Wo kann der Anfang eines „Istanbuler Tagebuches“ schöner gemacht werden als auf der Insel? Keine Stadt-Oase in Form eines schattigen Cafés unter den Platanen des Bosporus, keine imaginierte, sondern eine wirkliche, wunderschöne Insel .
Ich bin nämlich gerade auf Büyükada, der „Großen Insel“ oder Prinkipo, wie sie vor ihrer Eroberung durch die Türken von den Byzantinern genannt wurde. Klöster, Kirchen, Synagogen, Moscheen – sie sind hier alle üppig vorhanden. Denn die Insel wurde im 19. Jahrhundert zum Sommerdomizil der nichtmuslimischen Bourgeoisie Istanbuls – und ist es auch bis heute weitgehend geblieben. Hier dürfen keine Autos fahren, sondern nur Pferdekutschen. Hier herrscht ein mildes, nicht zu heißes Mittelmeerklima. Hier ist es absolut multikulturell. Hier gibt es tolle Waffeln. Hier dreht sich niemand um, wenn ältere jüdische Damen, Nachfahren der Sepharden aus Spanien, im Café am Meer zusammensitzen, Canasta spielen und dabei in einer Mischsprache aus Türkisch-Französisch-Ladino miteinander quatschen. Hier gibt es Hunderttausend Katzen und Zehntausend Möwen, die auch alle friedlich zusammenleben. Die jugendlichen Möwen bereiten sich diese Tage auf das Fliegen vor. Wenn es so weit ist, geht die Mama mit ihren Jungen auf das Gipsgeländer an der Fähranlegestelle und schubst sie ins Meer. Dann beginnen die Möwen über unseren Köpfen zukreisen.
Die Istanbuler Insulaner sind diese Tage unglücklich und ängstlich. Nicht wegen der neuen „Friedensoffensive“ Israels – das bezieht hier keiner auf die hier lebenden Juden, außer den „Fundis“, mit denen ich die fanatischen, sich als wahre Muslime verstehenden Fundamentalisten meine – von ihnen wird noch viel die Rede sein. Die Fundi-Zeitung „Vakit“ hat zum Beispiel behauptet, dass „alle Juden der Türkei Agenten Israels“ seien. Die Nichtmuslime der Istanbuler Inseln sind eigentlich über die vielen verschleierten Frauen besorgt, die neuerdings ihre Straßen füllen. Das hat nämlich eine andere Qualität als der übliche, unterschwellige Antisemitismus.Die einen sind „harmlos“, denn sie sind Ausländer, sie kommen aus den arabischen Ländern, und gehen wieder ohne lange zu bleiben (auch Türken haben ihre Ausländer, auf die sie herabsehen). Besorgnis erregen die einheimischen Kopftuchträgerinnen. Warum kommen sie neuerdings immer öfter hierher, zu den Inseln, wo man in Shorts und kleinen Tops herumläuft, in den Tavernen am Meer bis in die Morgenstunden singt und trinkt, wo man Kirchenglocken lauter hört als Gebetsrufe? Was wollen sie, wenn sie nicht baden, flanieren, flirten und sich betrinken? Ein böses Gerücht besagt, dass diese täglichen kleinen „Invasionen“ gezielt die Nichtmuslime von den Istanbuler Inseln vertreiben sollen. Eine City Legend, die sich hier wie ein Lauffeuer im sommerlichen Wald verbreitet hat: Auf der Nachbarinsel Kinali, wo viele Armenier leben, sollen ab 11 Uhr vormittags verschleierte Frauen scharenweise aus den Fähren zu den Stränden stürmen, um nur im Café zu hocken und den Badenden böse Blicke zuzuwerfen. „Sie“, das heißt die Drahtzieher, würden den Frauen umsonst Jetons für die Inselfähren verteilen und ein Taschengeld, damit sie die Aktion täglich durchziehen. Ist das möglich!? Nein! Das erinnert doch stark an die Gerüchte, die die „Anderen“ verbreiten: Etwa von dem Mädchen, dem die bösen Kemalisten das Kopftuch unter höhnischem Gelächter abzogen. In Istanbul, dem Hauptschauplatz des Krieges zwischen Bikini und Kopftuch ist das alles schon zum Überdruß bekannt – gewöhnliche Kriegspropaganda, das Leben geht trotzdem und nicht gerade schlecht weiter.
Fest steht, dass Schleier und die „Haschema“, das heißt der „islamische Badeanzug“, dieses Jahr öfter zu sehen sind. Auf einem entlegenen Winkel der Insel Büyükada hat eine „islamische Reiseagentur“, sprich ein tüchtiger Geschäftsmann mit dem richtigen Gespür für die Zeichen der Zeit, ein „muslimisches Feriendorf“ aufgebaut. Bungalows und zwei Stege, die weit voneinander entfernt sind. Auf dem einen sollen die Männer baden, auf dem anderen die Frauen. Ein „Haschema“ ist ein dreiteiliger Swimsuit (auch von tüchtigen Geschäftsleuten hergestellt – die „islamisch korrekte“ Kleidungsindustrie ist ein Milliardenmarkt): Kopftuch, Bluse, Hose aus synthetischen Stoffen und oft in grellen Farben. Das Synthetische verhindert irgendwie das Kleben am nassen Körper, was ja den Zweck völlig entfremdete. Die Männer kriegen breite schwarze Badeshorts, die bis unters Knie reichen. Das sieht nicht besser aus. Diese „Mode“ ist ein Novum in Istanbul, wo vor vierzig Jahren Frauen in ganz normalen Badeanzügen an den Stränden in Florya oder Süreyya Plaj mit den Männern zusammen badeten. In diesem Sommer eröffneten in Istanbul fünf neue Strandbäder, sie sind alle voll mit Bikinis und Tangas. Die Haschema bleibt in der Minderzahl und trotzdem ist sie für viele ein Objekt des Anstoßes.
Richtige Araberinnen in schwarzem Tschador (Türkisch: Carsaf, lies: Tscharschaff) gibt es dieses Jahr auf Büyükada und in Istanbul auch so viele wie noch nie. Die reichen Golfbewonher und Iraner haben wohl keine Lust mehr auf schwer zu ergatternde Visa und den Rassismus der „Westler“, und kommen lieber zu uns. Sie laufen oft in Grüppchen herum, mehrere Mädchen und Frauen, dazu ein Mann. Während dieser ganz modern gekleidet und fast immer mit einer Sony-Kamera behängt ist, das heißt in Shorts, T-Shirt und Sandalen spaziert, erscheinen die Frauen wie große schwarze Flecken in der Sonne (im Internet kursieren böse Photos von ihnen, keine gut gemeinten!). Im Sehschlitz sehe ich manchmal ihre Augen nicht, weil ein hauchdünner Stoff davor hängt. Das kommt mir sehr exotisch und fremd vor. Die Araberinnen müssen ihren Mundschleier bei jedem Bissen ein Stückchen hochheben, wenn sie im Restaurant essen gehen. Das ist traurig anzusehen, obwohl sie selbst ganz und gar nicht traurig oder bekümmert wirken.
Meine weltlich-modernen türkischen Freunde teilen Istanbul inzwischen in Zonen auf: Die von den „Mullahs“ befreiten Stadtteile seien auf der asiatischen Seite Moda und von Kiziltoprak bis Bostanci; auf der europäischen Seite von Taksim bis Sisli, Levent, Etiler und das Bosporusufer von Besiktas nach Bebek. Das sind „zufällig“ auch die teuersten Wohnviertel der Stadt – das Kopftuch ist nicht nur, aber auch ein Klassenproblem. Das macht es für Normalbürger schwer zu verstehen: Wer mit den Revolutionen Kemal Atatürks und der Republikgründer aufwuchs, und in der Schule auswendig lernte, wie „Atatürk die Frau befreite“, schüttelt über das „wiedergekehrte mittelalterliche Bild“ auf Istanbuler Straßen den Kopf. Von manchem westlichen Publizisten als „Garderobenmoderne“ verspottet, bildet die Kleiderreform Mustafa Kemals tatsächlich die Grundlage unserer freien Kleidungs- und Lebensweise heute. Ein Einbrecher, der sich vor zwei Tagen von der Polizei fangen ließ, weil er unterm Tschador seine Turnschuhe Größe 43 behalten hatte, erntet Gelächter. Man erzählt Witze über andere Männer, die sich vor einhundert Jahren einen Tschador überhingen, um heimlich ihre Geliebte zu besuchen. Weltlich Lebende haben immer einen Witz über die „Fundis“ parat – deren Anspruch auf moralische Überlegenheit provoziert ungemein. Und die Fundis erzählen gern Witze über die „Ungläubigen“. Aber ist das alles denn wirklich so komisch?