vonSebastian Goddemeier 26.02.2021

Infrakulturen

Texte mit der Sprache von Kulturen unter der Schallfrequenz des Kanons.

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Mein Freund hakt sich bei mir unter und kurz darauf ruft jemand „Schwul“. Es ist abends und wir spazieren durch Berlin-Neukölln, als wir eine Gruppe Männer passieren, die uns als homosexuell liest – und das kommentiert. Ich verkrampfe und ignoriere die Beleidigung zuerst. Mein Freund hingegen fragt: „Hat der gerade ‚Schwul‘ gesagt?“, ich erwidere: „Vielleicht meinte der nicht uns.“ Weder ich noch mein Freund glauben meiner Verdrängung.

Die geschilderte Szene ist mir so schon überall passiert. In Berlin-Neukölln und in der Kleinstadt Drensteinfurt im Münsterland, wo ich aufgewachsen bin. Als Jugendlicher und als Kind wurde ich „Mädchen“, „Schwuchtel“ und „Arschficker“ genannt. Eine zeitlang hielt ich sogar den Spitznamen „Schwuli“ inne. Nicht nur Schulkamerad*innen nannten mich so, auch deren Eltern. Die Mutter eines Freundes rief mich schlichtweg „Blümchen“ – nicht, weil ich so schön war, sondern weil ich feminin und somit „unmännlich“ war.

Auch wenn ich als Kind nicht verstanden habe, was diese Worte und Namen bedeuten, hatte ich das Gefühl, dass sie dafür da waren, eine Distanz zwischen mir und den anderen aufzubauen. Sie sagten: Du gehörst nicht dazu, du bist anders. Ich lernte: Worte sind eine mächtige Waffe im Umgang mit anderen Menschen. Sie können ein Gefühl der Zugehörigkeit und ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit schaffen. Sie können verletzen und sie können unglücklich machen.

Wir leben in Zeiten, in denen „schwul“ eines der am häufigsten verwendeten Schimpfwörter auf deutschen Schulhöfen ist. Mit schwul wird unter anderem das Schwache und Feminine – und somit das Unmännliche – verbunden. Schwule Männer geraten somit in einen Konflikt: Schwul und männlich, das scheint unvereinbar.

Manche Mitglieder meiner Familie benutzen schwul als Wort, um etwas Schlechtes zu beschreiben – selbst wenn ich anwesend bin. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich „schwul“ nicht in irgendeiner Form als Abwertung erlebe, wenn zum Beispiel eine Gruppe Männer sich in der U-Bahn „Du bist so schwul” zuruft. Oder „Schwul mich nicht an“, wenn sie sich zu nah kommen.

Schwul sollte aber kein negativ konnotiertes Adjektiv sein, sondern schlicht eine sexuelle Identität beschreiben. Weil Schwule von der Gesellschaft aber so lange abgelehnt und stigmatisiert wurden, hat das Wort eben diese abwertende Bedeutung bekommen. Es scheint eine sprachliche Verwirrung zu sein, die durch unsere Gesellschaft und den Hass auf Homosexuelle hervorgerufen wurde. Das muss sich ändern.

Ich frage mich, wie Heterosexuelle sich fühlen würden, wenn „hetero“ als Beleidigung oder Ausruf der Missgunst verwendet würde: Für das vermeintlich geschmacklose Outfit einer Person, die Niederlage des Fußballvereins oder eine schlechte Note in der Matheprüfung.

Unsere Probleme, die der LGBTQI*-Menschen, gehen weit über die Zäune der Schulhöfe und der Unachtsamkeit mancher Menschen hinaus: In Polen wurden “LGBT-freie” Zonen ausgerufen, in Russland werden queere Menschen verfolgt und eingesperrt. Die Zahl gemeldeter homofeindlicher Angriffe steigt jedes Jahr. Schwule Männer dürfen hierzulande kein Blut spenden, Transgender werden unter dem “Transsexuellengesetz” stigmatisiert, Zwei-Mütter-Familien haben enorme Probleme in punkto Adoption. Unsere Gesellschaft spricht fließend „Politik“ und sagt: Ihr seid Menschen zweiter Klasse.

Wenn ich heute die Hand meines Freundes halte, würde ich das gerne mit Selbstverständlichkeit tun. Ich möchte seine Hand halten, ihn umarmen und ihn küssen, wann immer ich das Verlangen habe. Vor allem möchte ich dabei keine Angst spüren. Es gibt Momente, in denen ich diese Selbstverständlichkeit und Freiheit spüre. Und dann gibt es Momente, in denen ich seine Hand gerne loslassen möchte, um mich und ihn zu schützen. Um keinen Angriffen ausgeliefert zu sein, wenn ich die Gefahr einer Beleidigung spüre oder mich unsicher fühle.

„Na klar macht das was mit mir“, sagt mein Freund Tage später, als wir wieder durch Berlin spazieren. Für ihn war es ebenfalls nicht das erste Mal, dass er auf der Straße beleidigt wurde. Mir hallt das uns nachgerufene „Schwul“ tagelang im Kopf nach und weckt die Geister der Vergangenheit. Die Stimmen aus der Schule, die mir „Schwuchtel“ hinterheriefen und mich „Blümchen“ nannten. Die mir das Gefühl gaben, falsch zu sein.

Ich frage mich, ob heterosexuelle Menschen diese Ängste auch haben. Ob sie sich jemals Gedanken darüber machen, ob sie die Hand ihres Partners oder ihrer Partnerin halten können, ob ein Kuss sicher ist? Ob sie Angst vor Gewalt oder Beleidigungen haben? Ich glaube nicht. Diese Freiheit von Angst im Zeigen der eigenen Liebe ist ein wahnsinniges Privileg.

Queere Menschen mussten sich jahrhundertelang verstecken. Ihr Begehren, ihre Lust und ihre Liebe verheimlichen und sich schämen. Das erklärt der amerikanische Autor und Psychologe Alan Downs in seinem Buch „Velvet Rage“: Schwule Männer können sich ihrer Sexualität schämen, weil sie dies in unserer Gesellschaft – zum Beispiel durch Anfeindungen – lernen. Diese Scham und die Unterdrückung können wiederum zu Depressionen und Suizidalität führen. Das Problem sind aber nicht queere Menschen, die unter der Repression leiden, sondern die Gesellschaft mit ihren stigmatisierenden Glaubenssätzen und Normen. Menschen sind nur Marionetten dieser und führen aus.

Deshalb ist es so wichtig, über Beleidigungen und somit über Sprache zu sprechen und zu reflektieren: Was sage ich da eigentlich gerade? Wenn wir darüber sprechen, können wir Glaubenssätze ändern und das gesellschaftliche Miteinander formen. Worte können nicht nur verletzen, sie können auch heilen. Queere Menschen nehmen das Coming-out zum Beispiel häufig als Erleichterung wahr: Den Menschen im Umfeld mitzuteilen, wer man ist und wen man liebt, nachdem man diesen wichtigen Teil seiner Identität so lange in Frage gestellt und unterdrückt hat. Andere wiederum stellen sich ihren Angreifern, zeigen sich ganz deutlich: Du hast mich schwul genannt und ja, das bin ich auch.

Wir brauchen mehr Coming-outs und queere Menschen, die sich zeigen – vor allem öffentlich. Aktionen wie „Actout“ in der Süddeutschen Zeitung oder die kürzliche Solidaritätsbekundung für queere Fußballer*innen in „11Freunde“ sind gute Ansätze. Sie zeigen, dass Menschen, die einem breiten Publikum bekannt sind, queer sind oder queere Menschen zumindest unterstützen. Es zeigt auch, dass Medien queeren Menschen eine Plattform bieten. Solidarität kann Akzeptanz schaffen, aber das müssen wir gemeinsam angehen.

Vor allem brauchen LGBTQI*-Menschen dabei Unterstützung. Wir queere Personen brauchen Plattformen, um uns solange zu zeigen, bis die gesellschaftlichen Stigmata größtenteils gebrochen sind. Bis schwul tatsächlich nur noch die Beschreibung einer Identität und kein Schimpfwort mehr ist und queere Personen nicht mehr als anders, sondern als Teil des großen Ganzen gesehen werden. Diese Veränderung kann durch Beiträge in Medien und durch Präsenz auf der Straße passieren: Deswegen werde ich die Hand meine Freundes nun noch etwas fester halten – weil Taten manchmal lauter als Worte sind.

Sebastian Goddemeier ist Autor und Journalist. Am 23. Februar erschien sein Buch „Coming-out“, in dem 18 Prominente ihre Coming-out-Geschichten erzählen.

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