vonLu Wunsch-Rolshoven 01.12.2021

Infrakulturen

Texte mit der Sprache von Kulturen unter der Schallfrequenz des Kanons.

Mehr über diesen Blog

Dies ist die deutschsprachige Übersetzung eines Texts in Esperanto.

Heute sprechen Menschen in mehr als 120 Ländern der Welt die internationale Sprache Esperanto und vermutlich verwenden sie mehrere Hunderttausend einigermaßen regelmäßig. Einige Staaten haben Esperanto anerkannt und unterstützen es: Polen hat die Sprache und ihre Kultur 2014 als Teil des Kulturerbes anerkannt, Kroatien 2019; in Ungarn werden Esperanto-Prüfungen an vielen Universitäten zum Nachweis von Fremdsprachenkenntnissen verwendet, die österreichische Nationalbibliothek unterhält die weltweit größte Sammlung plansprachlicher Bücher und von Archivmaterial; China veröffentlicht seit 2001 fast täglich Nachrichten auf Esperanto, betreibt mehrere reichhaltige Websites und das weltweit größte Esperanto-Museum. Das Esperanto-PEN-Zentrum wurde 1993 Mitglied der internationalen Schriftstellervereinigung PEN, und der Vatikan akzeptierte schon 1990 für Messen Texte in Esperanto.

Wikipedia, Duolingo, Tatoeba

Esperanto ist im Internet an vielen Stellen zu finden: Die Esperanto-Wikipedia hat dieses Jahr 300.000 Artikel erreicht, Duolingo bietet Esperanto-Kurse in vier Sprachen an: Englisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch. Jedes Jahr absolvieren dort etwa 800.000 Menschen mindestens eine Esperanto-Lektion. Duolingo ist keineswegs der einzige Online-Kurs für Esperanto; meist bieten Sprachlernseiten mit mindestens 25 Sprachen einen Esperanto-Kurs an, zumindest die kostenlosen. Das „Sätzebuch“ Tatoeba bietet derzeit 670.000 Sätze auf Esperanto mit Übersetzungen in andere Sprachen, ein guter fünfter Platz nach Englisch, Russisch, Italienisch und Türkisch.

Sprache mit Muttersprachlern, Literatur und Liedern

Aus dem Sprachprojekt in einer kleinen Broschüre von 1887 wurde eine lebende Sprache mit einigen Tausend Muttersprachlern, Zehntausend Büchern, ein paar Tausend Liedern und einer eigenen internationalen Kultur. Esperanto-Sprecher verwenden ihre Sprache für eine Vielzahl von Zwecken. Viele sind international gut vernetzt und suchen gezielt nach esperanto-kulturellen Angeboten Es ist relativ normal, dass Esperanto-Sprecher vor ihrer Reise in den Ländern, die sie besuchen, nach Esperanto-Freunden suchen und sie später treffen; reist man mit einer Gruppe, die nicht Esperanto spricht, sind die Mitreisenden meistens überrascht, dass man in einem Land wie Nepal abends verschwindet, um lokale Esperanto-Sprecher zu besuchen und vielleicht mehr über das Land und das tägliche Leben zu erfahren als nur die üblichen Touristenattraktionen.

Was weiß man über Esperanto?

Vieles ist weitgehend unbekannt; es ist immer wieder erstaunlich, dass selbst kenntnisreiche Linguisten nicht wissen, dass die Sprache seit 1904 Muttersprachler hat, jedes Jahr etwa hundert neue Bücher und eine reiche Musikkultur – ganz zu schweigen von der wachsenden Zahl von Sprechern in den meisten afrikanischen und asiatischen Staaten und in fast allen südamerikanischen Ländern (häufig wird angenommen, dass die Sprache Sprecher vor allem in Europa, Amerika und vielleicht Australien hat). Man kann sogar Zitate von Linguisten finden, Esperanto habe keine Schriftsteller oder es gäbe keine Wortspiele, während Schriftsteller und viele andere es lieben, mit Wörtern zu spielen. Insofern dürfte Raymond Schwartz am bekanntesten sein, der in den 1920er Jahren durch sein Pariser Kabarett Verda Kato (Grüne Katze; grün ist die Farbe des Esperanto) berühmt wurde. Manche Sprachwissenschaftler behaupten sogar, Esperanto sei keine Sprache, wie etwa Barbara Cassin, Mitglied der französischen Académie Française, der deutsche Linguist Jürgen Trabant („Nicht-Sprache“) und jahrelang auch der vermutlich bekannteste Linguist und spätere politische Aktivist Noam Chomsky.

Konflikte in Białystok. Internationale Sprache für Juden?

Esperanto wurde 1887 in Warschau vorgestellt, wo die Ausgaben des ersten Buchs auf Russisch, Polnisch, Französisch und Deutsch erschienen; viele andere Sprachen folgten. Die Grundlagen des Esperanto hat Ludwik Zamenhof geschaffen, der 1859 in Białystok geboren wurde, wo er bis in die 1870er Jahre blieb. Sein Vater sprach mit ihm Russisch, die Mutter Jiddisch; von seinen Freunden lernte er Polnisch. Bald lernte er auch Althebräisch und von seinem Vater, einem Sprachlehrer, Deutsch und Französisch. In der Schule kamen die alten Sprachen Latein und Griechisch sowie Englisch hinzu.

Zamenhof verfügte also über ein gutes Sprachensortiment. Wie Zamenhof nun auf die Idee kam, eine internationale Sprache zu schaffen, dazu gibt es zwei Erklärungen. Die traditionelle Variante ist, dass er feststellte, dass die Einheimischen oft nur eine Sprache beherrschten, während es in Białystok hauptsächlich vier Sprachgemeinschaften gab, Jiddisch, Russisch, Polnisch und Deutsch. Es kam oft zu Konflikten, teilweise aufgrund von Sprachschwierigkeiten. Zamenhof kam auf die Idee, dass eine zusätzliche neutrale Sprache, die viel leichter zu erlernen ist als die Landessprachen, eine gute Lösung für das gegenseitige Verständnis und
Verstehen sein könnte.

Eine andere, neuere Erklärung für die Idee von Zamenhof ist, dass er zunächst eine internationale Sprache für Juden der ganzen Welt schaffen wollte. Schließlich sprachen die Juden an ihren verschiedenen Orten die Sprachen des Landes und hatten oft keine gemeinsame Sprache; Althebräisch hatte keine Wörter für den Alltag jener Zeit, Jiddisch hatte kein hohes Ansehen. Erst als er sah, dass die Juden seine Idee nicht annehmen wollten, hat er seine neue Sprache, so diese Erklärung, der allgemeinen Öffentlichkeit vorgestellt.

Von der ersten Sprachversion zur erfolgreichen Sprache

Als Zamenhof 1878 seinen 19. Geburtstag feierte, weihte er mit seinen Freunden die erste Version einer solchen Sprache, Lingwe Uniwersala, ein. Neun Jahre später veröffentlichte er schließlich die Grundlagen der heutigen Sprache Esperanto. Er versendete die ersten Exemplare in viele Länder und schon zwei Jahre später entstand eine erste Zeitung, La Esperantisto, mit etwa fünfhundert Abonnenten; die Zeitung veröffentlichte eine Vielzahl von Texten, darunter Literatur, Witze und Anzeigen. So begann die Sprache ihr Leben, zunächst schriftlich.

1905 fand in Boulogne-sur-Mer der erste Welt-Esperanto-Kongress statt, auf dem etwa 700 Menschen aus vielen Ländern zusammenkamen – und tatsächlich konnten sie sich in der neuen Sprache unterhalten. Anzumerken ist, dass ein Jahr zuvor, 1904, das vermutlich erste Kind im spanischen Zaragoza geboren wurde, für das Esperanto die Muttersprache war, Emilia Gastón.

Gedichte schon 1887

Die Literatur war eine große Begeisterung von Ludwik Zamenhof, der in seiner Jugend gelegentlich davon träumte, ein russischsprachiger Dichter zu werden. Bereits in seinem ersten Buch, in dem er die Sprache vorstellte, waren von den sechs Sprachbeispielen drei Gedichte, eine Übersetzung aus den Werken Heines und zwei bis heute bekannte Originalgedichte von Zamenhof. Er selbst trug durch mehrere Übersetzungen zur Esperanto-Literatur bei, darunter Andersens Märchen, Hamlet und Schillers Die Räuber. In den Jahren um den ersten Welt-Esperanto-Kongress blühte die Originalliteratur immer mehr auf und sie entwickelt sich seit den 1920er Jahren auf hohem Niveau.

Literatur aus vielen Ländern

Literatur ist eine wichtige Grundlage der Kultur einer Sprachgemeinschaft. Im Esperanto, wie wohl in vielen relativ kleinen Sprachen, besteht sie aus zwei wichtigen Elementen, der übersetzten und der originalsprachlichen Lteratur. Etwa zwei Drittel der verfügbaren Literatur sind ins Esperanto übersetzt, ein Drittel original in Esperanto geschrieben. Ein wichtiger Unterschied zum Englischen besteht darin, dass die Esperanto-Originalliteratur ihre Autoren in vielen verschiedenen Regionen und Kulturen hat; im Englischen kann man leicht annehmen, dass Autoren englische Muttersprachler sind, die in den wenigen englischsprachigen Ländern leben. So transportiert die englische Literatur hauptsächlich die Kultur dieser Regionen, während die
Esperanto-Literatur die Kultur vieler verschiedener Länder ausgewogener darstellt.

Eine besondere Esperanto-Kultur?

Liedgut auf Esperanto gibt es seit Anfang des letzten Jahrhunderts, aber moderne Volkslieder, Rock und andere Musikstile werden erst seit den 1960er Jahren geschaffen und veröffentlicht. Mittlerweile gibt es mehrere tausend Lieder und sie bilden einen wichtigen Bestandteil der heutigen Kultur der Esperanto-Sprachgemeinschaft; viele sind im Internet frei veröffentlicht. Wie eigenständig die Esperanto-Kultur ist, ist Teil eines regen Diskurses, aber welcher anderen Kultur soll ein Lied zugeordnet werden, dessen Esperanto-Text in Schottland geschrieben wurde, das von einer friesischen Liedergruppe gesungen wird und das in Dutzenden von Ländern von Esperantosprechern gehört wird? Darüber hinaus gibt es bestimmte Bräuche der Esperanto-Sprachgemeinschaft, wie zum Beispiel bei Jugendtreffen ein gemeinsamer Tanz, zu der sich wiederholenden Musik von La Bamba. Vielleicht noch wichtiger ist die Atmosphäre der Toleranz und des Respekts gegenüber Menschen aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen. Bei einem Esperanto-Treffen habe ich in den 1980er Jahren zum ersten Mal gesehen, wie sich zwei Homosexuelle öffentlich küssten. Damals begannen wir auch zu diskutieren, wie man die Sprache gleichberechtigt für beide Geschlechter gestalten kann – so gibt es zum Beispiel das Suffix -iĉo, um einen Mann zu benennen, parallel zu -ino, um eine Frau zu benennen (z. B. kantistiĉo und kantistino, Sänger und Sängerin; die Form viriĉo für Mann wird neben viro auch manchmal verwendet).

Mathematiker, Programmierer und Linguisten

Die Esperanto-Sprachgemeinschaft ist relativ divers, Menschen aus vielen Lebensbereichen lernen die Sprache. Klar ist jedoch, dass Linke und Menschen mit politischen Ansichten der Mitte häufiger sind als Rechte – die Grundidee von Esperanto ist es ja, Menschen aus anderen Ländern als gleichberechtigt zu akzeptieren. Man kann feststellen, dass Mathematiker und Programmierer relativ häufig Esperanto sprechen; vermutlich gefällt ihnen die Regelmäßigkeit der Sprache und die viel schnellere Erlernbarkeit (etwa ein Viertel im Vergleich zu Sprachen wie Englisch oder Spanisch). Viele lieben Sprachen oder haben sie sogar studiert. Im Gegensatz dazu haben weniger Personen Wirtschaft oder Jura studiert. Aber man irre sich nicht: Man trifft mehr oder weniger alle Berufe im Esperantoland, nur mit unterschiedlicher Häufigkeit.

Schnell zu lernen, bald hohes Sprachniveau

Esperanto wird oft nach zwei oder drei anderen Fremdsprachen gelernt. Dann öffnet eine andere Landessprache meist nur eine weitere Region oder ein Land der Welt, während Esperanto mehr oder weniger alle Länder erschließt; fast überall auf der Welt kann man Esperanto-Sprecher treffen. Und diese Sprache kann mit viel weniger Lernaufwand erworben werden als eine Landessprache. Die Menschen absolvieren in der Regel einen Grundkurs von 20 bis 50 Stunden Lernzeit und fangen währenddessen oft schon an, die Sprache anzuwenden und in der Praxis weiterzulernen. Wenn man zwei oder drei Wochen im Jahr bei Esperanto-Treffen verbringt oder zu Esperanto-Gastgebern reist und regelmäßig mündlich kommuniziert hat man oft nach zwei oder drei Jahren das Niveau der vorher besten Fremdsprache erreicht. Im Laufe der Jahre fühlt man sich in Esperanto immer mehr zu Hause und kann sich immer besser ausdrücken, manchmal ähnlich gut wie in der eigenen Muttersprache.

Jüngere und Ältere

Nach dem Alter gibt es vor allem zwei Zeiten um Esperanto zu lernen: Laut einer früheren Umfrage auf Facebook hat etwa die Hälfte der Esperanto-Sprecher im Alter von 14 bis 18 Jahren mit dem Erlernen der Sprache begonnen, ein weiteres Viertel bis zum 30. Lebensjahr. Eine andere Zeit zum Lernen ist nach der Pensionierung; es gibt beeindruckende Beispiele von Menschen, die zu diesem Zeitpunkt angefangen haben zu lernen, innerhalb weniger Jahre ein hohes Sprachniveau erreicht haben und mit Begeisterung zu vielen Esperanto-Treffen in verschiedenen Ländern reisen.

Afrika, Nepal, Philippinen

Beeindruckend für Europäer ist sicherlich die Begeisterung, mit der Menschen aus verschiedenen afrikanischen Ländern, aus Ländern wie Nepal, Indonesien oder den Philippinen die internationale Sprache Esperanto lernen. Es ist für sie eine frei wählbare Sprache, ohne eine Tradition des Kolonialismus; es ist eine Sprache, in der sie sich gleichberechtigt fühlen können und in der sie Menschen treffen, die an die gleichen Ideale glauben. Schon vor hundert Jahren wusste man in China, dass man für Englisch fünf Jahre, für Französisch sieben Jahre und für Esperanto ein Jahr braucht. Für asiatische Muttersprachlerinnen und Muttersprachler ist es viel einfacher Esperanto zu lernen als beispielsweise Englisch, und so am internationalen Leben teilzunehmen und persönliche Kontakte zu Menschen aus anderen Teilen der Welt zu knüpfen. Es ist vielleicht kein Wunder, dass China Esperanto stark unterstützt und seit 2001 fast täglich Nachrichten aus China und der Welt veröffentlicht werden.

Andere Plansprachen

Esperanto ist eine in einer langen Reihe von Plansprachen. Nur wenigen ist es gelungen, eine echte Sprachgemeinschaft zu bilden. In den 1880er hat sich Volapük verbreitet und 1907 wurde das aus dem Esperanto gebildete Ido veröffentlicht. Andere Projekte hatten viel kleinere Zahlen von Anhängern. Esperanto ist eine sogenannte a-posteriori-Sprache, weil sie die Wurzeln von bestehenden Sprachen übernimmt (im Gegensatz zu a-priori-Sprachen, die die Wurzeln nach ihrem eigenen System schaffen). Die Wurzeln des Esperanto stammen hauptsächlich aus den germanischen und romanischen Sprachen; sie kommen oft in mehreren vor, zum Beispiel ist das Esperanto-Wort fenestro auf Deutsch Fenster, Französisch fenêtre, Italienisch finestra. Auch die Wurzeln von Volapük stammen aus den Nationalsprachen, sind aber schwer zu erkennen: Das Wort Volapük bedeutet „Sprache der Welt“; vol kommt vom englischen world, pük vom englischen speak; -a bezeichnet den Genitiv (in Esperanto -de).

Nach Esperanto wurde 1907 das Sprachprojekt Ido veröffentlicht (das Wort hat in Esperanto und Ido die Bedeutung Abkömmling); diese Sprache ist ein Versuch, einige der kritisierten Formen des Esperanto besser zu gestalten. So hat Ido zum Beispiel nicht die Überzeichen des Esperanto, das Esperanto-Wort oranĝo lautet in Ido oranjo. Das Problem war jedoch, dass offensichtlich für die meisten Esperanto-Sprecher die Vorteile von Ido nicht so groß waren, dass sich ein Umstieg auf eine neue Sprache mit all den Problemen eines solchen Übergangs gelohnt hätte. Der Nachteil von Ido ist heute, dass es nur von relativ wenigen Leuten gesprochen wird; während die Weltkongresse von Esperanto von etwa 700 bis 3000 Personen besucht werden, werden die entsprechenden Ido-Treffen von 10 bis 30 Teilnehmern besucht. Die sprachliche Form alleine ist nur ein Gesichtspunkt.

Erfolgreich oder nicht?

Aus einer kleinen Broschüre entstand eine Sprachgemeinschaft in mehr als hundert Ländern auf allen Kontinenten;  aus einem Sprachprojekt mit zwei Seiten Beispieltexten wurde eine Bibliothek mit etwa zehntausend Büchern. Die Sprache wird jedes Jahr in einigen hundert internationalen Treffen und vielleicht in mehreren hundert Familien täglich verwendet; mittlerweile ist Esperanto die Hauptsprache für vermutlich einige hundert Menschen, die es für den Kontakt mit Familie, Freunden und Bekannten, für Esperanto-Projekte und manchmal auch für berufliche Zwecke nutzen. Andere mögen annehmen, dass wir jeden Tag weinen, weil die Sprache noch nicht allgemein als internationale Sprache akzeptiert wurde und weit verbreitet ist. Im Gegensatz dazu sprechen die meisten von uns sehr gerne Esperanto, unabhängig von der Entscheidung anderer, und einige fragen sich sogar, ob die Esperanto-Sprachgemeinschaft ein so angenehmer Ort wäre, wenn viel mehr Menschen es sprechen würden.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/infrakulturen/gemeinsame-sprache-fu%cc%88r-menschen-aus-aller-welt/

aktuell auf taz.de

kommentare