vonChristopher Suss 05.01.2021

Infrakulturen

Texte mit der Sprache von Kulturen unter der Schallfrequenz des Kanons.

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Seitdem Videospiele auf der medialen Bühne der Arcades prämierten, über Heimkonsolen vom öffentlichen in den privaten Raum gelangten und schließlich weitverzweigte Wurzeln im kulturellen Mainstream schlugen, blühte auch die Kultur des Videospielens stetig auf. Spiele der 80er-Jahre brachten dabei ein Zeitlimit zumeist originär mit und speisten daraus ihre Wirtschaftlichkeit – der Spieler zahlte nicht für das Spiel als Produkt, sondern für eine Zeiteinheit des Spielens.

Diese Mechanik überlebte noch erstaunlich lange in eine Zeit hinein, in der sich das längst geänderte hatte. Titel wie „Ghosts ’n Goblins“ auf dem C64 aus dem Jahr 1985, „Ninja Gaiden“ auf dem NES 1988, bis hin zu „Super Mario World“, das in Europa 1992 erschien, behielten Zeitzähler als Spannungsbogen und Messinstrument des Erfolgs. Heute sind sie zumeist sparsam eingesetzte, oft organisch und nicht numerisch implementierte Einzelfälle.

Minimale Zeit zwischen Start und Ende

Früh in diesem Prozess hat sich in der Kultur des Videospielens oder dem Metagaming eine Community von Spielern entwickelt, die über das Unterschreiten der maximal zur Verfügung stehenden Zeit hinaus eine minimale Zeit zwischen Start und Ende des Spiels anstrebte. Zuanfangs war diese Community teils Deckungsgleich mit den Spieledesignern selbst, John Romero des Studios „id Software“ ist dafür bekannt, diesen Sport nicht nur selbst betrieben, sondern auch seine Spiele wie „Wolfenstein 3D“ schon 1992 so konzipiert zu haben, dass seine Spielerinnen und Spierler dazu ermutigt werden.

Das eng mit der Entwicklung des Internets verzahnte Phänomen fand erste Verbreitung und mit den Websiten „Twin Galaxies“ und „Speed Demos Archive“ nach der Jahrtausendwende seine ersten große Plattformen. Beide werden bis heute betrieben, „Speed Demos Archive“ bezeichnet sich selbst als „nichtkommerzielle Plattform für Speedrunning, einzig der Präsentation von hochqualitativen Speedrun-Videos verschrieben“. Heute wurden sie in weiten Teilen von der mittlerweile milliardenschweren und zu Amazon gehörigen Live-Streaming-Plattform „Twitch“ abgelöst.

Seit der „Twitch“-Ära des Gamings hat sich auch Speedrunning professionalisiert. Längst ist die in Spiele eingebaute Mechanik der Zeitmessung, genannt Ingame-Timer, wegen ihrer relativen Ungenauigkeit von frame-genauen Echzeitmessungen überholt worden, Speedrunnerinnen und Speedrunner sind nach festen Sendezeiten viele Stunden pro Tag on stream, verdienen ihren Lebensunterhalt davon, werden zu Legends oder Gods erhoben.

Schachsport und Wissenschaftsbetrieb

Die Speedrunning-Community als Ganzes und vor allem die Subgemeinschaften, die sich um bestimmte Spiele gruppieren, erinnern in Aspekten an zwei ungleich arriviertere Kulturen: die des Schachs und die des Wissenschaftsbetriebs. Hochkompetitiv, zugleich von meist respektvoller gegenseitiger Anerkennung bestimmt und periodisch von neuen, leider nach wie vor zumeist männlichen und weißen Talenten umgekrempelt, die auf der Suche nach der ultimativen Methode sind.

An der Vorfront aller drei Kulturen stehen Akteurinnen und Akteure, die von sich behaupten können, dass sie nur von einigen wenigen in ihrem Handwerk verstanden werden. Denn auch wenn Speedrunning bis dato viel mehr von Leidenschaft denn von Wirtschaft motorisiert ist, haben sich viele Runs über die Jahre derart halsbrecherisch kompliziert, dass sie darin dem Anschein nach selbst den deftigsten Schachanalysen nahestehen. Die wenigen Aufsätze, die es über Speedrunning seitens eben des Wissenschaftsbetriebs gibt, bilden das illuster ab, wie etwa „The complexity of speedrunning video games“ von Manuel Lafond von der Mathematik-Fakultät der Unversity of Ottowa.

Bis eine Komplexität erreicht ist, wie sie bei den genannten Spielen „Ninja Gaiden“ oder „Ghosts ’n Goblins“ gewachsen ist, vergehen je Spiel oft eher Jahrzehnte als Jahre, in denen nicht selten einige Top Player über lange Strecken davon aktiv und unablässig dazu beitragen, den aktuellen Weltrekord zu verbessern. Eine Aussicht, die für Außenstehende unverständlich bis beunruhigend wirken kann: Jahre mit dem Spielen des selben Videospiels zu verbringen, und das in ewigen selbstähnlichen Zirkeln, die manchmal nicht länger als zwanzig Minuten andauern.

„120-Star is done!“

Für Speedrunner scheint aber genau das der Reiz: einen trivialen Ablauf so zu optimieren, dass nur noch Erstaunen zulässig ist, gerade eine Aufgabe, die Spaß bereiten soll, überernst zu nehmen und fast vollständig zu dominieren. Nur nicht ganz: denn dann wäre das Spiel, die Disziplin done, perfektioniert. Das wird natürlich auch ironisiert. Direkt nach seinem Weltrekord in der „Super Mario 64“-Kategorie 120-Star ruft Runner „Cheese“ aus: „120-Star is done! It’s done!“

Die Kategorien, in denen Runs angetreten werden, vereinzeln die Community eines Spiels noch einmal. Spricht man also von Super Mario 64 120-Star, bezeichnet das einen Speedrun des Spiels „Super Mario 64“. Im Spiel sind die titelgebenden Sterne sammelbare items, die ein Fortschreiten im Spiel möglich machen. 120 davon kann man sammeln bis zum Ende des Spiels, beliebige 70 davon sind Voraussetzung: so jedenfalls die Idee des Entwicklers Nintendo.

Weil „Super Mario 64“ schon seit bald 20 Jahren optimiert wird, wurden längst Mittel und Wege durch Glitches gefunden, davon nur einen Bruchteil oder eben gar keine mehr einsammeln zu müssen, um an das Ende des Spiels zu gelangen. In jedem Spiel gibt es ungewollte Programmierbrüche wie Clipping-Fehler, bei denen der Kollisionsabgleich zwischen Figur und Welt nicht wie gewollt funktioniert und so Mario schon mal durch eine Wand clipped. Dann dauert ein auf wochen- oder monatelangen Spielspaß ausgelegtes Spiel im 0-Star Run dem derzeitigen Weltrekord zufolge 6 Minuten, 32 Sekunden und 150 Millisekunden.

Menschliche Grenzen

Wenn alles erlaubt ist, was die Originalversion des Spiels zulässt – vom clippen durch Barrieren bis hin zu luck manipulation, ein Prozess, bei dem durch vorgesehene Steuerungseingaben oder Wartezeiten nicht unmittelbar vorgesehene Ergebnisse erzielt werden, etwa die Manipulation von spielinternen Werten zur Zufallssimulation – nennt man die Kategorie im Allgemeinen any%. Diese Bezeichnung deriviert sich vom Gegenteil: 100% bezeichnet spielübergreifend einen Run, der alle vorgesehenen Erfolge erreicht, bevor das Spiel zu Ende ist.

Gut optimierte Any%-Runs basieren in der Regel auf tiefgehendem Wissen des Spiels auf der Ebene der Programmierung. Codes und Werte, die für den Spieler „von vorne“ nicht zugänglich sind, werden durch Drittsoftware oder langwierige Experimente eruiert und für einen Run nutzbar gemacht. Manchmal nur um ein paar Millisekunden herauszuschlagen, die von einem neuen Weltrekord trennen.

Die Grenzen sind dann einzig durch die Kenntnis über das Spiel und die Ausführung durch den Runner gesetzt. Tool-assisted speedruns oder kurz TAS dagegen streichen selbst noch letzteres Element. Über einen Emulator zerlegen TASer das Spiel in Abschnitte, spulen vor und zurück, verlangsamen und manipulieren zwar innerhalb des Maschinen-, aber außerhalb des Menschenmöglichen.

Solange TAS-Runs als solche gekennzeichnet sind, gelten sie keineswegs als betrügerisch oder direkte Konkurrenz, vielmehr macht ihre Programmierung wiederum eine eigene Disziplin auf, die sich mit von Menschen in Echtzeit performten Runs gegenseitig befruchtet. Werden solche Tools oder beispielsweise Splicing, das Zusammenschneiden von einzelnen Segmenten zu einem angeblich in einem Zug erspielten Video aber für die gängigen Speedrun-Ranglisten eingereicht, wird das als cheating geahndet wie im klassischen Sport das Doping.

Moderatoren und andere Runner treten im Verdachtsfall als Experten auf und ziehen videoforensische Methoden heran, um solche Beweise zu führen. Handelt es sich um einen Weltrekord, stecken entsprechende Arbeitsgruppen meist gänzlich ehrenamtlich viele Stunden in die Ermittlungen.

Auch hier bleiben also Ähnlichkeiten zum Schachsport, der sich seit Längerem in das Digitale verlagert und in dessen Community in diesem Zug immer neue, technische und organisatorische Methoden und handfeste, bittere Skandale aufkommen.

Sport oder Performance?

Es bleibt die Frage: Ist Speedrunning ein Sport? Oder ist es im Zeitalter von „Twitch“-Streams zu einer Form von Performance Art oder Entertainment geworden? Runner „Arcus“ lässt täglich viele Stunden als Cowboy verkleidet einen 8-Bit-Ninja durch die selben sechs Akte springen, am Wochenende macht er noch postironischer „Burrito-Speedruns“ und bringt es dabei auf unter 14 Sekunden pro Tortilla. Die meisten Streamerinnen und Streamer haben eigens oder von Fans kreierte Animationen, um bestimmte Ereignisse zu untermalen oder sogar wiederum in den Stream integrierte Browserspiele.

Angesichts der bisherigen Geschichte von Speedrunning und dem Feldzug des Genres in den Gaming-Mainstream lässt sich vermuten, dass es in der Community eine Verschiebung vom rein Sportlichen hin zum Performativen gibt. Die Sprache der Gruppen jedenfalls wurde mit den Jahren immer komplexer und lässt sich selten auf Anhieb verstehen: Worum es sich bei einem Infinite Stairs Skip handelt und dass dafür ein Backwards Longjump nötig ist, kann sich nur erschließen, wer „Super Mario 64“ chronologisch und mechanisch gut kennt.

Während ohnehin zu allermeist in englischer Sprache über Speedrunning gesprochen wird, hat die Flut der Anglizismen, mit denen man es andernfalls zu tun bekommt, auch noch einen zusätzlichen Nutzen: Es wird angezeigt, dass es sich um einen Fachausdruck handelt, wenn sie auftauchen. Und das tun sie heute auch bei den neuesten Titeln munter weiter. Oft gilt: Wer eine Strategie entdeckt, benennt sie auch. Auch in diesem Punkt ähnelt die Community dem Wissenschaftsbetrieb.

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