Als Gründungsmoment der Anonymen Alkoholiker in Deutschland darf ein Nachmittag 1953 im Münchner Hotel Leopold gelten. In der Süddeutschen Zeitung wurde das kurz vermerkt: „Die Vereinigung Alcoholics Anonymous hält morgen, 14 Uhr, im Hotel Leopold ihre erste Versammlung ab“, hieß es dort. Die amerikanischen GIs, in deren Heimat die Vereinigung schon seit bald zwei Jahrzehnten existierte, brachten einer Minderheit interessierter deutscher Besucher ein „Programm zur Genesung“ vom Alkoholismus nahe.
Akron
Die Idee der Heilung von Sucht durch spirituelle Praxis mag älter als das 20. Jahrhundert und eher im Orient als im Okzident zu suchen sein – den Zündfunken für Alcoholics Anonymous gab aber kein für die westliche Geistesgeschichte geringerer als Carl Gustav Jung. Der eröffnete seinerzeit einem seiner Patienten, dieser sei ein hoffnungsloser Typ Alkoholiker, der sich aus medizinischer und psychiatrischer Sicht keine Hoffnungen mehr auf erfolgreiche Therapie machen könne. Jung soll ihm mitgeteilt haben, einzig eine tiefgreifende spirituell-religiöse, moralpsychologische Konversion könne ihn noch retten.
Der Patient erfuhr im Anschluss einen solchen Lebenswandel, der ihn abstinent hielt, und berichtete das dem ebenso hoffnungslosen Bill Wilson, einem Broker aus Akron, Ohio. 1938 gründete Wilson zusammen mit Robert Smith die erste Alcoholics-Anonymous-Gruppe nach dem Vorbild der „Oxford Group“, einer lutheranisch-christlichen Vereinigung. Sie waren bestrebt, diese Art der Genesung für mehr Alkoholiker möglich zu machen. Das Big Book, im deutschsprachigen Raum ebenso prosaisch als Blaues Buch bezeichnet, schrieb er ein Jahr später, um noch mehr Mitleidende zu erreichen.
Die „sechs Schritte“ der Oxford Group, eine Methode zum spirituellen Wachstum, verdoppelte er darin auf biblische Zwölf. Das Buch lief unter dem vollen Titel „Alcoholics Anonymous: The Story of How More Than One Hundred Men Have Recovered from Alcoholism“ und lieferte sowohl eine Lesart des Alkoholismus als spirituelle Krankheit als auch eine Anleitung zur Genesung (nie: Heilung) davon. Zuvor war Wilson seinen Angaben nach ein Atheist oder Agnostiker, wie sie heute wohl im globalen Westen ungleich zahlreicher sind. Bei denen „das Wort Gott […] eine gewisse Antipathie weckt“.
In „Bills Geschichte“ schreibt er: „Dieses Gefühl verstärkte sich bei dem Gedanken, dass es einen mir nahestenden Gott geben sollte. Mir lag dieser Gedanke nicht. Für Begriffe wie schöpferische Intelligenz, allumfassender Geist oder Naturgeist konnte ich mich begeistern, aber ich widersetzte mich dem Gedanken an einen Herrscher im Himmel, wie liebevoll seine Herrschaft auch immer sein mochte.“ Durch das Gespräch mit Jungs Patienten wurde er aber schließlich davon überzeugt, dass „Gott für uns Menschen da ist, wenn wir ihn wirklich wollen.“¹
Das Konzept war so erfolgreich, dass die amerikanische Presse und Medizinerinnen und Mediziner bald davon sprachen, ein neues Kapitel in der Therapie des Alkoholismus sei aufgeschlagen worden. Hunderte Gruppen gründeten und organisierten sich, dann tausende.
Was Chuck Palahniuk viel später in seinem Kultroman „Fight Club“ zur Dystopie verformte, war für zahlreiche Amerikaner und schließlich auch Amerikanerinnen – die in den ersten Ausgaben des Big Books von Bills Frau Lois Wilson nur als Angehörige angesprochen worden waren – in der Kriegs- und Nachkriegszeit nicht nur ein Ort gegenseitigen Verständnisses, sondern auch ein sicherer Hafen vor einer tödlichen Krankheit. Stuhlkreise in nachts unbenutzten Gemeinderäumen, lose Krawatten, Kaffeetassen und Rauchschwaden dürften die zutreffenden Bilder dieser Zeit der Gemeinschaft gewesen sein.
München
Mit den US-amerikanischen Soldaten kamen die A.A., die Zwölf Schritte und die Botschaft, es gäbe Hoffnung für die hoffnungslosesten Trinker, nach München. Ob sie dort mit offenen Armen begrüßt wurden, ist nicht genauer überliefert. Aber dass es im Anschluss laut Zeitzeugenberichten² einige Jahre dauerte, bis das einzige regelmäßige Meeting über eine Hand voll Teilnehmer in einer Privatwohnung hinauswuchs und sich Strukturen der Gemeinschaft etablierten, dürfte nicht nur auf die ökonomischen Zustände des Deutschlands der Nachkriegszeit zurückzuführen sein. Die Idee der Anonymen Alkoholiker blieb eine amerikanisch und evangelikal gefärbte, fremde Idee.
Bis heute stehen die A.A. in Deutschland im Spannungsverhältnis amerikanischer und deutscher Kultur. Irgendwann nach Abzug der amerikanischen Besatzungstruppen setzte sich eine eigene, schlankere Version des Programms durch, die mit den 12 Schritten, die zur Genesung vom Alkoholismus verhelfen sollen, und den 12 Traditionen, die in den 50er Jahren zum Erhalt der Gruppen eingeführt wurden, weniger zentral arbeitet. Diese Gruppen bestehen deutschlandweit noch heute, wie Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Berlin berichten. Sie orientieren sich demnach mehr an verhaltenstherapeutischen Ansätzen als an dem Konzept, das Jung in einem Brief an Wilson später als „spiritus contra spiritum“³ zusammenfasste – Geist (Spiritualität) gegen den Geist (den Weinbrand). Erst mit dem neuerlichen Aufschwung Berlins zu einem Zentrum junger, internationaler Kultur, heißt es, seien wieder vermehrt Meetings nach amerikanischem Vorbild entstanden. Gleichzeitig wird von offizieller Seite deutschlandweit ein „Gruppensterben“ angemahnt.
Körperschaftsmäßig sind die Anonymen Alkoholiker DACH-weit als Verein eingetragen. Gleichzeitig herrscht inhaltliche Fragen betreffend eine Basisdemokratie: Die 4. der 12 Traditionen empfiehlt, „jede Gruppe“ solle „selbstständig sein, außer in Dingen, die andere Gruppen oder die Gemeinschaft der AA als Ganzes angehen“. Ausgehend von der Basis der einzelnen Gruppe wird je ein demokratisch gewählter Dienstvertreter in das Arbeitsmeeting der Region entsandt, der diese angehört. Ein Vertreter oder Sprecher der Region wiederum in eine Intergruppe, die im DACH-Raum teils ganze Länder (Intergruppe 11 – Schweiz) abdeckt, teils einzelne Bundesländer (Intergruppe 1 – Berlin-Brandenburg).
Die Gemeinsame Dienstkonferenz beauftragt schließlich den Gemeinsamen Dienstausschuss und den Verein mit der Umsetzung übergreifender Entscheidungen. Die 9. Tradition stellt fest: „Anonyme Alkoholiker sollten niemals organisiert werden. Jedoch dürfen wir Dienst-Ausschüsse und -Komitees bilden, die denjenigen verantwortlich sind, welchen sie dienen.“ Außerhalb des eingetragenen Vereins soll für diese Arbeit niemand ein Entgelt erhalten, auf Gruppenebene soll jede „von außen kommende Unterstützung“ abgelehnt werden. Vieles davon ist im Handbuch „Dienen in AA“ festgehalten, das seit 1991 erscheint.⁴
„Unser Hauptzweck ist, nüchtern zu bleiben“
Trotz dieses basisdemokratischen Aufbaus, dem Fehlen wachstumsorientierter ökonomischer Ziele sowie eines klaren Anführerkults gibt es einen bis heute lebendigen Diskurs darüber, ob die Anonymen Alkoholiker als Sekte zu bezeichnen sind. In einem A.A.-eigenen Einführungstext heißt es: „Die Gemeinschaft AA ist mit keiner Sekte, Konfession, Partei, Organisation oder Institution verbunden; sie will sich weder an öffentlichen Debatten beteiligen, noch zu irgendwelchen Streitfragen Stellung nehmen. Unser Hauptzweck ist, nüchtern zu bleiben und anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu verhelfen.“
Während sich diese Beschreibung von Ideologien jeder Spielart distanzieren will, lässt sie semantisch doch offen, ob sich die Gemeinschaft selbst als eine dieser Spielarten begreift. Von anderer sprachlicher Herkunft als das englische „cult“, scheint der Begriff „Sekte“ noch genauer eine Beschaffenheit des Andersseins zu bedeuten, was den Duden wohl auch angesichts der stark negativen Konnotation zu zwei Definitionen veranlasst: „1. kleinere Glaubensgemeinschaft, die sich von einer größeren Religionsgemeinschaft, einer Kirche abgespalten hat, weil sie andere Positionen als die ursprüngliche Gemeinschaft betont, hervorhebt. 2. kleinere Gemeinschaft, die in meist radikaler, einseitiger Weise bestimmte Ideologien oder religionsähnliche Grundsätze vertritt, die nicht den ethischen Grundwerten der Gesellschaft entsprechen.“
Das Christentum begann demzufolge als jüdische Sekte und erfüllt abzüglich des Kleinerseins auch heute noch diese erste Beschreibung. Durch ihre historische Abkapselung von der Oxford Group, einer damals größeren Glaubensgemeinschaft, erfüllen wenigstens diese erste Definition auch die Anonymen Alkoholiker. Wenn in deren Literatur auch immer von einem „Gott, wie wir ihn [individuell] verstehen“ die Rede ist, sind religionsähnliche Grundsätze gleichsam durchaus erkennbar.
Dass diese den „ethischen Grundwerten der Gesellschaft“ nicht entsprächen, lässt sich aber kaum behaupten. Zu sehr sind sie eine liberalere Version der heute im globalen Westen dominierenden Grundwerte – eben der christlichen. Soziologie und Religionswissenschaft kennen noch mehr Charakterstika von Sekten, die ebenso teils zutreffend, teils nicht anwendbar scheinen.
Die Selbsthilfeorganisationen „Narconon“ und „Sag Nein zu Drogen – Sag Ja zum Leben“ nehmen in ihren Pamphleten, Flyern, auf ihren Webseiten viele markante Wörter der originär aus A.A. stammenden Sprache auf und versprechen ein „Programm, das funktioniert“, stellen sich hilfesuchenden Suchtkranken vor und proklamieren: „Es gibt eine Lösung“. Hinter ihnen verbirgt sich die in Deutschland schon seit 1997 vom Verfassungsschutz beobachtete Church of Scientology.
Näher besehen konturieren diese Fälle eine mögliche Trennlinie zwischen den beiden Definitionen. Es bleibt nicht nur zu unterstellen, dass der „Hauptzweck“ dieser Organisationen darüber hinausgeht, „anderen zur Nüchternheit zu verhelfen“, sondern auch, dass bestimmte Ideologien vertreten werden, die nicht den ethischen Grundwerten der Gesellschaft entsprechen.
Der weltweite Erfolg von Alcoholics Anonymous jedenfalls lässt sich, obwohl sich jeder Zensus innerhalb der Gemeinschaft schon wegen der namensgebenden Anonymität verbietet, nicht sinnvoll bestreiten. Sowohl vom General Service Office in New York als auch in dritten Quellen wird davon ausgegangen, dass die Mitgliederzahlen spätestens seit den 90er-Jahren siebenstellig sind. Auf der bisher letzten World Convention 2015 beteten Zehntausende davon im ausverkauften „Georgia World Congress Center“ den prägende Gelassenheitsspruch: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
¹ „Anonyme Alkoholiker – Ein Bericht über die Genesung alkoholkranker Männer und Frauen“, Neuausgabe 2009, S. 14.
² Gunkel, Christoph, „Anonyme Alkoholiker in Deutschland – Die einzige Möglichkeit in diesem Scheißleben“, in: Spiegel Geschichte am 01.11.2013.
³ Jung, Carl Gustav, Briefwechsel mit Wilson, Bill, Küsnacht-Zürich 1961, in: AA Grapevine, Januar 1963.
⁴ Gemeinsames Dienstbüro der Anonymen Alkoholiker, „Dienen in AA – Handbuch für die deutschsprachigen Gruppen“, hg. 2018