vonMaximilian Schäffer 01.02.2021

Infrakulturen

Texte mit der Sprache von Kulturen unter der Schallfrequenz des Kanons.

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In schwulen Selbsthilfegruppen sitzen heute nur noch Alte und Verlorene, in der Provinz schaffen sich die „Gay-Days“ der Kleinstadtdiskotheken aufgrund mangelnder Nachfrage selbst ab, Schwulenbars sind nurmehr Trinktrösthallen für die Einsamsten. Im 21. Jahrhundert hingegen floriert unter homosexuellen Männern die Rasterfahndung nach dem idealen Sexualpartner. 2002 führte sie in Deutschland das Webportal GayRomeo,  Produkt der gleichnamigen GmbH mit Sitz in Berlin, ein. Fickende und Geficktwerdende konnten sich online endlich bis ins Detail gegenseitig von der Koitusmöglichkeit kategorisch ausschließen: Alter, Gewicht, Herkunft, Sprache, „Rasse“¹, Augenfarbe, Haarfarbe, Haarlänge, Bartlänge, Bartfarbe, Körperbehaarung, Penisgröße, Fetisch, Penetrationsposition, Beziehungswille, HIV-Infektion, Kondompräferenz.

Dazu jeder ein paar Fotos zum Beleg, von oben oder unten rum, je nach Gusto. Schon bald erweiterten die „Blauen Seiten“ ihr Angebot um Prostitutionsanzeigen, genannt Escort-Services, damit sich jeder seinen fest eingegrenzten Traummann zumindest einmal mieten konnte. Auf GayRomeo, heute aus Diskretionsgründen am Arbeitsplatz in PlanetRomeo umbenannt, waren die exkludierenden Optionen im Filter alle kostenlos anzuwählen.

Der flächendeckende Ausbau des 3G-Netzes, Daten-Flatrates, Multikern-RISC-Prozessoren und Lithium-Ionen-Akkus in Telefonen ermöglichten erst die nächste Stufe des totalen Sexangebots. Seit knapp elf Jahren ist des Schwulen liebstes Opium namens Promiskuität als omnipräsente Smartphone-App auf dem Markt, um Grindr kommt Mann nicht mehr herum. Per GPS wird nun der eigene Standort und der aller Eingeloggten metergenau bestimmt, wer online ist, gilt als jagdbereit. Zur akkuraten Sortierung des Datensatzes an paarungswilligen Individuen im Umkreis benötigt man das Premiumabo. In der meistbenutzten, kostenlosen Version, bleibt einem nur das Alter einzugrenzen. Der verbliebene Rest wird nun anhand der Profilbilder vorkategorisiert. Unweigerlich folgt die Königsdisziplin jeder Bewerbung, das Anschreiben.

„Hey, bock?“ zählt zu den kurzen, prägnanten Varianten mit enthaltenem Sympathiebeweis. Unverbindlich, aber auf den Punkt gebracht, wird Erregung geschildert. Somit hat man die Möglichkeiten eines unnötigen Gesprächs direkt vermieden. Ein nettes Dinner bei Kerzenlicht oder gar langfristige Heiratsabsichten vermutet hier keiner. Als Antwort folgt, je nachdem, ein kurzes „Jo“, oder ein knappes „Verpiss dich!“.

Groß- und Kleinschreibung sowie Satzzeichen werden in der Regel grob fahrlässig verwendet. Bei positiver Zuwendung darf jetzt Genaueres erforscht werden, es kann, je nach Präferenz „cm?“ oder „p?“ Objekt der Neugier sein. „Cm“ bezieht sich auf die Penisgröße des Anderen, die schlichte Abkürzung „p“ meint „passiv“, also beim Analverkehr hinhaltend. Somit klären sich auch gleich die Machtverhältnisse im Bett, wie sehr die beim unbekannten Gegenüber ausgeprägt sind, klärt die Frage „dom?“ und meint im sado-masochistischen Kontext „dominant“.

Abschließend gilt zu klären, ob Kondome oder gar Drogen das Liebesspiel hemmen oder beflügeln sollen. „Safe?“ meint Sicherheit, meint Latex – „Chems?“ meint illegale Substanzen, meint Rausch. Sind alle Modalitäten der Mechanik geklärt bleibt noch die Frage „Host?“ übrig. Bei wem wird es stattfinden, wer spült sich wo den Darm aus, welches Laken wird beschmutzt, wo hören die Nachbarn um 3 Uhr morgens entnervt zu? Oft scheitert ein Zustandekommen tatsächlich erst an dieser letzten, entscheidenen Weichenstellung oder an dem Mangel an absicherndem Bildmaterial, genannt „Pics?“.

Bilder sagen mehr als Worte: Schwabbelbäuche müssen retuschiert werden, Aknegesichter abgepudert, Augen zum Mangawesen verzerrt, Penisse gedehnt und gestreckt, es wird akrobatisch posiert, um das „tight hole“, bzw. die „boy pussy“ in Szene zu setzen. Gute Bilder sind der Schlüssel zum Treffen, ein einziges schlechtes kann die Blockierung herbeiführen. Dann heißt es weitersuchen, die immerselben Einsilber abspulen bis die Sonne aufgeht, bis um 7 Uhr Morgens der Berufsverkehr zur Klarheit aufruft und die einzig wahre Entscheidung der Nacht fällt: Wichsen und Augen zu.

Erste Studien bescheinigen Grindr-Usern psychische Effekte pandemischen Ausmaßes. Es ist wahrscheinlich diejenige App, die am meisten süchtig, am meisten unproduktiv, am meisten unglücklich macht. Das Abhängigkeitspotenzial gleicht Heroin, inklusive ähnlich drastischen Auswirkungen auf Sozialleben und Gesundheit.

Ob das manische Online-Sex-Dating ein weiterer Schritt in Richtung schwule Befreiung ist, oder eine gefährliche Verschiebung der Community ins absolut privatisierte Narzissten- und Onanistentum, darüber wird gestritten und geforscht. Evident scheint die unmittelbare Wirkung auf das Sprachzentrum. Wer nur noch in Abkürzungen über Sex spricht, findet auf Pornosuchmaschinen das Richtige, in der Realität aber irgendwann nichts mehr.

 

¹ Der Begriff „Rasse“ wird an dieser Stelle absichtlich verwendet. Auf GayRomeo hieß der entsprechende Filter euphemistisch „Typ“. Optionen waren u.A. „Europäer“, „Asiate“, „Schwarzer“, „Araber“ und „Südländer“. Eine ästhetische Kategorisierung von Menschen anhand von Hautfarbe, Schädelform, Augenabstand usw. entspricht dem historischen Rassebegriff. Soziokulturelle Zusammenhänge werden, wie beim manchmal von diesem unterschiedenen US-amerikanischen Terminus „Race“ hier explizit nicht gemeint. Die Fetischisierung von ethnischen Gruppen hält der Autor in jedem Fall für Problematisch. Besonders in der Schwulenszene gelten bspw. „Asiaten” immer noch als effeminiert, „Schwarze“ hingegen als Alpha-Tiere.

 

Maximilian „Flamingo“ Schäffer ist freier Autor und Künstler in Berlin.

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