Südamerika gibt es ein ganzes Volk, das eines Tages beschloß zu gehen – immer tiefer in den Amazonasdschungel hinein: die Machiguenga. Auf diese Weise entkamen wenigstens einige den mörderischen Kautschukhändlern, den Holzfällern, den Goldsuchern, den US-Missionaren, den Krankheiten der Weißen und – aktuell – den Erdölkonzernen: „An dem Tag, da ihr aufhört zu gehen, werdet ihr ganz fortgehen..heißt es von den letzten, verstreut im Urwald überlebenden Machiguengas in dem Roman „Der Geschichtenerzähler“ von Mario Vargas Llosa, über die der er schreibt: „Um im Gehen zu leben, mußten sie zuvor leicht werden und alles zurücklassen, was sie besaßen.“
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Rauchen
In den Partnersuchdiensten findet man hunderte und aberhunderte von Frauen, die eine „Liebe fürs Leben“ und „Abenteuer“ suchen, aber darauf bestehen: nur mit „Nichtrauchern“. Die Frauen, die das nicht angaben und nun mit einem Raucher liiert sind, bestehen meist darauf, dass ihr neuer Freund wenn schon, dann aber nur auf dem Balkon raucht, was im Winter und bei Regen ziemlich gesundheitsschädlich ist. Wenn der Raucher das geltend macht, bekommt er zu hören: „Dann hör doch einfach auf zu rauchen“. Als ich 1969 nach Berlin kam wohnte ich zunächst in einem Zimmer, das zu einer Wohnung von zwei alten Damen gehörte. Weil ich nicht wußte, ob ich dort rauchen durfte, fragte ich sie – und bekam zur Antwort: „Rauchen Sie, Rauchen Sie. Das hält die bösen Geister fern“.
Später lernte ich eine Frau kennen, die nichts dagegen hatte, dass ich nach dem Vögeln im Bett rauchte – aber nur in den ersten drei Nächten. Einmal interviewte ich einen Botaniker im Botanischen Garten und rauchte dabei. Ihm bot ich auch eine Zigarette an, woraufhin er meinte: „Nein danke, also Pflanzen verbrennen, das kann ich nicht, können wir hier alle nicht – bis auf eine Kollegin sind alle Wissenschaftler hier Nichtraucher, eigentlich merkwürdig.“
In vielen amerikanischen Orten ist das Rauchen inzwischen selbst auf der Straße verboten, und in München, wo man coronabedingt nun auch auf der Straße eine Schutzmaske tragen muß, verbietet sich das Rauchen quasi von selbst. Zudem steht auf jeder Zigarettenpackung „Rauchen tötet, macht impotent, versursacht Lungenkrebs…“ Mit Fotos von Schwerkranken. Dazu kommen die „Rauchen verboten“-Schilder, die überall in den Behörden und öffentlichen Räumen hängen. Bis in die Neunzigerjahre setzten sich einige Professoren noch darüber hinweg.
In Russland wurde während der Revolution auf den ganzen Versammlungen immer wieder über ein Rauchverbot abgestimmt und alle waren dafür, dennoch wurde weiter geraucht wie blöd.
Die slowenische Philosophin Alenka Zupancic schreibt in „Das Reale einer Illusion“ (2001), „dass der Kampf für ein Reales der Ethik zu wichtig ist,…um ihn den Moralisten zu überlassen.“ Was heute um so dringlicher erscheint, da die Ethik inzwischen zu einer der Ordnungsbegriffe der ’neuen Weltordnung‘ geworden ist. Dabei geht es ihr „nicht etwa um einen Aufruf ’nach unseren tiefsten Überzeugungen‘ zu handeln, eine Haltung, der heute eine Ideologie entspricht, die uns ermahnt, unseren ‚authentischen Neigungen‘ und unserem ‚wahren Selbst‘ Gehör zu schenken.“ Denn „das Kennzeichen einer freien Handlung liegt darin, dass sie den Neigungen des Subjekts ganz fremd ist“, wie Zupancic anhand ihres Traktats über Kant, der eine „Rückkehr zur Zukunft“ ist, herausarbeitet. Es geht ihr dabei um Kants „Ethik“, die im Zuge der Umwandlung des Sozialstaats zu einem Sicherheitsstaat, der mit kostengünstigen Gesetzen nur so um sich wirft, immer mehr in deren Dienste genommen wird: Und das eben ist die Scheiße!
Denn dadurch wird die Ethik etwas „im Kern Restriktives, eine Funktion“. Möglich wird dies laut Zupancic dadurch, dass man „jeder Erfindung oder Schöpfung des Guten entsagt und ganz im Gegenteil als höchstes Gut ein bereits fest Etabliertes oder Gegebenes annimmt (das Leben etwa) und Ethik als Erhaltung dieses Gutes definiert.“ Das Leben mag die Voraussetzung jeder Ausübung von Ethik sein, aber wenn man aus dieser Voraussetzung das letzte Ziel der Ethik macht, ist es Schluß mit der Ethik. Sie basiert nunmehr auf einer regelrechten Ideologie des Lebens.
„Das Leben sagt man uns, ist zu kurz und zu ‚kostbar‘, um sich in die Verfolgung dieser oder jener ‚illusorischen‘ Projekte verstricken zu lassen“. Die Individuen müssen sich immer öfter Fragen lassen: Was hast du aus deinem Leben gemacht? Du hast zehn Jahre mit einer Sache verloren, die zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hat? Du hast keine Nachkommen? Du bist nicht einmal berühmt? Wo sind denn die Ergebnisse deines Lebens? Bist du wenigstens glücklich? Nicht einmal das! Du rauchst?“
Man wird nicht nur für sein Unglück verantwortlich gemacht, „die Lage ist noch viel perverser: das Unglück wird zur Hauptquelle der Schuldigkeit, zum Zeichen dafür, dass wir nicht auf der Höhe dieses wunderbaren Lebens waren, das uns ‚geschenkt‘ worden ist. Man ist nicht etwa elend, weil man sich schuldig fühlt, man ist schuldig, weil man sich elend fühlt. Das Unglück ist Folge eines moralischen Fehlers. Wenn du also moralisch sein willst, dann sei glücklich!“ – Und hör auf zu rauchen. Hör einfach auf.
Die Deutsche Krebsgesellschaft schreibt: „Das Rauchverhalten unterscheidet sich nach dem sozialen Status, der anhand des Bildungsniveaus, der beruflichen Stellung und der Einkommenssituation gemessen wird. Bereits seit einigen Jahrzehnten rauchen mehr Männer und Frauen mit niedrigem sozialem Status als mit hohem sozialen Status.“ Dies trifft sich mit amerikanischen Studien, die Barbara Ehrenreich in ihrem Buch „Wollen wir ewig leben?“ (2020) zitiert. Danach haben hart arbeitende Unterschichtler (Fabrikarbeiter, Krankenschwestern, Alleinerziehende) das Rauchen sogar bitter nötig: Eine Zigarettenpause ist für sie die einzige Möglichkeit, dem Stress für kurze Zeit zu entkommen. Aber auch Schriftsteller rauchen oft und gerne: Bei ihnen ist das Rauchen mit dem Lesen, Denken und Schreiben fast unlösbar verbunden. Wollten sie das Rauchen aufgeben, müßten sie vielleicht auch mit dem Schreiben aufhören.
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Geldbeschaffungsmaßnahmen
Am Sichersten scheint immer noch die Geldbeschaffung über das uralte sexuell konnotierte Menscheln – nun über Email an zigtausend einsame Männer auf einmal adressiert:
Elena: „Hallo!!! Es tut mir Leid, dass ich Ihnen schreibe, mit einer kleinen Verzögerung. Ich hoffe, dass ich Dir interessant genug bin und Du willst eine ernsthafte Beziehung? Ich hoffe, dass wir gemeinsame Interessen für die Zukunft haben. Ich suche einen ernsten Mann, der bereit ist an einer Beziehung. Wenn du andere Interessen hast, dann sollten wir uns besser nicht treffen. Ich brauche nur einen anständigen Mann, der eine ernsthafte Beziehung haben möchte. Mein name ist Elena, ich bin 29 Jahre alt und in meinem Alter habe ich keine Zeit für Spielchen! Ich bin eine ernste und anständige Frau, ohne schädliche Gewohnheiten. Wenn Sie Interesse an der Fortsetzung unserer Bekanntschaft, schreiben Sie mir bitte. Ich freue mich, Dich kennen zu lernen und warte auf Deine Briefe.“
Petra: „Guten Abend Es tut mir leid, Sie auf diese Weise kontaktiert zu haben. Ich dachte, Sie wären die richtige Person für mich. Mein Name ist Petra Kothe, deutscher Herkunft und ich lebe in Frankreich. Ich glaube an Gott und habe gelernt, vom Zweifel zum Licht zu gelangen. Ich leide an einer schweren Krankheit, die mich zum sicheren Tod verurteilt hat, es ist Kehlkopfkrebs, und ich habe eine Summe von 800.000 Euro, die ich einer vertrauenswürdigen und ehrlichen Person geben möchte. Ich besitze ein Rohölimportgeschäft in Frankreich und habe meinen Mann vor 6 Jahren verloren, was mich sehr betroffen hat, ich konnte nicht wieder heiraten, und wir haben keine Kinder. Ich möchte diesen Betrag spenden, bevor ich sterbe, da meine Tage aufgrund des Vorhandenseins dieser Krankheit, für die ich keine Behandlung erhalten habe, gezählt sind. Ich würde mir jedoch von ganzem Herzen wünschen, dass Sie mein Geschenk annehmen und mit Gottes Hilfe wird alles gut, da wir nur geboren wurden, um zu helfen und einander dankbar zu sein. Möchten Sie von dieser Spende profitieren? Hier ist meine emailadresse: petrakothe007@gmail.com“
Xenia – gleich mehrere mails mit vielen Fotos von ihr, geschrieben von Männern? Wie sie damit an Geld rankommen wollen, weiß ich nicht: „Ich bin Russin, 39 Jahre alt. Meine Höhe ist 166 cm, Gewicht 52 kg. Ich denke, dass meine Kriterien für Dich geeignet sind. Ich arbeite als Sekretärin in einer Molkerei und mag meine Arbeit sehr. Ich bin ein offenes und ehrliches Mädchen, missbrauche keinen Alkohol. Ich rauche nicht. Meistens verbringe ich meine Freizeit in der Gesellschaft einer Freundin oder zu Hause bei meinen Eltern oder in der Natur. Ich liebe Tiere. Ich mache auch Sport. Ich möchte einen treuen und liebevollen Mann finden. Ich mag ruhige, ernsthafte, ehrliche und faire Männer.
Ich bitte dich, antworte mir so schnell wie möglich! Zum Abendessen möchte ich heute gebackene Kartoffeln mit Fleisch zubereiten. Dann gehe ich unter die Dusche und lege mich ins Bett.
Heute habe ich Sachen gewaschen und gebügelt.Glaubst du, es gibt Liebe auf den ersten Blick? Gibt es Liebe in der Ferne? Hattest du jemals dieses Gefühl? Sag mir deine Meinung
Ich dachte, dass es sehr schön wäre, wenn ich dich während meines Urlaubs besuchen könnte. Sag mir, bist du bereit mich zu treffen oder nicht? Ich bin sicher, dass wir eine tolle Zeit haben und uns auch immer besser kennenlernen werden. Ich verstehe sehr gut, dass unsere Beziehung ohne ein Treffen nur Flirten und einfache freundliche Korrespondenz ist. Und nichts Ernstes.
Ich bin auch leidenschaftlich an Kunst interessiert. Manchmal schaffe ich es, Ausstellungen zu besuchen oder ein Museum zu besuchen. Ich habe auch eine musikalische Ausbildung. Ich kann Klavier spielen. Spielst du Musikinstrumente? Ich koche auch gerne. Ich kann von gewöhnlichen Pfannkuchen bis zu komplexen Kuchen kochen. Ich hoffe, mein Urlaub kommt bald. Und wir können den Plan unseres Treffens bereits ernsthaft diskutieren.
Ich habe die deutsche Sprache in der Schule gelernt. Daher sollten Sie und ich keine Kommunikationsprobleme haben. Den Urlaub betreffend: Die Situation ist jetzt unter Kontrolle. Grenzen zwischen Ländern öffnen sich. Daher glaube ich nicht, dass ich Probleme beim Verlassen haben werde. Ich werde alle richtigen Informationen herausfinden. Keine Bange. Ich bin zuversichtlich, dass alles gut wird! Wir müssen uns gegenseitig vertrauen!
Ich interessiere mich nicht für Reichtum und teure Geschenke. Das Wichtigste für mich ist, dass der Mann immer da ist, sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten! Und eine Frau sollte Komfort im Haus schaffen. Sie muss kochen und das Haus sauber halten können.“
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Nerze
Es war mal fast Konsens: „Pelze sind out!“ Aber mit dem Neoliberalismus und den vielen süßen Teenagermädchen aus der Oberschicht kam der Pelz als Besatz und Accessoire für edle Mäntel und Jacken wieder in Mode, vor allem die Felle vom Nerz sind nun laut NDR „wieder in“.
Die kleinen munteren „Edelmarder“ werden massenhaft in Pelztierfarmen gezüchtet, in den USA heißen sie Minks. Diese etwas größeren Tiere, die aus Zuchtfarmen entkamen, sind hier nun eine invasive Art und haben die europäischen Nerze bereits über Weissrussland hinaus nach Osten abgedrängt. „Artenschützer versuchen, den Nerz wieder in Deutschland anzusiedeln, wo bereits 1925 der letzte getötet wurde. Doch in seinem ursprünglichen Lebensraum [an Uferrandstreifen] hat sich heute der Mink ausgebreitet. Und der ist nicht bereit, das Feld zu räumen,“ berichtet „wissenschaft.de“. In Schottland hat man sich deswegen bemüht, erst mal den Mink auszurotten, ebenso auf einer estländischen Insel, um dort wieder den Nerz anzusiedeln. Vereinzelt paaren sich Mink-Männchen mit Nerz-Weibchen und auch mit Iltis-Weibchen, aber noch sind dabei keine Lebendgeburten herausgekommen.
In den Nerzfarmen werden die semiaquatisch lebenden Nerze/Minks in kleinen Drahtkäfigen gehalten und nach etwa sechs Monaten getötet, meistens mit Auspuffgas. „Bei einer Kohlendioxidkonzentration von 70 % kann es qualvolle 15 Minuten dauern, bis die Tiere sterben,“ heißt es auf „animal-ethics.org“.
Jährlich werden mindestens 50 Millionen Nerze vergast, die meisten in chinesischen Nerzfarmen. In Europa erhält ein Arbeiter für jedes maschinell abgezogene Fell 70 Cent, ein Händler bekommt dafür 70 Euro. In Deutschland, ebenso wie in England, gibt es wegen der hohen Auflagen keine Nerzfarmen mehr, die Produktion ist dadurch zu teuer geworden, aber die dänischen Züchter z.B liefern ihre Nerzkadaver in die schleswig-holsteinische Tierkörperbeseitigungsanlage „Rendac-Jagel“, wo daraus Tierfett für die Biodieselindustrie gemacht wird.Viele LKWs fahren also mit Nerz.
Europaweit gibt es 6500 Pelzfarmen, 1000 sind es in Polen und 1600 in Dänemark (die 2019 etwa 19 Millionen Nerze züchteten). Zusammen werden von ihnen jährlich rund fünf Millionen Tiere getötet. In den USA gibt es 670 Farmen, weltweit hat China die meisten und dominiert den Pelzhandel. Laut „Stuttgarter Zeitung“ ist auf den Farmen im November „Pelzernte“. Das Deutsche Pelzinstitut ergänzt: 15 Prozent der Felle stammen aus „freier Wildbahn“. Der internationale Pelzverband gibt an, dass 2016 rund 75 Millionen Nerzpelze im Wert von fast 2 Milliarden Euro produziert wurden.
In diesem Jahr wird die „Ernte“ noch weitaus größer sein, denn in mehreren Zuchtfarmen haben Arbeiter Nerze mit dem Coronavirus angesteckt, wie „Focus“ berichtete. Obwohl italienische Virologen bei Haustieren eine Infizierung (und anschließende Immunisierung) nachwiesen, eine „umgekehrte Infektion“ jedoch als eher unwahrscheinlich einschätzten, und obwohl nach Ansicht der WHO-Expertin Maria van Kerkhove auch das Risiko einer Ansteckung des Menschen durch infizierte Nerze „sehr begrenzt“ ist, beschlossen mehrere Staaten eine gigantische Tötungsaktion: Allein im US-Bundesstaat Utah werden 10.000 Tiere getötet, in den 1665 dänischen Nerzfarmen, die jährlich 17 Millionen Tiere umbringen, werden nun vier Millionen „gekeult“, in Spanien sind es 92.000 und in den Niederlanden 1,1 ‚Millionen (die 160 Nerzfarmen dort werden geschlossen). Weitere Staaten werden demnächst mit Nerz- und Minktötungen auf ihrem Herrschaftsgebiet folgen. Nur Russland, wo es ebenfalls einige Coronafälle in Pelzfarmen gab, geht einen humaneren Weg: Dort wird der für Menschen entwickelte Impfstoff nun bei den Nerzen angewendet und steht daneben auch für Haustiere zur Verfügung. Als Grund nannte die österreichische „Kronen-Zeitung“ : „Das russische Staatsoberhaupt gilt als äußerst tierlieb.“
Bevor der deutsche Staat gegen die letzten Nerzfarmen gesetzgeberisch vorging, wurden auch hier einige tierliebende Menschen aktiv: Im niedersächsischen Holdorf befreiten sie 1998 rund 4000 Zuchtnerze aus den Käfigen einer Pelztierfarm. Einige Experten behaupteten anschließend laut dpa, die befreiten Tiere hätten außerhalb ihrer Drahtkäfige keine „Überlebenschance“. In Sachsen-Anhalt befreite die „Animal Liberation Front“ 2007 etwa 10.000 Minks. Im brandenburgischen Frankenförde befreite sie 2010 rund 4000 Minks und in Luckenwalde 1500 Minks (die „amerikanischen Nerze“ werden von den Pelztierzüchtern wegen ihres schöneren Fells den „europäischen Nerzen“ vorgezogen). Diese Aktionen hätten einen „gravierenden negativen Einfluß“ auf das hiesige Ökosystem, meinte ein Sprecher des NABU. Die „amerikanischen Nerze“ würden die Brut vieler Wasservögel und anderer Erdbrüter fressen.
Angesichts all der derzeitigen Nerz-Massaker wirbt jetzt der kleine Tierpark in Zittau gerade mit diesen verspielten Tieren, die in einem seiner Gehege leben: „Unsere Besucher stehen gebannt vor der Anlage. ‚Das sind also Nerze‘ stellen sie oft fest.“ Der Zoo arbeitet schon seit Jahren mit dem Verein zur Erhaltung des Europäischen Nerzes (EuroNerz e.V.) zusammen bei der Wiederansiedlung seiner Jungtiere in Freiheit.
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Im Stahlbad „Fit for Fun“
Der Ästhetikprofessor Peter Sloterdijk entdeckte „im Fitness-Studio mit seinen Edelstahl-Stählgeräten ein Plakat mit einer auf dem Rücken liegenden Frau, die ruft Fit mich!“ Das ist zwar vulgär gesagt, aber wohl wahr: Es geht beim Fitnesstraining um eine Steigerung der Attraktivität und der Gesundheit, wobei diese laut einer Harvardstudie für den Mann u.a. darin besteht, dass er mindestens „21 mal im Monat Sex hat“, d.h. ejakuliert, was sein Prostatakrebsrisiko um 33 Prozent senkt. Bei den Frauen ist die Wahrscheinlichkeit einer frühen Menopause bei so viel „Sex“ um 28% geringer, angeblich sinkt dabei auch das Brustkrebsrisiko. Damit Männer und Frauen diese Ficksequenz erreichen, sollten sie einigermaßen attraktiv aussehen. Da die „Anziehungskraft“ aber mit dem Alter abnimmt, müssen sie etwas gegen diesen Nachlassen tun: also Fitness betreiben, sich fit halten.
Die „Fitness“-Welle ist amerikanischen Ursprungs, sie begann hierzulande mit der Ersetzung des „Dauerlaufs“ durch das „Jogging“, das mit dem entsprechenden „Joggingoutfit“, auch „Running Essentials“ genannt, einherging: Laufschuhe, Hemden, Jacken, Socken, schweißfeste Armbände, Armtaschen.Dazu kamen dann Fitness-Uhren mit Herzfrequenz-, Blutdruck- und EKG-Anzeigen sowie gegebenenfalls Jogging-Gürtel für Smartphones mit Headset Noise Cancelling Ohrhörer inklusive Mikrofon und tragbarer Ladehülle.
Anfänglich wurden die Jogger noch von allerlei Haus- und Wildtieren angegriffen, im Wald u.a. von Raubvögeln und Krähen, so als wollten diese ihnen sagen: Hier geht man entweder gemessenen Schrittes oder man bleibt draußen.
Vor 62 Jahren wurde in Unterfranken das erste Bodybuilding-Studio eröffnet, heute gibt es hier rund 8000 Fitnessstudios, in denen unterschiedliche Geräte zum gezielten Kraft- und Ausdauertraining stehen, oft offeriert man dort auch noch animierte Kurse für Indoorcycling und Aerobic: ein von Musik begleitetes rhytmisches Bewegungstraining vor allem für Frauen, das 1981 von der Hollywoodschauspielerin Jane Fonda über Videos propagiert wurde und jetzt im Alter von 82 noch einmal. Den Fitnessstudios sind häufig Sauna- und Wellnessbereiche angeschlossen, in denen man den Fortschritt bei der „Optimierung“ seiner Körperformen im Vergleich mit anderen Nackten einschätzen und gegebenenfalls an den Fitnessgeräten (Rudergeräte, Laufbänder, Kabelzuggeräte etc.) bestimmte Muskelgruppen besonders entwickeln kann.Dazu gibt es auch noch Muskelaufbaupräparate (u.a.„Pferdegold“), verbunden mit Nahrungsergänzungsmitteln und einer „gesunden Ernährung“.
„Das Volk zieht sich aus. Die Haut wird zur Annonce,“ meint Sloterdijk. Die jungen Frauen „führen ihre Tattoos an entlegenen Stellen vor“. In ihren Internetforen erfahren sie, wo sich in ihrer Vagina die U- und G-Punkte zur Luststeigerung befinden, diese können sie sich auch mit Kollagen vergrößern – „aufspritzen“ – zudem die Vagina „straffen“ und die Brüste „liften“ lassen.
Für den schnellen Erfolg beim ästhetischen Bodyshaping gibt es Hormonpräparate. Das Abbauprodukt DHT des Hormons Testosteron, das von Männern eingenommen wird, um ihr Muskelwachstum zu forcieren, bewirkt allerdings, wenn es mit ihrem Urin in Flüsse und Seen gelangt, dass aus Froschweibchen Männchen werden, womit deren Populationen zum Untergang verurteilt sind. Gelangen Östrogen-Abbauprodukte mit dem Urin in die Gewässer, verweiblichen die männlichen Fische. Dies geschieht u.a. über den Wirkstoff Ethinylestradiol in Antibaby-Pillen, deren Einnahme wiederum notwendig ist, um mit der nötigen Ficksequenz die Gesundheit zu erhalten bzw. zu verbessern.
Häufiger „Sex“ dient auch dem psychischen Wohlbefinden, weil er die „Glückshormone“ Dopamin und Serotonin freisetzt, wie die Wissenschaftler von Harvard herausfanden. Sloterdijk beobachtete auf ihrem Campus: „Um halb sieben am Morgen ist das Fitness-Studio schon voll von Trainierenden, die sich selbst antreiben, wie Akteure, die noch Größeres vorhaben.“ Im dortigen Swimmingpool herrscht wegen des Andrangs äußerste Bahnendisziplin. Die Anzahl der geschwommenen Bahnen wird ebenso in Kilometern gezählt wie die der gejoggten, an den Geräten geruderten bzw. getretenen Strecken und die der gestemmten Gewichte in Kilo. Man kann sogar sagen, das Zählen und die Erhöhung der Zahlen bei jeder dieser Anstrengungen ist die eigentliche Fitness. Die Jogger, Schwimmer und an Kraft- und Sportgeräten Trainierenden sind „Berufsevolutionäre“, denn sie gehen darwinistisch angeregt vom „Survival of the Fittest“ aus, also dass nur der Fitteste im Geschlechter- und Daseinskampf überlebt, d.h. erfolgreich ist. Sloterdijk sieht bereits ein „drohendes Übermaß an Gesundheit“ aufkommen. Ich sehe in den Bodybuildingstudios eher die durch Automatisierung von ihren Maschinen verdrängten Arbeiter, die für ihren Produktionsausstoß Stücklohn bekamen und nun für die Benutzung von Fitnessgeräten zahlen müssen. Gesund ist beides nicht.
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Autorenwahn
Der amerikanische Bestsellerautor Paul Auster redet vom Schreiben, „insbesondere vom Schreiben als einem Instrument, Geschichten zu erzählen, erfundene Geschichten, die in dem, was wir die Realität nennen, nie stattgefunden haben. Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen: Allein in einem Zimmer sitzen, einen Stift in der Hand, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mühsam Worte zu Papier bringen, um etwas entstehen zu lassen, das es nicht gibt – außer im eigenen Kopf. Warum nur sollte jemand so etwas tun wollen? Die einzige Antwort, die ich darauf jemals gefunden habe, lautet: Weil man muss, weil man keine Wahl hat.“
Man darf bezweifeln, dass er keine Wahl hatte. Es ging doch wohl von Anfang an darum, sich durch Bildung eine Tätigkeit als Kopfarbeiter zu verschaffen, um nicht als Handarbeiter schlecht entlohnt und ohne gesellschaftliche Anerkennung sein Leben zu fristen. Und da das Sich-Bildung-Verschaffen in den USA kostspielig ist, braucht es dazu Eltern, die sich krumm legen, um ihrem Sohn eine „gute“ Ausbildung finanzieren zu können. Paul Austers Vater hatte von seinen Eltern, die aus Galizien eingewandert waren, 100 Mietshäuser geerbt. 1979 starb sein Vater und Paul Auster erbte so viel, dass er damit seine Tätigkeit als Schriftsteller finanzieren konnte.
In seinem Roman „Die Erfindung der Einsamkeit“ dankte er ihm quasi dafür, wobei „die Figur des distanzierten Vaters“ laut Wikipedia „immer wieder in Austers Büchern auftaucht“. Als sein Sohn einem toten Rauschgifthändler das Geld abgenommen hatte und dafür ins Gefängnis gekommen war, machte Paul Auster daraus ebenso Literatur wie aus dem Autounfall seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Siri Hustvedt. Die „Stoffe“, um daraus Romane und Drehbücher zu verfassen, kamen also oft von alleine auf seinen Schreibtisch. Laut dem Nachrichtenmagazin „Focus“ verdiente Auster mit seinen Büchern bislang 20 Millionen Dollar.
Wie der 14 Jahre ältere Bestsellerautor Philip Roth wurde Paul Auster 1947 in einem jüdischen Viertel in Newark, New Jersey geboren. Beide waren gute Schüler und brave Sportler. Philip Roth las leidenschaftlich gerne Romane von Dostojewski, bei Paul Auster löste dessen Roman „Schuld und Sühne“ gar den Wunsch aus, Schriftsteller zu werden.
Roths Vater war ein koscherer Metzger, der für das Schulgeld des Sohnes seinen Ladengehilfen entlassen mußte. Philip Roth war ständig – auf Reisen und bei Zusammentreffen mit Leuten – an Geschichten interessiert, die er sich notierte und dann zu Romanen verarbeitete, wobei seine „Helden“ meist mit einem Icherzähler konfrontiert wurden. Er war neugierig und recherchierte gerne Details. Seine Kunst bestand darin, sich in andere Menschen reinzuversetzen und aus ihren kurzen und wahren Geschichten glaubwürdige Romane zu machen.
Paul Auster hatte einmal die Schreibtischidee, die Hörer einer Radiosendung zu bitten, ihm Geschichten zu schicken, die „kurz und wahr“ sein sollten. 2001 veröffentlichte er sie als Herausgeber unter dem Titel „Ich glaubte, mein Vater sei Gott“.
Die schottische Schriftstellerin A.L.Kennedy schreibt, dass sie, bevor sie anfing, über spanische Stierkämpfe zu recherchieren, um daraus ein Buch zu machen, daran dachte, Selbstmord zu begehen, weil sie alles, was sie zu sagen hatte, veröffentlicht hatte und ihr nichts Neues mehr einfiel.
Ich habe mehrfach mitbekommen, wie Schriftstellern der Stoff für ihre Texte ausgeht, meist wenn sie erste semiautobiographische Texte veröffentlicht haben und mit einigem Erfolg nun in den Kulturbetrieb gewissermaßen reinwachsen: Lesungen, Buchmessen, Empfänge (sogar beim Bundespräsidenten), TV-Auftritte, Verlagsanfragen – und nebenbei denken sie immer schon an das nächste Buch. Eine Weile können sie noch die für sie neue Kulturbetriebs-Erfahrung zum Thema machen, aber dann brauchen sie doch Stoff aus dem richtigen Leben, weil es ja stets ein Verkaufserfolg sein soll – und auch sein muß, denn der Verlag nimmt sonst von ihm, seinem Autor, kein neues Manuskript mehr an. Philip Roth fand irgendwann: „Ich leide an Erfahrungsmangel und nähre mich bloß noch von Worten.“
Also sammeln sie, die am Schreibtisch wenig erleben, ebenfalls en passant Geschichten, die sie hören, sei es in Gesprächen am Nebentisch, die sie dann mit Google vertiefen, oder über die sie lesen. „Um schreiben zu können, muß man gelesen haben und um lesen zu können, muß man zu leben verstehen, sonst kommt man nur dahin, die abstrakten Forderungen einer abstrakten Existenz endlos zu wiederholen,” meinten die Situationisten. Es gab Literaturstudenten, die das als Merksatz auf ihre IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine geklebt hatten. Der Schriftsteller ist eine abstrakte Existenz – nur zum Sinn verpflichtet, aber sein Bohèmeleben und sexuell konnotiertes Menscheln bleiben ihm Thema, ansonsten werden über keinen Gegenstand der Welt so viele Bücher geschrieben wie über Bücher. Das Lesen und sei es der Weltnachrichten (Trotzki war ein Meister darin), entbirgt eine unendliche Zahl von Geschichten, aus denen sich immer neue Romane fertigen lassen.
„Verbrechen und Strafe“, wie das Buch heute im Westen heißt, war anfangs auch nur eine dürre Polizeimeldung, aus der Dostojewski dann einen 768-Seiten-Roman machte. Für den russischen Schriftsteller gilt, dass er so dicke Werke (als Fortsetzungsromane im Feuilletonteil der Zeitung „Wremja“ – Die Zeit – seines Bruders) veröffentlichte, „weil er wirklich mußte und keine andere Wahl hatte“, denn er war ständig in Geldnot und zudem spielsüchtig, außerdem mußte er mit seinen Texten die Zeitung am Leben erhalten, die schließlich aber doch eingestellt wurde – mit so hohen Verlusten, dass Dostojewski als Mithaftender ins Ausland floh. Erst in seinen letzten zehn Jahren konnte er von seinen Buchhonoraren komfortabel leben.
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Mösen
Es mehren sich, wie in den Siebzigerjahren, erneut Bücher nicht nur von Feministinnen über die Vagina im allgemeinen, über ihre Möse im Besonderen, „Alles über das weibliche Geschlecht“ und über „die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen“ z.B.. „Vor jedem Rendez-vous schmiert meine böse Mutter/ mir in meine Möse Butter,“ reimte die Flötenlehrerin Christiane Seifert in ihrem Buch „Die schönsten Stellen aus der Dissertation meines Mannes“ (1987). Der Philosoph Peter Sloterdijk z.B. ist auch ein großer Freund der Möse, wenn man den Eintragungen in seinem zweibändigen „Denktagebuch“ glauben darf.
2016 hatte er überdies einen Roman: „Das Schelling-Projekt“ veröffentlicht: In dem semi-autobiographische Text konzipiert er mit Freunden per E-Mail-Austausch einen Antrag für ein Forschungsprojekt. Ihr Thema ist die Evolution des weiblichen Orgasmus, in dem es quasi naturgemäß um die Möse geht. Mit einer unerklärlichen E-Mail des toten Nicolaus Sombart erweisen sie diesem darin ihre Reverenz. Sombart betrieb bis ins hohe Alter eine Art erotischen Salon in Westberlin, in dem neben verschmitzten (verschwitzten?) Halbprominenten langbeinige (langmütige?) Studentinnen verkehrten.
Die Schriftstellerin Elke Schmitter beschrieb Sloterdijks Orgasmus-Roman in einem Artikel für den Spiegel unter dem Titel „Die Frau als Herrenwitz“ als ein anti-feministisches Pamphlet, das nur notdürftig als Roman getarnt sei. Die Journalistin Stefanie Lohaus schrieb in Die Zeit: „Kennt sich Peter Sloterdijk mit Frauen aus? Der Philosoph gibt dem Feminismus die Schuld an einer neuen Prüderie. Damit leistet er der Neuen Rechten Vorschub, die eine sexuelle Selbstbestimmung verdammt.“ Aber „alle wissen jetzt, dass Sloterdijk auch mit Ende 60 immer noch toll abspritzen kann.“
Im 1.Band seines Denktagebuch (2012) findet sich der Eintrag: Eine Schriftstellerin wie die des Bestsellers „Feuchtgebiete“, Charlotte Roche, „tappt in ihrer Möse umher wie eine Sandalentouristin in einer Tropfsteinhöhle“.
Im 2.Band („Neue Zeilen und Tage“ 2018) notierte sich Sloterdijk: „Der Renaissance-Dichter Annibale Caro war der Meinung , dass die Möse (fica) nun endlich ihren Homer finden müsse.“ Ihn: Caro oder Sloterdijk? Ich weiß nur, dass Annibale Caro ein Buch über die Nase schrieb.
Eine andere Eintragung von Sloterdijk thematisiert einen „Abend in einem chinesischen Lokal, das durch unterdurchschnittliche Küche auffiel, doch durch den Anblick einer Kellnerin in mittleren Jahren entschädigte. Ich konnte nicht vermeiden, an Robert van Guliks Klassiker über Sexualität in China zu denken. Der Autor führt aus, es komme den Wissenden dort darauf an, den Damen ihre feuchte Essenz zu rauben, was nicht gelingt, wenn man sich nicht um ihre Erzeugung bemüht. Der Hinweis auf orale Verfahren ist ziemlich evident. Chinesische Sexualität wäre demnach der Prototypus einer win-win-Situation, die den Männern die Illusion der Langlebigkeit einbringt, den Frauen die rosigen Wangen.“
Als Beweis für „politischen Schamanismus“ erwähnt Sloterdijk: „Zweihundert Jahre nach der Revolution spreizten Passantinnen in der Ära Mitterand – substantiellen Gerüchten zufolge – im Elysée wie hypnotisiert die Beine, wenn der Präsident von einer Limousine aus mit dem Finger auf sie [ihre Möse] gezeigt und seinen Adjudanten angewiesen hatte, sie in die ‚chambre particulière‘ zu bestellen.“
Zum „politischen Schamanismus“ könnte man auch Sloterdijks Eintrag über Mao Zedong zählen: „dem Zeugnis des Leibarzts zufolge“ habe Mao „mindestens 250 Chinesinnen mit seinem Tripper angesteckt. Da er, asiatischer Sexual-Erotik folgend, über die Kunst verfügte, fast nie zu ejakulieren, war er am Morgen immer in Form…“ Im Internet gibt es heute ein gut besuchtes Forum junger Männer, die sich darin üben und Ratschläge geben.
Für Sloterdijk ist die Anekdote über Mitterand ein Gerücht, Curtius Malaparte will dagegen dabei gewesen zu sein, als die Amerikaner in Neapel landeten und arme Frauen, ganz in Schwarz gekleidet, sich auf eine lange Bank setzten und ihre Beine spreizten, damit die „Befreier“ sich nach Inaugenscheinnahme ihrer Möse für die eine oder andere entschieden – gegen geringe Bezahlung. Dies soll eine „Beobachtung“ von ihm in seinem Bericht „Die Haut“ (2008), nun ein verfilmter Roman, den die Neue Zürcher Zeitung eine „bizarre Chronik“ der ersten Tage der Befreiung Neapels nennt: Überall sehe und beschreibe Malaparte „Verderbnis und Fäulnis“.
Eine weitere ähnliche Mösen-Geschichte erzählte neulich ein jüdischer Intellektueller über die Orthodoxen: Wenn sie Geschlechtsverkehr haben, sei die Frau vollständig mit einem Laken bedeckt, das nur da, wo ihre Möse sei, ein Loch habe.
Die „Frau als Herrenwitz“, das akzeptiert Sloterdijk anscheinend auch als Akt: “Nimmt man an, es habe zwischen Dominique Strauss-Kahn und der schwarzen Chambermaid des New Yorker Sofitel tatsächlich eine sexuelle Transaktion gegeben – vielleicht ein Akt von nicht allzu spontanem Oralsex, wahrscheinlich durch ein Trainkgeld vermittelt -, so liegt in dem Vorgang nichts, was die Aufmerksamkeit Dritter auf sich ziehen sollte.“
In Philip Roths Roman „Der menschliche Makel“ (2002) ist von der Oralsex-Affäre des US-Präsidenten Bill Clinton die Rede, der seiner Praktikantin Monica Lewinsky die Möse leckte: „Hätte Clinton sie in den Arsch gefickt, dann hätte sie vielleicht den Mund gehalten.“ „Stimmt. Und die Leute da [in Arkansas, wo Clinton Gouverneur war] erwarten geradezu von einem, dass man ein Arschficker ist. Das ist Tradition.“
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Schwarzes Loch
Der am 23. November verstorbene Religionswissenschaftler Klaus Heinrich hielt 1993 einen Vortrag in der Psychiatrischen Klinik des Universitätskrankenhauses Rudolf Virchow über „Sucht und Sog“. Es gäbe eine „Zielstrebigkeit des Süchtigen“, sagte er, sie sei an die Stelle „zielstrebigen Fortschreitens“ getreten. Heute verdanke die Sucht ihre gesellschaftliche Karriere im „Zerfall des Fortschrittsglaubens“ der „gleichsam leerlaufenden Begehrensstruktur“. Wobei man bei der Sucht auch immer das Wort „Suche“ mithöre. Sich Sehnen als Sucht. Wichtig sei dabei der Sog: Die Sucht ist eine saugende Strömung, die sich mit mit dem Metaphernbereich des Meeres verbindet, aber auch mit der oralen Erfahrung des Saugens, das im „Gesogenwerden“ einerseits „eine von der Anstrengung des Saugens entlastende halluzinativ infantile Umdeutung erfährt und andererseits dem weiblichen Part der genitalen Kopulation eine durchaus männlich fixierte, d.h. mit männlichen Lustvorstellungen und Ängsten besetzte ursprungsmythische Überhöhung, richtiger: Vertiefung, bietet.“
Das Bild des Meeres und seiner Gefahren habe als Metapher des Unbewußten weibliche Qualität, auch und vor allem die der vielversprechenden gefährlichen Verlockung. Die psychische Disposition des „Sogs“ sei also nicht nur „die halluzinierte Erfüllung eines Triebwunschs“, sondern berühre auch „die uns aus Mythologie, Liebesspiel und Analyse wohlbekannte Vertauschung von Mund und weiblichem Genital, die Zusammengehörigkeit also von Gefahr beschwörender und bannender Oralität. Bis hin in die entwickelsten Formen der Sprache, mit dem die Gefahr zugleich verkörpernden – um den Preis des Mitausgelöschtwerdens – sie auslöschenden weiblichen Schoß. ‚Sog‘ als Schoßmetapher, der uns in Totalregression in sich hineinzuziehen verspricht.“
Der „Vereinigungswunsch ist hier auch Todeswunsch“. Die Einheit von Eros und Thanatos, „Liebes- und Todessehnsucht, kennt das ganze 19. Jahrhundert als ein zentrales Thema der Literatur und der Künste. Der Liebestod in Verdis „Aida“ als Finale – „O Grab, O Brautgemach“.
In der „Realität des Süchtigen“ gehe es um die „Abstoßung von allen, was ihn am Erreichen der Sogbewegung hindert.“ Ein erstrebter Subjekt-Verlust – eine Katastrophen-Sehnsucht. „Katastrophennähe verwandelt in Katastrophenpräsenz macht aufmerksam auf eine Form der Sucht, die mir heute die herrschende zu sein scheint,“ meint Heinrich. Die wesentliche Verlockung in den Medien sei: „Ereignissucht. Ereignissucht aber, insofern sie eine allgegenwärtige Katastrophenfaszination verrät, hat den Namen ‚Katastrophensucht‘ verdient. ‚Süchtig nach Katastrophe‘ ist heute die aktuelle Form der Formel ‚süchtig nach Sog‘.“
Die ungerührte Hinnahme der realen Katastrophen scheint zu bekunden: „sie sind immer noch nicht katastrophisch genug, jede Möglichkeit der visuellen Steigerung wird ausgeschlachtet. Das süchtige Hinarbeiten auf die Katastrophe scheint im großen das zu sein, was unser ‚normales‘ alltägliches Suchtverhalten im kleinen ist.“ Das süchtige Subjekt will erfaßt werden vom Sog. Wobei wir jedoch regelmäßig enttäuscht werden – „süchtig nach Enttäuschung, sind“, die allein uns „weiterbringt auf dem Vertilgungsweg“. Die „Schoßmetapher für Vereinigung durch Ausgelöschtwerden“ ist für Heinrich ein sehr realistisches Bild „historischer Ambivalenz und Schuldgefühle, und zwar auf dem Hintergrund der Geschlechterspannung“.
„Die überspitzte Formulierung: ‚die Welt selbst aus der Welt zu schaffen, und ihr nach!‘ erscheint nur so lange als abstrakte Konstruktion, wie wir sie bildlos lassen…Wir bewegen uns in katastrophisch eingefärbten Untergangs- und Auferstehungsvisionen, damit immer noch in einem großen, kosmisch geweiteten Initiationsraum. Wirklich populär geworden ist das Bild – die große Phantasie vom ‚Schwarzen Loch‘. Dies ist die erstaunlichste Schoßmetapher, die wir zur Zeit haben: spur- und zeichenlos saugt es ein und läßt verschwinden.“
„Der sexuelle Phantasiehorizont“ des Schwarzen Lochs, „in dem die Forschung metaphorisch eingebunden bleibt, wird aufdringlich deutlich im sogenannten ‚Keine-Haare-Theorem‘: ‚Ein Schwarzes Loch hat keine Haare‘ (das bezeichnet den Umstand, dass die Beschaffenheit des Körpers, aus dessen Zusammensturz es resultiert, keinen Einfluß hat auf die Größe und die Gestalt des Lochs). Doch so stark ist die Macht der mit Geschlechterspannung verfahrenden Phantasie, dass dieses letzte katastrophische Suchtprodukt – so möchte ich es angesichts seiner Popularität einmal nennen – doch wieder als Schoß und Schlund erscheint, freilich einer, der nur noch in der einen, der zerstörerischen Richtung tätig ist.“
Dazu hieß es in der Bild-Zeitung: „Weltallmonster bedroht Erde. Vor zwei Stunden Schwarzes Loch in Erdnähe entdeckt! Verschlingt alles erbarmungslos!“ Und aktuell am 30. November 2020 im Wissenschaftsforum „spektrum.de“: Wenn „die Masse des Universums in seinem Hubble-Radius so groß ist wie die Masse eines Schwarzen Lochs im gleichen Radius“, dann läßt sich unser ganzes „Universum als das Innere eines Schwarzen Lochs annehmen“, was bedeute, „wir leben in einem Schwarzen Loch“, sind also drin: in Gustave Courbets „Ursprung der Welt“ und Else Lasker-Schülers „Weltende“ zugleich.
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Reklamefoto für einen „Frühlingsurlaub in Südtirol“, ehrlich gesaagt habe ich mir Tirol ganz anders vorgestellt.
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Kleopatra
Kleopatras Leben und Sterben wurde oft verfilmt, weltberühmt wurde der Hollywoodfilm mit Liz Taylor als Kleopatra, und die Schauspielerin wurde noch berühmter. Auf Seite 476 des ersten Bandes seiner „Denktagebücher“ (2008-2011) trug der Ästhetikprofessor Peter Sloterdijk ein, dass „Liz Taylor gestorben“ sei. An anderer Stelle: „Die Phantasie, wonach Kleopatra sich von einer Giftschlange töten ließ, hat das Imaginäre des Westens immer wieder beschäftigt.“ Sie starb 30 v.Chr..
Aber statt nun weiter über Kleopatra und die Schlange zu grübeln, kommt er auf Kleopatras Brüste zu sprechen; da sie „zum visuellen Patrimonium Alteuropas gehören“. Dabei scheint er an ein konkretes Bild gedacht zu haben, von den unendlich vielen, auf denen die Maler dieses Motiv gewählt haben: die nackte oder halbnackte Kleopatra auf dem Diwan und neben ihr ringelt sich eine meist etwas kümmerliche Kobra. „Man weiß nicht, ob sie an einem noch lebenden oder schon toten Körper zu sehen sind. Der tragische Akt öffnet das Blickfeld für den gebildeten Voyeur. Ihre Brüste blühen in todesnaher oder postmortaler Unerreichbarkeit.Neben der Toten ringelt sich eine graue Schlange.“
Die Bilder mit der vom Kobrabiß schon geschwächten letzten Königin des ägyptischen Ptolemäerreiches – das waren quasi westliche Auftragsarbeiten für gebildete Voyeure. Kleopatra hatte sich die Kobra aus Liebe zu einem Europäer in die Brust beißen lassen: dem Feldherrn Marcus Antonius. Kleopatra VII. war die bedeutendste unter den römischen Klientelherrschern des Orients. Und die Kobra (Lat: „Naja naja“) war den Ägyptern heilig. Das sonst nüchterne Wikipedia schwelgt geradezu in der Beschreibung der groß inszenierten römisch-ägyptischen Hochzeit: Kleopatra schritt als irdische Inkarnation der Göttin Aphrodite (Isis in Ägypten) dem neuen Dionysos Antonius entgegen, der sich zuvor mit der griechischen Kultur beschäftigt und sich über Dionysos kundig gemacht hat.
2018 veröffentlichte der Münchner Professor für Alte Geschichten Martin Zimmermann ein Buch über „Die seltsamsten Orte der Antike“. Darin schreibt er: „Eine agile Kobra hätte sich nicht einfach unter Feigen verbergen und wie [Kleopatras Biograph] Plutarch berichtet, problemlos an den römischen Wachen vorbeischmuggeln lassen. Zudem sei die Reaktion der Giftschlangen völlig unberechenbar. Zimmermann plädiert für eine „einfachere Lösung: Vermutlich trank die Königin mit ihren Dienerinnen ein aus Pflanzen zubereitetes Gift.“
Demnach wäre Kleopatras Tod durch den Kobrabiß ein Mythos, wenn nicht ein Medienfake. Auf einem Gemälde von Sir Lawrence Alma-Tadema läßt sie das Gift vorab an Sklaven testen. Ihr zu Füßen liegt ein Leopard. Der Grund ihres Selbstmords war auch Schuld, vermuten Kleopatraexperten: Sie hatte bereits vorab ihren vor Oktavians Truppen geflohenen Ehemann Mark Anton ausrichten lassen, dass sie Selbstmord begangen habe, woraufhin der sich in sein Schwert gestürzt hatte, was man ihr nun wieder ausgerichtet hatte.
Eine vergleichbar tragische Konstellation gab es breits im Mythos von Orpheus und Eurydike, wie er von Vergil erzählt wird: Der Sohn von Apollon will die Nymphe Eurydike vergewaltigen, sie flüchtet, wird von einer Schlange gebissen und stirbt. Ihr Geliebter, der Sänger Orpheus, versucht daraufhin vergeblich, sie aus dem Hades zurück zu holen. Wenig später wird er selbst Ovid zufolge von Mänaden, den berauschten Anhängerinnen des Dionysos, zerrissen. Man erfährt nicht, ob Eurydike durch einen Kobrabiß starb. Aber es gab damals noch Kobras in Griechenland.
Peter Sloterdijk schreibt: „Seit sie mit den Attributen der Isis auftrat, um ihr 30. Lebensjahr, lebte sie jenseits von Unberührtheit und Defloration; mit jeder Orgie schien ihre Jungfräulichkeit sich zu vervollkommnen…Es ist vielleicht kein bloßer Zufall, wenn ein phantasievoller englischer Theosoph nach 1900 eine Seelenwanderung von Kleopatra zu Maria schilderte, der zufolge Jesus nicht nur unbefleckt empfangen, sondern auch mit einem ägyptischen Logos ausgestattet war.“ Beim „ägyptischen Logos“ geht es um die „Glaubwürdigkeit“ im Allgemeinen und um die des griechischen Geographen Herodot, im Besonderen, d.h. um seine um 460 v.Chr. entstandene Geschichtsschreibung, wenn ich das richtig verstanden habe.
Dass die an einem Gift gestorbene Kleopatra, die also kein Kind von Traurigkeit war, 30 Jahre später als Heilige Unbefleckte, als Jungfrau Maria, wiedergeboren wurde, hat sich nicht durchgesetzt. Auch das jetzt selbst die „Hure“ Maria Magdalena heilig gesprochen wurde, wird daran nichts ändern. Im Übrigen gab es dagegen Proteste unter den katholischen Laien. Ihnen wurde auf „kreuzgang.org“ erklärt: „Als Heilige gelten praktisch alle, die in den Evangelien als Jünger und Anhänger Jesu genannt sind – von Judas, der ihn verriet, einmal abgesehen. Diese Menschen haben sich als Heilige erwiesen, als sie den Herrn erkannten, anerkannten und ihm nachfolgten.“ Sloterdijk missfällt diese Heiligsprechung einer Ex-Prostituierten.
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Amerikanisierung (1)
Der Berlin-Autor Karl Scheffler fand 1910, dass Berlin eine „Vorkämpferin“ bei der Amerikanisierung Europas geworden war. Der Soziologe Rolf Lindner zitiert überdies in seinem Buch „Berlin. Absolute Stadt“ (2017) den Historiker Lothar Müller, der diesen Amerikanismus mit „Berlinismus“ gleichsetzte. Berlin scheint mitten in Amerika zu liegen, schrieb der Feuilletonist Heinrich Eduard Jacob. Lindner erwähnt dazu die damals neuen deutschen Wörter: „efficiency“, „service“, „advertising and selling“.
Mit der Computerisierung und dem Internet sind erneut viele amerikanische Wörter über uns gekommen, zu Zeiten der Coronapandemie – dem Home-Office und der Zoom-Konferenzen, erfährt dies nun eine Beschleunigung. Schon kommen die ersten Berichte über das, was sie in Amerika bereits bewirkt: Einen Run auf Botox. „„So einen Run auf Botox hat es überhaupt noch nie gegeben,“ titelte „Die Welt“ am 23.10. Es geht darin um „Zoom-Faces“: „In den USA ist die Nachfrage nach Schönheits-OPs und Liftings in den vergangenen Monaten rasant gestiegen. Denn viele Frauen und Männer finden sich bei Videokonferenzen zu alt und faltig.“
Die Corona-Pandemie bietet einen großen Vorteil. „Jetzt oder nie! Ich spiele schon seit Jahren mit dem Gedanken, mich liften zu lassen – mit dem ständigen Tragen der Corona-Masken habe ich mich letztendlich dazu entschlossen.“ Janet Fisher, Unternehmensberaterin aus Boston, empfindet die Maskenpflicht als ideal, um die Blutergüsse und Narben eines Faceliftings zu verbergen. Demnächst hat die 60-Jährige, deren echter Name der Redaktion bekannt ist, ihren OP-Termin. Sie will sich Gesicht und Hals liften lassen. „Natürlich bin ich nervös, aber mit der Gesichtsmaske sind die Schwellungen nicht gleich für jeden offensichtlich. Das war ein ausschlaggebender Grund.“ Seit Ausbruch der Pandemie gehe sie ohnehin weniger unter Menschen.
Fisher ist damit keine Ausnahme. Viele Amerikaner und Amerikanerinnen sehen darin beste Bedingungen für eine Schönheitsoperation. Konkrete Statistiken für 2020 liegen noch nicht vor, nach internen Umfragen des US-Verbandes plastischer Chirurgen, der American Society of Plastic Surgeons, gibt es jedoch eine steigende Nachfrage nach Botox, Fillers und Liftings. Schönheitschirurgen in den USA sprechen von einem Boom wie selten zuvor. „So einen Run auf Botox hat es überhaupt noch nie gegeben. Wir sind schon wieder weit bis in Frühling komplett ausgebucht“, berichtet Masha Banar, die seit elf Jahren die Beauty-Praxis „Visage Sculpture“ in Boston leitet. „Täglich wollen mehr Kundinnen kommen und sich beraten lassen. Sie gefallen sich nicht auf Zoom und wollen unbedingt jünger aussehen. Das Licht von Web-Kameras kann wirklich gnadenlos sein.“
Vor Corona kannte hier niemand das Wort „Zoom-Face“, aber mittlerweile ist es ein stehender Begriff. In zahllosen Blogs klagen Nutzerinnen einander ihr Leid, wie alt sie in Videocalls aussähen. Sie bewerten die neusten Touch-Up-Apps und Weichzeichner, tauschen gezielte Make-up-Tipps für Videokonferenzen aus. „Doch irgendwann helfen auch die besten Lichtfilter nicht mehr“, findet Fisher. „Mein Anblick auf dem Bildschirm hat mich richtig entsetzt. Vorher war mir gar nicht aufgefallen, wie alles hängt. Bei den Tele-Meetings wurde mir endgültig klar: Ich lege mich unters Messer.“
In Deutschland wurde das Problem nach der Wende zunächst nicht chirurgisch, sondern pädagogisch angegangen: Die Analysen des boomenden Fortbildungs- und Umschulungssektors, die der Filmemacher Harun Farocki damals gemacht hat, zeigen: In den vor allem im Osten entstandenen Bildungszentren wurde den Arbeitslosen u.a. beigebracht, wie man sich richtig bewirbt, d.h. besser verkauft. Es waren videogestützte Auftritts-Schulungen, in denen das wirkliche (westliche) Leben geübt werden sollte – für eine neue Gesellschaft, die laut Farocki „vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist“.
Indem man nun die Distanzen zwischen den Einzelnen fast ausschließlich mittels Übertragungsechnik als Tonfilm überwindet, wie einem von oben (vom Staat) in infantilisierender Weise „nahegelegt“ wird, ist dieser Vorgang, der mit dem Smartphone noch spielerisch von unten (als private Entscheidung) begonnen hatte, nun quasi aus den Händen der Konsumenten in die Verordnungsgewalt der Regierenden übergegangen. Was das für die hiesigen „Zoom-Faces“ bedeutet, ist mir noch nicht ganz klar. In meiner Umgebung sitzen vor allem jüngere Leute in „Tele-Meetings“ und denen reichen noch die immer neuen Techniken – der Beleuchtung, der Hintergrundwahl, der Gesichtsglättung etc.. Allerdings, so meinen sie, bräuchte es noch mehr telegene Übung, um z.B. nicht so oft nach unten zu blicken, so als würde man von einem Text ablesen. Auch der eigene Ton ist für viele noch ungewohnt, zu schweigen davon, dass man nicht mehr durcheinander reden darf.
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Telefonieren
In Berlin gab es 1925 schon eine halbe Million Telefonanschlüsse, mit denen täglich 1,25 Millionen Gespräche geführt werden. Berlin galt als „die telefonwütigste Stadt der Welt“, lese ich in Rolf Lindners Buch „Berlin. Absolute Stadt“ (2017). Damals bereitete dieses neue Hightech-Spielzeug darauf vor, dass wir nicht mehr miteinander reden dürfen, wir müssen kommunizieren, wie der Philosoph Jean Baudrillard in den Achtzigerjahren seufzte – noch vor der allgemeinen Verbreitung der Handys und Smartphones, die inzwischen samt SMS abgehört werden dürfen. Gleichzeitig geriet auch den Kulturkritikern die schier manische öffentliche Telefoniererei immer öfter ins Visier – schon aus reiner Notwehr. So befaßte sich Vilém Flusser z.B. mit dem Machtgefälle zwischen dem Anrufer und den Angerufenen. Bereits zu Roland Barthes‘ Zeiten spielte das Telefon eine große Rolle im Leben der Menschen: „Ich versage es mir, auf die Toilette zu gehen, und selbst zu telephonieren, um die Leitung freizuhalten,“ schrieb er in den „Fragmenten einer Sprache der Liebe“ 1984. Jetzt gibt es bald keinen einzigen Spielfilm mehr, in dem die Handlung nicht durch einen oder mehrere Anrufe immer wieder in Schwung gebracht wird.
Das Mobiltelefon, das unsere „availability“ revolutioniert hat, ist ein direktes Resultat der Kybernetik und Waffenlenk-Systemforschung – also ein Produkt des Zweiten Weltkriegs, aus der zunächst die Computer- und die Gentechnik hervorgingen. Auch in früheren Kriegen trug das Telefon schon das Seinige zum Sieg bei, erst recht in Revolutionen und Bürgerkriegen. Telefon und Telegrafie wurden im so genannten „Imperialen Zeitalter“ (1875-1914) erfunden. Letzteres „ermöglichte nunmehr die Übermittlung von Nachrichten um den gesamten Erdball innerhalb weniger Stunden,“ schreibt Eric Hobsbawm (in: „Zeitalter der Extreme“ 1995). Vom Telegrafen gelangten die Nachrichten in die damals ebenfalls neuen Publikumszeitungen (in Berlin gab es täglich fast 150). Leo Trotzki war ein geradezu fanatischer Zeitungsleser – er interessierte sich für jede noch so kleine Nachricht aus jedem Land der Erde – und auch das Telefon wußte er bald virtuos zu nutzen. „Die Karte ist nicht das Gelände,“ gab Gregory Bateson zu bedenken, aber kann man eine Lage wenigstens „telefonisch beobachten“, wie Trotzki meinte?
In seiner Autobiographie „Mein Leben“ kommt das „Telefon“ vor der russischen Revolution nur einmal vor. Es wird aber sogleich in seiner revolutionären Bedeutung von ihm erkannt. Das war, als er und seine Familie aus ihrem französischen Exil ausgewiesen wurden – und Ende 1916 in New York ankamen, wo sie in einer Arbeitergegend eine billige Wohnung fanden, die jedoch überraschenderweise mit Bad, elektrischem Licht, Lastenaufzug und sogar mit einem Telefon ausgestattet war. Für Trotzkis zwei Söhne wurde das Telefonieren in New York „eine Weile zum Mittelpunkt ihres Lebens: Dieses kriegerische Instrument hatten wir weder in Wien noch in Paris gehabt.“
Aber dann spielte der Apparat für Trotzki erst wieder im darauffolgenden Jahr in St.Petersburg – während der Machtübernahme der Bolschewiki – eine, zunehmend wichtiger werdende, Rolle. Seine erste Bemerkung über das „kriegerische Instrument“ betraf jedoch zunächst dessen Nichtfunktionieren (den „Punkt Null“ – mit Roland Barthes zu sprechen): „Auf dem Telefonamt entstanden am 24.10. Schwierigkeiten, dort hatten sich die Fahnenjunker festgesetzt, und unter ihrer Deckung waren die Telefonistinnen in Opposition zum Sowjet getreten. Sie hörten überhaupt auf, uns zu verbinden.“ Das Revolutionskomitee, deren Vorsitzender Trotzki war, schickte eine Abteilung Soldaten mit zwei Geschützen hin, dann „arbeiteten die Telefone wieder. So begann die Eroberung der Verwaltungsorgane.“ In seiner „Geschichte der russischen Revolution“, die Trotzki neben seiner Autobiographie im türkischen Exil (1929-1933) schrieb, heißt es dazu ergänzend: „Es genügt ein nachdrücklicher Besuch des Kommissars des Kexholmer Regiments im Telephonamt, damit die Apparate des Smolny wieder angeschlossen waren. Die Telephonverbindung, die schnellste von allen, verlieh den sich entwickelnden Ereignissen Sicherheit und Planmäßigkeit.“ Ein Matrose aus dem Regiment ergänzte: „Das war ein Geschrei, als wir mit unserm Trupp kamen. Die Telephonistinnen hysterisch durcheinander. Werfen die Arme hoch. Was ist Frauen, glaubt ihr, wir wollen euch erschießen? Ihr könnt gehn. Wir werden mit den Apparaten schon fertig. Und die raus. Die ganze Morskaja Straße voll von kreischenden Mänteln und Hüten.“
Es ist die Rede vom St. Petersburger „Fräulein vom Amt“, wie man die Telefonistinnen, die die Verbindung herstellten, hierzulande nannte. Statt um eine Revolution ging es in Berlin darum, dass die „Telefonitis“ zu ihrem Recht kam – und diese Sucht ging mit einer großen Wertschätzung der Telefonistinnen einher. Von ihr handelte der beliebteste Schlager 1919: „Halloh! Du süße Klingelfee“, in den zeitgenössischen Filmen spielt sie laut Rolf Lindner „eine ikonische Rolle“. In Ostberlin gab es noch nach der Wende eine Weile Tanzlokale mit Tischtelefonen, sie wurden zuerst 1908 im Friedrichshainer „Ballhaus der Technik“ – dem „Resi“ – installiert. Da wählte man selbst.
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Modeverkäuferin
Die jungen Mädchen in den ganzen Modeläden haben in ihrem Leben Besseres verdient als den ganzen Tag bei Popmusik und geringem Lohn Kleidung zusammenlegen zu müssen, die von den Kunden anprobiert und irgendwo abgelegt wurden. Die meiste Zeit scheinen sie überdies rumzustehen und sich zu langweilen, was auch nicht schön ist. Eine, die bei H&M arbeitet, verriet mir kürzlich, wie angenehm sie das Corona-Lockdown findet, wieviel Zeit sie nun für ihre Freunde habe, sie würden sich jeden Tag etwas Neues einfallen lassen, u.a. lange Radtouren durch die Stadt unternehmen.
Die jungen Modeverkäuferinnen waren anfangs jedoch durchaus nicht zu bedauern. Zum Einen erweiterten diese Modeläden und Modeabteilungen der Kaufhäusern ihre Berufsmöglichkeiten, die um 1900 noch sehr gering waren, und zum Anderen standen sie gewissermaßen im Mittelpunkt der forcierten „Ästhetisierung der Waren“.
Damals gab es die sogenannte „Probiermamsell“ in den Modehäusern, die den Kundinnen die in Betracht gezogenen Modelle vorführte. Auch im Großhandel wurden solche Vorführdamen beschäftigt. Daraus entwickelte sich das Mannequin, das Model auf dem Laufsteg der Modeschauen. Und von da auch möglicherweise eine Schauspielerkarriere beim Film. 350 Kinos gab es damals in Berlin. Der Stadtsoziologe Rolf Lindner erwähnt den Hoflieferanten Hermann Gerson, „der eine Probiermamsell engagiert haben soll, die über die gleichen (üppigen) Maße wie Kaiserin Auguste Victoria verfügte“. Berlin entwickelte sich zur „Konfektionsstadt par excellence“ und zehrte davon noch eine Weile nach dem Zweiten Weltkrieg. Erinnert sei an den Westberliner Couturier Heinz Oestergaard und die Ostberliner Modezeitschrift „Sybille“.
Vor dem Ersten Weltkrieg galt aber neben den in der Modebranche beschäftigten jungen Verkäuferinnen auch, dass „kaum eine großstädtische Industrie von so umfassender kommerziellen Bedeutung ein so verelendetes Arbeiterproletariat hat wie die Konfektion,“ schreibt Moritz Loebs in seiner Darstellung der Berliner Konfektion 1906. „Nicht zuletzt wegen der skandalösen Stücklöhne der Heimarbeiterinnen,“ wie Lindner ergänzt. Diese Mädchen und Frauen sind heute hinterm Horizont verschwunden: Ihre Nähmaschinen stehen jetzt in Asien und Südamerika.
Die Heimarbeiterinnen saßen damals gewissermaßen zu Hause im Dunkeln, während die Modeverkäuferinnen im Licht, wenn nicht gar im Rampenlicht standen. Damals geriet die Warenbeleuchtung quasi außer Rand und Band, die Schaufenster wurden immer heller und die Beleuchtung üppiger. Der Schaufensterbummel beliebt. Die Bekleidungsbranche verquickte sich überdies bald mit dem Revue-Theater. Noch heute haben die Shows im Friedrichstadtpalast die Qualität einer Modenschau.
1913 machte der Stummfilm „Gelbstern“ die Vorführdamen berühmt. „Der gelbe Stern auf einem Jackenärmel im Konfektionsgeschäft war um die Jahrhundertwende ein harmloses Zeichen für eine Kleidergröße und bezeichnete den Typ Frau mit Idealmaßen, der diese Kleidung vorführen konnte,“ heißt es dazu auf „textilegeschichten.net“. Rolf Lindner schreibt: „Mit ‚Gelbstern wird zugleich die Probiermamsell/Mannequin als besonderer Großstadttypus, Seite an Seite mit dem ‚Fräulein vom Amt‘ und der ‚Tippmamsell“ mit hohem Identifikationspotential geschaffen.“ Wobei die „Probiermamsell“ sich zwischen den Klassen bewegt: „Zumeist (und im Film prinzipiell) aus einfachen Verhältnissen stammend, ‚kostet‘ sie im wahrsten Sinne des Wortes vom Luxus der Oberschicht.“ Für die Kosmetik- und Parfüm-Verkäuferinnen im KaDeWe und in der Galeria Kaufhof scheint das noch immer zu gelten.
Die Modeverkäuferinnen wurden (und werden vielleicht immer noch) von ihren Chefs gezwungen, „sich modisch zu kleiden und gepflegt auszusehen“. Viele tun es aber wohl auch von sich aus, um ihr Selbstbewußtsein zu stärken. Gabriele Tergit schrieb in ihren „Berliner Reportagen“: „Das Sichzurechtmachen, wie es in Berlin heißt, ist ja heutzutage keine Sache der Koketterie mehr, geschieht nicht, um einen reichen Mann zu finden, wie in früheren Zeiten, sondern seidene Strümpfe und gewellte Haare sind Waffen im Lebenskampf geworden. Überall haben es die Hübschen und Gepflegten leichter. Die Hübsche verkauft mehr, der Hübschen diktiert der Chef lieber, von einer Hübschen wird lieber Unterricht genommen und lieber ein Hut bestellt. Das ist grausam. Aber es ist so. Hübsch ist man aber heutzutage nicht, man kann‘s werden.“
Man verliert es im Alter aber auch leicht wieder. In Westberlin gab es besonders viele Schuhgeschäfte, und einige stellten bevorzugt junge blonde Frauen ein. Wenn sie nicht mehr jung waren und auch nicht mehr besonders „hübsch“, wurden sie nicht selten entlassen, wie mir eine Rentnerin erzählte, die früher Schuhverkäuferin war. Nach ihrer Entlassung fand sie keine Arbeit mehr und tat sich mit drei anderen, ebenfalls älteren Schuhverkäuferinnen zusammen und sie eröffneten ein Bordell, um ihre schmale Rente aufzubessern. Die vier machten vornehmlich Hausbesuche und ihre „Kunden“ waren meist gesetzte Akademiker: Vier bis fünf am Tag wären noch ok, meinte sie.
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Amerikanisierung (2)
In der „Single-Hochburg“ Westberlin kam man im Sozialwissenschaftsstudium nicht um „Die einsame Masse“ des US-Soziologen David Riesman herum. Nach ihm gab es darin die innengeleiteten und die außengeleiteten und dazwischen noch die traditionsgeleiteten Typen. Die zwei letzteren galten uns als irregeleitet. Jetzt ist es „Das einsame Individuum“, das im Neoliberalismus befreit in die Irre geht – vereinsamt. Die englische Ökonomin Noreena Hertz, die sich gründlich Gedanken über dieses Leiden gemacht hat, behauptet in einem „Spiegel“-Interview: „Einsamkeit ist so schädlich wie 15 Zigaretten“.
Sofort überlegte ich: Wenn beides zusammenkommt, einsames kettenrauchen also – wie schädlich ist das denn, tödlich? Ihre diesbezüglichen Gedanken hat man sich schon selbst gedacht, aber mangels ausreichender „Daten“ (im immer kleiner werdenden Freundeskreis erhoben – wegen Vereinsamung?) freut man sich dann doch, wenn sie dahinter gleich eine ganze soziologische Feldforschung auffährt – zur Erhärtung.
Die Gedanken und Erhebungen über die schädliche Vereinsamung, die Noreena Hertz äußert bzw. zitiert, sind im Corona-Lockdown aktuell, insofern man inzwischen weiß, dass einsame Menschen den noch schlechter aushalten als gesellige. Die Professorin weiß das auch von ihren Studenten. Als sie studierte, kannten ihre Kommilitonen noch keine Einsamkeit, im Gegenteil. Erst seit der „Bologna-Reform“ und dem amerikanisierten Schulstudium, an dessen Ende man einen albernen Hut mit Trotteln in die Luft wirft.
„Einsamkeit und Populismus“ hängen für Noreena Hertz zusammen, sie hält das Anwachsen der rechten Parteien und Wähler, in den USA und in Europa, für eine Bewegung der Vereinsamten, ebenso die zunehmende Religiosität. Aus Japan weiß sie, dass zur Betreuung alter Leute „inzwischen häufig“ soziale Roboter eingesetzt werden. Umgekehrt begeht dort so mancher vereinsamte alte Mann einen dilettantischen Diebstahl, um ins Gefängnis zu kommen, wo er mal wieder unter Menschen ist. Was jeder Idee von der Haft als Strafe Hohn spricht. Wladimir Kaminer schreibt über die wegen Corona nur halb erlaubten Glühweinstände: „Vor der russischen Bar „Moloko“ am Helmholtzplatz verkauften sie ihren Glühwein mit „Russenschuss“ to go, die Fußgänger, die einmal den Schuss gekostet hatten, gingen aber nicht, sondern blieben vor dem Laden stehen. Es war schön, wieder unter Menschen zu sein.“
Noreena Hertz hält vor allem die heutigen Jungen für „definitiv einsamer als die vor 20 Jahren,“ wofür sie nicht zuletzt die Smartphones und die „sozialen Medien“ verantwortlich macht. Es klingt wie ein Witz, aber dieser Tage plakatiert ausgerechnet die evangelische Kirche mit einem Foto, das einen älteren Menschen im Gespräch mit einem Gegenüber im Display eines Smartphones zeigt – darunter steht: Auch wenn wir Abstand halten, bleiben wir verbunden – In Christo oder im World Wide Web?
Der „Spiegel“ fragte Noreena Hertz: „Warum glauben Sie, das neoliberale Wirtschaftspolitik und Einsamkeit zusammenhängen.“ Der US-Schriftsteller Thomas Pynchon hätte geantwortet: „Weil es noch etwas gibt, was schlimmer ist als jede Paranoia: die Antiparanoia – wenn nichts mehr mit irgendwas zusammenhängt.“ Noreena Hertz sagt es so: „Die Idee, dass es Individualismus und Freiheit zum Nulltarif gibt, hat sich als falsch erwiesen.“ Die Regierung sollte z.B. die sozialen Medien „stärker regulieren. Sie sind die Tabakindustrie des 21. Jahrhunderts.“ Der Staat und die Unternehmen müssen „kulturelle Einrichtungen“ gegen die Einsamkeit schaffen. Der SPD-Parteivorsitzende Martin Schulz kann dagegen der durch die Corona-Schutzmaßnahmen zunehmenden Vereinsamung durchaus etwas abgewinnen: „Die Staatsverachtung hat einen Dämpfer bekommen,“ tut er in dem selben „Spiegel“-Heft kund, in dem das Interview mit Noreena Hertz abgedruckt ist.
Sie sieht dagegen eher positive Zeichen von unten, d.h von den vom staatlichen Maßnahmenkatalog Betroffenen – den „Men on the Street“: Sie schämen sich nicht mehr ihrer Vereinsamung, so als läge es an ihnen und ihrem schwierigen Charakter oder ihrem mangelnden Erfolg. „Da ändert sich schon etwas. Einsamkeit spielt im öffentlichen Diskurs eine immer größere Rolle,“ d.h. sie wird nicht mehr als individuelles Schicksal wahr- und hingenommen. Neben einer Explosion der Online-Partnersuchdienste gibt es bereits eine antipopulistische Initiative „Lonely lives matter“, ihre Erkennungsmelodie ist Roy Orbisons „Only the Lonely“. Auch die Einsamkeitsforschung macht Fortschritte.
Die englische Ökonomin denkt inzwischen sogar so positiv, dass sie meint: „Vielleicht ist die Pandemie der Katalysator für die Veränderungen, die wir brauchen,“ wobei ihr so etwas Ähnliches wie der „New Deal“ von Roosevelt nach der „Großen Depression“ vorschwebt. Aber das ein Virus, der stets das Böse will – jetzt Gutes schafft, ist doch zu goetheanisch gedacht. An anderer Stelle erwähnt sie die Erfinder dieser uns in die Vereinsamung treibenden „Algorithmen“ im Silicon Valley, die ihren Kindern das Internet verbieten und sie auf Waldorfschulen schicken (wo die Klassenbesten ein Stipendium für das „Goetheaneum“ in der Schweiz bekommen).
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Neues aus dem Misanthropozän
Ich habe mich immer über die „Fan-Clubs“ mokiert, über den „Conny Froboess-“, den „Opel Manta-“ oder „Rudi Völlerer“-Fanclub zum Beispiel. Aber jetzt bin ich doch noch selbst ein „Fan-Man“ geworden, vielleicht aus Altersdebilität. Jedenfalls bin ich im „Sir David Attenborough Fan Club“, und weil ich schon mal diesem einen beigetreten bin, auch gleich noch in einem Elefanten-, einen Bären- und einen Flughunde-“Fan Club“. Alle vier verdanken sich Tierschützern mit einem besonderen Interesse an einem Tier bzw. an einem englischen Tierfilmer, der uns wie einst Bernhard Grzimek im Westen und Heinrich Dathe im Osten Tier-Geschichten mit gefilmten Beispielen im Fernsehen erzählt, nur intelligenter und mit modernster Technik. Kürzlich hat Attenborough ein Buch veröffentlicht, darin geht es um die ganze Welt, das heißt um alle Tier- und Pflanzenarten, die unbedingt gerettet werden müssen.
Daneben hat auch die Schimpansenforscherin Jane Goodall ein ähnliches „Statement“ veröffentlicht. Beide, so schlagen ihre jeweiligen „Fan-Clubs“ vor (auf Facebook und in anderen „sozialen Medien“), müssen dafür nun aber zügig den Nobelpreis kriegen. Dagegen ist nichts zu sagen, aber dahinter steht die Überzeugung, je mehr ein Weltverbesserer global anerkannt und mit Bürger-Ehren ausgezeichnet wird, desto mehr ist seinem Anliegen gedient. Das darf man bezweifeln. Eher ist 2020/21 zu vermuten, dass dies alles eher Kanäle sind, die ins Unbedeutende führen, zum Fading-Away.
Selbst „Huldigungen“ wie die Tierbuchautorin Sy Montgomery sie für Jane Goodall (und zwei anderen Affenforscherinnen) veröffentlichte, geraten vom Ansatz her bereits weg vom Anliegen. Spätestens seit Robert Oppenheimer gibt es laut Michel Foucault einen quasi objektiven Zwang, Berufliches und Politisches nicht mehr zu trennen. Wie noch zu Beginn der Aufklärung, als Juristen wie Emile Zola politisch-publizistisch wirkten oder heute noch Noam Chomsky, der sein linkes politisches Engagement vom fachlichen Festhalten an seiner reaktionären Sprachtheorie trennt. Im Falle von Jane Goodall könnte man sagen: Nicht ihr jetziges weltweites Initiativgründen unter Menschen, sondern dass sie sich davor jahrzehntelang den Schimpansen zugeneigt hat, das ist oder war ihre eigentliche politische Arbeit. Diese bewirkte, dass die Primatenforschung inzwischen fast eine feministische Domäne wurde.
Seltsamerweise haben dann die japanischen Primatenforscher um den Biologen Takayoshi Kano diese Entwicklung eines wichtigen Bereichs der Feldforschung (die wie die organismische Biologie überhaupt wegen der forschungspolitischen Orientierung auf die Genetik stark gefährdet war) noch forciert – mit ihrer Zwergschimpansenforschung im kongolesischen Wambawald. Die sogenannten Bonobos haben andere Konfliktlösungen als die Schimpansen: Während bei diesen das Soziale mit mehr oder weniger männlicher Gewalt zusammengehalten wird, geschieht dies bei den von Weibchen dominierten Bonobo-Gruppen über sexuelle Handlungen. Laut Takayoshi Kano besteht bei ihnen „die Funktion des Kopulationsverhaltens in erster Linie zweifellos darin, das friedliche Nebeneinander von Männchen und Weibchen zu ermöglichen, und nicht darin, Nachkommen zu zeugen.“
Ihre Bonoboforschung habe der westlichen Primatenforschung durchaus was zu sagen, meint Kano. Weil man in Japan schon lange Erfahrung mit den im Land lebenden Affen hat und die japanische Religion nicht so scharf zwischen Menschen und Tieren trennt. Daraufhin spitzte der holländische Primatenforscher Frans de Waal in der Zeitschrift „Emma“ die Ergebnisse dieser Forschung über die „maternale Kultur“ der Bonobos, von denen es etwa 15.000 gibt, noch alarmistisch zu, indem er sie als geradezu vorbildlich pries: „unsere letzte Rettung“. Die Bonobos haben auf diese Weise auch zur feministischen Theoriebildung beigetragen: „Ihre Botschaft ist bei uns angekommen,“ schrieb die Zeitschrift „Emma“.
Es macht jedoch stutzig, dass im Bonobo-Bild alles stimmt: Bei diesen unseren nächsten Verwandten trafen die Japaner im Dschungel voll den Zeitgeist: Ökologie, Frieden, Fremdenfreundlichkeit, freie Sexualität, Veganismus, Feminismus, Matriachat, Degrowth, Sonnenenergie, Entschleunigung. Nichtrauchen… Da drängt sich natürlich die Frage auf: Stimmen denn überhaupt ihre Beobachtungen, wie gering sind sie, wie weitreichend wurde das Verhalten interpretiert? Waren die japanischen Forscher unten am Waldboden und beobachteten „ihre“ Bonobo-Gruppe mit Ferngläsern, was sie oben in den Bäumen taten? Arbeiteten sie vielleicht mit elektronischen Chips, die sie den Affen implantierten oder sonstwie an ihnen befestigten, so dass sie deren „Wege“ am Bildschirm verfolgen konnten? Oder haben die Bonobos sogar das Essen mit Stäbchen von ihnen übernommen?
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Impfpflicht
Adolf Hitler verglich sich gerne mit dem „Heiler“ Robert Koch, umgekehrt präsentierte ihn ein Nazi-Film „Robert Koch, der Bekämpfer des Todes“ als großen „Führer“. Zwischen 1933 und 1945 war auch das „Robert Koch-Institut“ als staatliche Forschungseinrichtung des öffentlichen Gesundheitswesens eng in die nationalsozialistische Gewaltpolitik eingebunden, wie Historiker des Instituts für Geschichte der Medizin an der Charité herausfanden.
Zu Beginn der Impfmaßnahmen gegen Corona, die von Impfpflicht-Sprüchen und Maßnahmeandrohungen gegen Impfverweigerer von den Politikern und dem RKI begleitet wurden, sendete der Deutschlandfunk einen langen Beitrag von Julia Amberger über „Robert Koch und die Verbrechen von Ärzten in Afrika“. Das bezog sich auf sein Wirken in den Kolonien – bis Deutschland diese nach dem Ersten Weltkrieg abgenommen wurden.
„Zu Kolonialzeiten war es üblich, dass Forscher skrupellos mit Afrikanern experimentierten, allen voran die Deutschen. Auch Robert Koch zwang kranke Menschen in Konzentrationslager und testete an ihnen neue Gegenmittel. Die Gräueltaten der kolonialen Tropenmedizin wirken bis heute,“ heißt es dort.
Die Autorin zitiert dazu zwei Historiker: Edna Bonhomme vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Wolfgang Eckart von der Universität Heidelberg. In einer Rezension des Buches von Eckart „Medizin und Kolonialimperialismus Deutschland 1884-1945“ schrieb das „Ärzteblatt“: „So verhängten zum Beispiel deutsche Kolonialärzte gegen Eingeborene, die sich nicht impfen lassen wollten, Gefängnis-, Geld- oder Prügelstrafen.“
In vielen afrikanischen Ländern besteht seitdem laut Julia Amberger eine starke Abneigung gegen das Impfen mit Serum von den Weißen: „Die Wurzeln des Misstrauens liegen in der Kolonialzeit, als Ärzte aus Europa Menschen in Afrika zu Forschungszwecken missbrauchten“.
Über Robert Koch schreibt sie: „Im Auftrag der deutschen Reichsregierung zog er für zwei Jahre auf die Sese-Inseln im Viktoriasee. Dort fand er einen Seuchenherd für die Schlafkrankheit.“ Bis zur Erfindung des Medikaments dagegen, das dann unter dem Namen „Germanin“ (!) auf den Markt kam, verabreichte er ihnen immer höhere Dosen Arsen, die zur Erblindung und auch zum Tod führten.
„Um pro Tag rund 1000 Patienten zu untersuchen, isolierte Koch vermeintlich Kranke in sogenannten Konzentrationslagern.“ Es fehlte darin an allem: „Decken, sauberem Wasser, zu essen gab es oft nur Mehl und Salz. Konzentrationslager gab es nicht nur auf den Sese-Inseln, sondern überall, wo europäische Ärzte antraten, um Seuchen zu besiegen.“
Die Kolonialmedizin sollte nicht Menschen in Not helfen. „Sie diente dem ökonomischen Aufschwung der Kolonie – und neuen Erkenntnissen für die deutsche Wissenschaft und die Pharmaindustrie. Deshalb haben die Kolonialärzte auch den Menschen ohne Grund extrem schmerzhafte Öl- und Salzlösungen gespritzt oder sie in der Wüste ausgesetzt, um zu sehen, wie lange sie dort überleben.“ Die deutschen Ärzte erprobten an Afrikanern, „was sie später an Juden, Homosexuellen und politischen Gegnern perfektionierten.“ Es gab also laut Julia Amberger eine personelle Kontinuität von den Kolonialärzten zu den KZ-Ärzten bis hin zu einigen Ärztefunktionären in der BRD. Weil die deutschen Ärzte die Afrikaner auch gegen Pocken mit schlechtem Impfstoff behandelten, gab es dabei ebenfalls viele Todesopfer. Sie argumentierten: „es handle sich um eine besonders hartnäckige biologische Varietät des Erregers. Während die Patienten anfangs vor den rudimentären Impfstationen Schlange standen, haben die Kolonialärzte sie später zum Impfen gezwungen.“
„Selbst beim letzten Ebola-Ausbruch im Kongo [2018 – 2020] gab es eine Situation, in der sich Menschen beschwerten, sie seien zu einer Behandlung gezwungen worden,“ dies berichtete Chernoh Bah, ein Soziologe auf Sierra Leone, der sich wissenschaftlich mit solchen Skandalen beschäftigt, in der Sendung von Julia Amberger. Ebenso bei dem Ebola-Ausbruch 2014 – 2015, „als Forscher, Ärzte und Freiwillige aus dem Westen nach Sierra Leone strömten. In manchen Behandlungszentren starben im Durchschnitt 50 bis 60% der Ebola-Infizierten. Die Leute hatten den Eindruck, sie würden missbraucht,“ sagt Bah – so wie damals von den Kolonialärzten. Auch heute werden sie mißtrauisch, wenn weiße Ärzte anreisen, um sie nun gegen Corona zu impfen.
Das Mißtrauen gegen Impfexperimente herrscht auch unter den Afroamerikanern in den USA, wo sich Julia Amberger zufolge „nur 32 Prozent aller Afroamerikaner gegen Covid-19 impfen lassen – im Vergleich zu 52 Prozent der Weißen. Obwohl sie besonders häufig am Coronavirus erkranken. Als Grund gaben sie systematischen Rassismus an und Missbrauch von Schwarzen während der Tuskegee-Syphilis-Studie. 399 afroamerikanische Landpächter wurden zwischen 1932 bis 1972 Opfer eines Experiments des US-Public Health Service. Ohne informierte Einwilligung, ohne Behandlung, auch als bereits eine Heilmethode zur Verfügung stand.“ Nach wie vor gibt es also eine lange Kontinuität des Rassismus unter den weißen Ärzten.
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Amerikanisierung (3)
Über die „Atlantikbrücke“ dringen Tag und Nacht Verblödungsinitiativen zu uns. Richard Berk ist ein alter weißer Soziologe aus Philadelphia, der mit Computer und Statistiken arbeitet. Seine Firma heißt „Data Analysis Inc“ und sein Geld verdient er damit, so sagte er dem Berliner Journalisten Johannes Gernert, „Fakten in die Welt zu bringen“. Fakten, das sind für ihn Daten- Daten, die ein Computer schluckt. Und dann braucht man auch noch ein Programm, das daraus graphisch ansprechende Statistiken macht. Fertig ist sein „Dossier“ – für eine Gefängnisverwaltung z.B, denn Richard Berk arbeitet für solche und ähnliche US-Institutionen wie Sozialämter, Polizeistationen, Gerichte. Für diese erstellt er „immer genauere Vorhersagen“ darüber, wer in naher oder ferner Zukunft ein Verbrecher wird, ein Mörder, ein Vergewaltiger, eine Mißbrauchsfamilie, ein Rückfalltäter. „Die Computer“, sagt Berk, „werden immer mehr Entscheidungen treffen, weil sie es einfach besser können“.
Er speist sie mit den üblichen Informationen: Alter, Einkommen, Vorstrafen, Drogendelikte, Gewaltdelikte, Waffendelikte. „Sein Programm würfelt laut Gerner „all die Daten wieder und wieder neu zusammen, lässt hunderte Male die Wahrscheinlichkeit für diesen einen Menschen berechnen. Am Ende wird aus allen Durchgängen das Urteil gebildet. Zu jedem Urteil liefert Berk einen Prozentsatz, der angibt, wie sicher der Algorithmus sich ist. Wie oft er zum selben Ergebnis kam.“
„Predictive Policing“ – so bezeichnete bereits der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière dieses polizeiliche Instrument der Zukunft. „Berk sagt, dass er für ungeborene Babys jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit prognostizieren könnte, ob aus ihnen einmal Verbrecher werden.“ Und dass er vorhersagen könne, „ob häusliche Gewalt sich in bestimmten Haushalten wiederholt“. Dafür wird er viel kritisiert, denn seine Algorithmen stufen vor allem Afroamerikaner als „gefährlich“ ein. Einen „Algorithmus hat er für die Behörde in Pennsylvania entworfen, die entscheidet, wann jemand auf Bewährung raus darf.“ 14 Fälle bearbeitet sie am Tag, wobei das Gespräch mit den Gefangenen als Videokonferenz geführt wird. In Pennsylvania liebäugeln laut Gerner auch die Gerichte bereits mit „statistischen Verbrechensprognosen“. Berks Methode, „sagen auch Leute, die ihn bewundern, hat nur einen Makel: Die Zahl derjenigen, die als gefährlich eingestuft werden, obwohl sie es nicht sind, liegt bei seinen Programmen höher als bei anderen. Mehr Menschen sitzen länger, als sie müssten. Das ist der Kollateralschaden.“
Gerner hat sich mit einem Berk-Kritiker, den Jura-Professor Bernard E. Harcourt, unterhalten, der ein Buch mit dem Titel „Gegen Vorhersagen“ veröffentlicht hat: „Alle Instrumente zur Risikoanalyse sind rassistisch,“ sagt der. „Es habe, stellte er fest, eine Zeit gegeben, in der der Faktor Rasse offen einfloss. Das war in den Zwanzigern. ‚Ein deutscher Vater galt damals als schlechtes Zeichen‘. Längst werden solche Kriterien nicht mehr offen einbezogen. Ob jemand schwarz ist oder Hispanic, bahnt sich trotzdem seinen Weg in die Berechnungen. Über Umweg-Variablen wie Nachbarschaft etwa. ‚Der Rassismus war damals juristisch, jetzt ist er faktisch‘.“
In den USA (und damit auch hier) gibt es etwas, was noch faktischer ist: die Gene: „Der Kriminologe Adrian Raine schildert Biografien von Serienkillern und anderen Straftätern und bringt sie in Verbindung mit ihrem Erbgut. Eindrucksvoll präsentiert der Autor die biologischen Aspekte von Gewalt,“ heißt es auf Deutschlandfunk in einer Sendung mit dem Titel „Dem Verbrecher-Gen auf der Spur“. Dabei handelt es sich um eine Rezension des Buches von Adrian Raine „Als Mörder geboren“. Der Rezensent Michael Lange schreibt: „Tatsächlich konnten Genetiker in den letzten Jahren Erbanlagen aufspüren, die mit erhöhter Aggressivität verknüpft sind. Träger dieser Erbanlagen sind weniger als andere in der Lage, spontane Impulse wie Wutanfälle zu kontrollieren.“ Das meint auch die Neue Zürcher Zeitung: „Zahlreiche Studien sprechen dafür, dass entsprechende Veranlagungen vererbt werden“. Eine erwähnt „wissenschaft.de“: „Ein internationales Forscherteam hat dies bei verurteilten Gewaltverbrechern in Finnland untersucht. Tatsächlich stießen sie dabei auf zwei Genvarianten, die sich bei gewalttätigen Wiederholungstätern häufen“.
Der Kriminologe Reine glaubt, „dass die Biologie zum besseren Verständnis von kriminellem Verhalten beitragen kann“. Aber anders als viele Vorgänger seiner Forschungsrichtung bringt er die „Hintergründe von Kriminalität“ und die „biologischen Wurzeln von Gewalt und Verbrechen“ zusammen. Nimmt er also Berksche Daten plus Genanalyse – und hat damit „harte Fakten“ in der Hand, die ihm eine Voraussage erlauben, ob dieser oder jener Mensch einen Hang zum Verbrechen hat, einen unwiderstehlichen Drang gar?
„Die Genetiker haben keine Ahnung vom Leben, sie wollen nur bessere Tomaten machen,“ meinte die Mikrobiologin Lynn Margulis. Statistiker wie Berg wollen nicht einmal das.
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Bettgeschichten
Eine online Partnervermittlung für Senioren und vor allem für Seniorinnen wirbt mit der Beantwortung ihrer „Bettgeschichten“-Frage: „Probleme mit dem Bett?“
Nicht etwa: Probleme im Bett, wie sie ja bei alten Leuten, oder älteren, wie man heute sagt, durchaus eintreten können. Das Tagebuch von Benoite Groult „Vom Fischen und von der Liebe“ (2004) ist voll mit Schilderungen, wie ihrem Mann, ihrem Liebhaber und ihr selbst im Alter langsam die Lust verging. Aber ist die „Bettgeschichte“ wirklich aus Versehen so formuliert worden?
In der Pankower Wollankstrasse gibt es ein Bettengeschäft, das seine Ware bewirbt, indem es einem Interessenten ein hochelektronisch berechnetes für ihn optimal passendes, also quasi persönliches Bett offeriert. Der Buchladen gegenüber hat dort mal einen Leseabend veranstaltet – mit Büchern übers Schlafen. Eine anarchistische Kollegin von mir veröffentlichte ein Buch mit dem Titel „Schlaft doch, wie ihr wollt“. Die Schlaf-Ratgeberliteratur geht fließend über in die Werbung für Schlafhilfen. Die Paul Feyerabendsche „Anything-Goes“-These der Kollegin hält der Wirklichkeit nicht stand: Ich saß in einem Waggon, dessen Werbeflächen voll mit der Werbung einer Firma war, die mit den Worten „Falsches Kissen“ warb.
Man sah darauf jeweils ein leidendes Gesicht und der- oder diejenige hielt sich dabei die Stirn, den Nacken, den Hals oder die Schulter. Die derart porträtierten schienen nicht nur geistig, sondern auch körperlich am derzeitigen System zu leiden: Ehe kaputt, Job verloren, Miete erhöht, Sohn auf Chrystal Meth, Auto springt nicht an – so was in der Art…
Weit gefehlt: Diesen Leuten fehlte bloß das richtige Kissen! Was ist denn da passiert, fragte ich mich: Warum bewerben die Kissenhersteller ihre Produkte plötzlich als Gesundheitsmittel und sich als Chiropraktiker? Etwa seit mit der Dienstleistungsgesellschaft „Rückenschmerzen“ epidemisch geworden sind? Oder die weggefallene Arbeitsplatz- und Wohnungssicherheit massenhaft zu „Schlaflosigkeit“ geführt hat? Im Internet werden inzwischen spezielle Kissen für „Seitenschläfer“, für „Rückenschläfer“ usw. angeboten und vor allem die Leiden „Nackenschmerzen“ und „Schlaflosigkeit“ auf „falsche Kissen“ zurückgeführt.
Das „Online-Magazin für perfekten Schlaf“ meint: „Es ist völlig normal, dass wir während des Schlafes die Schlafposition des Öftern wechseln. Daher sollte sich das Kissen auch in der Nacht optimal den unterschiedlichen Anforderungen anpassen können.“ Neben dem richtigen Kissen gilt zudem: „Egal, ob Sie nun zu den Seitenschläfer, Rückenschläfer oder Bauchschläfern gehören, eines sollten Sie immer vermeiden – den Knick im Genick.“ Die „Halswirbelsäule mag das nämlich gar nicht“.
Was für Kissen helfen aber denn nun? Das kommt drauf an: Die Redakteure des Online-Magazins empfehlen z.B. für Alpträumer, die Nachts viel schwitzen, Kissen mit „natürlichen Materialien“, konkret: „Die einzigartige Fähigkeit der Schafschurwolle, bis zu 30 % des Eigengewichts an Feuchtigkeit aufzunehmen, macht sie zu einem besonders guten Füllmaterial.“ Das hilft auch gegen Ungeziefer: „Wußten Sie, in einem Bett halten sich bis zu über einer Million Milben auf? Sie bevorzugen vor allem ein feucht-warmes Bettklima.“ Es scheint damit erwiesen zu sein, dass besonders ängstliche Menschen Nachts besonders viele Milben züchten.
Aus gewöhnlich gut unterrichteten Bettenburgen weiß ich aber seit dem Wochenende, nach einer Diskussion über die vielen Matratzen-Läden aus aller Herren Länder, als wir auch kurz über „Falsche Kissen“ sprachen: Das ist alles PR. Dahinter stecken die mächtigen Schafzüchter-Verbände in Australien, Neuseeland und England, sie wollen ihre Schafwolle, um nicht gänzlich von vier chinesischen Textilkonzernen abhängig zu sein, auch in Europa als Kissenfüllung loswerden.“ Ein an der Diskussion beteiligter Schweizer wußte: „Unser Gottlieb-Duttweiler-Institut“ hat beizeiten schon in seiner berühmten Studie „Die Zukunft des Schlafens“ prophezeit, dass dafür „in der Always-On-Gesellschaft neue Märkte entstehen“.
Dann erzählte er einen Witz und wir mußten alle lachen: Ein Deutscher kommt in eine Schweizer Bank und fragt: „Damit ich wieder ruhig schlafen kann, möchte ich gerne ein Konto bei Ihnen eröffnen?“ „Sicher,“ sagt der Mann am Bankschalter, „wieviel wollen Sie denn einzahlen?“ Der Kunde flüstert: „Zwei Millionen.“ „Sie brauchen nicht zu flüstern,“ bekommt er zur Antwort, „bei uns ist Armut keine Schande.“
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Querdenker
Früher wurde jede dritte staatstragende Flachpfeife im Westen als „Querdenker“ bezeichnet – Richard von Weizsäcker, Fanz Alt, Iring Fetscher. Peter Sloterdijk und viele andere. Das war ein Ehrentitel des seichten bürgerlichen Feuilletons, der all jenen Denkern zugeteilt wurde, die ihnen geeignet schienen, den Radikalen etwas entgegenzusetzen, ohne konservativ oder reaktionär zu argumentieren.
Mal abgesehen davon, dass Sloterdijk inzwischen eher zu den Rechten gezählt wird, ist der Begriff des „Querdenkers“ heute ein Schimpfwort für eine ganze „rechte Bewegung“ geworden – und dementsprechend mehren sich täglich die Einträge im Internet dazu. Der Publizist Martin Hecht hat ein ganzes Buch über die „Querdenker“ geschrieben: „Unbequem ist stets genehm“ – was Unsinn ist, denn sie werden mindestens als Wirrköpfe gesehen, mit denen man nichts zu tun haben will, dazu kommen staatlicherseits Verunglimpfungen.
„Die Stuttgarter Initiative ‚Querdenken 711‘ mobilisiert in ganz Deutschland für den Protest,“ meldete der Tagesspiegel und zitierte Berlins Innensenator: „Wir beobachten die Mobilisierung im rechtsextremistischen Spektrum sehr genau.“ Das Ziel sei gefährlich: „Hier werden die Corona-Proteste bewusst unterwandert, um rechtsextremes Gedankengut anschlussfähig zu machen.“ Die Querdenker sind also gedankliche Unterwanderer der bloß dumpfen „Gegner von Coronamaßnahmen“. Für die FAZ sind sie nach ihrer Großdemo in Berlin bloß noch „ein kleiner Haufen aus Linken, Rechten, Impfgegnern, Verschwörungstheoretikern und verirrten Bürgerlichen.“
Die FAZ berichtet aber auch über eine Studie des Soziologen Oliver Nachtwey aus Basel. Danach sind unter den Anhängern der „Querdenker-Bewegung“ besonders viele Wähler der AfD, der Grünen und der Linkspartei. Sozialstrukturell handele es sich um eine relativ alte und relativ akademische Bewegung. Das Durchschnittsalter betrage 47 Jahre, 31 Prozent hätten Abitur, 34 Prozent einen Studienabschluß, der Anteil Selbständiger sei deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung. Die Corona-Leugner unter den Querdenkern hätten einen „Hang zur Naturromantik“. Die Studie ist allerdings nicht repräsentativ, da sie auf nur 1150 Fragebögen basiert, die „Chat-Gruppen der Querdenker“ jedoch mehr als 100.000 Mitglieder haben.
Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) drang kürzlich auf eine zügige Entscheidung darüber, ob die „Querdenker“ vom Verfassungsschutz beobachtet werden sollen. Er verlangte entschlossenes und schnelles Handeln: „Die aktuelle, offensichtliche Unterwanderung durch Rechtsextreme kann uns nicht kaltlassen. Bei den Reichsbürgern und der Identitären Bewegung hat mir das viel zu lange gedauert.“ Die Welt machte daraus verbunden mit der Basler Studie: „21 Prozent der ‚Querdenker‘ wählen die Grünen“. Der Innenminister will aber ausgewogen vorgehen: „Pistorius will auch Verbot von Antifa prüfen,“ heißt es auf „epochtimes.de“
Da die rechten Bewegungen derzeit auf dem Vormarsch sind, stellt sich mir die Lage so dar: Nahezu weltweit ist die Mittelschicht und die Oberschicht (das Establishment) linksliberal, die Unterschicht, die Armen, prekär Beschäftigten sind dagegen Rechte geworden. Und sie bilden z.Zt. die einzige soziale Bewegung (wenn auch nationalistisch und rassistisch). Es ist eine „Emanzipationsbewegung“, aber eine mit reaktionärer Stoßrichtung, meint Jana Hensel. Eine „Studie“ kontert mit dem Vorweg-Ergebnis, dass Querdenker-Demos die größten Coronaviren-Verbreiter sind.
Generell gilt, von den USA bis Frankreich, Italien, Spanien, Polen etc.:
– Dass das linksliberale Milieu in den Städten zu finden ist und dass die Rechten auf dem Land bzw.in Kleinstädten leben.
– Dass sich bei diesen Linken die jungen klugen Frauen durchsetzen werden, während sich in der Rechten die stierigen Männer massieren.
– Dass, wer nicht diesen ganzen Computer-, App-, Smartphone-, Onlinekauf-Mist sozusagen fließend beherrscht, auf schlechtbezahlte Idiotenjobs angewiesen ist (die vier großen Silicon-Valley-Konzerne finanzierten die demokratischen Gegner von Trump, der seinerseits von den wilden Südstaatlern und Losern geliebt wurde – weil Antiestablishment).
– Dass diese dynamisch-juvenilen Linksliberalen eine politisch korrekte Sprache, Vegetarismus, das ganze Öko-Zeug, Diversität, Genderwahn, Ausländerliebe etc vertreten und gegen die Klimaerwärmung sind, während die Rechte, das ehemalige Proletariat, das alles für Unsinn, Fakes, Reichenverschwörungen usw. hält und gegen „Asylanten“ sowie gegen Schwule ist.
Ein (linker) US-Soziologe namens Florida fand heraus: Die Weltstädte mit den meisten Schwulen haben das größte Innovationspotential und die beste Lebensqualität, was immer das heißt.
– Wichtig ist bei dieser ganzen komischen Verdrehung der Klassenverhältnisse, dass die Armen/Rechten nicht für mehr Chancengleichheit, höhere Löhne, Steuererhöhungen für Reiche, bessere Lebensbedingungen für ihre Kinder oder für alle sind, das alles interessiert sie eigentlich gar nicht: Die Ökonomie ist nicht ihr Thema, das sind alles für sie eher Parolen und Forderungen des linksliberalen Establishments und der feminisierten Mittelschicht. Verlieren die quasiproletarischen Parteien SPD und Die Linke mit ihrem „sozialen Fimmel“ deswegen an Einfluß?
– Die männigliche Unterschicht „kämpft“ für einen starken Staat, für mehr und besser bewaffnete Polizisten, für „Ausländer raus“ und für eine positiv besetzte „Nation“ im Sinne einer „Identität“ (in Polen dazu für eine rigide Religion, Heiliger Familie und totalem Abtreibungsverbot) .
Für mich folgt daraus, neben einer langen Anthropause, der Verdacht, dass wir über kurz oder lang wieder verlustreiche größere Kriege haben werden. Wahrscheinlich wird die Unterschicht (das Handarbeiter-Milieu) das auch begrüßen, damit den Kopfarbeitern, den Weicheiern der oberen Schichten (in ihren Home-Offices) mal wieder gezeigt wird, wo der Hammer hängt.
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Denunzianten
Das Magazin Focus meldet: „Mieter verpfeift zu oft die Nachbarn und wird aus Wohnung geworfen“. Im Kommentar heißt es: „Tja, wer zu oft andere Menschen anscheißt und sich über jeden Mist beschwert, hat wohl mal den falschen auf den Schlips getreten…“
Die Badische Neueste Nachrichten melden: „Anzeige wegen eines Plakats an seinem Holztor hat Jörg Rupp, Kandidat von ‚Die Linke‘, beim Polizeiposten Malsch gestellt. Auf dem Plakat wird er mit ‚Denunziant‘ beschimpft.“ Rupp vermutet, „dass dies jemand aus der rechten oder ‚Querdenker‘-Szene heimlich angeheftet hat.“ In einem Kommentar heißt es: „Ob das hier zutrifft kann ich nicht beurteilen. Aber verdächtig oft fühlen Sie sich schon angegriffen, benachteiligt etc. Vielleicht auch nur zu gerne in der Presse?“
In Wannsee fand eine Party mit 12 Personen statt; ein Denunziant telefonierte die Polizei herbei, die der Party ein Ende machte, die Teilnehmer und Gastgeber müssen nun 25.000 Euro Strafe zahlen. Auf einer anderen kleineren Party wurde ich angehalten, zum Rauchen auf den Balkon zur Straße zu gehen, bei dem zum Hof sei es zu riskant, weil es den wegen des Lockdowns schlechtgelaunten Nachbarn zur Denunziation verleiten könnte.
Das „Redaktionsnetzwerk Deutschland postet eine Meldung aus Sachsen-Anhalt: „Weil sie sich nicht impfen lassen wollen: Pflegedienstchef kündigt sieben Mitarbeitern“. Zuvor gab es bereits eine Nachricht über einen Firmenbesitzer, der 12 Mitarbeiter, die sich nicht impfen lassen wollten, rausgeschmissen hatte. Ist da auch eine Denunziation hinter?
Unter dem lateinischen denuntio, „Anzeige erstatten“ versteht man die (Straf-)Anzeige eines Denunzianten aus persönlichen, niederen Beweggründen, wie zum Beispiel das Erlangen eines persönlichen Vorteils. Wikipedia erwähnt aber auch noch: „Das Wort ‚denunzieren‘ hat eine weitere, aus dem englischen (to denounce) stammende Wortbedeutung, nämlich ‚als negativ hinstellen, brandmarken, öffentlich verurteilen‘.“ Demnach wären die von den Chefs verfügten Entlassungen der Impfverweigerer erst durch die Presse zu einer Denunziation geworden.
Schwierig wird es, wenn die Wikipedia-Autoren meinen, sich auf die Psychoanalytikerin Ela Hornung und ihr Buch „Denunziation als soziale Praxis“ berufend, man müsse „im Kontext von Diktaturen wie der DDR oder dem Dritten Reich zwischen Denunziation und berechtigter Anzeige unterscheiden.“
Hier wird 1. die DDR als naziähnliche Diktatur „denunziert“ und 2. unterstellt, dass es in der BRD als „Rechtsstaat“ keine „Denunziation“ mehr gibt, sondern nur noch „berechtigte Anzeigen“. Das ist natürlich Unsinn, denn ob eine Anzeige berechtigt ist oder nicht, darüber haben erst die Gerichte zu befinden – und die meisten Anzeigen werden von ihnen als „unberechtigt“ zurückgewiesen. Sogar Verstöße gegen „Kontaktbeschränkungen“ – vom Amtsgericht Weimar, das deswegen die denunzierten acht Personen, die eine Party auf einem Hinterhof gefeiert hatten, freisprach – mit der Begründung: „Die Exekutive war nicht zum Erlass der Verordnung befugt, die aus mehreren Gründen verfassungswidrig ist.“
Der Deutschlandfunk fragt sich: „Macht Corona Denunzianten aus uns?“ Und läßt den Polizeiwissenschaftler Rafael Behr erklären, „wann aus sozialer Sorge Denunziantentum wird…Niemand will ein Denunziant sein. Jeder lässt sich etwas einfallen, warum er sich so verhalten hat. Dennoch finden wir in jeder Krise das Phänomen vor, dass unklar wird, wie man sich richtig verhält.“
Der MDR berichtete: „Seit Mitte März hat die Polizei in Sachsen über 3.500 Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz registriert. Ein Teil davon geht auf ‚Bürgerhinweise‘ zurück. Ob es sich dabei um Denunziationen handelt, wird heftig im Netz diskutiert. Christoph Thonfeld, wissenschaftlicher Leiter der KZ-Gedenkstätte Dachau erklärt, was Denunziationen sind und was sie so heikel macht: „Wer die Gesundheit der Gesellschaft, die durch den Hinweis gewahrt werden soll, als wichtiger ansieht, wird die Meldung als „Bürgerhinweis“ betrachten. Wer hingegen Verstöße gegen die Corona-Bestimmungen eher als harmlose Normübertretung oder die Beschränkungen als Eingriff in die individuelle Freiheit bewertet, sieht die Hinweise eher als Denunziation.“ Die deutschen Experten drücken sich um eine klare Kritik am Denunziantentum. Für die FAZ reicht das Thema von der „angeschwärzten Petze im Klassenzimmer“ über den „gefeierten Whistleblower“ bis zum Denunzianten bei den Nazis, der „mitunter legal und vorschriftsgemäß – nach heutigen Maßstäben aber verwerflich“ handelt. Geschätzt wird so jemand von „repressiven politischen Systemen“. Also entweder ist das alles grober Unfug oder dieses unser politisches System ist repressiv, denn die hiesigen Strafverfolgungsbehörden schätzen ihn doch, den Denunzianten. Ich erinnere mich noch an die Autobiographie eines Kontaktbereichsbeamten (KOB) im Wedding, der geradezu überhäuft wurde von Denunziationen, was er sehr geschätzt hat, aber schon bald stellte sich heraus, dass an all diesen Anschwärtungen „nichts dran war“. Enttäuscht gab der Bulle seinen KOB-Job auf – und wurde Personenschützer bei Willy Brandt, den er sehr schätzte und oftmals davor schützte, dass der Regiermeister besoffen gemacht wurde.
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Weltprojekte
Immer mehr junge Leute wollen die Welt retten – und kaufen ihren Schinken jetzt nur noch im Biosupermarkt. Da waren die alten Weltprojektemacher noch aus ganz anderem Holz, wobei es ihnen jedoch ebenfalls um die „Restlosigkeit“ ging. Dies ist auch der Titel eines Buches von Markus Krajewski, das von „Weltprojekten um 1900“ (2006) handelt. Am Irresten fand ich darin einen Projektemacher, der zum Wohle der Menschheit das Mittelmeer trockenlegen wollte, was riesige Mengen Acker- und Bauland freigelegt hätte. Sein Projekt diente er nach und nach allen westlichen Herrschern, Diktatoren und Präsidenten an, jedesmal leicht umformuliert.
„Der Projektemacher“, schreibt Georg Stanizek in einem Essay über diesen, „ist darauf aus, die Unwahrscheinlichkeit des Zueinanderfindens von Selbst- und Fremdselektion methodisch zu reduzieren, indem er mit seinem Projekt die Selektionen prospektiv engführt, d.h. in Form des Projektes gleichsam ein Exposé zu ihrer Verknüpfung vorlegt. Wenn die Selbstselektion sich in Projektform annonciert, so ist sie von vorneherein präzise auf eine Fremdselektion hin adressiert, steuert sich nah an sie heran, macht sich beobachtbar und beurteilbar“. Dieses Suchen der Nähe tatsächlicher Anschlußmöglichkeiten läßt sich „durchaus Opportunismus nennen“. Bis heute attestiert man hierzulande erfolgreichen Projektemachern und durchsetzungsstarken Karrieristen opportunistischen Vorwärtsdrang.
Zu den harmloseren Weltprojekten gehörte die Kunstsprache „Esperanto“. In einer Rezension des „Restlosigkeits“-Buches heißt es: „Allenthalben sahen die Zeitgenossen die Einführung eines Weltgeldes, einer Weltzeit, von Weltnormen und einer Weltsprache kurz vor der Verwirklichung.
Kann es sein, dass all diese „Projektemacher“, die auf eine globale „Verbesserung“ abzielten mit ihren Überlegungen, Berechnungen und Planungen, zu wenig „belesen“ waren und keine Welterfahrung hatten? Jedenfalls habe ich diesen Eindruck oft bei Texten, die aufs Ganze gehen, d.h. davon ausgehen, dass die darin enthaltenen Überlegungen und Vorschläge die ganze Welt verbessern (könnten). Meistens reden sie dabei von „Wir müssen!“ oder „müssten“ – sonst ist alles zu spät: es sei 5 Minuten vor 12.
Als der Nachfolger von Erich Honecker, Erich Krenz, die Parole „Besser machen!“ verbreitete, haben wir in Westberlin daraus sofort ein Thema für eine Ausstellung gemacht. Der Künstler Thomas Kapielski fand dazu auch gleich ein passendes Zitat bei Bismarck. 1886 sagte er in seiner Rede über die „preußische Schnapspolitik“ im Abgeordnetenhaus des Landtags: „Es ist so leicht, so unfruchtbar, alles zu negieren…und sicher zu sein, dass man nie auf die Probe gestellt werden kann, selbst zu versuchen, es besser zu machen.“
Ich schrieb in unserem „Projekt-Förderungsantrag“: „Unter ‚Realisierung‘ ist erst einmal das Ausdenken und –knobeln von Gegenständen, Bereichen und Existenzweisen in Richtung auf ein ‚Besser machen!‘ zu verstehen“. Im Großen wie im Kleinen, wobei den Projektemachern nach beiden Seiten hin Grenzen gesetzt sind: Das Universum ist nicht zu verbessern, man weiß nicht einmal, wo es endet – und ob überhaupt. Die umgekehrt ins Mikrobiologische reichenden Projekte kommen irgendwann gerätetechnisch nicht weiter mit ihrem gedanklichen Vorstößen.
Bei der Vorbereitung der Ausstellung über das „Besser Machen!“ (die vom Kultursenator dann nicht gefördert wurde, sich also nur in Form von Projektpapieren „realisierte“) dachten wir eher an so profane Dinge wie „Salzstreuer“ und „Künstlersozialversicherung“. Einer in der Vorbereitungsgruppe brachte beim Stichwort „Weltverbesserungsideen von westdeutschen Stammtischen“ „Stalingrad“ ins Spiel: „Wurde nicht jahrzehntelang an zigtausend Stammtischen darüber nachgesonnen, wie man es in der ‚Schlacht um Stalingrad‘ hätte besser machen können, ja, wie man dort eventuell sogar hätte siegen können…?! Diese extensive ‘Stalingrad‘-Debatte wäre also ein wichtiger Beitrag zum Thema ‚Besser Machen!‘“ Meinte er.
Ebenso die Verbesserung eines (Guiness-)Rekords: Die meisten Nägel habe z.B. nicht, wie man denken könnte, der Zimmermann Dan Wirtz aus Burbank eingeschlagen, sondern der rheinische Nagelkünstler Günther Uecker – weit über eine Million.
Wir dachten aber auch über Dinge, Projekte, nach, bei denen die Untätigkeit, das Unterlassen, etwas besser macht: Da kam z.B. ein Künstler ins Projektbüro und wollte uns für sein Projekt, ein kreatives Ferienobjekt für Künstler in Südfrankreich, begeistern. Das redeten wir ihm aus: Die internationalen Künstler würden nur die ganze Region dort verschandeln, als Speerspitze eines Kultur- und Öko-Tourismus, der quasi automatisch eine Gentrifizierung und somit Verunstaltung und Verelendung nach sich ziehe. So viel ich weiß hat der Projektant dann auch davon abgelassen.
Mit dem Restlosigkeitswahn der Projektemacher um 1900 bahnte sich bereits das an, was die Soziologen heute „nachgesellschaftliche Projektwelten“ nennen, in denen wir nun alle leben.
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Verspießern
Trotz diverser Distanz-Maßnahmen ließen wir uns neulich zu fünft lang und breit über die sozialen Wirkungen von Corona aus. Dabei kamen wir nicht auf die z.T. erschreckende Ängstlichkeit vieler Leute zu sprechen, deren gerauntes Credo da lautet: „Nach Corona wird nichts mehr so sein wie es war“ – ein ähnliches Mantra wie zuvor das „Wir müssen uns neu erfinden“. Nein, es ging uns um die Verspießerung dank der Pandemie und ihrer Gegenmaßnahmen, denn es schien uns, dass nur die Verheirateten oder Quasi-Verheirateten (Paare mit und ohne Kinder) gute Überlebenschancen haben. Und zwar solche, bei denen der oder die eine noch täglich in einer Firma arbeitet und der oder die andere zu Hause bleibt. Nach Feierabend auf dem Weg in dieses Zuhause ruft er oder sie dann vom Supermarkt aus an und fragt,was für das Abendessen noch eingekauft werden muß, das der oder die Andere dann zu Hause zubereitet. Selbst die modernsten und politisch korrektesten Beziehungen würden sich derzeit auf dieses spießige Minimal-Familienmodell zurückgeworfen fühlen – und gutheißen. Statt Plädoyers für Polyarmorie wird jetzt ein Buch nach dem anderen über Corona veröffentlicht!
Zu diesem erzwungenen Kleinfamilienkonzept fiel einem von uns am Tisch das Buch „Minimum“ des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher ein. Es war 2006 veröffentlicht worden und galt als ebenso konservativ wie frauenfeindlich. Im Wikipedia-Eintrag über das Buch des mit 54 an Überbewertung gestorbenen FAZ-Medienhypers steht: „Der Titel ‚Minimum‘ verweist auf Schirrmachers Analyse der Folgen der Auflösung der Familie als ‚Keimzelle der Gesellschaft‘ und damit der Schrumpfung sozialer Beziehungen auf ein Minimum. Die soziale Überlegenheit der ‚Überlebensfabrik Familie‘ in Notzeiten lässt sich seiner Argumentation nach besonders mit einem amerikanischen Mythos belegen: der ‚Tragödie der Siedler am Donnerpass‘, wo überwiegend „Einzelkämpfer“ ohne familiäre „Blutsbande“ im Schneesturm zu Tode kamen, Familienmitglieder hingegen überlebten.“
Unter dem Eintrag „Donnerpass“ erfährt man: 1864 machten sich 87 Siedler auf den Weg in den Westen der USA, der Führer ihres Trecks hieß George Donner. Aufgrund einer Fehlentscheidung von ihm wurden sie in den östlichen Bergen der Sierra Nevada vom Winter überrascht. Etwa die Hälfte von ihnen starb, die andere Hälfte überlebte nur deswegen, weil sie Teile der Gestorbenen aßen, darunter die Indianer Luis und Salvador, „sie wurden erschossen“. Zuletzt war nur noch eine Handvoll Siedler übrig.
„Der Donner Memorial State Park nahe dem Ostufer des Donner Lake erinnert an die Katastrophe. Die Stelle, an der die Familie Donner am Alder Creek lagerte, wurde zur National Historic Landmark erklärt.“
Schirrmacher machte aus diesem Irrsinns-Treck ein Plädoyer für die Kleinfamilie, die einzig das Überleben im sozialen (und nun zudem pandemischen) Winter ermöglicht, alle allein oder in Gruppen Lebenden gehen zugrunde. Seine Ehefrau, mit der er ein Kind hatte, Angelika Klüssendorf, ließ sich von diesen kühnen Gedanken jedoch nicht überzeugen und reichte die Scheidung ein. Jahre später schrieb sie über ihre „schwierige Ehe“ und den darauffolgenden „Scheidungskrieg“ einen Roman: „Jahre später“ (2018).
Was Schirrmacher in den Schlußfolgerungen aus seiner Analyse der Siedler-Tragödie am Donnerpass vernachlässigte, war dass die (Ehe-) Paare nur deswegen überlebten, weil sie die Nicht-Verpaarten aßen. Und zwar, wie man heute weiß, indem er oder sie das Fleisch besorgte, während er oder sie dann am Lagerfeuer das Essen zubereitete. Diese aus Europa stammenden Siedler aßen nämlich nichts Rohes.
Damit wäre Schirrmachers Plädoyer für die Kleinfamilie jedoch erst realistisch geworden, wie wir jetzt während der Corona-Restriktionen im Winter 2020/21 sehen. Wobei diese Liebes- oder Ehepaare es jedoch zum Glück nicht mehr nötig haben, auf das magere Fleisch von Singles zurückzugreifen, in den Kühltruhen der Supermärkte finden sie einstweilen noch genügend Hähnchen- und Puten-Filets, Rindersteaks und Lammlachs-Streifen. Auch Fisch, frisch und in Dosen, ist noch genug da.
Man kann sagen: Angelika Klüssendorfs Erzählung über ihre Ehe mit Schirrmacher ist weitaus näher an der Wirklichkeit als Schirrmachers Interpretation der Donnerpass-Tragödie in seinem Buch „Minimum“ – wenn man den Kannibalismus der Siedler nicht als Entspießerung ihres „Go West“-Kitsch ansieht. Über ihr Buch „Jahre später“ heißt es auf amazon: Die Autorin entwickelt darin die „Anatomie einer toxischen Partnerschaft. Als Leser wünscht man bis zuletzt, dass sie gelingen möge, und zugleich, dass es endlich ein Ende hat mit den beiden.“ Was dann ja auch der Fall war. Aber immerhin entgingen die beiden dadurch den Durchhalte-„Werten des Bürgertums“ – wie ein „info wortbedeutung“ das „Spießertum“ definiert.
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Rhizom – Mykorrhiza
Ein Rhizom ist ein meist unterirdisch horizontal wachsendes Sprossachsen-System, das man auch Wurzelstock nennt. Nach unten gehen davon die eigentlichen Wurzeln, nach oben die Blatttriebe aus. Die von Pilzen gebildeten langen dünnen Wurzeln (Fäden) nennt man Myzel. Als Mykorrhiza wird eine Symbiose zwischen Pilzen und Pflanzen bezeichnet, bei der sich ein Pilzmyzel mit den Pflanzenwurzeln verbindet, um Nährstoffe auszutauschen.
In den Siebzigerjahren wurde aus dem botanischen Begriff Rhizom ein politischer, propagiert von den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrem Hauptwerk „Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie 1“ und „Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie 2“, dem ein Pamphlet „Rhizom“ folgte, auf dem nach einiger Zeit überall in den westeuropäischen Universitätsstädten Aufkleber folgten, die an Wänden und Bushaltestellen verkündeten: „Macht Rhizom! Der rosarote Panther“.
Das war explizit eine Absage an das alte europäisch-darwinistische, d.h. hierarchische Baum- und Wurzeldenken zugunsten egalitärer Organisationsformen (bzw. “Strukturen“ wie man damals und auch heute noch gerne sagt). Kurzum: Das Rhizom war eine Metapher und ein Modell für ein unterirdisch verknüpftes Beziehungsgeflecht von radikal denkenden Linken.
Aber die Botaniker und ebenso ihre Begriffs-Metaphorisierer sind inzwischen vom Rhizom zur Mykorrhiza fortgeschritten – und damit bei der Faszination für Pilze, vor allem für deren winziger Pilzfäden, dem Myzel, angekommen. Diese kleinen in die Pflanzenwurzel reinwachsenden Pilzfäden, die Mykorrhiza also, trifft auf den derzeitigen „Geschmack“ der radikalen Linken, die immer dünner und weniger werden – im Gegensatz zur asozialen Bewegung der konsequenten Rechten (entweder ist man radikal Links oder konsequent Rechts oder eiert dazwischen rum).
In anderen Worten: Der Staatsapparat ist ein „Staatsbaum“, der versucht, die Menschen zu verwurzeln, dagegen gilt es, ein „Kriegsmaschinenrhizom“ zu entwickeln. Dieses läßt sich laut Deleuze und Guattari durch sechs Merkmale bestimmen: 1. Konnexion, 2. Heterogenität, 3. Vielheit, 4. asignifikanten Bruch (es kann an jeder beliebigen Stelle zerstört werden und wuchert dennoch entlang seiner eigenen oder entlang anderer Linien weiter), 5. Kartographie und 6. Verfahren, zur Herstellung von Abziehbildern (keine Kopien).
Die wenigen, dahinvegetierenden Linken verstehen nun unter der von Naturwissenschaftlern erforschten Mykorrhiza der Pilzwelt mit zum Teil riesigen Ausmaßen ein „World Wide Web“, und unter den sozialen Medien des Internets ein symbiontisches Netzwerk, geeignet zur Weltverbesserung.
„Die Pilze können die Welt retten,“ verkündete jüngst z.B. der Pilzforscher Paul Stamets, Inhaber von elf Fungi-Patenten, auf der berühmten „TED Konferenz“, ein internationales Redner-Treffen in Kalifornien, um die Welt alljährlich aufs Neue mit Rettungsideen zu beglücken. Stamets begann seine „Keynote“ mit dem Satz: „Wir alle wissen, dass die Erde Probleme hat, wir sind jetzt in der sechsten bedeutenden Phase der Vernichtung auf diesem Planeten eingetreten.“ Noch jeder Amerikaner hat auch eine Analogie zwischen Computer und Gehirn hergestellt, Paul Stamets, der am „Bioshield-Programm des US-Verteidigungsministeriums“ beteiligt war, mixt alles zusammen: „Ich habe als erster die These aufgestellt, dass das Myzel ein natürliches Internet der Erde ist,“ sagte er.
Auf einem Pilz-Symposion des Hamburger Kunstvereins wurde dies kürzlich von der Basler Medienwissenschaftlerin Ute Holl als „Quatsch“ qualifiziert, wobei sie sich vor allem auf den englischen Pilzforscher unter den (kalifornischen) Weltrettern Merlin Sheldrake bezog, Sohn des Botanikers Rupert Sheldrake, der mit seiner Medientheorie „Morphogenetisches Feld“ bzw. „Morphische Resonanz“ berühmt wurde. Wenn er, der Vater, vielleicht noch das Rhizom hochhielt, dann hat es sein Sohn nun mit der Mykorrhiza, über die er seine Cambridge-Dissertation schrieb. Sie wurde 2020 auf Deutsch unter dem Titel „Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen“ veröffentlicht und lag auf dem Hamburger Pilz-Symposion zum Verkauf aus.
Sheldrakes Pilzdenken politisch zu überhöhen (zu deuten), ist also Unfug, aber für Pilzforscher und solche, die es werden wollen, hat er in seinem Buch doch allerlei interessante Fakten zusammengetragen. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang an die weisen Worte des Foucaultassistenen Francois Ewald: „Es gibt immer zu viel Deutung und nie genug Fakten. Wobei die Akte durch Deutung am Gefährlichsten für die Freiheit sind. Ferner wissen wir vom einstigen Bremer Uniprofessor Fred Abraham: „If you want to be a highflyer in science you must in Germany be a brillant theorist and in the angloamerican Zone of interest a good factgather.“ Nun ist Deutschland inzwischen zwar so gut wie durchamerikanisiert, aber es gibt noch immer ein paar französische Theoretiker nebenan, genannt seien Bruno Latour und seine Mitstreiter z.B., die ganz ohne Mykorrhiza und auch, so viel wir wissen, ohne (psilozybinhaltige) Rauschpilze politisch denken.
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Christus Meth
1969 sang Grace Slick von Jefferson Airplane: „Eine Pille macht dich größer und eine Pille macht dich klein/ Aber diejenigen, die deine Mutter dir gibt, machen überhaupt nichts.“ (White Rabbit)
Nach dem Baden im Schlachtensee ging ich rüber zur Krummen Lanke. Auf der Wiese prügelten sich etwa 30 Jungs, ich schaute ihnen zu. Ein Deutscher erklärte mir: „Die Scheißtürken wollten uns unser Chrystal Meth abnehmen“. Es waren auf beiden Seiten Mittelschichtkids. Tage später prügelten sie sich noch einmal nach einem Konzert im Steglitzer Einkaufscenter „Das Schloss“, diesmal standen ihre Mädchen drumherum und feuerten sie kreischend an, zwei Polizisten schaute kurz zu.
Auf dem Schlachtensee-Parkplatz nahm ich einen Jungen mit, der nach Schöneberg mußte. Freimütig erzählte er mir unterwegs, dass er der Lieferant dieser Droge sei. Er stelle sie selber her. Er prahlte. Ich wußte nicht, ob ich ihm glauben sollte.
Dann erfuhr ich von Pit, meinem Verleger in der bayrischen Rhön, dass dort, aber auch in Sachsen, die Jungmänner überall auf Chrystal Meth seien, das aus dem nahen Tschechien komme. Es sei fürchterlich, die würden alle verblöden, aber richtig. Nicht zufällig sei Chrystal Meth mit dem Aufkommen der Rechten zur Massendroge des ländlichen Prekariats geworden: Es sei ein Methamphetamin, dass bereits die Nazis als „das Wundermittel Pervetin“ an alle, die im „Kampf“ durchhalten sollten oder wollten, verteilt hatten.
Von einem US-Anthropologen, Jason Pine, erfuhr ich dann, dass auch die Jungmänner im ländlichen Missouri alle auf Chrystal Meth seien. Sie würden das Zeug selber herstellen „aus pseudoephedrinhaltigen Erkältungsmedikamenten und gängigen Supermarkt- und Baumarktprodukten“. Anders als in der Rhön war das in Missouri ein großes Thema bei Journalisten und Polizisten. Zum „home cooking“ dieser Droge gehöre „die häusliche Gewalt und die der Droge über ihre Nutzer, die Macht und Ermächtigung des Rauschs, die Sucht, alles, was Leute auf sich nehmen, um an Drogen zu gelangen oder sie herzustellen, die Explosionen und Verletzungen und anderen Spuren dieser Gewalt.“
Den Nutzern und zugleich Herstellern ginge es dabei um „den Traum von einem besseren Leben“, den die „Konsumkultur“ ihnen verspreche, aber vorenthalte. Mir fielen dazu all die Mittelschichtmütter, die ich kannte, deren fast erwachsene Söhne aggressive drogenabhängige Loser waren, allerdings waren sie nicht auf Chrystal Meth, sondern nahmen wahllos alles, bis hin zu den Wertsachen ihrer Mütter. Die taz-Autorin Lilly Brand brachte mal ihren Freund, einen Chystal-Meth-Verdämmerten aus einer reichen Dahlemer Familie mit in die taz. Er stahl sogleich eine Handtasche, wurde allerdings erwischt und flog raus.
Diese Meth-Köche sind ein „verkörperter Kapitalismus“, wie Jason Pine das Missouri-Prekariat nennt und gehören zur amerikanischen Idee vom „better living through chemistry“ (während ihre Mädchen eher von den bildgebenden Verfahren Film und Fernsehen abhängig sind). Die Jungs sind Bastler, die sich „in rastloser Aktivität“ zu „Consumer-Produzenten im Zustand absoluter Unabhängigkeit“ entwickeln. Was sie anrühren, ist laut Pine „in jeder Hinsicht explosiv, im Körper wie in der Plastikflasche“, deren aufsteigendes Gas sie rechtzeitig entweichen lassen müssen, damit sie ihnen nicht um die Ohren fliegt. Daneben basteln sie an „Sicherheitsvorkehrungen und schützen ihr Labor mit Fallen vor Eindringlingen“. Nicht zufällig ist das Slangwort für den Methamphetamin-Rausch „to tweak“, das der „New Yorker“ auch für die „rastlose Aktivität“ eines Steve Jobs verwendete, eine Art von „Zukunftserregtheit“.
Die von eigenen Musikgruppen begleitete „Chrystal Meth-Kultur“ in Missouri ist zwar weitaus depravierter als die im Süden Berlins, aber beide sind weit entfernt von einer „Untergrundökonomie“, wie sie u.a. Sudhir Venkatesh in den Chicagoer Ghettos bei den mit der Polizei kooperierenden Heroindealer-Gangs erforschte. „Was Meth oder ähnliche Dopamin-konzentrierte Drogen hervorrufen, hat nichts zu tun mit Befriedigung im engeren Sinne,“ laut Pine geht es dabei „um die Antizipation der Belohnung, nicht darum, sie zu erleben.“ Deswegen schwärmen alle, denen das Mißgeschick passierte, alt geworden zu sein, bevor sie dreißig wurden, vom körpereigenen Glückshormon „Dopamin“, das ausgeschüttet wird, wenn man sich auf irgendeine Art und Weise selbst belohnt, wobei sie stets an etwas hart Erarbeitetes denken (eine gute Zeugnisnote, eine geile Figur etc.). Jason Pine fragt sich, ob die Meth-Köche „eine persönliche Souveränität oder ein Gefühl von Selbstermächtigung und Meisterschaft in ihrer Tätigkeit finden, die ihnen in regulären Jobs nicht zur Verfügung stehen würden?“ Sie bilden die Kehrseite des „chemisch-industriellen Komplexes“.
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Staat-Ups
Grob gesagt kann man bei den Existenzgründern zwischen sich verwirklichen und verwirken unterscheiden. Erstere werden zumeist vom Arbeitsamt gefördert und mit einem Coach versehen, man spricht deswegen auch von „Staat-Ups“. Letztere suchen sich Investoren, die ihnen einen Projektmanager vor die Nase setzen, der sie auf marktwirtschaftlichem Kurs hält (so machen es z.B. die Zalando-Brüder). Von allen „Start-Ups“ gelangt höchstens einer von zehn in die Gewinnzone.
Unsere Kneipe in Neukölln war ein Staat-Up, das Wirtsehepaar Uschi und Ansgar war arbeitslos gewesen und hatte beim Jobcenter einen Projektantrag gestellt, der genehmigt worden war. Normalerweise muss sich jeder irgendwann entscheiden, ob er vor oder hinter der Theke stehen will, für unseren „Fuchsbau“ hinterm Comenius-Garten traf das nicht zu, d.h. Gäste und Wirte waren nicht unterscheidbar. Weswegen die Einnahmen nicht mit den Ausgaben für Getränke und Knabberzeug Schritt hielten: Es wurde großzügig eingeschenkt und die Deckelführung lax gehandhabt, während den „Aushilfen“ anständige Stundenlöhne gezahlt wurden.
Irgendwann führte der vom Jobcenter auf das „Projekt“ angesetzte „Coach“ ein ernstes Gespräch mit Uschi und Ansgar: Der Umsatz könnte besser sein, sagte er, der selbst eine Art „Staat-Up“ war: ein Unternehmensberater. Einst hatte er in der Hochschule für Ökonomie sozialistisches Wirtschaften gelernt, dann hatte er als Selbständiger Firmen beraten. Diese hatten seine Wirtschaftskonzepte jedoch meist abgelehnt und waren „deswegen wieder vom Markt verschwunden“. So war es dann auch beim „Projekt“ von Uschi und Ansgar, denen er vorschlug, mehr Touristen anzulocken und z.B. Cocktails und „Happy Hours“ einzuführen, sowie mit „Flyern“ draußen für ihre Veranstaltungen zu werben. Aber dazu fand sich niemand und das ganze „Hawaii-Gelumpe“ mit den Happy-Hours lehnten alle ab, zumal sie befürchteten, dass dann plötzlich Englisch im „Fuchsbau“ gesprochen wurde. Nicht dass sie generell was gegen Fremde hatten, Polen und Russen waren z.B. willkommen, es standen acht Wodka-Sorten im Kühlfach.
Als der Coach sich mit der Anökonomie das „Fuchsbaus“ vertraut gemacht hatte, schlug er vor, mit den Stammgästen einen Kulturverein zu gründen, das würde die Verluste auf viele Schultern verteilen, wenn nicht gar dazu führen, endlich Gewinn zu machen, denn hinter einem solchen altruistischen Verein stünden viele Egoisten, die nicht draufzahlen wollen auf Dauer. Der Coach argumentierte gerne biologisch, in diesem Fall bemühte er eine Drosselart, bei der die ledigen Vögel den Brutpaaren bei der Aufzucht helfen, wodurch sie an Ansehen gewinnen. Desungeachtet wurde sein Rat angenommen und schon bald waren alle Mitglieder im Verein der Freunde des klassenlosen Fuchsbaus. Da die Höhe des Mitgliedsbeitrags jedoch von jedem selbst bestimmt wurde und man auch nichts zu zahlen brauchte, änderte der Verein wenig an der finanziellen Misere. Den „e.V.“ gibt es noch heute, aber Uschi und Ansgar übergaben die Kneipe einem anderen Wirtsehepaar. Dennoch blieb alles so wie es war, nur dass die neue Thekencombo etwas strenger wirtschaftete und die Gläser nicht mehr ganz so voll schenkte.
Zu den Vereinsmitgliedern gehörte Malgorzata, eine Fotokünstlerin. Da sie selten ein Foto verkaufte, war sie arbeitslos gemeldet. Irgendwann legte das Jobcenter ihr nahe, sich selbständig zu machen mit einer Förderung und einem Coach. Bei diesem handelte es sich um einen Westberliner, der eine Künstleragentur hatte, aber es sei ihm damit nach der Wende so ergangen wie Woody Allen in „Broadway Danny Rose“. Malgorzata photographierte vor allem Leute in U- und S-Bahnen. Danny Rose riet ihr, sich auf Hochzeiten, Betriebsfeiern und Firmenjubiläen zu werfen und dazu z.B. bei Kapitänen von Ausflugsschiffen und Betreibern von Hochzeitssälen vorzustellen – mit Visitenkarten. Seine Vorschläge machten Malgorzata regelrecht krank. Oft hatte sie sich vorgestellt, wenn sie mal wieder einen hupenden türkischen Hochzeits-Konvoy auf der Straße sah, hinzurennen und die Braut aus dem Auto zu zerren, um sie zu retten. Das war also alles nichts für sie, ihr Coach machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl und ihr Sachbearbeiter beim Jobcenter drohte: „Wir können auch anders!“.
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Staatsaufträge
Wenn das lokale Tiefbauunternehmen im Vogelsberg dem Bürgermeister mitteilte, es müsse wegen Auftragsmangel neun Leute imWinter entlassen, setzte der es durch, dass die Kurve am Berg „entschärft“, d.h. verbreitert wurde. Und prompt war die Strukturkrise im Baugewerbe dort erst einmal überwunden.
In großem Stil passiert so etwas, wenn z.B. ein Warndreieckhersteller es mit Drohen und Klagen und Quetschen schafft, dass Warndreiecke für alle Autobesitzer Pflicht sind. Das geht immer weiter: Bis hin zu den französischen „Gelbwesten“, die als „Warnwesten“ bald sogar für die Bildschirmarbeiter in den Nichtraucher-Büros zur Pflicht werden (nur damit die Hersteller keine Leute entlassen müssen).
Vor einiger Zeit waren anscheinend die Hersteller und Installateure von Rauchmeldern in eine Konjunkturflaute geraten, es gelang ihnen jedoch, den sogenannten „Gesetzgeber“ davon zu überzeugen, dass ihnen geholfen werden muß (Arbeitsplätze!): Daraufhin wurde es zur Pflicht für jede Wohnung, jedes Büro und jedes Haus, Rauchmelder an den Decken anbringen zu lassen. Auch beim Neubau der taz war das der Fall, wobei als Positivum für die gesetzestreuen Mitarbeiter noch dazukam, dass man dort nun nicht einmal mehr eine Zigarette rauchen darf, wenn alle Kollegen längst nach Hause gegangen sind: Die Rauchmelder, wozu übrigens für den Fall eines Stromausfalls einen eigener zigtausend Euro teurer Generator im Keller gehört, der die dazugehörige Springleranlage zum Pumpen bringt, könnte ja losmelden. Damit dieser ganze Sicherheitsquatsch nicht nur die Rauchmelder-/Springleranlagen-/Generator-Hersteller und -Installateure finanziell saniert, sondern auch wirklich funktioniert, muß er jede Woche unter lautem Krach Probe gefahren werden. Die Feuerwehr prüft, ob das auch wirklich der Fall ist. Noch kennt sich jedoch kein Mensch im Haus mit der ganzen Anlage aus, die Details bei der Einweisung haben alle, die dabei waren, längst vergessen. Neben einem Datenschutzbeauftragten brauchen wir nun auch noch eine Rauchmelderbeauftragten.
Der genialste Coup gelang jedoch dem seltsamen Konzern-Trio Osram, Philips und Greenpeace in Brüssel: Weil auch in Billiglohnländern inzwischen Glühbirnen produziert werden, schafften sie es bei der EU, einen sogenannten Komitologie-Ausschuß für Beleuchtung zu bilden, und am Parlament vorbei ein allgemeines Glühbirnenverbot zu verhängen – zugunsten ihrer hochgiftigen und umweltschädigenden zudem völlig überteuerten „Energiesparlampen“.Dann wurden auch noch die Halogenlampen von der EU verboten, und die Energiesparlampen langsam von der nächsten Lichtgeneration verdrängt: den Leuchtdioden, die immer heller und billiger werden – und immer schädlicher für unsere Augen. Aber je heller desto weniger lange leuchten sie.
Bis zu dem Punkt, da es sich für die Lampen- und Leuchtenhersteller lohnte, die LEDs fest in ihre Designobjekte zu integrieren, d.h. wenn die Leuchtdiode ihren Geist aufgab, mußte man die Lampe – wahrscheinlich auch noch als „Sondermüll“ – entsorgen. Und derMüll gelangte dann wohlmöglich bis nach Ghana. Über diesen Elektroschrott-Skandal hat Cosima Dannoritzer den Film „Hergestellt für den Müll“ gedreht, in einem zweiten Film „Giftige Geschäfte“ verfolgte sie mit einem ghanaesischen Kulturhistoriker zusammen den Weg einiger Elektroschrottteile zurück zu dem Ort, wo sie aus den Recyclingssystemen des Landes, im Film ist es England, herausgenommen und nach Afrika verschifft wurden.
Bei einer Untersuchung der Stiftung Warentest, deren Ergebnis ihr journalistischer Leiter Reiner Metzger kürzlich veröffentlichte, kam heraus, dass man bei fast 50 Prozent aller Leuchten nicht mehr die LEDs auswechseln kann.
Zum „Fest des Lichts“ sind die Funk- und Fernsehanstalten traditionell auf Leuchtkörper gepolt, und zuletzt eben auf Leuchtdioden. Diese LEDs waren eigentlich so gut wie unsterblich, weil sie keine Wärme entwickelten, aber inzwischen eben doch. Die Hersteller werben mit einer Lebensdauer von 10 bis 25 Jahren, tatsächlich halten sie aber nur noch etwa 25.000 Stunden, wobei die Lichtqualität immer schlechter wird – u.a. aufgrund der Alterung des Phosphors in den LEDs.
Genug, ich komme aus Bremen und da gab es eine „Strukturkrise“ der Werftindustrie, vor allem der großen Vulkan-Werft – keine Schiffsbauaufträge mehr, die gingen in die Billiglohnländer. Es standen viele Arbeitsplätze auf dem Spiel. Deswegen gründete der Bremer Senat schnell eine eigene Reederei: die „Senator-Linie“. Und diese vergab fortan Schiffsbau-Aufträge an die Vulkan-Werft. Das klappte alles wunderbar. Nur mußten für die Transportschiffe auch Waren acquiriert werden – von der Reederei, das lief nicht so gut, denn es kamen dafür immer mehr Schiffe aus Billigfrachttarifländern in Betracht. Nach der Wiedervereinigung hatten die Senatoren und die Vulkan-Chefs eine neue Idee: Sie erwarben an der Ostsee günstig eine DDR-Werft nach der anderen von der Treuhandanstalt –und bekamen dazu Zigmillionen für deren Modernisierung. Diese Gelder leiteten sie um zu den Bremer und Bremerhavener Vulkan-Werften. Das ging, im Gegensatz zum Leuchtdioden-Geschäft, wo man schon bei der militärischen Anwendung ist, nicht gut aus.Aber es mußte ja weiter gehen. Bremen versuchte nach der Vulkan-Pleite die Werftimmobilien zu verwerten: mit einem „Space-Park“ – einem „galaktischen Ausflugsziel“ (Der Spiegel“). Daraus wurdebereits nach sieben Monaten „eine der größten Pleiten der Hansestadt“.
Noch mal: Arbeitsplätze im Licht
So nannten die Narva-Beschäftigten ihre Lampenproduktion, bis diese 1993 abgewickelt wurde. Wahrscheinlich hätte die Glühlampenherstellung sowieso keine Zukunft gehabt. Nicht wegen des Glühbirnenverbots, das Osram, Philips und Greenpeace 2009 bei der EU auf absolut undemokratische Weise durchsetzten, sondern weil bessere Leuchtkörper entwickelt wurden.
Die Glühbirnen hielten 1.000 Betriebsstunden, sie wurden zunächst durch die sogenannten Energiesparlampen ersetzt, die hochgiftig waren und zudem schlechtes Licht abgaben, aber 10.000 Stunden halten sollten. Daneben gab es weiterhin Halogenlampen, die halb so lange hielten, aber dann auch verboten wurden. Dafür gibt es nun Leuchtdioden. Diese LEDs sind eigentlich so gut wie unsterblich, weil sie keine Wärme entwickeln. Aber da sie laufend auf heller getrimmt werden, geben sie nun doch Wärme ab, und folglich halten sie nur noch etwa 25.000 Stunden (die Hersteller werben mit einer Lebensdauer von 10 bis 25 Jahren), wobei sich jedoch die Lichtqualität langsam verschlechtert – u. a. aufgrund der Alterung des Phosphors in den LEDs. Ich weiß nicht, ob die weltweit schwindenden Phosphorvorräte die Lichtindustrie tangieren (in der Schweiz gewinnt man bereits Phosphor aus der Wiederaufbereitung von Urin).
Wegen der »Lebensdauer« entwickelt die »Illumination Engineering Society« (IES) gerade Standards/Normen, dabei geht es auch um den »Lichtstromrückgang«, der mit der Zeit eintritt. Der Lichtstrom wird mit einer sogenannten »Ulbricht-Kugel« gemessen, mit ihrer Hilfe lässt sich der Lichtstromabfall ermitteln. Genormt werden muss auch die »Definition einzelner Farbwerte«, dazu hat die »Commission Internationale de l’Eclairage« ein »Chromatizitätsdiagramm« entwickelt. Man muss aber nicht derart ins Detail gehen, zumal in den Privathaushalten sowieso nur noch sieben Prozent der Elektrizität für Licht verbraucht wird. Seit ein paar Jahren kaufen chinesische Konzerne europäische Lampenproduktionen auf – auch von Philips und Osram. Diese beschränken sich auf die LED-Forschung und -Weiterentwicklung, was so weit gediehen ist, dass sie für militärische Zwecke interessant geworden sind, weswegen US-Präsident Barack Obama den Verkauf einer Osram-US-Tochter an die Chinesen stoppen ließ.
Derzeit sind Leuchtdioden vor allem für die Werbung interessant. Zwar wird überall über die zunehmende »Lichtverschmutzung« geklagt, die nicht zuletzt auch für das »Insektensterben« verantwortlich gemacht wird (so sterben allein an den sieben Millionen deutschen Straßenlaternen eine Milliarde Insekten jede Nacht), aber die Licht-Werbeindustrie denkt ökonomisch, ihr geht die Ökologie am Arsch vorbei. Und da die Überproduktion zunimmt, muss auch die Werbung immer greller werden. Es haben sich schon Bürgerinitiativen dagegen gegründet.
Chinesische Konzerne stellen auch LEDs her, ganze Videowalls, zudem dominieren sie die Produktion von Gallium, das u. a. für die LED-Herstellung benötigt wird. Die deutsche Presse klagt derweil, dass die Chinesen »lebensgefährliche LEDs auf den deutschen Markt« bringen. Das geht gegen die billigen – die teuren, in Deutschland hergestellten sind natürlich besser, heißt es unisono. Zudem hat eine Firma in Deutschland ein Verfahren entwickelt (230 V AC), mit dem die LED-Platine direkt angesteuert wird, was Vorschaltgeräte überflüssig macht und wodurch gleichzeitig die Wärmeentwicklung auf der Platine reduziert wird.
Osram baut derweil seine Hightech-Standorte in Regensburg und Berlin aus. Die Produktionsstätten, die in chinesischen Besitz übergegangen sind, werden langsam abgewickelt, weil deren Produkte weiterhin rückläufig sind im Abkauf. Die Ex-Osram-Beschäftigten wehren sich auf die übliche Weise via Gewerkschaft: „Wir können gut ohne die Chinesen“ und „Wir wollen, dass bald wieder Ruhe einkehrt“.
Die Osram-LED-Produktionsstätte bleibt erhalten. Es handelt sich seit langer Zeit mal wieder um deutsche Patente, die international gefragt sind. LEDs bestehen aus kleinen Halbleiterplättchen, durch die Strom geschickt wird, wodurch Photonen emittiert werden. Diese Lichtquelle nun hat man immer mehr optimiert, was äußerst kompliziert ist: Es werden bis zu 14 gasförmige Metalle auf das winzige Plättchen aufgedampft, das anschließend geschliffen wird, um den Lichtstrahl zu bündeln. All diese Bearbeitungen, die quasi in einer Blackbox vor sich gehen, kann man sich nicht einfach angucken, zudem geschieht dies bei Osram in Malaysia. Da ist jetzt die Ruhe hin.
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Familienurlaub in Malaysia