vonlottmann 15.09.2009

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Wer durch das Landesinnere Indiens fährt, mit der dampfgetriebenen Eisenbahn, dem geht es ganz anders als Christian Y Schmidt, der seit drei Jahren im Hochgeschwindigkeitszug durch China saust. In Deutschland stellte er am Wochenende angeblich ein weiteres Chinabuch vor, jedenfalls war das der Plan. Kenner werden es zu schätzen wissen. Sein letztes Buch ‚Allein unrer 1,3 Milliarden Chinesen‘ hat mir jedenfalls sehr gut gefallen und letztlich zu meiner Indienreise angeregt. Schmidt und mich verbindet ein ‚kompromißloser Realismus, der Fakten nicht schönredet und den Mut zu unbequemen Fragen nicht zu scheuen braucht‘ (W&V 02/2009).
Mit der Eisenbahn geht es recht langsam voran. Draussen blühen dafür die Reisfelder. Dreimal jährlich wird geerntet. Gutaussehende Frauen stehen bis zu den Oberschenkeln in den hüfthoch bewässerten Reisfeldern und machen sich an den Ähren zu schaffen (s.a. Silvia Magnani in ‚Bitterer Reis‘). Sie fliehen schliesslich vor neuen Monsunwolken. Man sieht Dörfer, in denen kein einziges Steinhaus steht. Hütten sind stattdessen da, ohne elektrisches Licht, ohne Strom, ja ohne W-LAN Anschluß. Dort könnte ich nicht leben. Christian Y Schmidt auch nicht, der braucht die rund um die Uhr Standleitung zu Holm Friebe.
Im Zug selber hat es nur Männer, wie mein Schweizer Mitreisender Michl Eigner meint. Und es stimmt. Der Zug ist zehnmal länger als ein deutscher ICE, dementsprechend sind auch die indischen Bahnsteige kilometerlang. 79 der 80 Waggons sind Holzverschläge für die dritte Klasse, und ein einziger hat richtige Glasfenster, richtige wenn auch zerfetzte Stoffgardinen, und Air Condition. Ja, wirklich: alte Kühlaggregate, die sie wahrscheinlich aus verschrotteten Kühlschränken geholt haben. Hier gibt es sogar eine Platzreservierung, und mein Fahrer hat das alles arrangiert. Ich habe einen Fensterplatz, mein Fahrer sitzt mit Hühnern und verhungert aussehenden Gestalten in der letzten Klasse. Aber was ich sagen wollte: keine Frauen, auch nicht in der Ersten Klasse. Frauen sieht man auch niemals abends. Sobald die Sonne untergeht, sind sie verschwunden. Sie haben niemals ‚Spaß’. Dafür hocken die jungen Burschen in Divisionsstärke an jedem Dorfanger. Die verbringen wirklich jedes Wochende, jeden Abend eines heißen, geheimnisvoll funkelnden Sommertages ohne Mädchen! Die sitzen mit ihrem eigenen Geschlecht zusammen, warten auf irgendwas, lachen, haken sich unter, haben die Arme um die Schultern des nächsten gelegt. Die sind nicht schwul, aber sie befummeln sich ständig, und zwar aus dem einzigen Grund, dass sie gar nicht wissen, daß es Mädchen gibt. Sie haben ja nie welche zu Gesicht bekommen. Deswegen denken sie, alle Menschen wären Männer. Später, wenn sie von ihren Eltern verheiratet worden sind, ändert sich das aber.
Indien vom Zug aus, oder vom Auto, vom Taxi, von der Rikscha aus zu betrachten, ist nicht viel anders, als es in Deutschland zu tun. Die Bilder wiederholen sich sehr schnell. Das erste Dorf ist noch aufregend, das zwanzigste schon gar nicht mehr. Überall dieselben Kühe, Fahrräder, Raben, Palmen, Wäschestücke, Wellblechdächer und auf dem Boden liegende Sterbende. Übrigens Raben: Ich mag ja Vögel gern und finde es gut, daß hier alle Vögel dreimal so groß sind wie in Deutschland. Spatzen sind so groß wie Tauben, Tauben so groß wie Raben, Raben so groß wie Adler, und Adler so groß wie eine kleinere Airbus A 320 Maschine. Alle Vögel sind nett, weil frei, und daher unterscheiden sich diese Vögel sonst nicht von unseren. Größer, aber genauso nett. Hält man ein Stück Toastbrot in die Luft, kommt so ein Adler angeflogen, ganz sacht und in mehreren Anläufen beziehungsweise Anflügen, und nimmt dann das Brot im Gleitflug auf. Sehr schön ist das, majestätisch, ganz anders als das hektische Gegrabsche der Affen. Die Affen sind die einzige Enttäuschung im Tierreich hierzulande.
Doch zurück zur Ausgangsthese dieser Expedition, nämlich Westerwelles Rede ‚Indien kommt‘, in der der visionäre FDP-Chef behauptet, die Inder seien ‚verdammt gut aufgestellt‘. Was könnte er damit meinen, und hat er recht? Im Wortsinne kann er es nicht gemeint haben, denn erschreckend viele Inder liegen auf der Straße herum und stehen gar nicht aufgestellt in einer Reihe, allzeit bereit zum Sturm auf den deutschen Markt. Wenn er es übertragen meint, etwa bezogen auf den Automarkt, so muß man sagen, daß die indischen Straßen kein einziges zusätzliche Auto verkraften könnten. Es ist schon jetzt ein einziger Dauerstau, unübersehbare Vehikel aller Art, Rikschas, Fahradlaster, Eselkarren, vorsintlichtliche Schienenfahrzeuge, Vespa-Taxis, zu jeder Zeit. Wo sollte man also die etwa fünf Millionen Neuzulassungen jährlich hintun, die es bräuchte, um Deutschland zu überholen?
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