vonHelmut Höge 15.12.2023

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt. Gonzo-Journalismus der feinen Art.

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Vortrag gehalten in der Neuköllner Kneipe  „Laidak“ und veröffentlicht in der Zeitschrift „Abwärts“:

„‘Heimat, Hightech, Highspeed’ – dafür arbeiten wir,“ sagte der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, während der bayrische CSU-Ministerpräsident, „Hightech und Heimat“ seien in seinem Bundesland bereits „vereint“. Gelegentlich heiße es auch noch „Laptop und Lederhose, „Rosenkranz und Raumfahrt“, „Leberkäs und Laser“, „Gigabit und Gamsbart“, „WLAN und Weißbier“, „KI und Knödel“, ergänzte der Herausgeber des bayrischen „Unternehmer-Magazins“. Die rotgrüne Bundesregierung entschied sich unterdes für den Satz: „Das Leitbild der KI-Strategie ist ein europäisches KI-Ökosystem für Innovationen“.

Gegen die „KI-Strategien“ von Hollywood wehrten sich kürzlich die amerikanischen Drehbuchautoren und Schauspieler. Ihre Autoren-Gewerkschaft WGA streikte ab Mai, im September schloss sich ihr SAG-AFTRA an, Hollywoods größte Gewerkschaft, die 160.000 Schauspielerinnen und Schauspieler vertritt.

Es geht ihnen vor allem um die Zusicherung, dass man sie nicht durch Künstliche Intelligenz (KI) ersetzt: „Es darf nichts produziert werden, das nicht von Menschen geschrieben ist,“ lautet die Forderung der WGA. Die SAG-AFTRA-Vize-Präsidentin erklärte: „Wir kämpfen gegen das Vordringen künstlicher Intelligenz und dafür, dass wir zustimmen müssen und bezahlt werden, wenn sie Scans verwenden, die sie von uns sehr bald machen könnten.

Sie machen es bereits. Das Internet und das so genannte soziale Medium Facebook z.B. ist bereits voll davon. Anfänglich bestand diese „Plattform“ aus Eintragungen, theoretisch aus aller Welt, die aus parteipolitischen, linken und reaktionären Meinungen, Ideen, Kommentaren, Demo-Berichten, Witzen, Sprüche, Comics, Selfies, Aufrufen, Artikel, Tier-, Pflanzen-, Urlaubs- und Essens-Fotos bestanden. Dazwischen kamen dann immer mehr Werbeanzeigen (von sogenannten „Sponsoren“).

Aber nun überwiegen Manga-Bilder von jungen Mädchen mit riesigen Brüsten in 2D, 3D und KI-generiert, sowie BMW-, Mercedes-, Lamborghini-, Motorrad- und Traktor-Models mit riesigen Brüsten, Serien mit dicken Frauen, die große Brüste und riesige Hintern haben, Serien mit dünnen Bikini-Frauen, Serien mit halbnackten Hollywood-Stars und Sternchen, Serien mit Pin-Up-Girls und Serien mit Retrogirls in Schwarz-Weiß. Jeder dritte Eintrag besteht aus Serien von jungen Frauen, die meist künstlich vergrößerte Brüste und Lippen haben.

Darüberhinaus gibt es auf jeder FacebookSeite zwei weitere Serien mit zahllosen „Reels“ – kurze Filmchen, die noch einmal die gleiche Mädchen/Frauen-Parade zeigen. Immer mehr zeigen auch kurz ihre Möse oder ziehen ihren Schlüpfer aus und machen ein Selfie von ihrer Vulva. Vorbilder für diese „Pussy-Flashs“ sind Celebrities wie Paris Hilton, aber frühzeitig haben auch schon einige Künstlerinnen demonstrativ ihr (damals noch unrasiertes) Geschlechtsteil „veröffentlicht“ (siehe unten). Ab und an führt auch einmal ein Mann in den Reels alberne technische Tricks oder ein neues Werkzeug vor. Oder die Parade posierender Frauen wird von Tier-Videos unterbrochen, auf denen es meist darum geht, dass Krokodile oder Raubtiere irgendein anderes Tier zerfleischen oder große Schlangen ein Säugetier erwürgen. Süße Katzen gibt es dazwischen  natürlich auch. Die Mehrzahl der Reels zeigt jedoch Frauen, die ihre Lippen und Brüste vergrößern ließen. Nicht wenige lassen sich dabei filmen, wie sie sich in ihren Smartphones für ein „Selfie“ spiegeln. Es sieht aus wie eine solipsistische face-to-face Kommunikation als Teil einer Auftrittsschulung für eine Gesellschaft, die laut Harun Farocki „vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist“. Diese meist „plastisch“ Verschönerten sind „neuzeitliche Monaden“, die „auf sich selbst mit den Blicken der anderen sehen“, sich also „als Gesehene sehen“, meint Jürgen Manthey (in: „Wenn Blicke zeugen könnten“ 1983). Alle ihre Erfahrungen sind aufs Auge angewiesen, auf das unausgesetzte Kreuzfeuer der Blicke, welche die Selbstüberwachung/Selbstkontrolle voraussetzt. Diese Frauen haben sich der „Okulartyrannis“ unterworfen und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Der Philosoph Wolfgang Kaempfer fügt dem hinzu (in: „Der stehende Sturm“ 2005): „Der Gipfel der gesellschaftlichen Karriere würde sich demnach erst erreichen lassen, wenn es gelungen sein sollte, von niemandem mehr übersehen zu werden“. Ihre Entwicklung dahin läßt sich anhand der „Clicks“ und „Followers“ in Zahlen ablesen, aber auch an den Kosten (Investitionen). „Survival of the Biggest“ oder „To Big to Fail“.

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Valie Export: Aktionshose Genitalpanik 1969

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Marina Abramović: Performing Valie Export

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Deborah de Robertis im Museé d’Orsay 2014 vor dem Gemälde von Gustave Courbet „Der Ursprung der Welt“ (1866):

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Annie Sprinkle zeigt Männer mittels eines Spekulums ihre Möse.

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Mit Revolax aufgespritzte Lippen kosten zwischen 120 („Normale Technik“) und 200 Euro („Russian Lips“ oder „Davinci Lips“). Vergrößerte Grüste mit dem für die Weltraumforschung entwickelten Silikon kosten hierzulande zwischen 6.000 und 10.000 Euro, in der Türkei zwischen 2.500 bis 3.500 Euro, in Tschechien halb so viel. Hinzu kommen oft noch „tattooes“ und künstliche Fingernägel. Die 28jährige Moderatorin Sophie Passmann ließ sich erst tätowieren, dann die Augenringe mit Hyaluron unterspritzen und anschließend die Lippen aufspritzen sowie einige Fettpolster absaugen. In ihrem Buch „Pick me Girls“ (2023) schreibt sie: „Ich habe viel Geld dafür ausgegeben, so auszusehen, wie ich heute aussehe, und ich wäre heute nicht so zufrieden, wie ich es bin, wenn ich es nicht getan hätte.“ Sie führt ein medienbestimmtes, quasi amerikanisches Frauenleben und klärt ihre Mitmillenials auf Instagram über Mode auf. In der „Zeit“ schrieb sie, dass ihre Schönheitseingriffe nicht ganz freiwillig geschehen seien, aber die Männerherrschaft mitsamt ihrer Einteilung von Frauen in attraktive und weniger attraktive Exemplare habe ihr keine andere Wahl gelassen: „Der männliche Blick ist die höchste Währung.“

Durch TikTok und Instagram wird der optimierte Körper zur neuen Normalität. Und die Kundschaft wird immer jünger,“ schreibt der Spiegel unter der Überschrift „Eine neue Lippe ist wie ein neues Leben“. Die „Kundschaft“ wird nicht nur immer jünger, sondern auch immer nicht-menschlicher: In einem anderen Artikel berichtet der Spiegel über den traditionellen Schönheitswettbewerb für Kamele in Saudi-Arabien, wo 43 Tiere 2021 disqualifiziert wurden, „weil man bei ihnen mit Botox nachgeholfen hatte“.

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Bei der Bilderschwemme auf Facebook und anderswo, z.B. auf TikTok, scheint es genaugenommen um einen imperialen Wettbewerb zwischen Asien und Amerika zu gehen: Welches System hat die schärfsten jungen Frauen: Einerseits die immer realistischer und pornographischer präsentierten Manga- bzw. Hentai- (Porno)Mädchen aus Japan, Korea, Singapur, Thailand oder Vietnam, die getoppt werden von ganz realen Mangamädchen aus China, die durch die modernen Einkaufszonen dort wie auf einem Catwalk spazieren.

Und andererseits amerikanische junge Frauen, die meisten blond, mit ebenfalls künstlich vergrößerten Lippen und Brüsten. Eigentlich ist damit fast der ganze Facebook-“Content“ zum Systemwettbewerb von Schönheitschirurgen geworden, wobei die chirurgisch verschönten jungen Frauen und die KI-generierten ununterscheidbar geworden sind.

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Wenn der Dirigent Barenboim in Anlehnung an Goethe ein „West-Eastern Divan Orchestra“ gründete – für ein anspruchsvolles Kulturpublikum aus der oberen Mittelschicht, dann deuten die oben erwähnten Mädchen-Paraden auf einen West-Östlichen OP-Tisch für das Prekariat hin, wobei mit der Künstlichen Intelligenz die Style-Leader oder Role-Models zunehmend gefakt werden. „Das Kino ist die Couch der Armen,“ meinte Roland Barthes. Auf der Leinwand oder dem Bildschirm treten ihre Vorbilder in Erscheinung. Auf Facebook kann man sich (von TikTok) neuerdings auch selbst „tolle asiatische Mädchen“ per Mausclick basteln – aus den drei Teilen Gesicht, Körper und Beine, sowie auch Mangamädchen als Wackelfiguren fürs Armaturenbrett seines Autos bestellen.

Als die Computerisierung um sich griff, zersetzte sie das Soziale. Aber vielleicht läßt es sich mit den neuen Sozialen Medien im Internet retten, hofften anfangs die jungen Netz-Werker des „Chaos-Computer-Clubs“ und Internet-Theoretiker wie Geert Lovink. Inzwischen ist es still geworden um diese „Digitale Bohème“. Lovink sieht bereit das Internet als Ganzes vor dem Aus: „Internetdämmerung“ nennt er das in der Zeitschrift „Lettre“ (1/2023), aber so ganz möchte er doch nicht auf den Boden der Tatsachen diesseits der Medien zurückkehren, denn er fragt sich: „Wie kann man ein Leben ohne Plattformen führen und dennoch die Vorteile sozialer Netzwerke genießen?“

1996 schwärmte er noch wie das „manager-magazin“ vom neuen elektronisch vernetzten Zeitalter – ähnlich wie  sein Vorreiter Don Tapscott und dessen Bestseller „Die digitale Revolution“. Die neuen Medien, prophezeite Tapscott, werden eine völlig neue Ökonomie hervorbringen, die die alten Wertschöpfungsketten durch -netze ersetzt und eine neue Unmittelbarkeit erlauben. Zudem werden in den Unternehmen Kommandohierarchien obsolet, wobei „zunehmend Kapital durch Geist geschaffen wird“ – Kreativität, die nicht mehr von oben „beaufsichtigt und befohlen“ wird. „In der modernen Wissensökonomie sind Lernen und Arbeiten hundertprozentig identische Aktivitäten“, deswegen werden die neuen „Unternehmen die zukünftigen Universitäten sein“. Der Vorsitzende der wirtschaftsstrategischen Denkfabrik „nGenera Insight“ Tapscott erwähnt als Beispiel die Privathochschule von McDonalds, in der 2006 „eine Million Menschen lernten“, er nennt sie die „Net-Generation“.

Diese wird auch „Generation X“, „Y“ oder „Z“ genannt, ihre linken Vordenker sind zwar inzwischen von der Internet-Entwicklung enttäuscht, weil das Kapital „das Soziale“ in den sozialen Medien „letztlich zur Kapitulation zwingt“, wie Lovink (geb. 1959) schreibt, aber die sozialen Medien werden desungeachtet wohl als „Asoziale Medien“ weiter existieren: 1. für legale und illegale Geschäfte – Plusmachereien, und 2. für immer weitergehende Pornographisierungen, die sowieso neben dem „Gaming“ (den Internet-Spielen) die meisten der über 5 Milliarden Internetnutzer interessieren.

Die KI-Technik macht es bereits möglich, dass es z.B. hunderte von völlig realistischen Pornos mit Scarlett Johansson und anderen bekannten Schauspielerinnen bzw. „Celebrities“ gibt. Man braucht dazu bloß Bilder von diesen Stars. Je prominenter jemand ist, desto mehr wird er abfotografiert und desto mehr und bessere Scans lassen sich von ihm/ihr machen. Man kann den Promis nur raten, sich das Copyright auf ihre Erscheinung und ihre Stimme zu sichern, damit sie an den auch „Deepfake“ genannten KI-Pornos und Bildern von ihnen wenigstens noch etwas verdienen. Aber ob Fake oder Echt – sie bleiben attraktiv und taugen zur Nachahmung (für die Massen). Nicht zufällig werden in dem zwischen Asien und Amerika sich identitär auspendelnden Südkorea weltweit die meisten Schönheitsoperationen durchgeführt. Daneben investiert Südkorea enorme Summen in das aus der Pandemienot hervorgegangene Regierungsprogramm „Untact“, um so viele „zwischenmenschliche Interaktionen wie möglich aus der Gesellschaft zu entfernen“, d.h. in virtuelle zu überführen. Geplant ist außerdem laut Gauillaume Paoli (in: „Geist und Müll“ 2023) eine „große digitale Behandlungsplattform. Allein lebende Personen werden mit KI-Helfern und virtuellen Psychotherapeuten interagieren können, die realen Menschen verblüffend ähnlich sind“.

Scarlett Johansson ist nur eine von vielen tausend Frauen und Stars, die Protagonisten von Sexvideos sind, die von künstlicher Intelligenz generiert wurden. Die „Washington Post“ berichtet, dass ein „Deepfake“-Video, in dem Johanssons zu sehen ist, allein auf einer Pornoseite über 1,5 Millionen Mal aufgerufen wurde. „KI ist für Frauen ein Alptraum“, titelte die Zeitung.

Tatsache ist, dass der Versuch, sich vor dem Internet und seiner Verderbtheit zu schützen, im Grunde ein hoffnungsloser Fall ist. Das Internet ist ein riesiges Wurmloch der Finsternis,“ meint Scarlett Johansson. Zumal die rechtlichen Möglichkeiten, gegen „Deepfake-Pornographie“ vorzugehen, sehr begrenzt seien, und die KI-Bilderflut quasi stündlich steige:

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Mit KI erweitern sich die Anwendungsmöglichkeiten des Internets aber auch in anderer Hinsicht erheblich. Die Journalistin Xiaowei Wang schreibt in ihrem Bericht „Blockchain Hühnerfarm“ (2023) über den Einsatz von KI-Überwachungstechnik im ländlichen Chinas: „In den USA und in China ist die Verlockung durch KI schon allerorten mit Händen zu greifen“. Die USA haben deswegen jüngst den Chipexport nach China beschränkt. Die US-Regierung will damit das chinesische Entwicklungstempo bei der KI bremsen. Meint der Amsterdamer Internetprofessor Geert Loving wegen dieser Systemkonkurrenz, dass wir nun „zu den militärischen Ursprüngen der Kybernetik und des Internets zurückkehren“?

Jen-Hsun Huang ist der chinesisch-amerikanische Gründer und Chef des kalifornischen Chipkonzerns Nvidia, der seit kurzem zu den sechs wertvollsten Unternehmen der Welt zählt. „NVIDIA erfindet den Grafikprozessor und fördert Fortschritte in den Bereichen KI, Gaming, autonome Fahrzeuge und Robotik,“ heißt es auf seiner Internetseite. Der Konzern entwickelte auch jene Chips, die KI-Modelle wie ChatGPT antreiben. „Bei der künstlichen Intelligenz handelt es sich um das größte Instrument zur Datenverarbeitung, das die Welt je gesehen hat. Die Chance, aus KI etwas wirklich Wertvolles rauszuholen, ist enorm,“ sagte Huang dem Spiegel, der ihn fragte, ob der Erfolg seiner Firma vielleicht nur ein kurzlebiger sein könnte. „Im Gegenteil,“ antwortete er. „Tatsächlich beginnt ein neues Computerzeitalter. Das ist der wichtigste Punkt der künstlichen Intelligenz: Man kann jetzt einen Computer bitten, einen Computer zu programmieren. Und das geht auch noch super einfach. Nun können nicht nur Spezialisten, sondern Lehrer, Künstler, Buchhalter ein Programm schreiben. Alle können künftig mit KI ihre Arbeit verbessern und produktiver werden. Einer unserer neuen H100-Computerchips kann Hunderte von herkömmlichen Prozessoren ersetzen. Die Energieeffizienz lässt sich damit enorm steigern. Weltweit gibt es Rechenzentren im Wert von etwa einer Billion Dollar – und die müssen nun alle beschleunigt werden. Gleichermaßen steigt mit KI die Effizienz von Software. Deshalb wird früher oder später jeder Computerchip ausgewechselt werden, jede Software mit KI ausgerüstet. All das wird unser Wachstum mindestens eine Dekade lang treiben.“

Mit KI wird die vierte Industrielle Revolution eingeleitet, die viele Berufsgruppen arbeitslos machen wird. Der Spiegel zitierte im August 2023 eine Analyse des Beratungsunternehmens McKinsey zum US-Arbeitsmarkt, danach „könnten fast sechs Millionen Jobs durch KI vernichtet werden, vor allem solche von Frauen“.

Wie sahen die Anfänge dieser Entwicklung aus? Der Krieg ist der Vater aller Dinge, sagt man. So gäbe es z.B. die ganze Rockmusik nicht ohne die dafür „entwendete Heerestechnik“, wie der Medienforscher Friedrich Kittler meinte. Und Computer und Gentechnik gäbe es nicht ohne die Waffenlenkforschung im Zweiten Weltkrieg – u.a. in Peenemünde. Dort war Helmut Gröttrup Chefingenieur für die Funksteuerung der Raketen.

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Gleich nach dem Krieg bemächtigten sich die Amerikaner der ersten Riege der Peenemünder – 120 Techniker insgesamt (u.a. den Leiter General Walter Dornberger, die SS-Offiziere Wernher von Braun und Arthur Rudolph). Letzterer entwickelte dann die Pershing-Rakete und die Saturn-V-Mondrakete. Alle drei waren Kriegverbrecher, Rudolph mußte erst 1991 entehrt die USA verlassen. Dornberger war an der Entwicklung eines Vorläufers des Space-Shuttle beteiligt, Nach 1965 ging er als Rentner zurück nach Deutschland, wo man eine Patriot-Flugabwehrraketen-Stellung bei seinem Geburtsort Gießen nach ihm benannte.

Laut Kittler kombinierten sie zusammen mit den US-Ingenieuren die beiden wichtigsten technologischen Kriegsinnovationen, nämlich die amerikanische Atombombe mit der Peenemünder Rakete und „konstruierten durch die Kombination dieser beiden Ungeheuer, wie Robert Jungk das genannt hat, diese unschlagbare und wirklich strategisch bestimmende Waffe des gesamten Nachkriegs und der gesamten Pax Americana“.

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Deutscher Raketentest (Tegel)

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V2-Rakete von DDR-Antifaschistin geritten.

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Der erste Raketenflieger Juri Gagarin.

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Kosmonauten vor dem Start

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Die Sowjets schossen als erstes eine Hund, Laika, ins All.

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Nach dem „Sputnikschock“ ersetzten die Amerikaner ihre ins All geschossenen zwei Schimpansen sschnell durch „Astronauten“, die an Bord die selben Experimente wie die Affen durchzuführen hatten:

Diese 7 wurden „Die Helden der Nation“, wie anschließend ein Roman von Tom Wolfe über sie hieß.

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DDR-Raketenflieger Sigmund Jähn.

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Russische Raketenreiterin.

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Amerikanische Raketenreiterin.

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Raketenreiterin eines japanischen Mangazeichners.

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Deutsche und amerikanische Raketeningenieure, allesamt Verbrecher. Zweiter von Rechts: Wernher von Braun, nach dem dann ein bayrisches Gymnasium benannt wurde, das als das beste der BRD gilt, weil es über 50% der Schüler vor dem Abitur aussiebt.

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Kein „Held der Nation“ sondern ein reaktionärer Idiot

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Miss Atomtest schneidet die Atompilztorte mit an.

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Kinderwagen in Form der ersten Atombombe „Little Boy“

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Die zweite Riege der Peenemünder, Helmut Gröttrup und rund 600 seiner Mitarbeiter, griffen sich die Sowjets. Das war ein glücklicher Zugriff. Die Amerikaner wußten nicht, dass im deutschen Ingenieurwesen die zweite Riege stets besser als die erste ist, weil diese vor allem mit Budget-, Verwaltungsaufgaben und Politikerpflege befaßt ist, während die zweite die eigentliche Forschung macht (wie auch heute noch an den Unis). Deswegen waren die Sowjets 1957 die ersten bei der sogenannten Eroberung des Weltraums – erst mit Hunden und dann 1961 mit dem Kosmonauten Gagarin. Die Gruppe um Gröttrup wurde von ihnen 1945 zunächst in einem „Institut Rabe“ bei Bleicherode konzentriert und dann in der Mehrzahl an einem Standort auf der russischen Insel Gorodomlia im Seeliger See.

Die dritte Riege griffen sich die Franzosen. Eine weitere Gruppe arbeitete im Auftrag des ägyptischen Präsidenten Nasser an einer Rakete gegen Israel. Sie wurde teilweise vom israelischen Geheimdienst mit Paketbomben dezimiert. Einige Mitarbeiter fanden in den siebziger Jahren in der Abschreibungsfirma von Lutz Kayser, OTRAG (Orbit-Transport-Aktiengesellschaft) eine neue Anstellung. Aufsichtsratsvorsitzender dieses Konsortiums für den Bau von „Billigraketen“ war der Peenemünder Kurt Debus, sein alter Raketentechniker Richard F. Gomperts wurde Konstruktionschef. Als Versuchsfeld hatte die OTRAG ein Gelände in Zaire von der Größe Österreichs erworben, für das sie mit dem Staatspräsidenten Mobutu ausserdem eine „freie Uranausbeutung“, „gesperrten Luftraum“ und die „Durchführung beliebiger Arbeiten“ aushandelten.

Gestützt auf Geheimdiensterkenntnisse outete 1976 ein Mitarbeiter der New York Times, Szule, die Firma von Lutz Kayser als „ein Unternehmen der Rüstungskonzerne Messerschmitt, Bölkow, Blohm“ (das dann zusammen mit der Dornier GmbH als Deutsche Aerospace AG, DASA, firmierte und zur Daimler-Benz AG gehörte). Die OTRAG-Experimente beendete der Bürgerkrieg in Zaire.

Die DASA gründete 1990 eine „Deutsche Agentur für Raumfahrt-Angelegenheiten“, die DARA GmbH, in deren „Sonderauftrag“ der Dornier-Wissenschaftler Dr. Dieter Genthe 1991 eine Studie „Zur Realisierbarkeit eines Raumfahrtparks/ Space Parks in der BRD“ erstellte. Diese Studie wurde dann Grundlage r eine „Betriebsgesellschaft Raumfahrtpark Peenemünde“, die der Landkreis Ostvorpommern, die Kommune Peenemünde und die Kreissparkasse Wolgast 1994 gründeten.

Die Historikerin Regina Scheer, die im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung die Gedenkstätten Mecklenburg-Vorpommerns katalogisiert und dabei auch Peenemünde besucht hatte, erfuhr dort zu ihrem Schrecken, dass inmitten der „Waffenverherrlichung“ eine neue Gedenkstätte „für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ geplant war, wobei man an erster Stelle auch noch der „Opfer der Vertriebenen aus Pommern“ zu gedenken beabsichtigte. Regina Scheer wandte sich daraufhin an die jüdische Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern und diese informierte das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles, wo ein Rabbiner, Abraham Cooper, sogleich die Bundes- und Landesregierung sowie deutsche Firmen aufforderte, „kein Geld für ein Museum zu spenden, das eine Terrorwaffe in den Mittelpunkt stellt, die einst mehr als 2000 Briten und zehnmal mehr Zwangsarbeiter in Deutschland tötete“.

Das Dara-Konzept wurde stattdessen 2004 mit 600 Millionen Euro als „Space Park“ in Bremen realisiert – ging aber nach kurzer Zeit pleite. Das etwas demilitarisierte, d.h. von DDR-Kriegstechnik gesäuberte Historisch-technische Museum Peenemünde“ gilt dagegen seit einiger Zeit als die beliebteste deutsche Freizeit- und Urlaubs-Ausflugsstätte, ihr erster Direktor wurde ein westdeutscher Wehrdienstverweigerer.

Während Gröttrups Truppe auf Gorodomlia enthusiastisch an einer sowjetischen Rakete arbeitete, führte seine Frau Irmgard ein Tagebuch, das sie nach der Repatriierung ihrer Familie in Westdeutschland veröffentlichte – unter dem Titel „Die Besessenen im Schatten der roten Rakete“. Im Anhang finden sich „Tarif- und Arbeitsverträge“, die ihr Mann für seine deutschen Mitarbeiter entwarf. Als ihre Familie 1953 wieder in der BRD eintraf – und von der CIA verhört wurde, wobei man ihrem Mann einen lukrativen Job in den USA anbot, war sie es, die entschied: „Wir bleiben hier!“ Daraufhin mußten sie die Villa, die man ihnen in Köln zur Verfügung gestellt hatte, räumen. Auf Gorodomlia hatte Irmgard Gröttrup irgendwann angefangen, einen Raben zu zähmen. Diesen nahm sie mit nach Deutschland, wo sie zunächst im Ostberliner Hotel Adlon unterkamen. Wegen des Rabens, der alles vollschiß, mußten sie jedoch das Hotel wieder verlassen – und zogen vorübergehend nach Westberlin.

Helmut Gröttrup wurde wenig später von Siemens eingestellt – und dort schließlich Leiter einer Abteilung von zuletzt 400 Mitarbeitern, die sich mit elektronischen Rechenmaschinen beschäftigte. U.a. kreierte er dabei das Wort „Informatik“. Seine Computerbegeisterung ging so weit, dass er in einem Vortrag vor Hamburger Geschäftsleuten meinte: Die unternehmerische Freiheit sei ein bloßer Irrtum, der auf Informationsmangel beruhe (schon der Philosoph Marquis de Condorcet hatte im Überschwang der Französischen Revolution geglaubt, dass die Geschichte sich vorausberechnen lassen werde).

In China soll ein Konzern bereits von einem Androiden mit KI geleitet werden. In seinem Buch „Geist und Müll“ (2023) benennt der Philosoph Guillaume Paoli als „Vorteile“, die der virtuelle CEO gegenüber einem realen hat: „Er arbeitet rund um die Uhr, verdient kein Spitzengehalt und hat keinerlei Gefühle“

1969 ließ Helmut Gröttrup zusammen mit seinem Mitarbeiter Jürgen Dethloff einen „Identifikanden mit integrierter Schaltung“ patentieren, aus der dann erst die Chipkarte und schließlich die Mikroprozessorkarte entstand, mit der wir alle heute an den Bankautomaten zu unserem Geld kommen. Auch an der Entwicklung dieser Technik war Gröttrup maßgeblich beteiligt, nachdem die Firma Siemens ihm wegen Verdachts auf Spionage für die Sowjetunion entlassen hatte. Er starb 1981 an Krebs.

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Foto: Guillaume Paoli

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Wie fing das alles an? „Wenn Gott rechnet und sein Denken wirksam werden läßt, entsteht die Welt,“ schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz 1687. Da haben wir schon den ersten Rechner. Die Maschinisierung von Kopfarbeit geschah 250 Jahre später: 1937 konstruierte Konrad Zuse in einer Kreuzberger Hinterhofwerkstatt „den ersten Vorläufer des heutigen Rechners, mit einem binären Zahlensystem und Programmen aus Lochstreifen, die Z1“, woran der Philosoph Thomas Fuchs in seiner Computerkritik „Verteidigung des Menschen“ (2020) erinnerte. Während des Krieges finanzierte die Rüstungsindustrie Zuses Computer.

Danach gründete er, der seinen Rechner „Z4“ mit auf die Flucht nach Westen genommen hatte, eine Firma für Rechenmaschinen und schrieb 1967 das Buch: „Rechnender Raum“ (1967), ein „Grundstein der digitalen Physik“. Schließlich zog er mit seiner Familie aufs Land zog und fing an, „im expressionistischen Stil“ zu malen. 1995 ernannte ihn der „Chaos-Computer-Club“ zum Ehrenmitglied, im selben Jahr starb er.

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Konrad Zuse schenkt Bill Gates ein Bild.

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Währenddessen hatte gleich nach dem Krieg die Weiterentwicklung von Rechenmaschinen in den USA stattgefunden. Kybernetik nun genannt, Steuerungskunst aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt: die „Basistheorie der künstlichen Intelligenz“. Mit der Kybernetik beginnt die Dritte Industrielle Revolution, digitale Revolution auch genannt. Danach kommt die Quanten-Revolution, wenn alles gut geht…

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In New York fanden zwischen 1946 und 1953 zehn so genannte „Macy-Konferenzen“ statt, auf denen sich die „technokratische Wissenschaftselite der USA“, darunter viele Emigranten aus Europa, traf. Diskussions-Grundlage waren die Erkenntnisse aus der Waffenlenkforschung, der Kryptologie, der Experimentalpsychologie und der Informations-Wissenschaft. Zu den Teilnehmern gehörten u.a. John von Neumann, Norbert Wiener, Claude Shannon, Gregory Bateson und Margret Mead. Als Konferenzsekretär fungierte zeitweilig Heinz von Foerster. Im Endeffekt entstand daraus die inzwischen nahezu weltweit durchgesetzte und empirisch fruchtbar gewordene Überzeugung, dass die Gesetze komplexer Systeme unabhängig von dem Stoff, aus dem sie gemacht sind – also auf Tiere, Computer und Volkswirtschaften gleichermaßen zutreffen. Für den französischen Genetiker und späteren Nobelpreisträgers Francois Jacob hieß das z.B.: „Heute interessiert sich die Biologie nicht mehr für das Leben, sondern für die Algorithmen der lebenden Welt“. Und wegen des Artensterbens ist der Erhalt der Diversität ein Problem geworden. Die ausgestiegene Biochemikerin Anne-Christine Schmidt gibt in ihrem Erfahrungsbericht „Alptraum Wissenschaft“ (2023) allerdings zu bedenken: „Die Neugründung von Forschungszentren zur Biodiversität hält die ungehindert forschreitende Zerstörung der Natur nicht auf. Denn in diesen Instituten hocken Heerscharen von WissenschaftlerInnen vor Bildschirmen und erstellen komplexe Datenbanken über die schrumpfende Artenvielfalt, aber nichts weiter“.

Es ging zunächst so weiter: 1956 fand in New Hampshire die „Dartmouth-Konferenz“ statt, wo unter der Leitung von John McCarthy, Marvin Minsky, Nathaniel Rochester (von IBM) und Claude Shannon ein „Research Project on Artificial Intelligence(KI) stattfand.

Drei Jahre später wurde die erste Rakete, „Minuteman“, mit einem Computer ausgestattet. Die Chips dafür lieferten Texas Instruments und Fairchild. Die „Minuteman“ war die erste amerikanische Interkontinentalrakete: „Das Rückrat der US-Atomstreitkräfte,“ wie der „Spiegel“ schrieb. Die Chips befinden sich heute in jedem PC, Laptop, Handy etc. Thomas Fuchs erinnert daran, dass Tim Berners-Lee 1983 am Genfer CERN „mit Hilfe der Verknüpfung von Rechnern die Grundlagen des ‚World Wide Web‘,“ schuf, das Internet.

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Und nie zu jung!

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Als einer der ersten Gegner dieser bald immer mehr Wissensbereiche erfassenden Computerisierung war schon 1953 der Schriftsteller Kurt Vonnegut mit seinem Science-Fiction-RomanDas höllische System“ aufgetreten, in dem er die Massenarbeitslosigkeit produzierenden Folgen des kybernetischen Denkens bei seiner umfassenden Anwendung beschrieb. Die Massen werden scheinbeschäftigt und sozial mehr schlecht als recht endversorgt, während eine kleine Elite mit hohem IQ, vor allem „Ingenieure und Manager“ (Problemlöser/Kreative), die Gesellschaft bzw. das, was davon noch übrig geblieben ist, weiter perfektioniert. Schon bald sind alle Sicherheitseinrichtungen und -gesetze gegen Sabotage und Terror gerichtet. Trotzdem organisieren sich die unzufriedenen Deklassierten im Untergrund, sie werden von immer mehr „Aussteigern“ (u.a. John von Neumann) unterstützt – und irgendwann schlagen sie los, d. h. sie sprengen alle möglichen Regierungsgebäude und Fabriken in die Luft. Ihr Aufstand scheitert jedoch. Nicht zuletzt deswegen, weil die Massen nur daran interessiert sind, wieder an „ihren“ geliebten Maschinen zu arbeiten. Und weil das Ziel ihrer Angriffe die „Zentralcomputer“ sind (so wie einst für die ludditischen Maschinenstürmer“ die mechanischen Webstühle). Der „Zentralcomputer“ wurde dann von IBM entwickelt. Danach brachten Microsoft und Apple dezentrale Personalcomputer auf den Markt. Auch diese PCs ersetzten massenhaft Arbeitsplätze.

1973 veröffentlichte der US-Autor Thomas Pynchon einen großartigen Peenemünde-Roman: „Die Enden der Parabel“. 1984 schrieb er in der New York Times Book Review unter der Überschrift „Is it o.k. to be a Luddit?“: „Wir leben jetzt, so wird uns gesagt, im Computer-Zeitalter. Wie steht es um das Gespür der Ludditen? Werden Zentraleinheiten dieselbe feindliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie einst die Webmaschinen? Ich bezweifle es sehr…Aber wenn die Kurven der Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Molekularbiologie konvergieren. Jungejunge! Es wird unglaublich und nicht vorherzusagen sein, und selbst die höchsten Tiere wird es, so wollen wir demütig hoffen, die Beine wegschlagen. Es ist bestimmt etwas, worauf sich alle guten Ludditen freuen dürfen, wenn Gott will, dass wir so lange leben sollten.“

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Frauen in Rüstungsindustrien

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Ist KI die neue Atombombe“ fragte sich der Tagesspiegel im August 2023 in einem Artikel zum US-Film über den „Vater der Atombombe“ Robert Oppenheimer. Der Computer-Kulturtheoretiker Martin Burckhardt schrieb in der Zeitschrift „Lettre“ (1/2023): „Die Digitalisierung ist eine Form der symbolischen Kernspaltung. Das Internet entsteht im Schatten der Atombombe. Machine Learning und KI läuft auf eine Devalorisierung des Menschen hinaus. Auf eine psychische Kernspaltung“, was für ihn derzeit bereits in der „Identitätspolitik“ der „Generation X/ der Millenials“ geschieht.

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Frau in Rüstung (1)

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Aber noch ist die Implosion der Rechnersysteme, auf die sich alle guten Ludditen freuen dürfen, eine vage Hoffnung oder Sorge – je nachdem. Erst einmal leben immer mehr Menschen in einer Welt, in der maschinelles Lernen und bestimmte Formen künstlicher Intelligenz zunehmend ihren Alltag bestimmen. Die US-Chinesin Xiaowei Wang erwähnt „Empfehlungsalgorithmen, lustige Gesichtsfilter und Selfie-Apps wie Snapchat oder Meitu und Bilderkennung an der automatischen Kasse…Weil ‚Künstliche Intelligenz‘ ein vager Begriff ist, ist er auch ein beliebtes Schlagwort, um tiefsitzende Ängst vor einer ungewissen Zukunft zu schüren. Einige glühende Verfechter der KI orakeln, wir stünden ‚unmittelbar vor einer Revolution, die von der Künstlichen Intelligenz angestoßen wird‘.“

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Frau in Rüstung (2)

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Die Trierer China-Forscherin Kristin Shi-Kupfer hat für ihr Buch „Digital China“ (2023) untersucht, wie die 400 Millionen Nutzer der Online-Community „Zhihu“ (eine Wissens-Plattform, u.a. für Gutverdiener aus dem IT-Bereich) „Fragen von KI und Ethik diskutieren“. Das Ergebnis hat sie überrascht: Etwa 38,5 Prozent der Posts „sieht KI vor allem als Bedrohung. Die Gründe für diese kritische Haltung lassen sich überwiegend mit ‚Besorgnis für die Menschheit‘ überschreiben. Diese speisen sich aus auch im Westen bekannten Science-Fiction-Dystopien und thematisieren, dass IT-Technologie menschliche Beziehungen instrumentalisiere. In den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen könnten Mitmenschlichkeit und Empathie verloren gehen, sollte Pflege und/oder Unterricht von KI-programmierten Robotern übernommen werden. Darüber hinaus schürt KI die auch bei uns weit verbreitete Sorge vor dem Verlust von Arbeitsplätzen – insbesondere für formal ungebildete bis wenig gebildete Menschen.“

Die US-Autorin und Programmierin Xiaowei Wang ist sich sicher: „KI wird Pausenbrote zubereiten und Pakete packen“. Der Schriftsteller Wladimir Kaminer besuchte kürzlich das Filmstudio Babelsberg und dort eine KI-Entwicklungsfirma. Anschließend schrieb er, dass die Überwachungstechnik KI eher für etwas anderes als für Pausenbrote und Pakete eingesetzt wird: „In meiner Kindheit in der Sowjetunion war viel von der Roboterisierung der Arbeitsprozesse die Rede, es ging in erster Linie darum, dass die Maschinen uns die schwere Arbeit abnehmen, Straßen fegen, Röhren legen und Brücken bauen. Sie sollten Post austragen und Brote backen, während wir von der lästigen Pflicht des Frühaufstehens und der körperlichen Anstrengung befreit uns dem Kaffeetrinken widmen und kreativen Tätigkeiten nachgehen. Genau das Gegenteil ist dabei herausgekommen: Die KI übernimmt die kreativen Berufe, sie möchte malen, dichten, Musik machen, Bücher schreiben und tanzen. Und wir sollen fegen und backen. Zurzeit hinkt es noch ein wenig bei der Stimmwiedergabe, erzählten mir die Babelsberger KI-Entwickler. Eine Stimme ist schwieriger zu berechnen als das Aussehen. Wenn jemand klar und deutlich wie ein Nachrichtensprecher spricht, dann ist es kein Problem so eine Stimme nachzumachen. Doch einen russischen Akzent kann die KI zum Beispiel noch nicht glaubwürdig imitieren.“

Dafür kann sie jedoch schon mal dazu beitragen, dass wir auf unseren Abbildern alle schöner aussehen: So lassen sich laut Wang z.B. mit der „Beauty-App von Meitu im Handumdrehen Selfies bearbeiten“, d.h. aus asiatischen Gesichtern dem modischen Ideal entsprechend „kaukasische Gesichtszüge“ (mit blasser Haut und großen runden Augen) herstellen. „Diese Schönheitsstandards, die durch die bequemen Gesichtsfilter der App im Nu zu haben sind, dominieren auch die Werbeplakate von Schönheitschirurgen, die heute überall in den chinesischen Städten zu sehen sind: brünette Frauen mit perlweißer Haut und der heißbegehrten schmalen Nase“ – sowie mit vergrößerten Brüsten:

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In China ebenso wie in den USA gibt es immer mehr Einkommensschwache, vor allem Frauen, die sich eigene Produkte ausdenken, um sie dann im Internet per Livestream anzubieten. Dazu heißt es bei Wang: „Menschen, die vom Livestreaming leben, stehen unter hohem Druck, ein bestimmtes Aussehen zu haben. Manche Livestream-Stars lassen mehrere plastische Operationen pro Jahr über sich ergehen, und viele aufstrebende Sternchen unterwerfen sich drastischen Maßnahmen, damit ihr Gesicht am Ende die hochbegehrte Form hat – übergroße Augen und ein spitzes Kinn.“

Kristin Shi-Kupfer erwähnt die 1985 geborene „Königin des Livestreaming“ Viya (Weiya Huang), die sie als „eine der Meisterschülerinnen des entfesselten Kommerzes des Kommunistischen Partei“ bezeichnet. „Viya war einer der größten Stars des Livestreaming-Kanals von Taobao, Chinas erste und größte E-Commerce-Plattform“. Schon bald besaß sie 18 Firmen unter ihrem Namen. Sie bietet alles an, was ihre Fans möglicherweise brauchen: „Türklingel, Teppiche, Zahnbürsten, Möbel, Matratzen“ usw..“ Im April 2020 verkaufte sie einen Raketenstart für rund 5,69 Millionen Euro“.

Neben künstlich vergrößerten Lippen und Brüsten ist neuerdings auch noch ein vergrößerter Hintern in Mode gekommen. Für Manga, Hentai und KI kein Problem. Im wirklichen Leben widmet sich aber auch die Kosmetikindustrie und die plastische Chirurgie den Hintern: Auf der Internetseite des US-Lifestyle-Magazins für „junge Leute“ „refinery29.com“ schreibt Zoe Huxford: 2014 erklärte die Vogue pralle Hintern in einem Artikel für „offiziell allgegenwärtig“ und die „Ära des Big Booty“ damit für eingeläutet. In dem Jahr hatte der „Reality-Star Kim Kardashian das Internet fast zum Erliegen gebracht, als sie das Cover des Paper Magazine zierte. Auf dem Titelbild war eine geplatzte Champagnerflasche zu sehen, die sich in ein Glas ergoss, das auf ihrem berühmten Hintern stand. In der Folge stürzten sich Frauen aus aller Welt auf den Operationstisch, um sich einem Brazilian Butt Lifting zu unterziehen. Ein BBL ist ein chirurgischer Eingriff zur Vergrößerung des Gesäßes. Dabei entnehmen die Chirurgen Fett aus anderen Körperregionen wie dem Bauch, den Hüften oder den Oberschenkeln der Frau. Anschließend wird das Fett auf den Po übertragen, um einen größeren, wohlgeformteren Po zu erhalten.“

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Für eine Povergrößerung mit Eigenfett oder durch Einspritzen von Hyaluronsäure zahlt man laut „Focus“ bis zu 7000 Euro. Er wird damit u.U. zu ihrem „Allerwertesten“.

Die Neue Zürcher Zeitung titelte: „Ein Herz für den Hintern: Warum Frauen ein grosses Gesäss anstreben. Der neue Fetisch von Frauen ist der dicke Hintern. Die plastische Chirurgie hilft nach.“ Anderswo erfährt man: „Das angesagteste Fitnessstudio in Los Angeles ist derzeit Bünda: Portugiesisch-brasilianischer Slang für Hintern, die „Heimat des besseren Hinterns“ – ein Fitnessstudio, das sich ganz der Arbeit am Hintern widmet.“

Auf „mic.com“ heißt es: „Während Fettabsaugungen, Gesichtsstraffungen und Brustimplantate in den letzten 30 Jahren einen enormen Aufschwung erlebt haben, wird der Po immer mehr zur neuen ‚Problemzone‘, die es zu beheben gilt. Einem Bericht der Amerikanischen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie zufolge wurden allein 2013 in den USA mehr als 11 000 Operationen zur Gesäßvergrößerung durchgeführt, 58 % mehr als 2012. Laut einem Bericht der International Society of Aesthetic Plastic Surgery sind die USA im Vergleich zu Brasilien im Rückstand, wo 2013 63.925 Po-Vergrößerungen durchgeführt wurden, fast fünfmal so viele wie in den USA. Bei der Gesäßvergrößerung werden Implantate, Fetttransfers oder manchmal auch eine Kombination aus beidem eingesetzt, um den Po zu vergrößern und seine Form zu verändern. Leider können sich viele Frauen die Kosten der plastischen Chirurgie nicht leisten und entscheiden sich stattdessen für billigere, gefährlichere Optionen.“

Oder erst einmal nur für eine kosmetische Behandlung, Butt Facial genannt, um ihrem Hintern eine „geschmeidige Pfirsichhaut“ angedeihen zu lassen. „Peelings, antibakterielle Salicylsäure-Seren und entgiftende Masken zählen da ebenso zur Prozedur, wie moderne Facial-Techniken à la Microdermabrasion, bei der abgestorbene Hautzellen und Verhornungen entfernt werden oder die sogenannte Microcurrent Therapie, die Fettzellen reduzieren, die Haut straffen und die Muskeln noch ein wenig mehr hervorheben soll. Kostenpunkt: rund 150 Euro,“ laut stylight.de“. Dazu gehören dann auch noch „Butt-Lifting-Leggings“.

Schon bald machte sich der Wunsch junger Frauen nach einem größeren Hintern via „Transatlantikbrücke“ auch in Europa bemerkbar. Der Guardian schreibt: „Der Trend zum Big Butt hat britische Fitnessstudios erreicht, die jetzt eine Reihe von Kursen anbieten, die sich ausschließlich auf die Gesäßmuskulatur konzentrieren, von ‚BadAss‘ bis zum ‚Kylie Butt Lift‘ – benannt nach Minogue, nicht Jenner. Aber es ist der Aufstieg von Jenner und der Kardashian-Familie, deren Hintern mit ihren Bankguthaben gewachsen sind, der zu einer seismischen Verschiebung in der Workout-Kultur geführt hat. Während viele Frauen natürlich schon immer stolz auf gut entwickelte Gesäßmuskeln waren, hat die Betonung eines festen oder ‚saftigen‘ Hinterns nun den flachen Bauch als heiligen Gral der Fitness in den Mainstream-Frauengesundheits-Magazinen abgelöst.“

Aber etwas stimmt daran nicht. In einem nigerianischen blog schreibt eine Frau: „Komisch, dass dicke Lippen und ein großer Hintern schlecht waren, als sie noch eine natürliche Eigenschaft schwarzer Frauen waren, aber zum Schönheitsstandard wurden, als sie durch eine Operation erreicht werden konnten. Kim wird gelobt, weil sie sich einen Hintern gekauft hat, und Kylie wird gelobt, weil sie sich Lippen gekauft hat. Schwarze Frauen werden verteufelt und diskriminiert, weil sie einen natürlichen großen Hintern und natürliche große Lippen haben. Ich bin darüber hinweg.“

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Aber viele andere afrikanische und afroamerikanische Frauen nicht. Auf Facebook mehren sich noch immer Fotoserien aus Sierra Leone, Jamaica, Südafrika, Brasilien, Zambia und vor allem Ghana („Ghanamore“, „Ghana Vibes“, „Afro Pride“ etc.). Sie zeigen Frauen mit großen und immer größeren Hintern. Man könnte vermuten, es erleichtert und freut sie, dass ihre Hintern nun ein internationaler Trend sind, aber leider animieren die künstlichen großen Hintern von weißen Frauen (auf „Good for the eye“, „Leather and Nylon Women“, „Ferrari-Frauen“ etc.) viele nur, ihre Hintern künstlich noch mehr zu vergrößern.

Dazu heißt es auf dem nigerianischen blog: „In Afrika gilt eine Frau als attraktiv, wenn sie eine Sanduhrfigur mit großen Brüsten und Gesäß hat. Aus diesem Grund sind viele afrikanische Frauen auf einen großen Hintern fixiert und sind bereit, dafür extreme Anstrengungen auf sich zu nehmen. Wer einen flachen Hintern hat, gilt nicht als schön, sondern nur als trocken. Frauen, die von Natur aus nicht so ausgestattet sind, wollen also zur begehrten Gruppe gehören, um Männer anzuziehen. Ein typischer afrikanischer Mann mag eine Frau mit einem großen Hintern. Ein großer Hintern lässt die Frau weiblicher erscheinen. Mit diesem weiblichen Killer-Merkmal kann eine Frau fast jeden Mann bekommen, den sie will. Alles, was sie tun muss, ist, ihr Hinterteil zur Schau zu stellen und zu beobachten, wie das männliche Geschlecht um sie herumschwirrt wie Bienen an einem Bienenstock. Natürlich will keine Frau ignoriert werden, und so greifen die Verzweifelten, die sich keine teuren Schönheitsoperationen leisten können, zu Maggi-Würfeln.“

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Maggiwürfel sind japanisch, meint der Schriftsteller Thomas Kapielski, insofern sie den fǘnften Geschmack – „umami“ beisteuern. Vor allem sind sie aber ein afrikanisches Wundermittel: Auf vielen Märkten Afrikas sieht man Frauen, die an ihrem Stand bloß ein paar zu Pyramiden geschichtete Maggiwürfel verkaufen. Der Schweizer Schriftsteller Al Imfeld hat in einem Aufsatzband und später auf seiner Internetseite („Maggi-Würfel zwischen Magie und Macht“) berichtet, welch wichtige Funktion Maggi in Afrika hat. Es gab sogar einmal einen Maggi-Krieg: Weil die Werbung für die Brühwürfel als familienfeindlich angesehen wurde, riefen Priester zu einem Maggi-Boykott auf. Dagegen protestierten die Frauen. Sie sind zunehmend gezwungen, Geld zu verdienen, daneben müssen sie auch noch ihre Kinder versorgen und ihren Mann bekochen. Dabei machen sie es sich leicht, indem sie ihm eine Maggi-Suppe vorsetzen. „potage africain“ genannt.

Der Maggi-Brühwürfel ist ein Gewürz, benannt nach Julius Maggi, der damit ein Schweizer Unternehmen der Lebenmittelindustrie gründete, das auch Instantsuppen und Fertiggerichte herstellte. Julius Maggi ging es 1869 darum, die Ernährungslage der Arbeiter zu verbessern. Die Maggi-Würze auf Basis von Hülsenfrüchten war ein Konkurrenzprodukt zu Justus von Liebigs Fleischextrakt. 1908 kam Maggis Brühwürfel auf den Markt. Für die Werbung wurde der Schriftsteller Frank Wedekind gewonnen. Er erzählte Maggi-Geschichten wie diese: „Wenn der Kochkurs nicht wär’“, seufzte das siebzehnjährige, schlanke, schwarzäugige Engelskind, „so wollte ich ja gerne heirathen. Aber er wünscht durchaus, dass ich vorher einen Kochkurs nehme.“Elschen, beruhige Dich“ sagte darauf die verständige Mutter. „Das nothwendigste will ich Dir schon beibringen; und dann würzest Du ihm jeden Mittag die Gerichte mit diesem Fläschchen hier. Pass mal auf, was der für Augen machen wird. Täglich giebt er Dir zwei Küsse mehr dafür! Es ist nämlich Maggi’s Suppen- und Speisewürze.“ (Kommentar von Julius Maggi: „Famos!“).

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In den Dreißigerjahren erhielt die Firma einen Exklusiv-Belieferungs-Vertrag für die deutsche Wehrmacht, für die sie eine Spezialsuppe produzierte. Seit 1947 ist Maggi eine Marke des Schweizer Weltkonzerns Nestlé AG. Nestlé besitzt sechs Maggi-Fabriken in Afrika. Auf Wikipedia heißt es: „In Afrika ist folgender Fernsehwerbespot bekannt: ‚Mädchen, wie hast du diesen Killerhintern in nur zehn Tagen hingekriegt? Was ist dein Geheimnis?‘ Antwort: ‚Mit einem Maggiwürfel.‘ Allein in West- und Zentralafrika werden pro Jahr 36 Milliarden Maggi-Bouillonwürfel verkauft. Sie enthalten zu 50 % Salz, dazu Mononatriumglutamat, verdrängen die Vielfalt lokaler Gewürze und könnten zu Bluthochdruck und Zuckerkrankheit beitragen. Maggi-Berater versuchen darauf hinzuwirken, dass die afrikanischen Kunden Maggi-Würfel ohne zusätzliches Salz verwenden, um den Salzkonsum zu reduzieren.“

Der Tagesspiegel begann einen Bericht über „Maggi in Afrika“ mit den Gedanken einer in Berlin lebenden Nigerianerin über Maggi: „‘Oh nein, wir haben Maggi vergessen!‘, ruft Sholly Onatolu entsetzt. ‚Richtiges afrikanisches Essen ohne Maggi – das geht gar nicht.‘ Die kleine Nigerianerin dreht sofort um, trippelt mit ihren schweren Tüten voller Yams-Wurzeln und Kochbananen zurück in den kleinen Afro-Shop auf der Karl-Marx-Straße in Neukölln. Ganz hinten im engen Laden wird Sholly Onatolu fündig: Im Regal liegt eine durchsichtige Tüte mit kleinen leuchtend rot-gelben Brühwürfeln. „Maggi Cubes“ steht in englischer und arabischer Schrift auf der Packung. Made in Côte d’Ivoire. Das Logo kommt nostalgisch daher: Ein rotes M in einem Stern auf gelbem Grund. ‚Bei euch ist ein Herz drauf‘, erklärt die 36-Jährige. ‚Aber das taugt nichts.‘ Das Produkt aus Afrika, wo Maggi auch ursprünglich herkomme, wie sie versichert, schmecke viel besser als das fade ‚Herzchen-Maggi‘ aus dem deutschen Supermarkt.“

Der Tagesspiegelautor weiß es natürlich besser. „Vor nicht allzu langer Zeit war die ‚Würze‘ in der kleinen braunen Flasche auf deutschen Küchentischen so präsent wie Salz und Pfeffer.“ Nach Al Imfeld hat der Ethnologe Manfred Stoppok ein Buch über die 4 Gramm wiegenden kleinen Würfel geschrieben: „Maggi in Guinea-Bissau“, über die dortige Beliebtheit der Würfel wundert er sich noch immer. „Überall hängen Maggi-Plakate“, bestätigt er. „Mit Maggi strahlt jede Frau wie ein Stern“, steht in Guinea-Bissau auf den Plakaten. „Koch mit Maggi, dann will er keine Zweitfrau mehr“, heißt es im muslimisch geprägten Senegal. Im Münchener Afro-Shop von Denis Akomagi findet man die komplette Produktpalette. „Die Afrikaner kommen aus ganz Oberbayern zu mir“, sagt der Togolese, „für sie bedeutet der Cube ein Stückchen Heimat“.

Der ghanaesische Arzt Silas Joy hat über seinen Twitter-Account @OfficialSilasMD über die Gefahren des Big Butt-Gewürzes von Maggi aufgeklärt: „Frauen, die sich dieses Gebräu injizieren, hoffen oft, dass das Natrium und das Öl in den Würfeln ihren Hintern größer machen. Der Arzt erklärte jedoch, dass die Gewürzwürfel Salz enthalten, das von der Schleimhaut des Anus aufgenommen wird und in den Blutkreislauf gelangen kann. Übermäßiger Salzkonsum führt häufig zu Bluthochdruck, einer unter Afrikanern weit verbreiteten Krankheit. Bleibt sie unbehandelt, kann er zu komplizierteren Gesundheitsproblemen wie Schlaganfall und Herzerkrankungen führen, die tödlich enden können. Neben Bluthochdruck besteht auch die Gefahr schwerer Blutinfektionen durch Verletzungen, die von den für das Big Butt Spice verwendeten Spritzen verursacht werden. Bei diesen Infektionen kann es sich um HIV/AIDS, Hepatitis B und C handeln, und sie können schwere Folgen haben. Schließlich gibt es keinen Beweis dafür, dass das Big Butt Spice von Maggi wirkt…Wenn Sie unbedingt einen großen Hintern haben wollen und Ihre Erbanlagen nicht günstig sind, sollten Sie zu sichereren Maßnahmen greifen, wie z. B. Training oder kosmetische Po-Liftings in den Händen von zertifizierten Fachleuten.“

Traurigerweise kommt noch hinzu, dass dieser „Trend zu größeren Hintern“ im Westen bald wieder vorbei sein könnte. Schon lassen amerikanische Celebritys mit künstlich vergrößerten Hintern wie Kim Kardashian und andere ihre Hintern wieder verkleinern. Auf „littleoldladycomedy.com“ heißt es: „In jedem Jahrzehnt gibt es einen neuen großen Trend für Frauen. In den 80ern waren es große Haare, in den 90ern große Brüste, in den 00ern große Hintern und nun sind es große Lippen. In jedem dieser Fälle gilt: Je größer das jeweilige Körperteil, desto besser. Und obwohl man darüber streiten kann, ob diese Trends übertragbar sind (große Brüste sind schließlich zeitlos), wird die Bedeutung eines jeden Trends von der nächsten Modeerscheinung in den Schatten gestellt. Während zum Beispiel ein großer Hintern heutzutage immer noch begehrt ist, sind große Lippen zweifelsohne der angesagtere Look.“

Auf Facebook-Fotos und den Internetseiten mit Manga- bzw. Hetai-Bildern ist es umgekehrt: Erst häuften sich dort die Fotos von jungen Frauen mit vergrößerten Lippen und Brüsten und nun die mit großen Hintern. Und davon werden fast täglich mehr gepostet, wobei das Lenken der eigenen und der fremden Aufmerksamkeit auf den Hintern, seine Aufwertung, vielleicht schon mit den Tätowierungen begann, d.h. mit den anfänglich so beliebten „Arschgeweihen“.

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Inspiriert von den Celebrities (u.a. Paris Hilton und Freundinnen), die keine Schlüpfer mehr tragen, um gelegentlich ihre Mösen vor irgendwelchen Kameras aufblitzen zu lassen und verbreitet über die sozialen Medien, in denen Frauen reihenweise Pussy-Selfies machen (die sie aber noch nicht richtig zeigen dürfen), werden als nächstes, nach Lippen, Brüsten und Gesäß, „Vaginal-Operationen“ zur Mösenverschönerung kommen.

Im Kontext von Intimchirurgie werden häufig Begriffe wie „Barbie-Vagina“ oder „Designer-Vagina“ verwendet. Es heißt, dass der Intimbereich – insbesondere die Schamlippen – möglichst jugendlich und möglichst unauffällig aussehen soll – wie eben bei Barbie. Es ist durchaus möglich, eine Schamlippenkorrektur durchführen und das Gesamtbild des Intimbereichs jugendlicher gestalten zu lassen,“ schreibt der Hamburger Schönheitschirurg Dr. Sattler in werbender Absicht im Internet. Er hat folgende Eingriffe im Angebot:

  • Die Schamlippenkorrektur – in der Regel werden hierbei die inneren oder die äußeren Schamlippen chirurgisch verkleinert.
  • Ein Eigenfetttransfer im Intimbereich: Mittels Eigenfett lassen sich als zu klein empfundene oder erschlaffte äußere Schamlippen unterfüttern.
  • Eine „Scheiden-OP“ zur Verengung der Scheide. Dieses Ergebnis wünschen sich viele Frauen, beispielsweise nach einer Schwangerschaft. Im Rahmen dieser Behandlung wird häufig auch von einer Vaginalstraffung oder Vaginakorrektur gesprochen.
  • Eine Verkleinerung oder Straffung des Hütchens über dem Kitzler. Dieser Eingriff lässt das Genital jünger aussehen und kann darüber hinaus zu einer verbesserten Stimulation beim Geschlechtsverkehr führen.
  • Eine Absaugung des Venushügels. So bekommt auch der Übergang vom Intimbereich zum Bauch eine schöne Kontur.

Die meisten Schönheitsoperationen in Deutschland werden, wie man sich denken kann, in München durchgeführt. In Berlin haben sich fast alle Schönheitschirurgen rund um den Kurfürstendamm in einer Art Cluster niedergelassen. Das kann man schon bei einem Kudamm-Spaziergang feststellen, weil einem dabei laufend Mädchen/Frauen mit aufgespritzen Lippen begegnen. Der Kudamm heißt deswegen auch „Boulevard der Entenschnäbel“.

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Die französische Autorengruppe Tiqqun hat sich Gedanken über die „Millennials“ gemacht, die Ende der 90er-Jahre heranreiften. Ihr Buch darüber besteht aus, so der Titel: „Grundbausteinen einer Theorie des Junge-Mädchens“ (2009). Den ersten „Grundbaustein“ dafür legte bereits D.H.Lawrence u.a. in seinem Buch „St. Mawr“ 1925 vor. Tiqqun geht davon aus, dass sich Jungs wie Mädchen angleichen und austauschbar werden, wobei die Mädchen Role-Models sind, denn: „Wenn das Spektakel [der kapitalistische Warenzirkus] ausposaunt, dass die Frau die Zukunft des Mannes ist, ist natürlich vom Jungen-Mädchen die Rede, und die Zukunft, die es verheißt, ist nur die schlimmste kybernetische Sklaverei“.

Aber „kann sich das ‚Online-Ich‘ aus der Gefangenschaft der Eitelkeits-Marketing-Falle befreien – ohne in Offline-Romantik zurückzufallen?“ fragt sich Geert Loving, der nicht auf sein „geliebtes Medium“ verzichten möchte.

Tiqqun schreibt: „Die Schönheit des Jungen-Mädchens wird produziert. Es selber lehnt es nicht ab, daran zu erinnern: ‚Schönheit fällt nicht vom Himmel‘, das heißt, sie ist die Frucht einer Arbeit…Vom Muskeltraining übers Fettabsaugen bis zur Anti-Falten-Creme gibt es beim Jungen-Mädchen überall die beharrliche Bemühung, von seinem Körper zu abstrahieren und aus seinem Körper eine Abstraktion zu machen…Alles, was man machen kann, um sich mit seinem Bild in Einklang zu bringen…Das Gespenst des Mannes und der Frau geht auf den Straßen der Metropole um. Seine Muskeln kommen aus dem Fitness-Center und seine Brüste bestehen aus Silikon. ‚Die Biologisierung des Geschlechts im Besonderen und des Körpers im Allgemeinen macht den Körper des jungen Mädchens aus medizinischer Sicht zum idealen Laboratorium‘ (so Jean-Claude Caron in: ‚Le corps des jeunes filles‘).“ In der Werbung für den US-Film „Barbie“ heißt es: „Sie ist alles. Er ist nur Ken.“

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Barbie-Lookalike nach einem Dutzend  Schönheitsoperationen

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Die Jungen-Mädchen sagen Sätze wie: „Ich fände es toll, wenn alle Leute schön wären“, „Ich mache mit meinen Haaren, was ich will“, „Neue Brüste zu meinem 18. Geburtstag“, „Man muß an die Schönheit glauben“.

Serena aus Kanada berichtet auf „Facebook“: „Ich habe 50.000 Dollar ausgegeben, um mich vom jungen Mädchen zum ‚it-girl‘ zu verwandeln“. Dabei handelt es sich laut Wikipedia um eine „junge oder jüngere Frau, die durch ihr häufiges öffentliches Auftreten in Gesellschaft prominenter Personen und ihre starke Medienpräsenz einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist“.

Das Junge-Mädchen weiß allzu gut, was es im Einzelnen will, um irgendetwas im Allgemeinen zu wollen“. Für das Junge-Mädchen geht es vor allem darum, seinen Wert geltend zu machen…Die Biomacht ist in Cremes, Pillen und Spraydosen verfügbar…In ganz allgemeiner Weise erfreuen sich die schlechten Substantialitäten spontan der Gunst des Jungen-Mädchens. Allerdings zieht es bestimmte vor. So etwa all die Pseudo-Identitäten, die einen ‚biologischen‘ Gehalt geltend machen können (Alter, Geschlecht, Größe, Rasse, Körpermaße, Gesundheit etc.)…‚Alles schön, alles bio‘.“

Dazu gehört auch der Hintern. Tiqqun schreibt: „Der Hintern des Jungen-Mädchens genügt, um sein Gefühl zu begründen, dass es einzigartig und unvergleichlich ist“/ „Das Junge-Mädchen führt alle Größe auf das Niveau seines Hinterns zurück“/„Es scheint, dass sich die gesamte Konkretheit der Welt in den Hintern des Jungen-Mädchens zurückgezogen hat“/ „Der Hintern des Jungen-Mädchens ist ein globales Dorf.“ Ein Begriff des Medientheoretikers Marshall Mc Luhan, der damit 1962 die ganze (verbundene) Welt meinte, also dass ein Trend im Medienzeitalter sogleich global wird.

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Aphrodite Kallipygos (die Prachthintrige)

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Frauenstatue im Moskauer Gorki-Park 1936.

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Die Frankfurter Umsetzer der Ideen von Jungen-Mädchen „Ownlyou“ schreiben auf ihrer Internetseite: „An manchen Tagen fühlt man sich eher nach Booty und an anderen ist man mehr in einem Vulva Modus“. Demnach konzentrieren die Jungen-Mädchen ihre Achtsamkeit manchmal auf ihren Hintern und manchmal auf ihre Möse.

Die Berliner Schriftstellerin Sofie Lichtenstein hat 2023 über den „Vulva Modus“ aufschlußreiche „Protokolle über geschlechtliche Handlungen“ veröffentlicht – unter dem Titel „Bügeln“. Dazu hat ihre Ich-Erzählerin auf „Tinder“ kundgetan, dass sie Jungs und Mädchen zum Ficken sucht. Mit denen, die sich daraufhin meldeten und die sie akzeptabel fand, traf sie sich.

Einer hieß Bastian: „Er sieht okay aus. Auf einem der Bilder ist er sogar ganz ansehnlich. Buzzcut und Bart gehen immer“. Am nächsten Tag nimmt sie ihn mit zu sich nach Hause. „Wir sehen uns viele hundert Fotos an. Dann öffne ich Pornhub, um Bastian meine Favoriten zu zeigen. Ich spiele ein paar Oraljob-Videos ab, die er mit derselben asexuellen Neugier anschaut wie ich zuvor die Exhibitionistinnen-Fotos auf Reddit.“

Die Sexualtherapeutin Heike Melzer warnt: „Wer fünfmal am Tag Pornos schaut und sich dabei einen Vibrator auf die Vulva hält, der reagiert nicht mehr auf einen unmotorisierten Penis“. „Pornhub“ ist das größte Pornographieportal der Welt, 2019 wurde es 42 Milliarden Mal besucht. Daneben gibt es aber auch noch mehrere hundert Millionen andere Porno-Seiten im Internet. Weltweit werden sie vor allem von der „Generation Z“, also von den um 2000 geborenen Junge-Mädchen genutzt.

Sofie Lichtenstein berichtet weiter: „Bastian geht ins Bad. Ich nutze den Moment, um das Licht zu dimmen und eine vielsagende Pose im Bett einzunehmen.“ Als die beiden nackt sind und sie ihm ein Kondom überziehen will, erschlafft sein Schwanz. „Kein Orgasmus heute für mich“, seufzt sie, aber am nächsten Tag hat sie desungeachtet „Fantasien mit Bastian. Fantasien, die in die Tat umgesetzt werden wollen. Mein Blick wandert zum Handy. Es liegt direkt neben dem Laptop. Ich nehme es in die Hand, öffne WhatsApp und fragte Bastian, ob er sich mit mir heute Abend treffen wolle…Wieder und wieder schau ich aufs Handy, wieder und wieder steigt die Anspannung. Herrgott, wie ich es hasse, wenn ich das tue. Dieses manische Abchecken von Benachrichtigungen und Onlinezeiten…“

Endlich. Sie trifft sich mit Bastian und sie gehen in ihre Wohnung, wo sie sich aufs Sofa wirft. „Bastian sieht mich an. Dann legt er sich auf mich…Hatte ich bei unserem ersten Mal keinerlei Erregung gespürt, empfinde ich jetzt maximale Geilheit…Ich höre mich stöhnen, will angepackt werden und anpacken, gefickt werden und ficken, die ganze Nacht mit ihm schwitzen, mich an ihm aufgeilen.“ Das geschieht auch, aber danach geht er und läßt nichts mehr von sich hören, außer Unverbindliches und Ausreden.

Klaus: Nach dem Billardspiel mit ihm sagt sie sich: „Ich bin bereit. Bereit, weil ich’s irgendwann im Verlauf des Abends ja einmal sein muss und mit Klaus inzwischen auch nichts anderes mehr anzustellen weiß, als Sex mit ihm zu haben…Schließlich dringt er ein, und ich bin erleichtert.“ Er spritzt jedoch nicht ab, „sondern hört einfach auf…Irgendwann steigt in mir die Befürchtung, Klaus könnte bei mir übernachten wollen.“

Johannes: „Wir unterhalten uns über Dinge, die uns nicht interessieren. Zum Beispiel, was wir beruflich machen…Ich ziehe mich aus und über seinen Schwanz ein Kondom. Sein Penis steht, ist aber nur halbsteif. Es passt zu Johannes, dass die an seinem Körper rasierten Stellen dem State of the Art von Mainstream-Pornos entsprechen.“ Bald spürt sie seinen Schwanz überhaupt nicht mehr. „Nach einem kurzen Smalltalk steht Johannes endlich auf, um aufzubrechen.“

Sie hat gerade ein Date mit der von ihr verehrten Chris, da schickt ihr Olaf eine WhatsApp-Nachricht nach der anderen. „Er postet seine Adresse, ohne dass ich ja gesagt hätte. Unvermittelt ploppt ein Dickpic auf. Ich erschrecke und stecke schnell mein Handy in die Gesäßtasche. Scheiße, Olaf: Bloß weil wir miteinander gevögelt haben, ist das keine Legitimation, mir unaufgefordert Schwanzbilder zu senden.“

Tom: Als sie mit ihm spazieren geht, ist sie in einer Verfassung, „in der ich mir augenblicklich das Gehirn herausficken könnte.“ In der Straßenbahn beschreibt sie ihm den Plot ihres nächsten „Buchprojekts“. Zu Hause „fackeln wir nicht lange und ziehen uns aus. Tom ist gut bestückt. Er kommt unbefangen und selbstbewußt gleich zur Sache, insbesondere verbal. Er kündigt an, er werde mich teasen. Ein Satz, der inhaltlich mehr umspannt als alles, was ich bisher beim Sex mit X und Y vernommen habe. Als Tom im Begriff ist, zu kommen, fragt er mich, wohin. Auf den Bauch, sage ich. Ich will besudelt werden.“

Als sie sich das nächste Mal treffen, kocht sie Spätzle mit Maggi-Sauce. „Nachdem ich seinen Teller gefüllt habe, setzen wir uns hin und unterhalten uns über die Anime-Serie ‚Neon Genesis Evangelion‘.“ Als sie sich anschließend küssen, kommt ihr alles wieder so vertraut vor, „wie ich es haben will. Ich habe mein Narrativ zurück…Wenige Augenblicke später muss ich schon über einen Satz nachsinnen, den er wiederholt gebraucht: ‚Ich will dir geben‘. In Gedanken besetze ich die leerstehenden Argumentstelle von ‚geben‘ mit dem erforderlichen Akkusativobjekt, das Tom mir vorenthält, ist ‚geben‘ doch immerhin ein ditransitives Verb.“ Dann will Tom von ihr wissen, ob sie ihn liebt. „Ich erkläre, noch niemanden geliebt zu haben, möglicherweise nicht mal verliebt gewesen zu sein.“

Während sie in der Bibliothek sitzt, bekommt sie eine Nachricht von Lukas auf Tinder. Er schreibt ihr, dass sie „arg stilvoll und attraktiv“ ausschaut. Aber er hat einmal zu viel „Quatschi“ statt „Quatsch“ gesagt.

Sie trifft sich mit Nils. In ihrer Wohnung spielen die beiden zunächst „Star Trek: Starfleet Academy“ auf ihren „Super Nintendo“. Es ist „mein erstes Mal, beliebte ich doch mit Fuckdates bisher ‚Mario Kart‘ zu zocken…bis auf das eine Mal, als ich die Frau, die mich nur beim Sex und nicht danach berühren wollte, zu mir eingeladen hatte. Wir spielten ‚Super Street Fighter‘ und wenn mich nicht alles täuscht, auch ‚Soul Calibur II‘ auf dem Gamecube, ehe ich das Gamepad beiseitelegte und befand, dass wir nun rumknutschen könnten.“

Laut einer Umfrage nutzen rund 54 Prozent aller Deutschen fast täglich digitale Spiele auf PCs, Konsolen, Smartphones oder Tablets. Weltweit soll es 3,7 Milliarden regelmäßige Spieler (Gamer) geben. Neuerdings ist die Spieleindustrie Kooperationen mit Luxus-Modelabels eingegangen, so dass z.B. der Mops im Videospiel „Fortnite“ mit einem Kapuzenpulli von Balenciaga bekleidet ist, heißt es im Artikel „Dresscode für Super Mario“ in der Wochenzeitung „Freitag“ (v. 3.8.2023). „Das Videospiel ‚Fortnite‘ des US-Unternehmens Epic Games ist mit rund 40 Millionen Spielern monatlich und mehreren Milliarden Dollar Umsatz im Jahr eines der erfolgreichsten weltweit“. Das Label „Balenciaga“ gehört neben der „Gucci Gruppe“ zum Pariser „Kering“-Konzern, der 2023 einen Umsatz von 20,4 Milliarden Euro machte.

Erneutes Treffen mit Lukas. Sie spielt mit ihm erst mal „FIFA 20 auf der Switch“. Dann: „Das Küssen ist okay“, aber „die Penetration ist schmerzhaft…Ich teile es Lukas mit und breche ab. Wir geben uns gegenseitig einen Handjob, wobei Lukas unsinnigerweise mehrfach seine Finger anleckt. Dabei ist meine Möse feucht genug.“

Eine äußerst attraktive Anja meldet sich via Tinder. „Ich schlage ihr vor, zu mir nach Hause zu gehen“. Anja findet die Icherzählerin ebenfalls „attraktiv“… „Ihr Shirt riecht nach Lenor-Weichspüler. Ich mag das, auch wenn ich weiß, dass es wegen des Mikroplastiks ökologisch fragwürdig ist…Wir ficken gut anderthalb Stunden miteinander.“

Am nächsten Tag trifft sie sich erneut mit Anja. Sie reden über „harten Sex“. Anja hat ein „strap-on“ dabei – ein Dildo, den die Ich-Erzählerin sich umschnallt, während Anja sich auf den Rücken legt. „Weil sie den Eindruck erweckt, durchgevögelt zu werden, beuge ich mich über sie rüber zu den Präservativen. Ich stülpe ihn über den Dildo. Anja rückt mit ihrem Becken zu mir. Obwohl sie nicht nur feucht ist, sondern schon fast ausläuft, habe ich Angst, ihr Schmerzen zu bereiten. Vorsichtig dringe ich in sie ein. Der strap-on sitzt fest…Sie keucht und stöhnt mir ins Ohr…Ihr Katalog-Körper glänzt vor Schweiß…Dann steigt sie gierig auf meinen Schoß und reitet so lange, bis es ihr kommt…Während wir uns von unserer physischen Ertüchtigung erholen, schalte ich das ‚Dschungelcamp‘ ein…Als Anja aus dem Bad kommt, legt sie sich gleich in die Federn, ohne den geringsten Anstoß daran zu nehmen, dass ich direkt neben ihr noch YouTube-Videos schaue, E-Mails checke usw..“

Nach einiger Zeit trifft sie Anja erneut. „Am Abend schlage ich vor, ein Sexvideo zu drehen. Sie findet die Idee aufregend, bittet mich aber darum, keine Gesichter zu filmen.“ Das geschieht auch nicht. Aber danach sehen sie sich nicht wieder.

So weit die Protokolle über etwa ein Dutzend Erlebnisse eines Junge-Mädchens im „Vulva-Modus“, verbunden mit so ziemlich allen elektronischen Medien. Die Autorin ist 33, sie hat Linguistik und selbstverständlich auch Gender Studies studiert. Ihrem lapidaren Bericht aus Berlin ging der literarisch anspruchsvolle einer verheirateten Pariser Kunsthistorikerin, Catherine Millet, voraus, die ihre im wesentlichen auf ihren „Booty“ fokussierten Erlebnisse in Swinger-Clubs und anderswo („Ich setzte meinen Hintern häufiger als meine Scheide ein“) unter dem Titel „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ (2001) veröffentlichte.

Abschließend sei noch erwähnt, dass in der Raketentechnik die Phallusform überwiegt. „Jenseits der simplen Erektion aus Stahl ist die Rakete ein ganzes System, abgewonnen einem weiblichen Dunkel,“ heißt es in Pynchons Peenemünde-Roman. Im Zeitalter von Feminismus und der Gender-Debatten wird „eine Rakete, die wie ein Penis aussieht“ jedoch laut „Die Welt“ als ein „Fauxpas“ begriffen, den zuletzt der Amazon-Gründer Jeff Bezos beging, als er seine bemannte Rakete „Blue Origin“ überdeutlich als Penis konstruieren und sich mit ihr in den Himmel schießen ließ. Diese Taktlosigkeitwollen sich andere begüterte Weltraum-Pioniere nicht mehr leisten. Ein Milliardär, der anonym zu bleiben wünscht und sich selbst ‚als großer Frauenfreund‘ bezeichnet, ließ seine sogenannte ‚Brakete‘ (von Englisch ‚bra‘, Büstenhalter) so konstruieren, dass sie nicht an ein männliches Glied, sondern an zwei wohlgeformte weibliche Brüste erinnert. Versuche mit einer fliegenden Vulva waren gescheitert, weil die Modelle immer in der Mitte auseinander brachen. Inspiriert von Woody Allens Film ‚Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten‘, gelang es den Ingenieuren, aus riesengroßen Brüsten ein Raumschiff zu kreieren, dessen beide Warzen als Kommandokapsel dienen. Nach eigenen Worten kann es der Milliardär gar nicht abwarten, mit den ‚fetten Glocken‘ abzuheben.“

Solch ein Geschlechterwechsel bei der militärisch-industriellen Technik ist keine neue amerikanische Idee. Eine ähnliche Verweiblichung des Raketenkörpers halluzinierten bereits sowjetische Militärs. Der Dichter und Sänger Jewgeni Jewtuschenko zitierte in seiner Autobiographie „Stirb nicht vor deiner Zeit“ (1996) einen am Putsch gegen Gorbatschow beteiligten Afghanistan-Veteran, der dann ein bekannter sowjetischer Schriftsteller wurde: „Ich spürte in der Finsternis an meiner Handfläche den schneeweißen Frauenkörper der Kampfrakete. Anfangs war sie noch kühl, aber je mehr ich sie streichelte, desto wärmer und wärmer wurde sie, ihre Hüften schienen schwer atmend vor unausgesprochener Leidenschaft zu vergehen, und es schien mir, als würde ich auf dem Körper der Rakete unter meinen Fingerkuppen gleich die Wölbungen der in Erwartung meiner Berührung aufgerichteten Brustwarzen spüren.“

Thomas Pynchon erwähnte in „Die Enden der Parabel“ bereits eine Forschungsgruppe bei den Peenemündern, die an einem „erektionsfähigen Plastik“ arbeitete.

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P.S.: Weiterführend seien noch zwei Bücher von Philosophinnen erwähnt: „Negierte Lust – Die Klitoris denken“ von Catherine Malabou (2021) und „Dialektik der Hure – Von der Prostitution zur Sex-Arbeit“ von Theodora Becker (2023), der es in ihrer umfangreichen Studie um die Ablösung der Huren durch Prostituierte geht, die zwar nicht mehr „verrucht“ sind und polizeylich verfolgt werden, aber dafür in einer Art Industriearbeit eingespannt sind, wobei ihr „Service“ immer billiger wird.

Der Vollständigkeit halber seien hier auch noch die kulturhistorischen Bücher: „Brust“ von Anja Zimmermann, „Vulva“ von Mithu M. Sanyal und „Der Ursprung der Welt“ (vulgo Vulva) von Liv Strömquist sowie „Vagina“ von Naomi Wolf angeführt. Über  „Lippen“ und „Schamlippen“ haben bisher nur Männer Bücher veröffentlicht – wahrscheinlich in schwärmerischer oder schweinischer (sprich: wissenschaftlicher) Absicht. 2004 schrieb die Chemikerin Gundula Dreßen ein Manual über cunnilingusfeste Schamlippen-Stifte in rubinrot und anderen Farben, fand aber keinen Verleger. 

Für Außerirdische haben die  Frauen hienieden übrigens weder Vulva, Vagina oder Klitoris noch Schamlippen, wie der Spiegel berichtet: Als die NASA 1972 ihre Pioneersonde Nummer 10 ins All schoss, hatte sie Bilder von Menschen an Bord, eine Art Weltraumflaschenpost an mögliche außerirdische Nachbarn. Das waren zwar nur schematische Zeichnungen in Schulbuchoptik, aber trotzdem zu viel für den leitenden NASA-Wissenschaftler John E. Naugle. Die Frau hatte da nämlich einen Schlitz zwischen den Beinen, der ihre Schamlippen erahnen ließ. Naugle ließ den kleinen Strich, mehr war das gar nicht, entfernen und den Schambereich so in ein ebenes, mehr oder weniger dreieckiges Stück Haut verwandeln – wie bei einer Schaufensterpuppe, während am Mitmenschen zur Rechten ganz ungeniert ein Penis baumelt.

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Huren aus Plaste und Elaste

Immer mal wieder haben in Berlin KünstlerInnen versucht, neue Bordellformen zu entwerfen. Erinnert sei nur an Felicitas, die Betreiberin des Bordell-Cafés „Pssst!“, und an die drei HDK-Absolventinnen, die in Schöneberg ein SM-Bordell namens „Atelier Rheingold“ eröffneten. Diese Experimente lebten meist nicht lange.

Nun, da die aktuelle Bundesregierung verkündete: „Das Leitbild der KI-Strategie ist ein europäisches KI-Ökosystem für Innovationen“, gibt es in der Hauptstadt ein neues Experiment, in dem es um „Sex of the Future“ geht. Das aus einer Kunstinstallation entwickelte Cybrothel in Friedrichshain bietet für 350 Euro eine ganze Nacht an, sich mit einer von elf Silikon-Sexpuppen zu „vergnügen“. Dabei kann man sich nebenbei noch von einem Pornofilm anregen lassen. Auf Wunsch liegen Kondome parat. „Alle Puppen sprechen fließend Deutsch und Englisch.“ Bezahlt wird vorab per Computer.

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Das Cybrothel sieht sich als Weiterentwicklung des konventionellen Puppenbordells“, steht im Konzept der Betreiber. „Nach japanischem Vorbild bietet es ein immersives, erotisches Erlebnis, nämlich durch die Live-Interaktion mit einer Puppe und ihrer menschlichen Sprecherin.“ Die „lebensechten“ Puppen aus China bestehen aus Silikon. Und das Wort „immersiv“ heißt so viel wie Eintauchen, Einbetten, Eintreten: Damit werden vor allem Computerspiele beschrieben, in die der Spieler regelrecht eintaucht und in seiner eigenen Wahrnehmung ein Teil der Spielewelt wird.

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Im Cybrothel scheint es umgekehrt zu sein: Der sexuell erlebnishungrige Kunde zahlt Minimum 85 Euro für 30 Minuten mit Monika, Barbie oder Hito. Wer sie zum Vergnügen beschädigt, muss natürlich was draufzahlen. Je realistischer sie aussieht, desto teurer ist sie. „Die Silikonpuppen werden nach jedem Gebrauch gereinigt und desinfiziert.“

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Wäre man so begeistert von dieser unblutigen Abschaffung der Prostitution durch Silikonpuppen wie etwa der Chaos-Computer-Club vom Cyber Space, dann würde man vielleicht meinen: Im Cybrothel werden aus Zuhältern oder Bordellbetreibern wieder Künstler – KI-induzierte und -inspirierte Sexclub-Gestalter. Jede Puppe hat einen Lebenslauf. So liest eine Puppe namens Paris aus ihrem Paris-Hilton-„Tagebuch“ vor und sieht ihr ähnlich – wenn auch noch nicht so wie all die „wirklich“ KI-generierten Fotos und Clips u.a. mit dem „Deepfake-Pornostar“ Scarlett Johansson.

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Silikon-Puppe „Scarlett Johansson“.

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Sie ist nur eine von vielen Frauen und Stars, die Protagonisten von Sexvideos sind, die von KI generiert wurden. Die Washington Post berichtet, dass ein „Deepfake“-Video, in dem Johansson zu sehen ist, allein auf einer Pornoseite über 1,5 Millionen Mal aufgerufen wurde. „KI ist für Frauen ein Albtraum“, titelte die Zeitung.

Das Internet ist ein „riesiges Wurmloch der Finsternis,“ meint Johansson. Zumal die rechtlichen Möglichkeiten, dagegen vorzugehen, sehr begrenzt sind und die KI-Bilderflut ständig steigt. Wandert damit auch die Pornoproduktion ins Virtuelle? Und ist das Cybrothel fast schon ein innovatives „KI-Ökosystem“?

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Die Quadratur des Greises

Eine Bildungsreise zwischendurch: Eigentlich wollten wir zur Butterberg-Konferenz, die heuer im Schloß von Decin (Böhmen) stattfand, aber dann bekamen wir auf dem Weinfest im Schloßhof einen Werbeprospekt über die Bäder-Touren von Goethe – und beschlossen, ihm zu folgen. Der Geheimrat hielt sich mit Vorliebe im edlen „Bäderviereck“ Karlsbad, Marienbad, Franzensbad und Schönau auf, insgesamt drei Jahre, immer hinter Frauen her. Man glaubt es kaum. Er „kurte“ dort (damals nahm man noch an, dass der phlogistonhaltige Atem junger Mädchen die alten weissen Männer verjüngt).

Goethe war 70 als er sich in die 19jährige Ulrike von Levetsow verliebte: „Ich hatte mich auf sechs Wochen einem hübschen Kinde in Dienst gegeben,“ schrieb er in seinen „Marienbader Elegien“, nachdem das Kind ihm laut unseres Reiseführers „Tschechien“ (2022) eine „Absage“ erteilt hatte. Ansonsten besuchte der „Schürzenjäger“ in Marienbad häufig den Kreuzquellenpavillon. Hier wurden die Kurgäste von sogenannten „Quellmädchen in weissen Schürzen“ bedient: „Sie hatten das Privileg (!), das aus der Quelle sprudelnde Wasser in Trinkgefäße abzufüllen und es ihnen zu reichen,“ heißt es im „Guide ‚Marienbad‘“.

Sinnigerweise waren die dortigen Heilquellen im frühen 18. Jahrhundert zur Gesundung der Armen von Medizinern und Mönchen erschlossen worden. Spätestens zu Goethes Zeiten war das Kurbad aber mondän. Und heute kommen wieder die Ärmeren: Rentnerehepaare, Witwen bzw. Witwer und Kurzurlauber. Statt edler Garderobe trägt man Streetwear. Es gibt ein halbes Dutzend Quellen und einen riesigen Kurpark mit einer „Goethe-Route“ und einem „Geologischen Park“, den er quasi initiiert hat, denn er sammelte Minerale, „im Museum befindet sich eine Ausstellung, die an Goethes hiesige Aufenthalte erinnert“. Zudem wurde der Platz davor nach ihm benannt. Das hat jedoch nicht verhindert, dass viele Hotels und Restaurants verfallen, auf den Dächern einiger Paläste wachsen Birken. Statt „Galanterie- und Luxuswarengeschäfte“ gibt es nun immer mehr Nagelstudios und Läden mit Billigklamotten aus Asien.

Was im Westen das Veröden der Kurbäder bewirkte: das „Kureigenbeteiligungsgesetz“ hat hier das Ende des Sozialismus bewirkt: Seitdem muß man sich einen Kuraufenthalt in den böhmischen Bädern leisten können. Zwar gibt es immer mehr „Anwendungen“ für Kurgäste, die heil werden oder bleiben wollen, die Kurärzte bieten dafür jeden neuen „Trend“ an, wie der „Guide ‚Marienbad‘“ betont, aber die heutigen „Kurlauber“ wollen eher unterhalten werden, etwas erleben in pompöser Kulisse (wie Goethe).

Chopin hatte in Marienbad mehr Glück als Goethe, den er beim „Kuren“ kennen lernte: Es gelang ihm, Marie Wodzinska zu überreden, ihn in Dresden zu heiraten, wo er sich zuvor in die Sechzehnjährige verliebt hatte. Aus der Heirat wurde dann aber doch nichts.

Goethe besuchte auch das von Metternich aus Konkurrenzgründen nahe Marienbad errichtete Bad Königswart (Kynzvart), das heute ein Kinder-Sanatorium ist. Ferner den kleinen Burg-Ort Loket, den er als „landschaftliches Kunstwerk“ bezeichnete. Es gibt dort ein Hotel „Goethe“ und ein Restaurant „Faust“. Es gibt in allen Orten im und am „Bäderviereck“ Goethe-Tafeln, -Büsten, -Wege oder Denkmäler.

Äuch in der Kleinstadt Zatec, wo Goethe im Hotel zum Goldenen Löwen logierte. Wir taten es ihm nach. Der Weintrinker besichtigte in Zatec den Hopfen-Anbau und seine Verarbeitung. Die Hopfen-Exporte gingen bis nach Amerika. Wir besuchten das Biermuseum in diesem laut dem Goethe-Tourprospekt „sympathischen Ort“. Die Wirtin des Restaurants „Kapitan“ am „Hopfengarten“ im Zentrum lieh uns ein Buch mit Fotos von Zatec ab 1900. Damals war da noch richtig was los, heute stehen viele schöne Läden und Hotels leer. Auch der „Goldene Löwe“ hatte schon bessere Tage gesehen. Zwar haben die neuen Besitzer aus Prag die großen Räume restauriert und die Zimmer modernisiert, aber das Café und Restaurant wurde an die Drogeriekette „DM“ vermietet und die Kellerbar, „Plan B“ genannt, wieder geschlossen. Mit EU-Geldern hat man ein altes Stadthaus ökologisch restauriert, in dem Jan Hus übernachtet hatte. 100 Jahre vor Luther hatte Hus eine „Reformation“ gefordert. Er wurde während des Konstanzer Konzils verbrannt, woraus sich die „Hussitenkriege“ entwickelten. In Zatec wie in Loket kreisten im Luftraum über den klassischen Marktplatz ab 19 Uhr zig Schwalben. Um 20 Uhr verschwanden sie wieder. Aber dann kamen die Fledermäuse, es waren jedoch nicht ganz so viele.

Goethe besuchte mehrmals das damals von berühmten Musikern bevorzugte Kurbad Schönau (Teplice), u.a. lernte er dort Beethoven kennen. 50 Jahre nach seinem Tod (1832) rückte der Braunkohle-Tagebau dem Ort nahe. Und vollends im Sozialismus wurde dann aus dem im „Zuckerbäckerstil“ errichteten Heilbad, „Klein-Paris“ genannt, eine Industriestadt. Sie will nun erneut das vierte der „drei großen böhmischen Bäder“ werden, aber noch ist es nicht so weit, meint unser Reiseführer. Dennoch wird Teplice bereits von reichen Arabern besucht. Seltsam, wir wollten dort nicht übernachten.

Das gegenteilige Bild bot Franzensbad: Riesige Hotel- und Restaurant-Kästen im schönbrunngelben „Belle Epoque“-Stil, dazu mehrere Heilquellen und ein gepflegter Kurpark, wo gerade Laub zusammengeharkt wurde. „Goethe hat die Entwicklung Franzensbads vom Dorf zur Kurstadt miterlebt“, heißt es auf Wikipedia. Er war dort 33 Mal. Daran erinnert auch das dortige Goethedenkmal, „es wurde 1906 eingeweiht, in Form einer Brunnenanlage im Stil des Neoklassizismus und des Jugenstils“. Heute werden alle nur möglichen Kuren angeboten – aber kaum einer kommt. Wir sahen nur einige wenige Renter. Dazu logierten die wenigen Bus-Reisegruppen aus Deutschland in Billighotels außerhalb des Kurviertels. Etliche Nobelhotels und –restaurants mußten schließen. Auf der palmengesäumten Promenade langweilte sich ein Dutzend Kurzurlauber.

Anders in Karlsbad, wo es auf den Promenaden von Touristen wimmelte und auch noch ein gewisser Luxus in den Läden angeboten wird. Aber Karlsbad ist von allen böhmischen Kurbädern am meisten von den Zeitläuften gedeutelt, denn der Ort wurde bis zum Ukrainekrieg von Russen dominiert, die sich kostspielig amüsierten und Immobilien erwarben. Sie sind nun alle weg. Es gab sogar eine Fluglinie Moskau-Karlsbad. Der russische Konzern Saiin ließ 2001 sein „Sanatorium Imperial“, das einstige „Refugium der Hochfinanz“, modernisieren, das des Adels, das „Grand Hotel Pupp“ vor dem „Goetheweg“, erwarb die Investmentgruppe „Unicapital“. Unter den vielen Thai-Massagesalons fiel uns die „Royal Thai Massage“ auf.

Goethe hatte Humboldt 1812 gestanden: „Karlsbad und Rom sind die einzigen Orte, wo ich leben möchte“. Unser Reiseführer schreibt: „Angeblich hatte er dort ein heimliches Techtelmechtel mit der 23jährigen Maria Ludovika Beatrix, der Kaiserin von Österreich. Und auch über eine Liebelei mit der 20jährigen Marie Louise, Der Gattin Napoleons, wird spekuliert.“ Er hielt sich 13 Mal in Karlsbad auf, insgesamt fast zwei Jahre – und lernte Tschechisch, um auch die jungen Kellnerinnen zu charmieren.

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Neues Nagelstudio in Zatec, früher eine Bäckerei. Photo: Ushma Zimmer

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Neues Bordell in Offenbach, davor Reisemobil eines Ehepaars.

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Massagesalon in Gera

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Tattoo-und Piercing-Studio in Mühlhausen

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In diesem Karlshorster Laden befand sich zuletzt ein Swingerclub (Montags: Gangbang), der mit dem Spruch warb: „Wir haben Verständnis für Toleranz“

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Über den Zusammenhang von sexuellem und extraterrestrischem Begehren

Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich sprach in einem jetzt wiederveröffentlichten Vortrag über „Sucht und Sog“, den er 1993 in der Psychiatrischen Klinik des Universitätsklinikums Rudolf Virchow der Freien Universität gehalten hatte, von einem „Begehrensmodell“ und davon, dass Begehren zunehmend „ins Leere laufen“.U.a. führte er dazu aus:

Katastrophenfaszination und, ihr entsprechend, das süchtige Hinarbeiten auf die Katastrophe scheint im großen das zu sein, was unser ‚normales‘ alltägliches Suchtverhalten im kleinen ist…Und es sind ja auch die gleichen Subjekte, die hier von den Suchtmitteln des Konsums und dort von der medialen Exaltation der Verarbeitung realer und imaginärer Katastrophen angezogen und mit schöner Regelmäßigkeit enttäuscht werden (und die Enttäuschung immer auch herbeizuführen trachten, süchtig nach Enttäuschung, sind, die allein sie weiterbringt auf dem Vertilgungsweg).“

Die „sexuell aufgeladene Realerfahrung und Metaphernwelt des Sogs“ – mit seiner „Maelströmfaszination“, also „diese Schoßmetapher für Vereinigung durch Ausgelöschtwerden“, scheint Heinrich ein sehr realistisches Bild „historischer Ambivalenz und Schuldgefühle, und zwar auf dem Hintergrund der Geschlechterspannung – die ja das Movens aller Faszination“ – zu sein. Die Figuren von E.A.Poe und Jules Verne versuchen mit ihrem neuen analytischen Umgang mit diesen Metaphern der Sogfaszination zu widerstehen und – „auszusteigen“. „Diese Möglichkeit, auszusteigen, ist heute ebenfalls illusionär, aber für das Thema Sog und Sucht hat gerade diese Illusion Brisanz.“

Die überspitzte Formulierung: ‚die Welt selbst aus der Welt zu schaffen, und ihr nach!‘ erscheint nur so lange als abstrakte Konstruktion, wie wir sie bildlos dem Maelström gegenüberstellen…Wir bewegen uns in katastrophisch eingefärbten Untergangs- und Auferstehungsvisionen, damit immer noch in einem großen, kosmisch geweiteten Initiationsraum. Und damit nicht genug: Chaostheorien beschwören die Selbstordnungskräfte der Materie und lassen uns als Nutznießer davon profitieren. Wirklich populär geworden aber ist das Bild die große Phantasie vom ‚Schwarzen Loch‘. Dies ist die erstaunlichste Schoßmetapher, die wir zur Zeit haben: spur- und zeichenlos saugt es ein und läßt verschwinden, auch die Reizüberbietung der Katastrophenmetapher ist stillgestellt, denn keine Information dringt hier heraus, geschweige, dass ein Geschichtenerzähler, ein kosmischer Aussteiger sozusagen, ihm entkäme.“

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Der amerikanischen Informatikerin Katie Bouman (sic) gelang erstmalig ein auf gemessenen Daten beruhendes Bild vom Schwarzen Loch.

(Dazu die Bild-Zeitung: „Weltallmonster bedroht Erde. Vor zwei Stunden Schwarzes Loch in Erdnähe entdeckt! Verschlingt alles erbarmungslos! Unser Reporter interviewt den Entdecker exklusiv!“

Und „Nature“ – nichtkatastrophistisch: „Ein Schwarzes Loch in 12 Lichtjahren Entfernung – die Strecke, die Licht in zwölf Jahren zurücklegt. (Licht breitet sich mit knapp 300000 Kilometern pro Sekunde, d.h. mit etwa einer Milliarde Stundenkilometern aus). Das neu entdeckte Schwarze Loch ist nur dreimal so weit vom Sonnensystem entfernt wie unser nächster Nachbar, der Stern Alpha Centauri, und gehört damit zu unserer unmittelbaren kosmischen Nachbarschaft. Die Europäische Raumfahrtagentur ESA hat sofort die Entsendung einer unbemannten Raumsonde angekündigt, die fundamentale neue Erkenntnisse liefern wird. Diese Mission ist ein Generationenprojekt: Bis die Sonde das Schwarze Loch erreicht, werden Jahrzehnte vergehen und wenn dann die ersten Daten zur Erde gefunkt werden, brauchen sie weitere 12 Jahre für den Rückweg.“

Bis das schwarze Loch die Erde verschlingt, werden wir auch Beobachter und Geschichtenerzähler haben – dank des US-Milliardärs Elon Musk. Dazu heißt es auf „ingenieur.de“: „Der große Wettlauf zum Mars hat längst begonnen. Siedlungspläne, Baustoffe, Polizisten – auf der Erde bereiten sich schwerreiche Unternehmer und Wissenschaftler schon detailliert auf die künftige Kolonisierung des roten Planeten vor.“ Und freiwillige Siedler, die nicht vom Mars zurückkehren wollen und auch nicht können sollen, gibt es ebenfalls bereits: zu Tausenden.

Aber vielleicht ist alles ganz anders: Am 30. November 2020 hieß es im Wissenschaftsforum „spektrum.de“: Wenn „die Masse des Universums in seinem Hubble-Radius so groß ist wie die Masse eines Schwarzen Lochs im gleichen Radius“, dann läßt sich unser ganzes „Universum als das Innere eines Schwarzen Lochs annehmen“, was bedeute, „wir leben in einem Schwarzen Loch“, sind also schon drin.)

Das konnte Klaus Heinrich 1993 natürlich noch nicht wissen. Bei ihm heißt es weiter über das Schwarze Loch: „Der sexuelle Phantasiehorizont in dem die Forschung metaphorisch eingebunden bleibt, wird aufdringlich deutlich im sogenannten ‚Keine-Haare-Theorem‘: ‚Ein Schwarzes Loch hat keine Haare‘ (das bezeichnet den Umstand, dass die Beschaffenheit des Körpers, aus dessen Zusammensturz es resultiert, keinen Einfluß hat auf die Größe und die Gestalt des Lochs.“)

Doch so stark ist die Macht der mit Geschlechterspannung verfahrenden Phantasie, dass dieses letzte katastrophische Suchtprodukt – so möchte ich es angesichts seiner Popularität einmal nennen – doch wieder als Schoß und Schlund erscheint, freilich einer, der nur noch in der einen, der zerstörerischen Richtung tätig ist…)

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Eher in der heilenden Richtung wurde dagegen die US-Schriftstellerin Eve Ensler aktiv als sie Recherchen für ihr dann vielgelobtes Buch „Die Vagina-Monologe“ (1999) anstellte. U.a. nahm sie an einem „Vagina-Workshop“ teil, indem die Kursleiterin die Teilnehmerinnen bat, ein Bild von ihren Vaginas zu malen. Eve Ensler „malte einen riesigen schwarzen Fleck, der von kleinen krakeligen Linien umgeben war. Der schwarze Fleck glich einem schwarzen Loch im Weltall und die krakeligen Linien sollten Leute oder Dinge oder auch nur ihre elementaren Bestandteile darstellen, die dort verschwinden. Ich hatte mir meine Vagina immer wie ein anatomisches Vakuum vorgestellt, das wahllos Teilchen und Objekte aus seiner Umgebung einsaugt.“

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So sieht das Schwarze Loch für die NASA aus.

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Der Kriegsgott Mars ruft zu seiner friedlichen Nutzung auf

Am 27. Dezember 2012, starb der dienstälteste Mitarbeiter der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA: ein Schweizer Nachkomme aus einem hinterpommerschen Junkergeschlecht – der Diplomingenieur Jesco von Puttkamer. Bevor er 1962 zur NASA stieß und sich Wernher von Brauns Team anschloß, hatte er sich einen Namen als „Science Fiction“-Autor gemacht. Fortan schrieb er vor allem Sachbücher über den „Aufbruch ins All“ (1969). Sein letztes, kurz vor seinem Tod veröffentlichtes Werk hieß: „Projekt Mars“. Seit 1974 leitete er die „Arbeitsgruppe zur strategischen Planung der permanenten Erschließung des Alls“ in der NASA-Hauptverwaltung in Washington.

Es ging dabei um die Kolonisierung des Weltraums, die erst einmal die Suche nach Planeten mit Lebensmöglichkeiten meinte. Den Anstoß dazu gab, wenn nicht seine eigene Begeisterung für „Science Fiction“, der US-„Futorologe“ Herman Kahn. Mit ihm und den Weltraumkolonie-Ideen der Siebzigerjahre hat sich der Kulturwissenschaftler Claus Pias befaßt. In seinem Aufsatz „Schöner leben“ heißt es über den Futorologen: Der Hintergrund für Kahns „Space-Szenarios“ waren die alarmistischen Prophezeiungen des Club of Rome zu Umweltverschmutzung, Hunger, Ressourcenknappheit und Überbevölkerung 1973. Eine erste „Machbarkeitsstudie“ legte dann 1977 Gerard O’Neill, ein Physiker aus Princeton, vor – mit dem Titel: „Human Colonies in Space“. Er kommt darin zu dem Schluß, „daß es weniger Dreck mache, einen Menschen in den Weltraum zu befördern, als ihn auf der Erde zu lassen.“ Dazu müßte jedoch der „amerikanische Kongreß ein besonderes Gesetz verabschieden, das den Kolonieerbauern den Wunschtraum des Amerikaners erfüllt, nämlich ein schuldenloses Eigenheim, ein Haus in der Weltraumkolonie. Diese Maßnahmen werden die Kolonisierung des Weltraums fördern…Neben allerhand unentfremdeter Arbeit und extraterrestrischem Kunsthandwerk, würde es neue, unschuldige Freizeitvergnügen geben, wie 3-D-Fußball, schwebende Schwimmbäder, meditative Weltraumausflüge oder Sex bei zero-gravity. Offener Raum und Toleranz würden es unterschiedlichen Gemeinschaften erlauben, ‚to do their own thing and build small worlds of their own, independent of the rest of the population‘.“

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Chinesische Raumstation, die seit 2022 ständig bemannt ist.

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Claus Pias sieht in diesen Weltraumkolonie-„Visionen“ eine direkte Anleihe bei den aus der Hippiebewegung hervorgegangenen amerikanischen Landkommunen: „Als berühmtestes Beispiel mag man an ‚The Farm‘ denken, die Steve Gaskin 1971 gründete und mit einer Erstbesetzung von über 300 Leuten den Ausstieg aus der Gesellschaft probte, um in unberührter Gegend als autarke, landwirtschaftliche Gemeinschaft zu leben. Was sich nämlich die sogenannten ‚Ecovillages‘ als Agenda setzen – ‚organic gardening and composting; biological waste management; reuse, recycle, rebuild; renewable power systems; egalitarian and open democratic governance‘ – sollte Punkt für Punkt auch für die Weltraumkolonien gelten.“ Laut Pias verwiesen dabei „Technikapologeten wie Zivilisationskritiker“ gleichermaßen auf eine „Humanität“ – die es dort oben „zu gewinnen und zu entfalten gelte“. Dabei kam es zu Konversionen zwischen den Lagern – „wie das berühmte Beispiel von Timothy Leary zeigt, der von chemischen zu elektronischen Drogen und von Roadtrips zu Spacetrips wechselte.“ Als er 1976 aus dem Gefängnis entlassen wurde, sagte er in einem Interview, dass es einen „extraterrestrischen Imperativ“ gäbe: Wir seien dazu bestimmt, im Weltraum zu siedeln. Dazu legte er auch sogleich ein Programm vor – namens S.M.I.L.E.: „Space Migration, Intelligence Increase und Lifespan Extension“. Sympathisanten wie die Ethnologin Margaret Mead sahen darin eine Chance zur Diversität. Hollywood befaßte sich in mehreren Spielfilmen mit den „Space-Colonies“. Jesco von Puttkamer war von 1978 bis 1980 technischer Berater für „Star Trek – Der Film“. Claus Pias schreibt über die Landkommune-Utopien dieses und anderer Weltraumbesiedler: Sie würden „schwerlich den Verdacht abweisen können, dass hinter der versprochenen menschenfreundlichen Pluralität immer schon ein (sich selbst ideologiefrei wähnender) Ingenieur herrscht. So oft und unverblümt das Wort ‘humanity’ im Schrifttum der Kolonisierer fällt, so wenig Vertrauen scheinen sie in dieselbe investieren zu wollen.”

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USA

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UDSSR

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Ab Mitte der Achtzigerjahre ging Jesco von Puttkamer auf Missionsreise – u.a. um Geldgeber für die Weltraum-Siedlungsprojekte zu finden. Dazu organisierte u.a. die Kölner Universität 1987 mit Unterstützung namhafter Sponsoren aus Politik und Wirtschaft für ihn einen Kongreß zum Thema „Weltraum als Markt – Die zivile Nutzung des Weltalls“. Im Jahr darauf lud ihn die Techische Universität Berlin zu einem ähnlichen Thema ein.

Die taz schrieb über seinen Auftritt in der TU: „‚Wir möchten auf die Europäer nicht mehr länger verzichten‘, erklärte der NASA-Projektleiter Jesco von Puttkammer. Der in den USA eingebürgerte Freiherr entwarf mit Hilfe von »Ektas« und Overhead-Projektion eine Vision der ‚Humanisierung des Alls‘, in der altes deutsches Ingenieurdenken, amerikanischer Pioniergeist und New Age-Begrifflichkeit – ‚Netzwerkdenken‘ – einen tibetanischen Gebetsmühlen-Charakter annahmen. Den Einwänden der „Ökos“ hielt er entgegen, ihr Denken sei noch im 19. Jahrhundert behaftet, man habe es nunmehr – in der Verbindung von Technik und Gesellschaft im Weltraum, „Natur ist ja schon da“ – mit einer „Super-Ökologie“ zu tun. Den Feministinnen kam er zuvor: Auch deren Interessen seien bei den Space-Missions bestens aufgehoben. Die Gewerkschafter beruhigte er mit dem Hinweis: ‚Für den Bau der Großraumstation seien jetzt schon 12.000 Arbeitsplätze in Kalifornien entstanden‘. Den um ihre Sicherheiten besorgten Investoren kam er mit der US-Regierung, die sich auf Folgendes festgelegt hatte: ‚1. Verpflichtung und nationaler Wille zur Raumstation, 2. Expansion über die Erdorbits hinaus, 3. Schaffung von Opportunitäten für US-Firmen im All‘.“

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Zwei junge Kosmonauten im Prenzlauer Berg.

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Einen Monat später hielt Timothy Leary im Westberliner Tempodrom einen Vortrag zum selben Thema – „Space Emigration“. Die Ostberliner Popsängerin Nina Hagen wollte daraufhin sofort die Erde verlassen. Als „die Mauer fiel“ gab es jedoch auch hier auf Erden plötzlich genug Abenteuerliches. Die NASA-Weltraumprogramme gerieten darüber fast in Vergessenheit, zudem schrumpfte auch noch die sowjetische Kosmosforschungsprogramme in Baikonur mangels finanzieller Unterstützung immer mehr zusammen. Dort wurden die Raketenflüge zum Teil bereits von internationalen Tabakkonzernen bezahlt – und mußten dafür mit Werbung für die Zigarettenmarke „West“ in den Orbit starten, die ein westdeutscher Punksänger und Maler auf den Raketenkörper malte. Danach zahlte Pepsi Cola fünf Millionen Dollar dafür, dass die noch im All auf der sowjetischen Raumstation MIR verbliebenen Kosmonauten außerhalb ihrer Station eine Pepsi-Dose schweben ließen. Etwas später startete eine russischen Protonrakete von Baikonur aus mit dem Logo von „Pizza Hut“. Mike Rawlings, Chef der weltweit größten Kette von Pizza-Restaurants erklärte dazu: „Wir wollten ein mythisches Symbol, um der Welt zu zeigen, dass unser 41 Jahre alte Pizza Hut Brand revitalisiert wird und mit einem schwindelerregenden Wachstum ins neue Jahrtausend eintritt…Das ist nur ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer Sprung für unsere Erneuerung von Pizza Hut.“ Immerhin werde man 500 Millionen Dollar investieren, um die Restaurants umzubauen und um das neue Image der Öffentlichkeit in einer Werbekampagne zu vermitteln. Die Bemalung der Rakete kostete erst einmal eine Million Dollar.

Florian Rötzer meinte dazu in seinem Internetmagazin „telepolis“, die Kampagne zeige, „dass nun der Weltraum offen ist für die Kommerzialisierung. Vielleicht wird die Raumstation ja tatsächlich zu einem Werbeträger, und wahrscheinlich hofft auch die NASA, mehr Gelder über Werbung zu erhalten. Pizza Hut hat jedenfalls noch weitere Anschläge auf die Aufmerksamkeit vor: Wenn eine Sojus-Rakete die ersten drei Amerikaner auf die sowjetische Raumstation bringt, wird dort die erste Pizza-Party im Weltraum stattfinden. Da Lebensmittel im Weltraum anderes schmecken würden, werde man auch eine neue Weltraumpizza kreiieren: ‚Pizzas sind das beliebteste Nahrungsmittel auf der Erde – und jetzt wird die Pizza von Pizza Hut zum beliebtesten Nahrungsmittel im Weltraum werden‘.“

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Ein „Rocket-Boy“ in Buxtehude.

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Trotz solch kosmischem Optimismus fehlte auch dem amerikanischen Programm seit dem Zerfall der Sowjetunion schon bald der Schwung – und das Geld. Lustlos wurden privatwirtschaftliche Kooperationen vereinbart und reiche Touristen mit preisgünstigen Angebote in den Weltraum gelockt – “just for fun”. 1998 war diese immer offensichtlicher werdende systemübergreifende Krise bereits in dem Dokumentarfilm des polnischen Regisseurs Maciej Drygas: “Der Zustand der Schwerelosigkeit” von drei ehemaligen sowjetischen Kosmonauten diskutiert worden. K1 meinte damals: “Die Zeit von Gagarin – das war großartig. Die ganze Nation war begeistert. Es ist uns gelungen. Wir sind die ersten!” K2 ergänzte: “Jetzt wollen die Leute dagegen, dass etwas Nützliches bei der Weltraumforschung herauskommt”. K3 präzisierte daraufhin: “Wir haben unser Hauptproblem nicht gelöst. Wir können in den Weltraum fliegen, dort arbeiten und wieder zurückkehren, aber wir haben keine natürliche menschliche Betätigung im Weltraum – im Zustand der Schwerelosigkeit – gefunden. Bis jetzt haben wir keine produktive Tätigkeit dort oben entwickeln können. Ich empfinde das als persönliches Versagen”.

2001 wurde die sowjetische Raumstation MIR (Dorf, Welt, Frieden auf Russisch) mit einem „kontrollierten Absturz“ sozusagen vom Himmel geholt. Am 21. April 2001 jährte sich auch Juri Gagarins Weltraumflug zum 40. Mal. Aus diesem Anlaß trafen sich die Freunde der sowjetischen Kosmosforschung im Berliner Haus der russischen Kultur. Ihr Treffen wurde „überschattet vom Ende der Raumstation Mir”, wie es in den Hauptstadt-Medien hieß. Der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn wünschte der MIR einen gelungenen „Absturz”, begrüßte ansonsten jedoch ihre internationale Nachfolgerin ISS, weil solche Stationen als “Objekt des Stolzes” für die einzelnen Nationen inzwischen zu teuer geworden seien.

Auch Alexander Kaleri war nach Berlin gekommen. Er hatte im Jahr davor, am 15. Juni als Letzter oben in der MIR das Licht ausgeknipst – und den Autopiloten angeschaltet. Jähns damaliger Kopilot Waleri Bykowski hielt statt einer Rede, die er in Moskau vergessen hatte, eine Eloge auf Gagarin – “den Träumer und strengen Ausbilder”. Dessen Autobiografie war kurz zuvor auf Deutsch im Elbe-Dnjepr-Verlag erschienen. Mit Gagarin wurde – folgt man dem Philosophen Emmanuel Lévinas – endgültig das Privileg “der Verwurzelung und des Exils” beseitigt. Man könnte auch sagen: Seit Gagarins Weltraumflug gilt die einstige jüdische “Juxtaposition” für jeden und niemanden mehr. Hinzu kommt, dass in der sowjetischen Kosmonautik die Psychoanalyse überlebte, d.h. jeder Kosmonaut hatte – wegen seiner irren Träume dort oben, über die auch Siegmund Jähn einmal ausführlich berichtete – neben dem Ground-Control-Diensthabenden noch einen Psychoanalytiker am Boden. Mit Lévinas kann man das damit erklären, dass diese letztmalige “Verführung des Heldentums” sich nur “jenseits der Infantilität” verwirklichen läßt. Heldentum und Heimweh sind für ihn die zwei Seiten ein und derselben Wiederentdeckung von “Welt und Kindheit”.

Auf Deutsch erschienen dann – ebenfalls im Elbe-Dnjepr-Verlag – auch noch die fünfbändigen Memoiren des stellvertretenden Leiters des sowjetischen Raketenbau-Programms: Boris E. Tschertok. An einer Stelle heißt es darin, dass trotz wiederkehrender antisemitischer Direktiven von oben (gegen die Kosmopoliten z. B.) „die Juden in der Verteidigungs- und in der Atomindustrie von Stalin und Berija nicht nur gelitten, sondern talentierte Juden sogar beschützt wurden. Sie wurden fast genauso bewacht wie Mitglieder der Regierung.” Tschertok legt nahe, dass auch hinter dem Weißrussen Gagarin viele jüdische Forscher und Techniker standen, dass also auch die Weltraumforschung eine “jüdische Wissenschaft” war, mindestens in der Sowjetunion.

Der amerikanisierte Schweizer Adlige Jesco von Puttkamer wurde 2004 an der Realisierung des Mond/Mars-Langfristprogrammes der NASA beteiligt, das vom damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten George W. Bush initiiert wurde. Ab 2007 war er im „Office of Space Operations“ (OSO) in führender Stellung mit der neuen, diesmal „internationalen“ Raumstation „ISS“ (die von den Amis zunächst als militärische Station geplant war) befaßt. Die Pläne für eine große, internationale Raumstation gehen bis in die 1980er Jahre zurück. „Die Station war damals noch unter den Namen Freedom bzw. Alpha in Planung. Die ISS befindet sich seit 1998 in Bau und ist zurzeit das größte künstliche Objekt im Erdorbit. Sie kreist aktuell in ca. 400 km Höhe und soll mindestens bis ins Jahr 2020 betrieben werden,“ heißt es auf Wikipedia.

Ich schrieb 2009 in der taz: „Dass der Tod von Michael Jackson (“Moonwalk”) und das Jubiläum der ersten Mondbegehung (durch den Astronauten Armstrong) zusammenfallen, ist natürlich ein schöner Zufall, aber dass die Medien sich seit Tagen wegen dieses “kleinen Schritts” auf dem Mond überschlagen ist mehr als dämlich.“ In der NZZ hieß es zuvor: “Die Gründe für das wiedererwachte Interesse am Mond sind vielschichtig. Neben dem Ringen um die Vormachtstellung im Weltraum spielen handfeste wirtschaftliche Interessen – Stichwort Bodenschätze – eine Rolle. Auch die Wissenschaft meldet sich zu Wort und verweist darauf, dass der Mond trotz den Apollo-Missionen immer noch Rätsel aufgibt. Es wird sich zeigen, ob Obama auch in der Raumfahrtpolitik neue Akzente zu setzen gedenkt. Dabei geht es nicht primär um die Frage, ob man zum Mond fliegen soll oder anderswohin. Entscheidend ist vielmehr, ob es Obama gelingt, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, die auf breite Zustimmung stösst. Denn ohne gesellschaftliche Geschlossenheit rückt im Weltraum jedes Ziel in weite Ferne – ob es nun Mond, Mars oder anders heisst.“

Es geht also um “gesellschaftliche Geschlossenheit” – deswegen das ganze Mediengedröhne, auch in Europa: „So wäre die europäische Raumfahrtbehörde ESA ohne die Nasa kaum in der Lage, ihre Pläne für eine bemannte Mission zum Mond zu verwirklichen,” schreibt die NZZ.

Jesco von Puttkamer wurde 1996 die Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber von der Universität Saarbrücken verliehen. Von 1983 bis 2000 war er als Honorarprofessor an der TH Aachen tätig (noch in der letzten Novemberwoche 2012 hielt er dort laut Wikipedia als Honorarprofessor Vorträge vor Studenten). 2009 veröffentlichte er das Buch „Abenteuer Apollo 11: Von der Mondlandung zur Erkundung des Mars“ und in seinem letzten Lebensjahr wie erwähnt sein Vermächtnis: „Projekt Mars“.

Von diesem Planeten aus war 2008 von der Marskamera einer Raumsonde ein Datenstrom zur Erde gelangt, dessen Auswertung „Sensationelles“ zutage brachte: „Nicht der Mensch ist das erste Lebewesen auf dem Mars, sondern eingefrorene Bakterien“: Diese sind nämlich mit Raumsonde „Phoenix“ auf den roten Planeten gelangt, sagen manche Forscher. Sollte sich der Rote Planet erwärmen, könnte dort Leben erwachen. Dies würde den Weg für den Menschen ebnen, hieß es in der „Welt“:

Phantasien wie die etwa von Jesco von Puttkamer werden mit den Erkenntnissen von Phoenix ein kleines bisschen realistischer. Müssten doch die von ihm angedachten Siedlungen auf dem Mars ‚die Nabelschnur kostspieliger Nachschubtransporte von der Erde auf ein Minimum reduzieren‘, meint der Marsexperte und Chefvisionär der Nasa; es gelte, die ‚Verwendung lokal gewinnbarer Rohstoffe und ein Treibhaus für die Eigenerzeugung agrarischer Produkte zum Grundstein ständiger Besiedlung zu machen‘.

Von Puttkamer der Anfang der 60er Jahre zum Team Wernher von Brauns stieß und mit ihm die Saturn-Rakete für die Apollo-Missionen zum Mond baute, will nun weiter hinaus. Für ihn ist es ein kultureller Prozess, zum Mars aufzubrechen, der zum genetischen Programm des Menschen gehöre, ähnlich wie die Reise des Kolumbus. Er denkt deshalb an Projekte in noch fernerer Zukunft als jene in 25 Jahren mit den ersten ‚Mars-Menschen‘, er sieht den Mars als ‚Heimstätte für einen echten Ableger der irdischen Zivilisation, nicht lediglich einen Außenposten für wissenschaftliche Forschung und Bergbau wie den Mond‘. Natürlich werde die ‚zunehmende Abnabelung von der Erde‘, die er mit der kolonialen und nachkolonialen Geschichte Amerikas vergleicht, ‚viele Generationen dauern‘. Währenddessen aber könnte reger Außenhandel laufen: ‚Mars müsste spezialisierte High-Tech-Produkte, Luxuswaren und nicht örtlich vorkommende Rohstoffe importieren, und sein Export bestünde aus eigenen Gütern oder auch aus den in jeder Pioniergesellschaft frischer sprießender Ideen, Erfindungen und Neuerungen, wie es das Amerika des 19. Jahrhunderts gegenüber der ‚Alten Welt‘ demonstriert hat.‘

Für solch ferne Zukunftsmusik sind gute Nachrichten vom Mars deshalb besonders bedeutsam, weil er auf absehbare Zeithorizonte der einzige Planet ist, der solche Gedankenspiele erlaubt. Ansonsten bietet unser Sonnensystem außer dem sonnennahen und schwer zu erreichenden Merkur sowie der glühend heißen, giftigen, unwirtlichen Venus nur Welten aus Gas. Planeten anderer Sonnensysteme wären mit heute denkbarer Technik nur in Jahrtausende langen Reisen erreichbar. Der Mars dagegen wäre schon in den 80er Jahren von Menschen betretbar gewesen, mit Fortentwicklungen der Apollo-Technik aus der Mondfahrt. Davon sind die Nasa-Experten heute überzeugt.

Zurück zu Jesco von Puttkamers „Vision“ einer Koloniegründung auf dem Mars: Sie ist erst einmal zurückgestellt – so lange bis die Existenz von Leben in seinen Anfängen, in Form von Bakterien, geklärt ist. Danach, d.h. wenn es sie dort gab oder gar noch gibt, dann wird man die Frage zu klären haben, ob man dort mit ihnen leben kann. Mit den irdischen Milchsäurebakterien der Gattung Carnobacterium haben wir bereits eine lange Zeit des Zusammenlebens hinter uns – sie sind für uns „nützlich“ bei der Herstellung verschiedener Lebensmittel.

Hienieden auf Erden wurde derweil – seit 1991 bereits – eine Art Marskolonieleben – simuliert: mit dem Projekt „Biosphäre 2“: Ein 1991 für 200 Millionen Dollar erbauter Gebäudekomplex in Arizona, mit dem Ziel, ein von der Außenwelt unabhängiges, in der ursprünglichen Planung sich selbst erhaltendes Ökosystem zu schaffen. Das Experiment sollte beweisen, dass in einem eigenständigen, geschlossenen ökologischen System Leben langfristig möglich ist. Es gilt jedoch nach zwei erfolglosen Versuchen erst einmal als gescheitert. Wikipedia schreibt: „Der technische Aufwand (Pumpen, Filtersysteme, Ventilatoren) dabei war erheblich, da ein komplettes und autarkes Lebenserhaltungssystem geschaffen werden sollte. Die diesbezügliche Verwirklichung von Langzeitreisen im Weltraum oder Weltraumkolonien war als Fernziel ebenfalls Gegenstand des Experiments. In den verschiedenen Biotopen Lebensräume, in denen Lebewesen leben können) wurden außerdem ca. 3800 verschiedene Tier- und Pflanzenarten angesiedelt.

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Das amerikanische Haus in Arizona: Biosphäre 2

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Acht Teilnehmer lebten bis 26. September 1993, genau 2 Jahre und 20 Minuten in dem Glasgebäude mit dem Ziel, vollständig von allen Außenkontakten (Luft- und Materialaustausch) abgeschlossen zu sein, außer vom natürlichen Sonnenlicht und zugeführter elektrischer Energie.

Im Laufe der Zeit ergaben sich Zustände, die das Leben der Bewohner sowie der anderen Lebewesen zunehmend beeinträchtigten. Beispielsweise ergaben sich aus ökologischer und sozialer Sicht folgende Probleme:

  1. Der in der Konstruktion verbaute Stahlbeton absorbierte schleichend (über den Umweg CO2 im Pflanzenkreislauf) Sauerstoff. Auch diffundiert Sauerstoff wesentlich schneller aus einer Glaskuppel als Kohlenstoffdioxid, da es ein wesentlich kleineres und leichteres Molekül ist.

  2. Parasitäre Mikroorganismen im Ackerboden erhöhten die Anteile von Stickstoff bzw. Kohlendioxid in der Atmosphäre.

  3. Kakerlaken und eine spezielle Ameisenart (Gelbe Spinnerameisen) breiteten sich extrem aus.

  4. Eine zweite Gruppe hielt sich 1994 über sechs Monate lang in der künstlichen Biosphäre auf. Während dieser Zeit wurden mit wenigen Ausnahmen die Luft, das Wasser und die Nahrung für die in ihr befindlichen Menschen von den Ökosystemen erzeugt und wieder aufbereitet. Aber nicht das soziale Miteinander: Sie zerstritten sich. Die Einrichtung befindet sich seit 2002 wieder im Besitz des Erbauers, des Öl-Milliardärs Edward Bass. Die Universität von Arizona wünschte, sie von ihm zu pachten und zur Erforschung der Globalen Erwärmung zu nutzen, woraufhin sie der Uni kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Seit 2012 offeriert die Uni Besichtigungstouren zu Biosphäre 2.

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Das russische Haus für Kultur und Wissenschaft in Berlin.

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Das Russische Haus in Berlin, das von einer ehemaligen Kosmonautin geleitet wurde, lud einen amerikanischen Kollegen ein, den Astronauten Charles Duke und seine Ehefrau Dotty. Den beiden ging es primär um ihren Gottesbeweis. “Charlie” leitete den Vortrag mit seinem Spaziergang auf der dunklen, “erdabgewandten Seite des Mondes” und seiner anschließenden Ehekrise ein: “Wenn ich zu Hause war, gab ich meinen Kindern Befehle, als wäre ich ein General, der ich auch tatsächlich war.” Dotty wurde derweil immer depressiver: “Als er vom Mond zurückkam, hatte er sich nicht geändert!” Dazu konnte man für 2 Euro ein Büchlein von ihr erwerben: “Die Gattin eines Astronauten – Von der Traurigkeit zur Freude”. Ihr Mann ist inzwischen Priester in Texas, sein Geld verdient er als Bierhändler – wobei er einer seiner besten Kunden ist, wie der Berliner Kurier schrieb.

Ich unterhielt mich anschließend noch mit dem letzten – ebenfalls religiös gewordenen – US-Kommandanten des Spandauer Kriegsverbrechergefängnisses Eugene K. Bird, der in einem von Albert Speer im Knast entworfenen Haus in Dahlem lebt und Vertreter für Ofenrohrreiniger ist. Er meinte, Martin Bormann habe nach dem Krieg für den CIA gearbeitet und wäre erst 1992 in Argentinien gestorben, einer seiner Söhne sei von Walter Scheel adoptiert worden, und Rudolf Hess, der zuletzt ebenfalls zum Christentum zurückfand, sei von den Westalliierten im Spandauer Gefängnis ermordet worden, was man anschließend mit Sekt gefeiert habe. Der Nazismus, der Wahn von der Überlegenheit der weissen Rasse, sei im übrigen nicht tot, sondern lebe in Amerika weiter.

Vor allem der Wahn von der Überlegenheit des christlichen Gottes – z.B. gegenüber dem Mondgott “Trival” der Fulbe in Burkina Faso. Immerhin hat dieser noch jeden Ami-Astronauten, der den Mond betrat, durchknallen lassen: Der größenwahnsinnige Ed Mitchell (Apollo 14) behauptet seitdem, Außerirdische hätten ihn zu einem “Guru” ausgebildet. Der Astronaut Jim Irwin (Apollo 15) suchte danach die Arche Noah auf dem Berg Ararat und wurde Wanderprediger. Der Alkoholiker Edward Aldrin (Apollo 12) vergnügte sich oben angeblich mit “Weltraum-Groupies” und schreibt seitdem Sciene-Fiction-Pornos. Der “erste Mensch auf dem Mond” – Neil Armstrong – unterstützte zuletzt die beiden Bush-Präsidenten. Der Astronaut Alan Bean malt seit seiner Rückkehr auf die Erde ununterbrochen den Mond.

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Als den Astronauten das Rauchen unter dem Sauerstoffhelm  noch nicht verboten war.

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Für die Verfilmung des amerikanischen Peenemünde-Romans „Die Enden der Parabel“ von Thomas Pynchon durch den Regisseur Robert Bramkamp, der seine Doku-Fiction dann „Prüfstand 7“ nannte, interviewte ich die einstige „Peenemünderin“ Ruth Kraft, die es nach 1945 in der DDR zu einer Bestsellerautorin brachte.

Die Autorin hatte als technische Rechnerin im Windkanal des aerodynamischen Instituts der Heeresversuchsanstalt gearbeitet und diese Erfahrung nach dem Krieg zu einem Roman „Insel ohne Leuchtfeuer“ verarbeitet, der 1959 im Verlag der Nation erschien. Das Buch wurde bis zum Ende der DDR 23mal wiederaufgelegt und insgesamt über 500 000mal verkauft. 1991 gab es der ehemalige kaufmännische Geschäftsführer des Verlags in seinem eigenen Verlag, Vision, neu heraus.Zwar haben viele “Peenemünder” über ihre damalige Pionierarbeit Buch geführt: erwähnt seien Walter Dornberger (von der Autorin “der General” genannt), und sein Direktor, Wernher von Braun (“der Doktor”) – aber Ruth Kraft ist die einzige Frau, die dabei auch noch im Gegensatz zu den männlichen Autoren, bewusst Fakten und Fiktion vermischte.

Ihr autobiographischer Roman wurde in der DDR, wenigstens anfänglich, vor allem von Frauen gelesen.”Das Buch war sofort ein Knüller, weil zuvor noch niemand über das Thema geschrieben hatte.”
Gleich bei ihrer ersten Lesung in Wolgast wurde Ruth Kraft von einer Mathematiklehrerin angesprochen: “Das war die in dem Roman gewesen, die den spitzen Schrei unter der Dusche ausgestossen hatte. Sie war mir aber nicht böse. ,Aber was du mit dem Buch hier [unter den ehemaligen ‚Peenemündern‘] angerichtet hast . . .’, meinte sie.”

Damals wurden gerade in den Arbeitsdienstlagern Maedchen mit Abitur fuer die Heeresversuchsanstalt rekrutiert. Obwohl ohne Abitur stellte die dortige Personalstelle Ruth Kraft aufgrund ihrer guten Mathematiknoten am 1. Maerz 1940 ein. Sie blieb drei Jahre und lernte dabei einige hundert Leute kennen: “beruflich und auf geselliger Ebene. Aspekte, die mir spaeter die ganze Chose am deutlichsten darzustellen schienen, habe ich mir jeweils aus verschiedenen Personen rausgesucht. Wir lebten dort sehr freizuegig und in herrlicher Landschaft. Es bildeten sich Freundeskreise. Viele Maenner, Ingenieure und Wissenschaftler, waren ja Junggesellen und meist vier bis sechs Jahre aelter als die Maedchen. Die Spitzen der Unverheirateten wohnten “Am Platz” – Wernher v. Braun z.B. und sein Stellvertreter Eberhard Rees, ebenso die Erprobungsflieger, zu denen gelegentlich auch Hanna Reitsch gehörte. Am Platz befand sich auch das Kasino, das war unser Treffpunkt.Ein Grossteil ihres Buches befasst sich mit den Liebesabenteuern der freiwilligen und dienstverpflichteten Mädchen – auf Partys, Segeltoerns in den Greifswalder Bodden, Ausflüge zum Festland und Rendezvous am Strand.

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Der russische Weltraumfilm „Wysow“ von Wladimir Kaminer

Am Anfang war Tom Cruise. Er wollte den ersten Film im Weltall drehen, zu diesem Zweck kam er mit seinem Filmteam nach Russland und nahm Kontakt mit dem Direktor von „Roskosmos“, der Weltraumorganisation der russischen Föderation, auf. Er ist in Russland ein gern gesehener Gast. Putin mag ihn, wie er kleine schlaue Männer mag, die angstfrei agieren. Der Schauspieler suchte eine passende Rakete für seinen Actionfilm, die ihn und sein Filmteam samt Ausrüstung weit genug ins Weltall schießen könnte. Der adrenalinsüchtige Cruise ist dafür bekannt, dass er seine Actions ohne Stuntman dreht, wie eine Eidechse auf Felsen klettert, nur mit einem dünnen Seil abgesichert vom Dach des höchsten Hauses der Welt springt, und brennende Autos zu Schrott fährt. Der Mann kann angeblich 6 Minuten lang unter Wasser die Luft anhalten und rückwärts schwimmen. Er hat auch schon in der Schwerelosigkeit eines vom Himmel fallenden Flugzeugs eine Kampfszene gedreht. Angeblich musste die Szene 23 Mal wiederholt werden. Welche Heldentaten hat er für seinen ersten Weltraumfilm geplant? Wollte er ohne Astronautenanzug auf der Kapsel herumschrauben, mit Meteoriten Fußball spielen, Außerirdische k.o. schlagen? Die Möglichkeiten für Actionszenen sind auf einer Raumstation ziemlich begrenzt. Da kann man nicht allzu toll herumspringen. Aus dem Projekt wurde sowieso nichts, Cruise machte einen Rückzieher ohne Angabe von Gründen. Man munkelte, die amerikanische Administration habe dem Schauspieler verboten, mit einer russischen Rakete zu fliegen, das sei eine unpatriotische Kooperation und würde ein falsches Signal in die Welt setzen, so als wären die russischen Raketen den amerikanischen überlegen. Er solle mit einer heimischen Dragon fliegen oder noch besser sein Weltraumabenteuer auf der Erde in einem Hollywood-Studio nachstellen.

Die Russen waren maßlos enttäuscht. Der Direktor von Roskosmos sagte, wenn die Amerikaner so feige sind, dann drehen wir unseren eigenen Film, keinen stumpfen Actionfilm, sondern eine Liebesgeschichte, denn der Kosmos soll kein Schlachtfeld, sondern ein Ort der Liebe sein. Der Plot des Films ( Arbeitstitel: „Die Herausforderung“) darf nicht erzählt werden, ich spekuliere: Einem alten russischen Kosmonauten ist auf der Raumstation schlecht geworden, er hat was am Herzen, sendet einen Notruf und flugs kommt eine junge Ärztin zu ihm hoch, die ihn am offenen Herzen im All operiert. Kaum kommt er wieder zu sich, fangen die beiden an, einander zu mögen. Inzwischen sind die Szenen im Weltraum abgedreht, der Regisseur und die Schauspielerin samt fünf Kameras wurden erfolgreich ins Weltall transportiert und sind zurückgekehrt, drei Kameras sind abgebrannt, zwei geblieben, die Darstellerin landete gesund und munter auf der Erde:

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Die Schauspielerin, eine äußerst attraktive und begabte junge Frau, gab gleich nach der Landung, bereits gut geschminkt, Interviews – darüber, wie anstrengend und herausfordernd die Dreharbeiten waren. Am schlimmsten fand sie, dass man in der Schwerlosigkeit die wichtigsten Sachen nicht bei sich behalten kann, Lippenstift, Tusche, die ganze Kosmetik flog ihr ständig aus der Hand. Sie musste die notwendigsten Sachen mit einem Klebeband befestigen und hinter sich schleifen lassen. Sie klebte die Sachen immer wieder mal an einer und mal an einer anderen Ecke in der Kabine an und vergaß schließlich ihre gesamte Kosmetiktasche im Weltall. „Ich hoffe sehr,“ sagte die Schauspielerin, „dass wir bald den zweiten Teil drehen, ich vermisse meine Kosmetiktasche sehr“.

Natürlich ist der Film schon jetzt der teuerste aller Zeiten. Wenn man den russischen Klatschblättern glauben darf, ist die Schauspielerin die neue Freundin von Roman Abramowitsch, dem russischen Milliardär und Besitzer des Fußballvereins Chelsea. Er habe sich an den Raketenflugkosten beteiligt, behaupten die Klatschblätter. Die Dreharbeiten wurden zur Hauptnachricht des Monats, das Land ist stolz wie Bolle.

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Die Rakete ISS Sojus mit der das Filmteam zur Raumstation flog.

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Countdown statt Klappe. Auch die ISS-Besatzung spielte im Film mit. Von Martha Wilczynski, ARD-Studio Moskau

Bei diesem Flug geht es der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos vor allem um eines: „Nochmals zu beweisen, dass wir die Besten sind. Dass wir auch Nicht-Fachleute nehmen und sie in kurzer Zeit vorbereiten – ihnen die Möglichkeit geben, ins All zu fliegen, sie dort ihre Arbeit machen und ihre Mission erfüllen lassen.“ So erklärt es Anton Schkaplerow, Kommandeur der Sojus MS-19.

Diese Rakete ist pünktlich vom kasachischen Weltraumbahnhof Baikonur zur Internationalen Raumstation ISS aufgebrochen – mit Klim Schipenko und Julia Peresild an Bord, einem Filmregisseur und einer Schauspielerin. Ihre Mission: Den ersten Kinofilm im Weltraum zu drehen.

Rund vier Monate haben sie sich im Trainingslager der Kosmonauten darauf vorbereitet. Schon da habe sie verstanden, dass es ein äußerst schwieriger Dreh werde, erzählte die 37-jährige Schauspielerin, die sich gegen Tausende Bewerberinnen auf die Rolle durchgesetzt hat, vor dem Start. Angst vor dem Flug ins All habe sie aber nicht: „Das Gefühl der Schwerelosigkeit ist ein unglaubliches. Nur die ersten zwei Sekunden fürchtest du dich. Dann begreifst du aber, welche grenzenlosen Möglichkeiten dir das gibt.“

Der Arbeitstitel des Films „Wyzow“ – auf Deutsch: „Herausforderung“ – ist somit genauso zutreffend für die Dreharbeiten. Und auch im Inhalt spiegelten sich die Erfahrungen, die das Filmteam an Bord der ISS machen wird, erklärt Regisseur Klim Schipenko:

Die Grundlage dieses Films ist die Geschichte einer Frau, die mit Raumfahrt nichts zu tun hat – und der angeboten wird, zur ISS zu fliegen. Sie ist Ärztin und soll dort einem Kosmonauten das Leben retten. Also das tun, was sie eigentlich auf der Erde tut – nur unter ihr bisher unbekannten Bedingungen.

Auch die Besatzung der ISS werde sich in den kommenden Tagen auf unbekanntem Terrain bewegen, meint Schipenko: „Die Kosmonauten werden bei den Dreharbeiten helfen und Rollen spielen. Das Drehbuch ist so geschrieben, dass sie zu Schauspielern werden und wir – zu Kosmonauten. Es ist ein kreativer beruflicher Erfahrungsaustausch.“

Mindestens zwölf Tage soll das Filmteam auf der ISS verbringen. Die Dreharbeiten sollen direkt nach dem Andocken beginnen. Auch Kommandeur Schkaplerow, der das Team zur ISS fliegt, wird eine Rolle übernehmen – für ihn der eigentlich interessante Teil dieser Mission.

Herauskommen soll am Ende aber kein großer Blockbuster à la Hollywood, sondern ein „einzigartiges wissenschaftliches und pädagogisches Projekt“, wie es vonseiten der russischen Raumfahrtbehörde heißt. Und zwar eines, das vermitteln soll, dass jeder ins All fliegen könne. Denn auch Russland ist engagiert im Zukunftsprojekt Weltraum-Tourismus.

Bevor es aber soweit ist, ist man erst einmal stolz darauf, nach dem ersten Weltraumsatelliten und dem ersten bemannten Raumflug nun auch den ersten Film vorweisen zu können, dessen Dreharbeiten nicht mit einer Klappe beginnen, sondern mit einem Countdown.

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Ein Millionär, der mit seiner Rakete beweisen will, dass die Erde eine Scheibe ist.

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Zwei Anfragen per mail:

1.Subject: Nigerianischer Astronaut möchte nach Hause. Dr. Bakare Tunde, Astronautics Project Manager National Space Research and Development Agency (NASRDA). Dear Mr. Sir, Anfrage um Assistenz – strikt vertraulich. Ich bin Dr. Bakare Tunde, Cousin des nigerianischen Astronauten Luftwaffenmajor Abacha Tunde. Er war der erste Afrikaner im Weltraum, als er 1979 seinen geheimen Flug zur Weltraumstation Saljut 6 unternahm. 1989 beteiligte er sich am Weltraumflug Sojus T-16Z zur geheimen sowjetischen Militärstation Saljut 8T. Als sich die Sowjetunion 1990 auflöste, strandete er dort. Seine Kameraden, die sowjetischen Kosmonauten, kehrten mit der Sojus T-16Z zur Erde zurück, aber sein Platz wurde von technischem Gerät eingenommen. Es hat gelegentlich Versorgungsflüge gegeben, um ihn am Leben zu erhalten. Sein Gesundheitszustand ist auch in Ordnung, aber er möchte endlich nach Hause. Während der 14 Jahre, die er seitdem da oben verbracht hat, sind16 pt Kosten für die Flüge und andere Ausgaben in Höhe von fast 15.000.000 US-Dollar aufgelaufen. Der Betrag steht im Fonds der Lagos National Savings and Trust Association zur Verfügung. Wir müssen jedoch noch weitere Anstrengungen unternehmen, um diese Schuldsumme bei der russischen Weltraumbehörde zu begleichen, damit er wieder zur Erde zurückkehren kann. Mir wurde gesagt, das werde noch einmal 3.000.000 US-Dollar kosten. Um mit dem Trust weiterzukommen, brauchen wir Ihre Hilfe. Meine Kollegen und ich sind bereit, die gesamte Summe auf Ihr Konto zu transferieren. Weil wir Staatsbedienstete sind, ist uns von seiten des Code of Conduct Bureau (Civil Service Laws) verboten worden, Konten im Ausland zu eröffnen. Überflüssig zu erwähnen, dass wir großes Vertrauen in Sie setzen, wir sind bereit, Ihnen 20 Prozent der zu transferierenden Summe zu überlassen, weitere zehn Prozent sind reserviert für unvorhergesehene Ausgaben (intern oder extern) zwischen den Parteien während der Transaktion. Sie werden hiermit mandatiert, den Auftrag mit den 70 Prozent zu übernehmen. Unsere Bitte ist jedoch, ihn zügig durchzuführen, denn wir sind schon jetzt in Verzug mit der Zahlung, um Abacha Tunde endlich runterzuholen. Freundliche Grüße, Dr. Bakare Tunde, Astronautics Project Manager, http://www.nasrda.gov.ng“ 

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2.Sehr geehrter Herr, wir haben ein ebenso ernstes wie diskret zu behandelndes Anliegen. Zunächst zu meiner Person: Ich bin stellvertretender Kommandant des Kosmodrom Baikonur. Wie Sie vielleicht wissen, unterscheidet sich der sowjetisch-russische „Kosmos“-Begriff vom amerikanischen „outer space“ dadurch, dass ersterer mit der irdischen Lebenswelt „harmonisch“ verbunden ist, während der US-Weltraum so etwas wie eine „new frontier“ darstellt.

Während der „Kaltes Krieges“ gab es eine Art Wettlauf zum Mars. Bereits im Oktober 1960 starteten innerhalb von vier Tagen zwei sowjetische Raketen, die Sonden zum Mars bringen sollten – lange vor den ersten Versuchen der USA. Im Oktober 1962 starte eine zweite sowjetische Rakete zum Mars. Alle drei Versuche scheiterten. Im Westen sorgte 2015 der Plan einer „Marskolonisation“, finanziert u.a. von einer holländische Stiftung, für öffentliche Aufmerksamkeit. Aus einigen tausend Bewerbern wurden 40 Astronauten ausgewählt, die als Pioniere zum Mars fliegen – und dort bleiben sollten, an ihre Rückkehr war nicht gedacht. Aus diesem Unternehmen wurde jedoch nichts. Seitdem hat die „Mars-Eroberung“ die Amerikaner aber nicht ruhen lassen, sowohl in praktischer als auch und vor allem in propagandistischer Hinsicht. Dies hat die Weltraumorganisation der russischen Föderation Roskosmos bewogen, ihre Flüge zum Mars und dessen Erforschung nicht unter die große Glocke zu hängen, wie man im Deutschen sagt. 2018 und 2019 starteten zwei Raketen mit je vier Kosmonauten. Sie brauchten knapp ein Jahr, bis sie zum Mars gelangten. Dort begannen sie ein Basislager zu errichten. Und nun komme ich zu unserem Anliegen.

Die acht Kosmonauten wollen nun und müssen auch – aus einigen technischen Gründen – so bald wie möglich zurück. Dazu müssen erneut zwei Raketen ausgerüstet und zu ihnen geschickt werden. Das Geld dafür ist da, allein, es befindet sich auf Konten im westlichen Ausland – und die sind gesperrt seit der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine. Und wegen dieser Kämpfe sieht sich auch der russische Staat derzeit nicht in der Lage, finanziell auszugleichen. Roskosmos hat aber einen Weg gefunden, wie wir an unser im Westen deponiertes Vermögen herankommen. Dazu brauchen wir Ihre und nicht nur Ihre Hilfe. Sie sollen das nicht umsonst tun, im Gegenteil, für unsere Unterstützer im Westen haben wir eine größere Provisionssumme vorgesehen. Wenn Sie uns grundsätzlich Ihre Mithilfe bei dieser Transaktion zusagen, werden wir Sie mit den Details bekannt machen. Zunächst geht es also darum, Sie zu fragen, ob Sie überhaupt dazu bereit sind. Einer unserer Mitarbeiter wird Sie in den nächsten Tagen kontaktieren, um Ihre Bereitschaft zu erkunden. Freundliche Grüße Sergej Georgijewitsch Panow (Oberst)“

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Juri über uns am Himmel.

 

 

 

 

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